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[Operation Nautilus] Andara-House

Mein letztes Jahr
von

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"Wahrheiten"

Das Waldstück war nicht besonders groß, dennoch konnte man sich hier recht gut verlaufen, wenn man nicht aufpasste. Aber ich lebte, seit ich zehn war, auf Andara-House und kannte diesen kleinen Wald daher recht gut. Jede freie Minute hatte ich hier verbracht. Dabei entdeckte ich wundervolle Plätze, an die ich manchmal flüchtete, um zu lesen oder einfach nur meinen Gedanken nachzuhängen. Der Wald war voll von Orten, die geradezu magisch erschienen und mir die nötige Ruhe gaben, welche mir des Öfteren im Internat fehlte.

Lächelnd betrachtete ich das Ziel meines Weges. Eine alte, knorrige Eiche, deren Äste so gewachsen waren, dass ihre Astgabelung dem Aussehen eines Throns sehr nahe kam. Es war geradezu unmöglich, von diesem Baum zu fallen, da die Äste einen stets wie sichernde Arme umschlossen. Für einen kurzen Moment genoss ich diesen majestätischen Anblick. Wie ich es als Kind gern getan hatte, begrüßte ich ihn in Gedanken und stellte mir vor, dass er mir zuhören würde. Dann griff ich entschlossen nach dem niedrigsten Ast, schwang mich mit wenigen kraftvollen Bewegungen nach oben und schloss seufzend die Augen. Während ich meine Stirn gegen seine warme Rinde lehnte und dem Rauschen seiner Blätter lauschte, schwanden meine Sorgen. Früher kam ich her, weil ich mich einsam fühlte und Probleme mit den anderen Kindern hatte. Das war noch bevor der blonde und stets verpeilte Junge, welcher sich mir als Paul Winterfeld vorstellte, in mein Zimmer zog.

Danach waren wir sogar oft gemeinsam hier gewesen und spielten, wir seien Königssöhne im Exil, die von gemeinen Drachen im Schloss festgehalten wurden und nur an diesem Baum für wenige Minuten Freiheit erfahren durften. Dabei schmuggelte Paul sogar einmal sein Kopfkissen mit nach draußen, weil er der Meinung war, der Thron, der nur mir gebührte, sei zu hart. Die Erinnerung ließ mich gleichwohl schmunzeln, als auch vor Scham erröten. Schon lange spielten wir nicht mehr, dass wir Prinzen seien und es war mir nun wirklich peinlich.

Der Gedanke, ein Prinz zu sein, erfüllte mich nicht mehr mit dieser kindlichen Freude, sondern mit Abscheu. Denn nur zu oft hatte ich im Internat erlebt, dass Adelige sich für etwas Besseres hielten, obwohl sie nicht viel anders waren als Paul oder ich. Wobei wir ihnen oft einiges voraus hatten. Vor allem, was Respekt für andere anging. Nein, ich war froh, kein Prinz zu sein. Denn wäre ich einer, wer weiß, ob ich dann so wäre wie Juan und andere herumschubste.

„Hey, du da oben“, hörte ich eine bekannte Stimme und lächelte, während ich mich nach vorne beugte, um in die Tiefe zu blicken. Paul grinste mir entgegen und machte sich halb auf dem Weg zu mir nach oben. „Eure königliche Hoheit erlaubt doch?“

„Hör auf mit dem Mist!“, ermahnte ich ihn lachend, als er sich neben mir in die Astgabelung sinken ließ. „Wir sind keine kleinen Kinder mehr.“ Leider, ging es mir durch den Kopf. Auch wenn mir so vieles Angst bereitet hatte, kam mir die Zeit damals nun um einiges einfacher vor. Trotz der Angst fühlte ich mich sicher, auch wenn mir das Verhalten der Erwachsenen oft ein Rätsel war. Ich war sicher und fühlte mich beschützt. Wogegen die letzten Monate waren, als wäre ich im freien Fall. Fühlte es sich so an, erwachsen zu werden? War das normal oder war es nur für mich eine absolute Katastrophe?

„Was war eigentlich vorhin los mit dir?“, riss Paul mich wieder aus meinen Gedanken. Ich war ihm dankbar, denn ich merkte, dass sie mich wieder einmal zu nichts brachten und mich im Gegenteil in ein tiefes, schwarzes Loch zogen. „Sicher, es ist traurig, wenn man mal wieder hier zurückgelassen wird, aber so hast du noch nie reagiert.“

Das war übertrieben. Es gab früher durchaus Tage, an denen ich geweint und geschrien hatte, weil man mich wieder alleine im Internat zurückließ. Aber seit Paul mich kannte, hatte ich darauf sehr gefasst reagiert. Ich wusste meine Zeit hier zu nutzen und mir war klargeworden, dass ich bei Divari immer einen Platz hatte. Also gab es nichts, wovor ich Angst haben musste. Bis zu diesem Tag.

„Ich weiß nicht“, druckste ich herum. „Die Sache mit mir und Jeffrey scheint mich wohl paranoid gemacht zu haben. Jedenfalls kam mir das alles so seltsam vor.“ Ich lauschte eine Weile dem Wind, der sich in den Blättern des Baumes fing und blickte dann verwirrt auf, als Paul nichts erwiderte. „Ich meine, fandest du nicht auch, dass mein Vormund sich seltsam benommen hat?“

„Also eigentlich war er so freundlich wie immer“, meinte Paul gedehnt, als würde er noch über meine Worte nachdenken, während er sprach. „Gut, er wirkte etwas gestresst. Aber er sagte ja auch, dass er Probleme mit einem Geschäftskunden hatte.“

„Und du glaubst die Geschichte?“

„Ja warum denn nicht?“ Verwirrt sah Paul, der einen Ast weiter nach oben geklettert war, zu mir herab. „Warum sollte er dich anlügen? Da gibt es doch gar keinen Grund zu. Freu' dich einfach, dass dir zwei schöne Wochen bevorstehen.“

„Hm, du hast wohl Recht“, meinte ich und konnte es nicht ganz verhindern, dass meine Ohren zu glühen begannen, als ich über die kommenden Osterferien nachdachte. Jeffrey und ich würden ganze zwei Wochen alleine sein. Sicher würden wir auch einiges mit Stan unternehmen, aber der konnte ja nicht immer bei uns sein. Immerhin hatte er ja noch sein Café.

Und nachts … Darüber hatte ich mir noch gar keine Gedanken gemacht. Ob wir wohl in getrennten Schlafzimmern schlafen würden? Ich hoffte nicht, aber ich hatte keine Ahnung wie wir Stan erklären sollten, warum wir nur ein Bett brauchten. Als ich genauer darüber nachdachte, zog sich etwas in mir zusammen. Vielleicht würden die zwei Wochen doch nicht so schön, denn ich konnte mir einfach nicht vorstellen, getrennt von Jeffrey zu schlafen. Dabei hatte ich gehofft, ihm in dieser Zeit wieder etwas näher zu kommen.

Das, was er in der einen Nacht mit mir getan hatte, war so schön und ich sehnte mich danach, es wieder zu fühlen. Aber seit ich wusste, dass Paul uns gehört hatte, erstarrte ich innerlich, wenn Jeffrey etwas versuchte. Das sorgte für ziemlich viel Frust: und das nicht nur bei mir. Jeffrey gab es nicht zu, aber ich merkte deutlich, dass ihn es wurmte, nicht mehr tun zu können, als mich zu küssen.

Wenn wir jedoch etwas taten, würde Paul es mitbekommen oder schlimmer, einer der Lehrer, der nachts die Zimmer kontrollierte.

„Bist du mir eigentlich böse?“, fragte ich unvermittelt, worauf Paul mich verwirrt ansah. Derart geschickt, dass jedes Äffchen neidisch auf ihn gewesen wäre, schwang er sich zu mir herunter.

„Was? Warum das denn plötzlich?“

„Na, weil ich dann nicht so viel Zeit für dich und deinen Vater habe“, erklärte ich zerknirscht. Zwar würde ich Paul in den Ferien sowieso weniger sehen, da er bei seinem Vater im Hotel schlief und sie so einiges vorhatten. Aber da ich selbst jetzt die Wochen verplant hatte, fühlte es sich fast an, als würde ich ihn vernachlässigen. Wir hatten sonst viel mehr zusammen unternommen und nun ging mir fast täglich nur Jeffrey durch den Kopf. Naja, und das, was wir endlich tun wollten. Ich spürte, wie ich knallrot anlief und sah schnell weg, bevor Paul es auch bemerken konnte. Jedoch war ich etwas zu langsam, wie mir dessen helles Kichern neben mir klarmachte.

„Ist schon in Ordnung“, sagte Paul lachend. „Wenn ich jemanden hätte, so wie du, dann würde ich auch die meiste Zeit mit ihr verbringen wollen.“

„Mhm“, machte ich dankbar, während sich ein fettes Grinsen auf mein Gesicht schlich. „Und du denkst da an eine ganz bestimmte Person?“ Diesmal war es Paul, der errötete. „Und? Du magst sie oder?“

„Sehr“, gestand Paul. „Sie ist so unglaublich humorvoll und außerdem wunderschön.“

Seine Augen glänzten, während er über sie sprach und ich war mir sicher, ihn vorher noch nie so glücklich gesehen zu haben. Paul redete noch eine Weile über seine Unterhaltung mit Sally und darüber, was er an ihr besonders gut fand – was so im Grunde alles war. Aber je mehr er sprach, desto weniger konnte ich mein Grinsen im Zaum halten. Er wurde immer nervöser, kramte alle paar Minuten seine Taschenuhr hervor und blickte in die Richtung, in welcher der See lag.

„Und du warst eigentlich nur hier, um zu sehen, ob es mir gut geht“, beendete ich seine Rede, worauf er mich betroffen ansah. „Es geht mir gut.“ Ich lächelte ihn aufmunternd an. „Und jetzt geh schon zurück zu ihr. Ich komme auch gleich nach.“

„Es macht dir nichts aus, wenn ich dich alleine lasse?“, fragte Paul unsicher, bevor er sich langsam auf den Weg nach unten machte, nachdem ich ihm erneut versicherte, in Ordnung zu sein. Noch eine Weile blickte ich ihm mit einem Kopfschütteln und einem fetten Grinsen im Gesicht nach. Und ich war ihm dankbar. Dankbar, dass er trotz seiner Verliebtheit an mich dachte.

Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber schließlich stand ich seufzend auf und streckte meine starren Muskeln. Es war das Beste, wenn ich jetzt auch zurück zum See ging, bevor sie noch einen ganzen Suchtrupp wegen mir losschickten.

Gerade, als ich nach dem nächsten Ast griff, um nach unten zu klettern, vernahm ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung zwischen den Büschen. Angestrengt blickte ich in die Richtung, doch ich konnte nichts ausmachen. Vermutlich war es nur ein Reh gewesen, dachte ich und maß dem keine weitere Bedeutung zu.

Vorsichtig ließ ich mich auf den unteren Ast gleiten, als ich ein lautes Knacken hörte und vor Schreck fast losgelassen hätte. So schnell es meine Position erlaubte, drehte ich den Kopf und sah gerade noch so hellblauen Stoff zwischen den Büschen davonhuschen.

Was war das? Rehe trugen ganz sicher keine hellblauen Kleider!

Kurzerhand ließ ich mich die letzten Meter fallen und kam federnd wieder auf die Füße. „Sally?“, rief ich fragend in den Wald hinein. Aber leider erhielt ich keine Antwort, daher griff ich mit weiten Schritten aus. Hatte ich wirklich Sally gesehen?, ging es mir durch den Kopf. Aber sonst kannte ich niemanden in der Nähe von Andara-House, der ein blaues Kleid trug.

Was machte Sally hier draußen im Wald? War sie vielleicht Paul gefolgt und hatte sich dann verlaufen? Der Wald war nicht groß, aber wenn man nicht aufpasste, konnte das durchaus passieren und Sally war zum ersten Mal hier.

Ich beschloss, ihr zu folgen, da ich es nicht riskieren wollte, sie wieder zu verlieren und eventuell mit den anderen die ganze Nacht suchen zu müssen. Außerdem wollte ich nicht wissen, was Paul mit mir machen würde, wenn er wüsste, ich hatte die Chance, Sally vor dem Verlaufen zu retten und diese nicht genutzt.

Erneut rief ich ihren Namen und drehte mich unschlüssig um meine eigene Achse. „Mist!“, fluchte ich leise. Ich hatte sie aus den Augen verloren, obwohl sie nur wenige Meter vor mir gewesen sein konnte! Das war vollkommen unmöglich; sie musste hier irgendwo sein.

Angestrengt starrte ich in die Richtung, in der sie verschwunden war und tatsächlich sah ich durch die Büsche etwas Blaues blitzen. Ohne weiter darüber nachzudenken, rannte ich los und sprang halb durch das Gebüsch.

„Sally? Was ist passiert? Hast du dich ver...“

Die Situation hätte grotesker nicht sein können. Ich fror regelrecht mitten im Wort ein, während sie mich mit schreckgeweiteten Augen anblickte. Mir war bewusst, dass ich mich eigentlich hätte abwenden sollen, aber ich konnte es nicht. Sally stand in leicht gehockter Stellung an der gegenüberliegenden Hecke und hielt ihren zusammengerafften Rock im linken Arm, während sie mit der rechten ihr Glied in der Hand hielt. Moment! Ihr … Glied … Mein Kopf weigerte sich, diese zwei Worte zusammenzufügen, aber es war eindeutig das, was ich sah.

„Was ...“, stammelte ich und deute fast schon panisch zwischen ihre … seine? … Beine. „Penis?“ Mir war bewusst, wie debil ich klang, nur musste sich mein Gehirn in den letzten Minuten abgeschaltet haben. Als wäre dies der Startschuss gewesen, stopfte Sally ihr bestes Stück zurück in ihre lange Unterhose, ließ den Rock fallen und rannte, als sei der Teufel hinter ihr her. „Sally!“, rief ich ihr perplex hinterher und versuchte, sie einzuholen. Was ging hier eigentlich vor sich? Sally war ein Er?! „Bleib stehen!“, kreischte ich und hatte noch im Kopf, wie Paul von ihr geschwärmt hatte. Oh Gott, wie sollte ich ihm das erklären? Wo doch nun eindeutig klar war, dass er nur Mädchen liebte.

Warum hatte Sally ihm das angetan? Ich wollte eine Erklärung! Und zwar jetzt!

Vollkommen in Panik brach Sally quer durch die Sträucher. Dabei strauchelte sie immer wieder, aber das Entsetzen über das Geschehene schien ihr regelrecht Flügel zu verleihen. Als sie erneut fiel, wurde mir bewusst, was ich hier eigentlich tat und blieb abrupt stehen.

„Sally! Es tut mir leid! Ich wollte dir keine Angst machen!“, rief ich flehend. Jedoch schien sie das nicht im Geringsten zu beruhigen. Blind, wie ein gehetztes Reh, rannte sie weiter und es lief mir eiskalt den Rücken herunter, als ich begriff in welche Richtung sie lief. „Bleib stehen, Sally!“, donnerte ich und rannte so schnell ich konnte auf sie zu.

Sally lief direkt auf die Klippe zu! Es war nicht wirklich eine Klippe, aber wir hatten den steilen Abhang so genannt und früher sogar eine Mutprobe daraus gemacht, wer hinabklettern konnte. Er war nicht schwindelerregend tief, aber tief genug, um sich einige Knochen zu brechen, wenn man hinabfiel.

Und Sally stürmte darauf zu! Entsetzt hastete ich auf sie zu und registrierte, dass sie langsamer wurde. Jedoch schien sie von der Gefahr nichts zu ahnen. „Abhang!“, keuchte ich. Meine Lunge brannte und es begann bereits, unangenehm in meiner Seite zu stechen.

Es war das erste Wort, welches sie von mir wahrzunehmen schien, denn sie bremste ab und drehte sich in einer ungelenken Bewegung zu mir um. Nur noch anderthalb Meter trennten uns, als ein Teil des Erdreiches unter ihrem rechten Fuß wegbrach und sie mit einem spitzen Schrei nach hinten kippte. Ohne darüber nachzudenken, griff ich nach dem Stoff ihres Kleides und ließ mich nach hinten fallen. Der Aufprall fühlte sich an, als würde mein Rückgrat in zwei brechen und trieb mir die Luft aus der Lunge. Dass Sally ungebremst auf mir zu liegen kam, machte es auch nicht besser.

„Was ist eigentlich mit eurer Familie los, dass ihr ständig irgendwo rein- oder herunterfallen müsst?“, brachte ich japsend hervor. Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass ich Sally kurz nach dem Sturz umklammert hatte und ließ die Arme nun kraftlos neben mich fallen. Alles um mich herum drehte sich und ich brauchte eine Weile, um wieder zu Atem zu kommen.

Sally hingegen schien sich schneller wieder zu fassen. Sie rappelte sich langsam auf, schien aber nicht gewillt, von mir herunter zu gehen. Ich lag noch immer wie eine hilflose Schildkröte auf dem Rücken, während sie mich mit einem so ernsten Blick ansah, dass ich es mit der Angst zu tun bekam.

„Sag es niemandem!“, zischte sie – oder sollte ich er sagen? Nun war ich es, der mit geweiteten Augen aufsah und kein Wort herausbrachte. Und es schien Sally nicht zu gefallen, denn sie/er drückte das Knie unangenehm in meine Körpermitte. „Sag, dass du es niemanden sagst! Und glaub nicht, ich wüsste nicht, wie sehr das wehtut!“

„Erklär's mir“, brachte ich quietschend hervor und hoffte, meine Weichteile würden das überstehen. Denn ich hing doch ziemlich an ihnen. „Ich will es nur verstehen.“

Nachdenklich blickte Sally zu mir herab und ließ mich dann endlich frei. Als sie neben mir zum Sitzen kam, schien sie regelrecht in sich zusammenzusacken und ich erkannte Tränen in ihren Augen. Nun kam ich mir noch schäbiger vor, wenn ich daran dachte, wie ich sie verfolgt hatte. Aber vor allem das Gefühl von Verrat, welches ich gespürt hatte, tat mir leid.

„Du bist … ein Junge?“, brachte ich vorsichtig heraus, als Sally nach wie vor schwieg.

„Nein!“

Sally spie mir das Wort regelrecht entgegen, sodass ich erschrocken zusammenzuckte und mich wenige Zentimeter von ihr wegschob.

„Das bin ich nicht!“, schluchzte sie und tippte sich mit der Hand kräftig gegen die Brust. „Nicht hier drin! Aber ihr seht ja alle nur, was 'offensichtlich' ist!“

Geschockt sah ich sie an. Ich war weit entfernt von Verstehen, aber in mir bildete sich eine dunkle Ahnung von dem, was in Sally vorging. Wie es aussah, war sie rein körperlich ein Junge, doch diese Tatsache schien sich nicht mit dem zu decken, was sie fühlte.

So wie bei mir – nur etwas anders – schoss es mir durch den Kopf. Auch ich war anders und das brachte mich Sally so viel näher. Ich liebte einen Mann, obwohl ich selbst einer war und Sally... wollte einfach Sally sein.

„Es tut mir leid“, murmelte ich mit erstickter Stimme. Aber mir war bewusst, dass diese Worte hohl waren, während die Tränen Sallys Blick immer mehr verschleierten.

„Ich hatte gehofft, dass du es verstehen könntest!“, brachte sie unter Weinkrämpfen hervor. „Du liebst ihn doch? Oder?! Wenn du das kannst, warum verstehst du mich nicht?!“

Sie hatte Recht. Warum hatte ich so blöd reagiert, wo ich doch selbst wusste, wie sich das anfühlte? Aber ich verstand doch nicht einmal mich vollkommen! Ich hatte nie vorgehabt, Sally zu verletzten. Es war nur, dass ich nie darüber nachgedacht hatte, dass es das geben konnte.

„Es tut mir leid!“ Wieder diese Worte, die nichts brachten. „Ich hatte Angst, weil ich mich selbst doch oft nicht verstehe! Ich habe solche Angst vor dem, was mit mir passiert, wenn es jemand erfährt! Und ich hätte besser reagieren müssen, aber … ich ...“ Ich brach ab. Egal, was ich sagte, es würde nichts bringen. Da ich mich benommen hatte wie der letzte Arsch, verstand ich es, wenn Sally mich nun hasste. Aber ich wollte zumindest klarmachen, dass sie sicher war. „Ich sage es keinem!“

Wieder sah sie mich mit diesem nachdenklichen, durchdringenden Blick an und ich hätte alles von ihr erwartet. Dass sie mich wortlos zurückließ, mich schlug oder wieder anschrie. Stattdessen nahm sie mich einfach in ihre Arme.

„Ist schon gut“, murmelte sie nahe an meinem Ohr. „Du weißt es selber erst seit ein paar Monaten. Ich habe zu viel von dir verlangt.“

Verwirrt ließ ich mich sogar für einige Sekunden in ihren Armen fallen. Warum war ich denn jetzt derjenige, der getröstet wurde? Ich war es doch, der sich unmöglich benommen hatte!

„Warum bist du jetzt so nett zu mir? Nach alldem?!“

Wortlos setzte Sally sich neben mich und zuckte mit den Schultern. „Ich bin es leid. All den Hass“, seufzte sie – ich beschloss, sie als sie zu sehen, auch, wenn ich es noch nicht ganz verstand. Unvermittelt griff sie nach meiner Hand und blickte mir ernst in die Augen. „Bitte sag es niemandem. Auch … auch Paul nicht.“

„Er mag dich“, murmelte ich leise. Es behagte mir gar nicht, so etwas Entscheidendes zu wissen und ihn weiter im Dunkeln zu lassen. Aber auf der anderen Seite stand es mir nicht zu, Sallys Geheimnis zu offenbaren. Zerknirscht biss ich mir auf die Unterlippe. Was ich auch tat, es fühlte sich nicht richtig an. Aber ich musste zu einer Entscheidung kommen, daher nickte ich schließlich langsam. „Erklärst du es mir dann wenigstens?“

„Glaub mir, wenn ich sicher wäre, dass er mich trotzdem noch mögen würde, wäre Paul der Erste, dem ich es sagen würde. Aber das geht nicht. Ich würde damit nicht nur mich, sondern auch Stan und Jeffrey in Gefahr bringen.“ Sallys Stimme sank zu einem kaum noch hörbaren Flüstern ab. „Und ich verdanke Stan zu viel, als ihm das anzutun.“

Verwirrt blickte ich sie an und versuchte, mir einen Reim daraus zu machen, warum sie ihren Vater mit seinem Vornamen ansprach. Vermutlich waren mir diese Gedanken deutlich anzusehen, denn sie lächelte mich an und zuckte mit den Achseln. „Er hat mir mein Leben geschenkt, so wie ich es jetzt führe; weißt du?“

„Wie war es vorher?“, fragte ich und hoffte, dass ich nicht vollkommen dumm klang.

„Es war keines“, war die ernüchternde Antwort, die mich mehr als alles andere erschütterte. Dabei war es nicht nur das, was sie sagte, als vielmehr, wie sie es sagte. In ihren Augen erkannte ich blankes Entsetzen und eine Trauer, die ich mir trotz meiner eigenen Verluste nicht vorstellen konnte. „Du hast natürlich Recht“, begann sie zu erklären. „Körperlich sieht man einen Jungen in mir, aber das ist nicht mein wahres Ich. Ich bin gefangen in diesem Körper und jeden Tag lebe ich mit der Angst, dass er sich weiter in eine Richtung entwickelt, die ich nicht sehen will. Die einfach nicht dem entspricht, was ich bin.“ Sie stockte. „Wenn andere aufstehen und sich Gedanken darüber machen, was sie zum Frühstück essen, frage ich mich: Ist meine Stimme heute rauer? Habe ich vielleicht Haare im Gesicht, die eine Frau da nicht haben sollte oder ist das nur ein Schatten?“

Aufmerksam betrachtete ich ihr Gesicht. Wenn man es nicht wusste, hatten ihre Züge wirklich wenig von einem Jungen. Aber sie war erst wenige Jahre älter als ich. Daher war es schwer abzusehen, wie sich das entwickeln würde, wenn sie erst einmal richtig erwachsen war.

„Stan sagt, dass ich Glück habe“, deutete sie mein Starren richtig. Peinlich berührt senkte ich den Blick und murmelte erneut eine Entschuldigung. Ich wollte sie nicht angaffen wie ein Tier im Zoo, aber – neben Jeffrey – jemanden zu treffen, der etwas Ähnliches durchmachte wie ich, erfüllte mich mit Neugier. „Er sagt, dadurch, dass ich eine helle Hautfarbe habe, ist es leichter, die männlichen Merkmale zu verbergen. Helles Haar übersieht man eher als dunkles. Außerdem meinte er, mein Körper würde wohl weniger männliche Hormone bilden. Was mein Erscheinungsbild begünstige – nur, ob das so bleibt, weiß niemand.“

Verwundert sah ich sie an. Ich hatte erst kürzlich in einem Zeitungsartikel über die Entdeckung von Stoffen im Körper, die man Hormone nannte, gelesen. Aber das ein einfacher Cafébetreiber so gut darüber Bescheid wusste, hätte ich nicht gedacht. Jeffreys Familie wurde immer interessanter und das erste Mal in meinem Leben fühlte ich mich genau richtig am Platz. Ich war ebenso anders – besonders – und das verband uns.

„Stan ist also nicht dein richtiger Vater?“, fragte ich, nun etwas mutiger geworden.

„Biologisch nicht, aber er ist der Erste, der diese Bezeichnung verdient.“ Auf ihrem Gesicht erschien ein versonnener Ausdruck, der mit jedem Wort mehr daraus verschwand. Was sie mir da erzählte, war so grauenvoll, dass ich mich kurz sogar weigerte, es als wahr anzunehmen.

Sally – oder Salvadore, als der sie geboren wurde – war eines der älteren Geschwister von zwölf. Sie erzählte mir davon, wie es war, zu frieren, mit leerem Bauch ins Bett zu gehen und davon, geschlagen zu werden, wenn man den Ansprüchen nicht genügte.

„Wenn ich nicht arbeiten musste, passte ich gerne auf meine kleinen Schwestern auf“, berichtete Sally und begann seit langem wieder zu lächeln. „Ich denke, da entdeckte ich es zum ersten Mal. Ich spielte gerne mit ihnen und ihren Puppen. Und jeden Sonntag, wenn wir in die Kirche gingen, bewunderte ich ihre Kleider. Oh, wie gerne hätte ich auch so schön ausgesehen!“

Sie strahlte über das ganze Gesicht und ich fand, sie sah wunderschön aus. Dennoch machte sich in mir auch ein nervöses Drücken in meiner Magengegend breit. Diese Erinnerung war für Sally eine weniger schlimme, aber ich fühlte, dass da noch furchtbare Dinge folgen würden. Ich schwieg und nickte, als Sally mich nonverbal fragte, ob sie fortfahren sollte.

„Ich war es irgendwann leid, mir das alles immer nur vorzustellen und wollte es in echt sehen. Ich wollte sehen, wie es wäre, ein wunderschönes Mädchen zu sein, also zog ich Susans Kleid an. Es war so schön blau wie dieses, mit weißer Spitze und einer Schleife drauf.“ Sie brach erneut ab und ein Schluchzen bahnte sich aus ihrer Kehle. Immer wieder versuchte sie, weiterzusprechen, aber es schüttelte sie regelrecht vor Weinkrämpfen.

„Du musst es nicht erzählen“, sagte ich ergriffen und drückte ihre Hand fest. Doch sie schüttelte energisch den Kopf.

„Ich will!“, stieß sie aus. „Mein Vater sah mich so. Ich habe ihn vorher noch nie so schreien hören! Tagelang schloss er mich ein. Sagte mir, ich sei krank und zu nichts zu gebrauchen. Ich wäre nichts als eine Last in seinen Augen. Ein Maul mehr, das es zu füttern galt.“

Das Folgende hätte aus einem Roman stammen können, aber es war Sallys Geschichte und noch heute erfüllt sie mich mit Trauer. Sallys Erzeuger sah keinen Wert in ihr und ergriff die nächste Gelegenheit, den vermeintlichen Schandfleck aus seiner Familie zu entfernen. Für sie hieß das, verkauft zu werden – an einen durchreisenden Circus, der sie von nun an als Kuriosität ausstellte. Die Abartigkeit, zu der Menschen fähig waren, drehte mir den Magen um und ich konnte kaum glauben, dass es noch schlimmer ging.

„Sie nannte sich Jocelyn und sie war wie ich“, erinnerte Sally sich. „Eines Tages kam dieser Mann in den Circus und er gaffte uns mit einem Blick an, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Schließlich handelte er mit dem Direktor einen Preis aus. Ich sollte mit ihm gehen; für eine Nacht. Ich war gerade erst zwölf geworden und Jocelyn flehte den Herrn an, sie zu nehmen. Sie sei mit ihren sechzehn Jahren besser geeignet. Damals verstand ich nicht, um was es ging. Das tat ich erst, als Jocelyn zurückkehrte. Sie versuchte noch in der gleichen Nacht, zu fliehen und wurde erschossen.“

Sallys Erzählung ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Ich hatte genug Fantasie, um mir zusammenzureimen, was Jocelyn in dieser Nacht durchlebt haben musste und konnte nicht fassen, dass man sie nach all dem Horror getötet hatte. Was Sally erlebt hatte, war mehr, als ein Mensch ertragen konnte. Trotzdem wirkte sie immer so fröhlich und lebensfroh. Ich begann, sie mehr und mehr zu bewundern. Nicht im Geringsten konnte ich sagen, wie ich sein würde, hätte ich nur halb so viel erlebt wie sie.

„Hat Stan dich da herausgeholt?“, mutmaßte ich. „Wie bist du ihm begegnet?“

Ein sanftes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht und ihr Blick schien in weiter Ferne gerückt zu sein. Vermutlich hatte sie ihre Erinnerungen vor Augen, als wäre es gestern gewesen und ich hoffe inständig, dass diese von guten Gefühlen geprägt waren. Immerhin schien Stan sie gerettet zu haben.

„Er war ein Gast, wie viele andere vor ihm auch. Aber Stan war von Anfang an anders: Er zeigte deutliches Interesse an mir und es erfüllte mich mit einer schrecklichen Angst. Ich dachte zunächst, er wolle das Gleiche, was Jocelyn passiert war. Nur dass diesmal keiner da war, der den Kopf für mich hinhielt.“ Sie hielt inne und schüttelte den Kopf. „Du glaubst gar nicht, was ich für eine Angst hatte, als er einen Preis für mich aushandelte. Aber es gab nichts, das ich tun konnte. Jocelyn hatte es versucht und mit ihrem Leben bezahlt“, sagte Sally schulterzuckend. „Letztendlich hatte ich Glück. Er hat mich mit sich genommen und aufgezogen wie sein eigenes Kind.“

Ich vermutete, dass da noch mehr dahintersteckte. Denn ich konnte nicht glauben, dass die beiden einfach so von da weggehen konnten. Aber Sallys Geschichte schien damit beendet zu sein und wenn ich ehrlich war, wusste ich nicht, ob ich noch mehr vertragen hätte. Mein Magen fühlte sich vollkommen rau an – so als hätte ich tagelang nichts gegessen und mir wurde sogar etwas schummerig. Die Angst, die ich während Sallys Erzählung gefühlt hatte, hatte wohl meine letzten Energiereserven verbraucht.

Peinlich berührt errötete ich, als mein Bauch heftig zu knurren anfing und Sally mich mit einem verschmitzten Grinsen ansah.

„Wollen wir sehen, ob Jeffrey uns noch Kuchen dagelassen hat?“, fragte sie lächelnd. Ich nickte schüchtern und fühlte, dass ich eine Weile brauchen würde, bis auch ich wieder so unbeschwert lachen konnte, wie sie es tat.



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