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[Operation Nautilus] Andara-House

Mein letztes Jahr
von

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"Das Picknick"

Ich fand es schon immer spannend, wie sich die Welt veränderte, wenn die Sicht auf sie eine andere war. Wobei das in diesem Moment hieß, dass ich mit geschlossenen Augen dalag und sich meine Umgebung in ein Kaleidoskop aus roten, tanzenden Schatten verwandelte hatte. Ich genoss dieses Gefühl, wenn das Sonnenlicht durch die geschlossenen Lider drang und es sich anfühlte, als würde die Welt in rotes Gold getaucht sein.

Die Geräusche, die ich vernahm, reihten sich in diese friedliche Stimmung ein. Sie klangen harmonischer, als wenn ich sie mit offenen Augen verfolgt hätte und selbst mein Herzschlag war ruhiger. Das Gezwitscher der Vögel und die Gespräche der anderen verbanden sich zu so einem angenehmen Rauschen, dass es mir widerstrebte, die Augen zu öffnen. Mehr als einmal fiel mein Kopf zu einer Seite weg und ich würde einschlafen, wenn ich mich nicht gleich aufsetzte. Nur noch ein paar Minuten, beschloss ich, bis ich feststellte, dass ich diesen Gedanken schon zum fünften Mal hatte.

Was soll's, ging es mir durch den Kopf. Warum nicht ein wenig schlafen?

Vermutlich würde Jeffrey mich nachher damit aufziehen, aber das war mir egal. Zur Not konnte ich ihm immer noch drohen, unser kleines Abenteuer von neulich nicht zu wiederholen. Dann würde er sicher wieder brav sein. Dass ich selbst diese Drohung nie einhalten könnte, musste ich ihm ja nicht sagen und dies würde auf jeden Fall mein Geheimnis bleiben. Mit diesen Überlegungen an meiner Seite gab ich mich der Leichtigkeit des Schlafes hin, als plötzlich ein Schatten über mich fiel.

Verwirrt über diese Störung blinzelte ich und blickte meinem Vormund vorwurfsvoll entgegen. Selbst wenn ich schlafen wollte, machten mir seine Tageszeitungen mit Inhalten, die stets von Hass, Geld und Krieg berichteten, einen Strich durch die Rechnung.

„Kannst du die nicht in eine andere Richtung halten?“, nuschelte ich maulend, vorauf er nur eine Augenbraue hob. „Ich brauch das Licht.“

„Nun, zum Lesen benötige ich ebenfalls welches“, stellte er pikiert fest, aber ich erkannte dennoch den gutmütigen Spott in seinen Augen. „Wie kommt es, dass du so müde bist? Schläfst du nachts nicht gut?“

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Jeffrey zu grinsen anfing, während Paul beinahe sein Gesicht in das Kuchenstück drückte, welches er soeben verspeiste. Möglichst unauffällig warf ich den beiden einen missbilligenden Blick zu. Wie wäre es, wenn sie sich noch auffälliger verhalten würden?

Aber wie es schien, hatten weder Divari, noch Stan oder Sally etwas von unserem stummen Austausch mitbekommen.

„Nun, ich ...“, stammelte ich und überlegte, was ich ihm sagen sollte. Denn es wäre ziemlich unhöflich gewesen, seine Frage nicht zu beantworten. „Es geht. Aber ich habe in letzter Zeit wirklich etwas Probleme damit.“

Ich musste ja nicht sagen, was wirklich los war, aber wenn ich nahe bei der Wahrheit blieb, war das am wenigsten auffällig.

„So? Wie kommt das?“, fragte mein Vormund besorgt und musterte mich eindringlich. „Hast du noch Probleme wegen der Lungenentzündung? Soll ich Dr. Mason noch einmal herbestellen?“

„Nein, nein!“, wehrte ich fast erschrocken hab. Vielleicht hätte ich einfach nichts sagen sollen... „Es ist wegen Jeffrey.“ Jetzt registrierte ich, wie Jeffrey blass wurde und mich geschockt ansah. Ja, das geschah ihm erst mal recht! Das kommt davon, wenn man andere küsst und mich ständig aufzieht. „Er schnarcht manchmal so heftig, dass er mich fast die ganze Nacht nicht schlafen lässt.“

Fassungslos blickte Jeffrey mir entgegen, während Stan hemmungslos zu lachen anfing und mein Vormund sich nun auf meinen Freund stürzte, um ihn mit Fragen zu seiner Gesundheit zu löchern. Gut, ein bisschen tat er mir leid und wenn ich ehrlich war, wusste ich nicht genau, warum ich das gemacht hatte. Aber ich musste ewig an dieses Bild denken, das sich regelrecht in meinen Kopf gebrannt hatte. Dabei wusste ich genau – und er hatte es mir ja auch gesagt – dass der Kuss mit Paul nur ein Spaß gewesen ist. Wenn ich jedoch daran dachte, versetzte es mir einen Stich ins Herz.

Ich seufzte tief und sah mich in unserer kleinen gemütlichen Runde um. Alle schienen beschäftigt zu sein. Stan und Divari redeten auf Jeffrey ein, er solle seine Gesundheit nicht auf die leichte Schulter nehmen und das Schnarchen lieber abklären lassen. Besonders nach der durchgemachten Lungenentzündung. Nur mit Mühe konnte Jeffrey dabei meinen Vormund davon abhalten, gleich aufzuspringen und mit dem nächsten Telegrafen nach Dr. Mason zu schreien.

Ohja, das würde später wirklich Stress mit ihm geben. Vielleicht überlegte ich mir schon mal eine gute Entschädigung. Aber über was würde er sich wohl freuen und viel wichtiger, was konnte ich in dieser kurzen Zeit, bis das Picknick zu Ende war, organisieren? Das Einzige, was mir einfiel, war vielleicht, das zu tun, was er in jener Nacht bei mir getan hatte. Aber würde ich das wirklich schaffen?

Dass Paul alles zwischen uns mitbekommen hatte, war mir noch derart peinlich, dass ich es in den letzten Nächten vermieden hatte, zu Jeffrey ins Bett zu gehen. Jedoch vermisste ich seine körperliche Nähe schmerzlich. Dennoch wusste ich nicht, ob ich das konnte.

Seufzend richtete ich meine Aufmerksamkeit auf Paul. Jedoch war auch er in seiner eigenen Welt versunken und unterhielt sich angeregt mit Sally. Da wollte ich ungern dazwischenfunken. Zumal Paul so glücklich aussah und Sally von ihm wirklich angetan schien.

Ich würde mich wohl mit mir selbst beschäftigen müssen. Nachdenklich betrachtete ich den wahnsinnig leckeren Kuchen, aber ich hatte bereits so viel davon gegessen, dass sicherlich kein Krümel mehr in meinen Bauch passen würde. Also was tun? Es war niemand 'frei' für eine Unterhaltung, auf Schlafen hatte ich keine Lust mehr und ich würde bald platzen, so voll war ich.

Nun, vielleicht hörte ich einmal auf Divari und sah mir an, was so in der Welt passierte. Lustlos durchblätterte ich das Tagesblatt, bis mir klar wurde, dass es gar nicht von heute war. Seltsam, warum schleppte mein Vormund eine mehrere Wochen alte Tageszeitung mit sich herum?

Nachdem ich dies festgestellt hatte, sah ich mir die Seiten ein zweites Mal und diesmal genauer an. Aber ich entdeckte absolut nichts Besonderes an der Zeitung. Mir kam der Gedanke, ob sie vielleicht einen Artikel enthielt, der auf etwas Bezug nahm, was Divari wichtig war, jedoch fand ich nichts in der Art. Alles, über das ich las, waren politische Spannungen und die Angst vor einem Krieg – man sprach sogar von Weltkrieg. Allein die Vorstellung war für mich verrückt und ich glaubte nicht, dass Menschen sich so sehr hassen und eine ganze Welt in Krieg stürzen konnten. Sicher wollte man den Bürgern damit nur Angst machen. Mehr konnte nicht dahinterstecken, jedenfalls hoffte ich das. Wenn ich es aber genauer betrachtete, wirkten die Erwachsenen von Woche zu Woche angespannter.

Nein, ich war eindeutig zu jung, um mir über das Ende der Welt Gedanken zu machen. Außerdem hatte ich ganz andere Probleme. Wenn ich nicht aufpasste, dann endete die Welt für mich ganz schnell.

Gerade als ich die Zeitung wieder weglegen wollte, fiel mir doch ein Artikel ins Auge. Nicht jedoch, weil ich ihn in Verbindung mit Divari bringen konnte, sondern weil mir der Inhalt total grotesk erschien.

Allein die Überschrift veranlasste mich, die Stirn in Falten zu legen und den Kopf zu schütteln. „'Bankräuber lassen Millionen liegen und stehlen alte Briefe'“, las ich still und wunderte mich, was jemand mit einem Stapel alten Papiers will, wenn er doch gerade die Möglichkeit hatte, Millionär zu werden.

„Wie ich sehe, hast du doch endlich dein Interesse für das Weltgeschehen entdeckt. Das erfreut mich wirklich“, richtete mein Vormund seine Aufmerksamkeit nun wieder auf mich. Irritiert blickte ich zu ihm auf und blinzelte, als das Sonnenlicht direkt in meine Augen fiel.

„Also eigentlich wundere ich mich nur gerade, wie du das jeden Tag lesen kannst? Da wird man doch trübsinnig von. Gibt es denn gar nichts Positives zu berichten? Immer nur Hass und Leid. Oder so was Komisches, wie das da“, beendete ich meinen Monolog und hielt Divari die Seite mit dem seltsamen Bankraub vor die Nase. Ich erwartete, dass er den Artikel lesen und mir dann zustimmen würde, aber etwas ganz anderes geschah.

Er blickte so kurz auf die Seite, dass ich die Hand dafür ins Feuer gelegt hätte, er hätte weder die Überschrift, noch den Artikel selbst gelesen haben können. Doch er erblasste augenblicklich, als wüsste er sehr genau, was ich ihm da zeigte. Und anders als mich, schien es ihn zu erschrecken. Was bitte war daran erschreckend, wenn eine Handvoll Idioten in eine Bank einbrachen und Briefe stahlen? Womöglich noch alte, schnulzige Liebesbriefe.

„Was ist?“, fragte ich verwundert und dies steigerte sich noch, als er mir fast schon grob die Zeitung aus der Hand riss.

„Nichts. Nichts“, versicherte er mir. Doch dadurch, dass er dieses eine Wort wiederholte, wurde seine Aussage nicht glaubwürdiger. Gerade wollte ich ihm widersprechen, aber er schnitt mir sofort mit einer harschen Handbewegung das Wort ab. „Es ist wohl besser, wenn jemand in deinem Alter sich nicht mit solchen Informationen belastet“, erklärte er und ließ die Zeitung in seiner Jacke verschwinden.

Nun war ich absolut sicher, dass hier etwas faul war. Seit Jahren predigte er mir, wie wichtig es sei, auch für einen Jugendlichen, über das Weltgeschehen informiert zu sein. Und nun, wo ich einen Blick riskiert hatte, redete er es mir sogar aktiv aus? So kannte ich meinen Vormund gar nicht. Etwas musste mit ihm geschehen sein, seit er in London war.

„Was ist hier eigentlich los?“, sprach ich nun aus, was mir schon lange durch den Kopf ging. „Du verschweigst mir doch etwas. Ich will endlich wissen, was es ist!“

Mein Vormund holte tief Luft und ich sah, wie er innerlich damit kämpfte, die Fassung nicht zu verlieren. Als er sprach, war seine Stimme so ruhig und klar wie immer, aber ich merkte deutlich, dass ich etwas angerührt hatte, das ihm unangenehm war.

„Was soll schon los sein?“

„Warum bist du wirklich in London?“, platzte es so wütend aus mir heraus, dass die anderen mich verwundert ansahen.

„Das habe ich dir doch bereits erklärt“, seufzte Divari und ihm schien die plötzliche Aufmerksamkeit mehr als unangenehm zu sein. „Es gab ein Problem mit einem wichtigen Geschäftskunden und das erforderte meine Anwesenheit hier. So ist das eben manchmal.“

„Was? War ein Kunde nicht zufrieden mit einem Seidenstoff, den du ihm geliefert hast und da musstest du direkt das nächste Schiff nach Europa nehmen?“ Ich hörte sehr wohl den Hohn in meiner Stimme und wusste, ich würde mir dadurch eine saftige Ohrfeige durch meinen Vormund einhandeln können. Aber das war mir gerade egal.

„Mike“, seufzte mein Vormund und die Art, wie er meinen Namen aussprach, ließ mich aufhorchen. „Die Dinge sind etwas komplizierter, als du es dir vorstellst und fordern eben einen gewissen Einsatz. Wenn du älter bist, können wir gerne noch einmal darüber sprechen, aber nun solltest du mich meine Arbeit machen lassen und aufhören, Fragen zu stellen. Immerhin sichert dir mein Verdienst auch deine Schulbildung.“

Überrascht blinzelte ich ihn an. Das war nicht nur falsch, sondern schlichtweg gelogen. Divari bezahlte mit keinem Penny meinen Aufenthalt auf dem Internat. Das tat ein Teil der Erbschaft meines Vaters, der extra für diesen Zweck zur Verfügung stand. Also bezahlte mein verstorbener Vater meine Schulbildung und nicht Divari. Natürlich tat dieser sehr viel in anderen Bereichen: Die Überfahrten nach Europa bzw. Indien fuhr ich immer in der ersten Klasse, ich hatte genug Kleidung und wenn ich etwas wollte, dann brauchte ich es nur sagen. Das ging so weit, dass es mir beinahe schon peinlich war.

Ich war sprachlos und Divari schien wohl zu glauben, ich hätte eingesehen, dass mein Verhalten falsch gewesen war. Zumindest schien er das Thema für beendet zu erachten und sein Gesicht wirkte wieder genauso entspannt, wie sonst auch. Betreten beobachtete ich eine Ameise, die soeben einen Kuchenkrümel für sich beanspruchte und dennoch fühlte ich die unangenehmen Blicke der anderen auf mir. Vielleicht hatte ich mich wirklich etwas danebenbenommen. Immerhin sollte das hier ein entspanntes Picknick sein, mit dem wir feiern wollten, dem Tod noch mal von der Schippe gesprungen zu sein. Und ich hatte nichts anderes zu tun, als mich zu streiten.

„Es tut mir leid“, murmelte ich zerknirscht. Ich erwartete, erneut streng durch meinen Vormund gemustert zu werden, aber er lächelte mich so offen an, wie sonst auch.

„Schon gut und jetzt zerbrich dir nicht mehr den Kopf darüber. Ich muss gleich los und hab auf meiner Rückreise nach Indien lieber dein fröhliches Gesicht in Erinnerung.“

„Was jetzt schon?“, entfuhr es mir. „Aber du fährst doch erst morgen!“

Ich hätte mich am liebsten an seinen Arm geklammert und ihn wie ein kleines Kind angefleht, noch ein paar Stunden zu bleiben. Aber mir wurde schließlich selbst bewusst, wie albern das war, also nickte ich nur.

„Ich muss noch packen“, erklärte Divari seine Eile. „Und ...“

„... du hast noch wichtige Geschäfte zu erledigen“, beendete ich den Satz für ihn, worauf er mir mit einem gequälten Lächeln antwortete.

„Es ist erforderlich, dass ein wichtiger Geschäftspartner aktuelle Anweisungen erhält, sonst ist das gesamte Unternehmen in Gefahr.“

Warum glaubte mein Vormund, die Welt würde untergehen, wenn er nicht ständig und überall seine Finger im Spiel hatte? Ich zuckte nur mit den Schultern. Wahrscheinlich würde ich ihn nie verstehen. Hätte ich zu diesem Zeitpunkt gewusst, welche Bedeutung dieser eine Satz für mich hatte, hätte ich sicher kein Auge mehr zubekommen. So war er für mich nicht mehr als eine Ausrede von einem Mann, der nur Arbeit kannte.

Divari stand ächzend auf, während er einen Scherz über sein Alter machte und sich von der kleinen Runde verabschiedete. Gerade, als er sich zum Gehen abwandte, fiel mir noch etwas ein und mein Groll der letzten Minuten war sofort vergessen.

Die Osterferien bei Jeffrey!

Auf keinen Fall konnte ich Divari gehen lassen, bevor ich sein Einverständnis hatte. Aufgeregt berichtete ich ihm von unserem Plan und Jeffrey fiel auch direkt ein, sodass wir beinahe im Chor auf ihn einredeten.

„Jetzt einmal langsam. Was wollt ihr?“, lachte Divari amüsiert.

„Ich hatte Mike angeboten, die Osterferien bei uns verbringen“, erzählte Jeffrey enthusiastisch und deutete auf seinen Onkel. „Ich habe auch schon mit meinem Onkel gesprochen. Es wäre absolut kein Umstand. Oder, Onkel Stan?“

Prüfend glitt der Blick meines Onkels zu Stan Harris, der ihm versicherte, dass er sich freuen würde, mich für die zwei Wochen bei sich aufzunehmen. Zumal es das Mindeste war, was er tun konnte, nachdem Divari Jeffreys Leben gerettet hatte. Jedenfalls sagte er das so.

Und es stimmte, ging es mir durch den Kopf. Wäre mein Vormund nicht plötzlich aufgetaucht, dann wäre Jeffrey die notwendige Behandlung wohl verwehrt geblieben. Zumindest machten weder Mr. McIntire, noch Miss McCrooder den Eindruck, als hätten sie den Ernst der Lage erkannt.

Es gab außerdem keinen Grund, dass Divari dieses Angebot ablehnen sollte, dennoch schien er zu zögern. Als würde er abwägen, ob mir irgendeine Gefahr durch Stan Harris drohte.

„Ich würde mich wirklich sehr freuen und ich werde auf ihn Acht geben, als wäre er mein eigener Sohn“, versicherte Stan und das Herz rutschte mir in die Hose, als Divari leicht den Kopf schüttelte.

„Warum nicht“, stimmte er zu und ich war froh, dass seine Geste nur die Antwort auf seine eigene Frage und keine Ablehnung war. Zielstrebig kramte er in seiner Jackentasche und holte schließlich seine Taschenuhr hervor. „Hm“, brummte Divari und klappte sie wieder zu. „Ein paar Minuten habe ich noch. Ich werde es gleich mit Mr. McIntire abklären, damit es auch keine Schwierigkeiten gibt.“

„Danke!“, rief ich überschwänglich und fiel ihm um den Hals. Es war das erste Mal seit einigen Minuten, dass ich mich vollkommen gelöst fühlte und mir tat mein Misstrauen Divari gegenüber bereits wieder leid. Ich war schon wieder ungerecht gewesen, befand ich und verstand nicht, warum mir das so oft passierte. Erst bei Jeffrey und nun Divari, der so viel für mich tat. Und das, obwohl uns nur seine Freundschaft zu meinem Vater verband.

Dennoch nagte ein gewisses Unbehagen an mir, aber vermutlich war es nur die Schuld, die ich fühlte. Warum sollte mein Vormund mir etwas verschweigen? Und zu glauben, dass etwas Größeres um mich herum geschah und ich es einfach nur nicht verstand, war geradezu paranoid.

Vielleicht war das mein Problem: Ich hatte solche Angst vor meinen Gefühlen und den Konsequenzen dadurch, dass ich überall Gefahr witterte.

„Also, dann wünsche ich dir eine schöne Zeit und mach mir keinen Ärger mehr“, verabschiedete sich mein Vormund von mir. „Wir sehen uns dann in den Winterferien.“

Ich nickte nur und widerstand dem Impuls, ihn erneut fest zu umklammern. Immerhin war ich alt genug, um ihm auf eine erwachsenere Art zu begegnen. Wenn ich gewusst hätte, was mir bevorstand, hätte ich wohl darauf gepfiffen und ihn nie mehr losgelassen. Sicher hätte das nichts genützt. Dennoch frage ich mich oft, wie mein Leben nun aussehen würde, wenn sie ehrlich zu mir gewesen wären.

Mit einer Mischung aus Freude, weil Divari mir das mit den Osterferien erlaubt hatte, und Trauer – ich würde ihn erst in gut einem halben Jahr wiedersehen – blickte ich meinem Vormund hinterher. Tief seufzte ich, denn mir wurde bewusst, dass ich mich freuen sollte. Aber nun spürte ich nichts als eine bleierne Leere. Wie konnte sich das so schwer anfühlen – ein Nichts im Herzen?

„War denn vorhin los?“, fragte Stan und riss mich somit aus meinem trüben Gedankenkarussell. Fast schon verwirrt blickte ich ihm ins Gesicht, obwohl mir klar war, wovon er sprach.

„Ach, nichts“, meinte ich und erkannte durchaus die Ironie darin. Ich sah Divari wohl ähnlicher, als ich es manchmal wahrhaben wollte.

Aber warum auch nicht? Ich mochte diesen Mann. Er war gutherzig, freundlich und ich vermisste ihn jetzt schon schmerzlich. Als ich bemerkte, wie der Kloß in meinem Hals immer drückender wurde, wandte ich mich schnell ab. Schwer schluckte ich und verstand nicht ganz, was los war.

Klar war ich traurig, dass mein Vormund nun abreiste. Doch ich hatte das so oft erlebt und es nahm mich schon seit einigen Jahren nicht mehr so sehr mit. Warum also jetzt?

Ich wurde einfach den Gedanken nicht los, es könnte endgültig sein. Als würde ich in einem Zug sitzen und wusste, über die Klippe führte keine Brücke. Dennoch konnte ich es einfach nicht schaffen, die Bremse zu ziehen und vielleicht gab es sie gar nicht?

Schulterzuckend verabschiedete ich mich ebenfalls für eine halbe Stunde, um einen kleinen Spaziergang zu machen.

„Soll ich dich begleiten?“, fragte Jeffrey und ich hörte deutlich die Besorgnis in seiner Stimme. Lächelnd schüttelte ich den Kopf. Ich freute mich still darüber, dass er mir diese Seite von sich so oft zeigte. Die meisten anderen Schüler – und vor allem die Lehrer – von Andara-House kannten nur den Raufbold Jeffrey. Ich jedoch wusste, dass er einen weichen Kern hatte und sich nur zu gern um das kümmerte, was er liebte. Noch eine ganze Weile auf meinem Weg durch den Wald freute ich mich, dass ich etwas war, das er liebte. Dass er mich bemerkt hatte. Mich – unter den hunderten Jungen auf dem Internat und das, obwohl ich absolut nichts Besonderes an mir hatte.



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