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So eisig die Nacht

von

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Chapter 10

Der Anblick des Jungen überforderte Tasha.

Sie hatte nicht erwartet, jemand anderen vorzufinden, als Dr. Cormins, schon gar nicht, als auf ihr Klingeln niemand reagiert hatte.

Sie hatte nicht einmal damit gerechnet, dass Cormins eine Familie besitzen könnte. Das hatte sie auch bei Armstrong nicht getan, oder bei irgendeinem der Anderen, denen sie noch einen Besuch abstatten wollte… eine reichlich voreilige Annahme, wie sie sich nun eingestehen musste.

Dem Teil von ihr, der verantwortlich dafür war, dass sie hier war, dem Teil, der nichts weiter mehr kannte als Kälte und Hunger, war es vollkommen gleichgültig, wer die Person da vor ihr war. Es war Nahrung, so viel war sicher, und alles andere war nebensächlich - also Tasha, was stehst du hier noch rum, du hast Armstrongs Pistole und dein Messer, also benutze irgendwas davon!

Sie hätte es ohne zu Zögern getan, wäre da nicht noch dieser andere Teil gewesen. Es war nicht direkt einer ihrer „klaren Momente“, doch dieser menschliche Teil war dennoch präsenter als er es in den letzten Tagen gewesen war, als sie Armstrong getötet, ihr Fleisch und Sehnen von den Knochen geschnitten und sie verspeist hatte, teils noch im Wagen, teils wieder in einem Versteck im Duma Forest. Da war sie vollkommen kalt gewesen, war „der Wendigo“ gewesen, und in ihren Selbstgesprächen hatte sie sich sogar so angehört wie er.

Doch nun war da nicht mehr nur Kälte in ihr. Das hatte sie bereits gemerkt, als sie unten vor der Tür gestanden hatte, und das war wahrscheinlich auch der Grund, weshalb sie überhaupt geklingelt und nicht direkt ein Fenster eingeschlagen hatte.

Dieser feige, menschliche Teil hatte tief drinnen gehofft, dass Dr. Cormins ihr öffnete, und dass er wachsam und bewaffnet war, so wie Armstrong es gewesen war.

Dass er sie aufhielt, bevor sie irgendetwas tun konnte. Weil dieser feige, verweichlichte Teil von ihr genug vom Töten hatte.

Und dieser gottverdammte Teil war es jetzt, der Tasha davon abhielt, direkt nach einer der Waffen zu greifen. Ihr Blick war verschwommen - irgendwie war er das in den letzten Tagen immer wieder gewesen, als hielten ihre Augen es nicht mehr für nötig, ihren Dienst zu tun - aber dass das vor ihr nicht Cormins war erkannte sie dennoch. Wer auch immer es dann war.

„Es ist scheißegal, wer es ist!“, schrie sie in Gedanken, und sie registrierte, dass das wieder die Stimme des Wendigos war. „Wenn es nicht Cormins ist, dann holst du dir den eben später, aber es ist Nahrung, Tasha, und du bist doch so hungrig!“

Das stimmte. Tasha war wirklich hungrig; sie war selten NICHT hungrig, aber dennoch bewegte sie sich nicht, und allmählich wurde ihre Sicht ein wenig klarer, ihre Umgebung deutlicher.

Und nun konnte sie hören, dass der Junge mit ihr sprach. Zunächst war sie nicht in der Lage zu verstehen, was er sagte. Wie auch ihre Augen schienen ihre Ohren nicht mehr ordnungsgemäß zu funktionieren.

Doch alleine, dass er redete, und das in einem Tonfall, der keinerlei Furcht oder Hysterie erkennen ließ irritierte sie zutiefst. Und Irritation war schlecht. Das zumindest fand der kalte Teil in ihr.

„Hör auf mit dem Scheiß und mach endlich, Tasha!“ Die Stimme in ihrem Kopf war noch lauter geworden, und sie klang zwar wie die des Wendigos, doch der Wendigo war niemals derart aggressiv gewesen.

Erschrocken zuckte Tasha zusammen, stolperte ein Stück zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Wand stieß, und allmählich hatte ihre Sicht das gewohnte Ausmaß an Klarheit erreicht.

Gleichzeitig spürte Tasha, wie ihre Hand in ihren Mantel wanderte. Den Griff von Armstrongs Pistole umfasste - dieses Mal war sie nicht gesichert, das hatte Tasha nicht für nötig gehalten - und sie herauszog.

Das war, was der kalte Teil von Tasha tat. Der Teil, der der Stimme gehorchte, vollkommen blind und ohne jede Emotion.

Der menschliche Teil von Tasha, der unerklärlicherweise noch immer da war, sich nicht hatte zurückdrängen lassen in die dunklen Tiefen ihres Geistes, betrachtete weiter den Jungen.

Er musste etwa fünfzehn oder sechzehn Jahre alt sein („So alt wie Tommy!“, dachte sie bei sich), und hätte er auch nur die geringste Ähnlichkeit mit Dr. Cormins gehabt, so hätte Tasha den eisigen Teil in sich womöglich nicht davon abhalten können, zu schießen.

Doch dem war nicht so.

Dr. Cormins war ein stämmiger großer Mann mit hellblondem Haar und graublauen Augen, die Tasha jedes Mal eine Gänsehaut bereitet hatten, weil sie immer irgendwie kalt und ausdruckslos wirkten.

Der Junge, von dem Tasha mittlerweile vermutete, dass er Cormins Sohn war, einfach, weil das die logischste Annahme war die ihr einfiel, war nur wenig größer als sie selbst und ziemlich dünn, und weder sein Blick, noch sein Tonfall, den er an den Tag gelegt hatte als er mit Tasha gesprochen hatte, bevor die mit der Waffe auf ihn gezielt hatte, hatte irgendetwas kalten an sich.

Was Tasha jedoch am meisten beeindruckte… nein, beeindrucken, war das falsche Wort. Es traf sie, direkt in den menschlich-klaren Teil ihres Verstandes, und eben dieser Teil sorgte nun dafür, dass sie die Waffe sinken ließ, wogegen der andere, eisige Teil mit der Stimme des Wendigos wütend protestierte.

Was Tasha nun also am meisten traf, war die Augenbinde, die der Junge trug. Augenbinde hatten sie und Kenneth es damals genannt, als ihr eigener Sohn Tommy damals im Winter einen Schneeball abbekommen und sich stark am Auge verletzt hatte. Bei Augenbinde dachte Tasha immer eher an einen Piraten als an eine medizinische Maßnahme, aber genau das hatte sie damals so amüsiert, sie und Kenneth und Tommy…

Ihre Familie. Ihre Familie, die sie niemals wiedersehen würde, die sie verloren hatte, für immer. So wie sie ihr alten Leben verloren hatte; nein, nicht verloren, weggeworfen! Sie war zu einer Kreatur geworden, deren einziges Ziel im Leben es war, zu töten und zu Fressen, MENSCHEN zu fressen, ohne jeden Sinn und Verstand, unfähig, Emotionen zu empfinden, Wärme, Liebe…

„Was soll das, Tasha! Was soll dieses Gejammere!“ Vielleicht irrte sie sich. Vielleicht war es pures Wunschdenken dieses dummen, menschlichen Teils, der in diesem Moment wieder einmal die Oberhand gewonnen hatte, wenn auch nur kurz… doch die Stimme des Wendigos, die in den letzten Tages zu ihrer eigenen geworden war, hörte sich unsicher an. Als spürte sie, dass das, was sie wollte, durch Tashas Eigensinnigkeit nun auf der Kippe stand. „Hör mit dem Scheiß auf!“, fuhr diese Stimme fort, und nun bestand keinerlei Zweifel mehr daran, dann sie bei weitem nicht mehr so überzeugt klang wie es bisher stets der Fall gewesen war.

Und Tasha lächelte. Ja, verdammt, dieser kalte Teil von ihr hatte allen Grund für Unsicherheit, denn sie hatte genug; hatte schon lange genug gehabt, doch nun, endlich, hatte sie die Kraft dazu, das auch zu zeigen.

Sie hatte niemals jemanden töten wollen. Nicht sie. Nicht dieser Teil von ihr.

Nicht den Nachtwächter in der Zelle in jener Nacht, von der sie das Gefühl hatte, dass sie Jahrzehnte zurücklag. Nicht Kenneth, nicht den Wanderer, nicht Armstrong, und nicht Cormins oder seinen Sohn. Und niemand von den anderen, die laut dem Wendigo verantwortlich waren für ihren Zustand, und deren Namen sie gemeinsam mit ihren Adressen in dem Ordner in Armstrongs Wagen vorgefunden hatte.

Sie war keine Mörderin, nicht wirklich.

Nur leider würde ihr das wohl kaum jemand mehr glauben.

Es war vorbei, vollkommen gleichgültig, was sie noch tat. Sie konnte der Kälte nachgeben, der unmenschlichen Stimme in ihrem Kopf, die immer lauter und lauter kreischte, und vielleicht würde sie noch ein paar von diesen Leuten erwischen, bevor man sie aufhalten würde, aber wofür?

Verdammt, sie hatte genügend Leid über diese Stadt gebracht, jedes Leben, das sie ausgelöscht hatte, war eines zu viel gewesen!

„Es tut mir so leid.“, flüsterte sie. Und dieses Mal war die Stimme, die sie hörte, wieder ihre eigene. Ängstlich und dünn, und dennoch gleichzeitig entschlossen, denn sie war sich vollkommen sicher, was sie nun zu tun hatte.

Sie hörte, wie der Junge etwas sagte, das sie nicht verstand; lächelnd ob sie den Kopf. „Wie bitte?“, fragte sie, überrascht darüber, wie fest und friedlich ihr Tonfall sich anhörte.

Der Blick des Jungen wirkte besorgt, nicht verängstigt, wie es in Anbetracht der Waffe, die Tasha noch immer in der Hand hielt, wohl angemessen gewesen wäre.

„Ich sagte, sie sollen sich hinsetzen.“, wiederholte er, und nun klang er doch ein wenig ängstlich, obgleich der Anteil an Besorgnis in seiner Stimme überwog. „Und…legen Sie die Waffe weg, okay? Ich ruhe Ihnen einen Krankenwagen. Es ist alles gut, Sie sind verletzt, aber das wird schon alles wieder…“

Ein weiterer Schauer durchlief Tashas Körper; ein Schauer, der sich angenehm anfühlte, warm… menschlich.

In diesem Moment wurde ihr klar, was der Grund dafür gewesen war dass sie sich nicht sofort bei Betreten des Raumes auf den Jungen gestürzt hatte wie auf den Wanderer im Wald. Warum sie in der Lage gewesen war, die Kälte in sich zurückzuhalten, der drängenden Stimme des Wendigos zu widerstehen…

Es war die Art, wie der Junge sie angesehen hatte. Wie er mit ihr sprach. Nicht so, wie sie es gewohnt war von den Ärzten und Wissenschaftlern, für die sie nicht mehr gewesen war als ein Versuchsobjekte ohne Persönlichkeit, ohne Individualität. Nicht wie Kenneth, dessen Verhalten von Abscheu geprägt gewesen war, oder wie der Wanderer der sie angeblickt hatte wie eine Kreatur aus einem Alptraum.

Nein. Sie war hier hereingekommen mit der Absicht, zu töten und zu essen, und statt angeschrien oder bedroht zu werden, war sie auf eine Weise empfangen worden die sie so seit einer Ewigkeit nicht mehr erlebt hatte.

Sie war behandelt worden wie das, was sie einst gewesen war, vor all diesen Ereignissen die gezeichnet waren von Kälte und Wut und Tod… wie das, was sie tief, tief in ihrem Inneren noch immer war.

Ein Mensch.

Ein Mensch, der grauenhafte Dinge getan hatte. Der sich hineingesteigert hatte in etwas, von dem sie selbst nicht wusste was es war, der einem Wesen gefolgt war das ihr Erlösung versprochen hatte, Rache, doch im Endeffekt bloß Leid verursacht hatte. Das Leid anderer, die ihr Leben gelassen hatten um ihren Zorn zu stillen, das Leid derer, die ihre Angehörigen verloren hatten, auf solch bestialische Weise.

Und auch ihr eigenes Leid. Sie hatte es nicht wirklich spüren können, denn die Kälte hatte es überdeckt. Da war nichts als Gleichgültigkeit gewesen, und Hunger, und der Drang, immer weiter zu machen. Ohne wirklich zu wissen, wofür.

Ja, der menschliche Teil von ihr war wie betäubt gewesen, nur noch selten spürbar, unterdrückt von den primitiven Instinkten einer kannibalistische Bestie.

Aber das war nicht sie! Sie war kein Monster, keine Mörderin! Nicht wirklich. Sie war nicht derart kalt!

Ja, sie hatte grauenhafte Dinge getan, das ließ sich nicht leugnen. Aber dennoch, auch, wenn sie es selbst zeitweise vergessen hatte: Sie war ein Mensch. Und sie hatte genug.

Die Stimme in ihrem Kopf stieß ein Jaulen aus, das ihren Schädel zum Schmerzen brachte. „Das ist Schwachsinn, Tasha!“, keifte sie, und die Worte trieften nur so von Panik und Hysterie. Es klang wie ein letztes, Verzweifeltes Aufbäumen, wie bei einem verwundeten Tier das sich um Grunde im Klaren darüber war, dass seine Zeit abgelaufen war.

Tashas Lächeln wurde breiter. Alles an dieser Situation war vollkommen surreal, sie fühlte sich wie betäubt, und hätte sie bei ihrer nachfolgenden Handlung auch nur für den Bruchteil einer Sekunde gezögert, so hätte die hasserfüllte Stimme in ihrem Kopf die Kontrolle wieder an sich gerissen und beendet, wofür sie ursprünglich hier hergekommen war.

Doch Tasha zögerte nicht. In einer einzigen fließenden Bewegung hob sie die Hand mit der Pistole, und dieses Mal deutete der Lauf der Mündung auf ihren eigenen Kopf.

„Scheiße, Tasha! Tu das nicht!“, kreischte die Stimme in einer ohrenbetäubenden Lautstärke, die ihren Schädel zum Dröhnen brachte. „Ist dir nicht klar was du da tust, Du bist dir bewusst, dass du sterben wirst, wenn du das tust?“

Was für eine dämliche Frage.

Durch die wütende Stimme in ihrem Kopf hindurch konnte Tasha nun wieder den Jungen hören, der nun ein Stück auf sie zugekommen war und eine Hand nach ihrem Arm ausstreckte, sie dabei erschrocken anblickend. Es war schwierig, durch das Kreischen hindurch zu verstehen, was er sagte, doch letztlich gelang es ihr doch: „Legen Sie die Waffe weg! Geben Sie her, okay? Sie müssen das nicht tun, ich hole Ihnen Hilfe…

Tashas Lächeln verblasste. Mit einem Mal fühlte sie sich müde, so unendlich müde, und der Druck der Pistolenmündung an ihrer Schläfe fühlte sich verlockend an wie ein weiches Kissen.

„Dankeschön“, flüsterte sie, und jegliche Furcht war aus ihrer Stimme verschwunden. „Aber ich muss gehen, bevor er zurückkommt! Glaub mir, das ist besser für uns alle.“

Dann drückte sie ab.



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