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Noch einmal mit Gefühl

[Itachi x Ino | Sasuke x Sakura | modern AU]
von

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Alles auf Anfang


 

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—Los Angeles, Kalifornien

 

»Vergiss es«, sagte Ino und stemmte ihre Hände in die Hüften. »Achtzig Mäuse oder zieh Leine.«

»Der ist niemals achtzig Mäuse wert. Sechzig, und damit bin ich großzügig.«

Schwungvoll ließ sie sich in den lädierten Massagesessel fallen, der unter dem Druck leicht knarzte. »Der ist weit mehr wert. Die Federung ist einwandfrei und Benedict Cumberbatch hat drauf gesessen.«

»Und wenn Beyoncé ihn geritten hätte, wär’s mir egal. Sechzig oder lass es.«

Der Kerl war ein harter Verhandlungspartner, aber das waren die Leute hier in Los Angeles alle. Die Stadt war zu teuer, um auch nur einen Cent zu viel für einen gebrauchten Massagesessel zu zahlen. Nach fünfzehn Minuten Diskussion hatte er sie auf siebenundsechzig Dollar runtergehandelt und Inos Schlafzimmer war leer. Unter anderen Umständen wäre sie stur geblieben, aber ihr Flieger ging in drei Stunden und wie hätte sie dieses verflixte Monster von Sessel durch die Sicherheitskontrolle gebracht?

Ihr Taxi kam fünf Minuten zu spät, ihr Flieger ging pünktlich. Es war ein nüchterner Abschied, aber Ino hätte es nicht anders gewollt. Miley und Ana hätte sie gerne noch einmal gesehen, aber die beiden hatten sich über die letzten Jahre in andere Bundesstaaten verstreut. Mit ihren neuen Mitbewohnern war sie nie richtig warm geworden.

Der Zwölfstundenflug zurück nach Japan war anstrengend. Turbulenzen hielten sie die meiste Zeit über wach, die heruntergeladene Serie war schon nach der zweiten Folge eine Enttäuschung, und als ein besonders starker Ruck das Flugzeug erfasste und Cola über ihre weißen Shorts verschüttete, gab Ino auf. Die restlichen Stunden versuchte sie mit lauter Musik in den Ohren das Schnarchen ihres Sitznachbarn zu übertönen. Wenigstens waren die Durchsagen der Flugbegleiter auf Japanisch. Ein wenig Heimat, um sie auf ihre Rückkehr vorzubereiten.

Der Flieger landete gemeinsam mit den ersten Sonnenstrahlen des Tages am Internationalen Flughafen Narita und Ino breitete lächelnd die Arme aus. Sie war zurück. Sie war wirklich zurück.

Es dauerte eine Stunde, bis sie endlich durch den Zoll war und ein Taxi erwischte. Während der Fahrer ihr voluminöses Gepäck in den Kofferraum verfrachtete, aktivierte sie ihre neue Wertkarte. Es würde dauern, bis sie ihre gewohnte Infrastruktur in Japan eingerichtet hatte. Als sie in die USA gegangen war, hatte sie alle Verträge gekündigt, alle Habseligkeiten verkauft, weil sie nicht damit gerechnet hatte, wieder zurückzukehren. Sie hatte nichts mehr hier, außer einer einzigen japanischen Telefonnummer.

Mit jedem Klingeln wurde Ino nervöser. Bis auf ein paar Nachrichten zu Neujahr und ein paar Kommentare in sozialen Medien hatten sie seit Jahren keinen Kontakt mehr gehabt. Das Taxi bog auf die Autobahn und am anderen Ende der Leitung meldete sich eine weibliche Stimme.

»Hier spricht Uchiha Sakura.«

Ino brauchte einen Moment, um sich zu vergewissern, dass sie sich nicht verwählt hatte. Natürlich wusste sie, dass ihre Freundin Sasuke geheiratet hatte. Die Einladung zur Hochzeit vor ein paar Jahren hatte sie wegen Dreharbeiten in Kanada nicht annehmen können. Den ungewohnten Nachnamen zu hören war eine andere Geschichte.

»Sakura. Hier ist Ino.«

Sie hörte Sakura kurz stocken, dann erst folgte ein freudiger Ausruf. »Ino! Wie geht’s dir? Was ist das für eine Nummer?«

»Wegwerfhandy. Ich bin in Schwierigkeiten mit der Yakuza.«

»Sehr witzig. Warte, ist das japanisches Radio im Hintergrund? Bist du in Tokio?«, fragte sie überrascht. Natürlich war sie überrascht. Ihr Abschied war eigentlich für immer gewesen.

»Frisch eingeflogen. Du hast nicht zufällig Lust, mich heut Abend willkommen zu heißen? Drinks gehen auf mich.« Fast schon rechnete Ino mit einer Absage. Ihre Freundin hatte hier ein Leben, eine Familie, einen Job, hatte sich etwas aufgebaut.

»Auf jeden Fall«, rief Sakura überschwänglich. »Gib mir eine Stunde, um einen Babysitter zu finden.«

Sie klärten die Logistik ihres Treffens, rutschten in aufgeregtes Geplauder ab, bis Kinderweinen Sakura zum Auflegen zwang und Ino erleichtertes Seufzen in ihrer Kehle nach oben quellen spürte. Vieles hatte sich verändert, aber wenigstens nicht alles.

Der Aufenthalt im zentrumsnahen Hotel war kurzweilig. Ino packte nur das Nötigste aus – Hygieneartikel, Schminksachen, absolute Lieblingskleidungsstücke – danach lockerte sie ihre vom langen Fliegen verspannten Muskeln mit einer kurzen Joggingrunde durch den nahegelegenen Park. Die heiße Dusche im Anschluss wusch den aufkommenden Jetlag davon, sodass sie pünktlich um acht Uhr vor der Bar stand, die Sakura vorgeschlagen hatte.

»Du siehst sehr Amerikanisch aus«, merkte Sakura an, nachdem sie sich wiedersehensfreudig in die Arme gefallen waren. Es stimmte. Das fast rückenfreie Top und der auffällige Silberschmuck konterkarierte Sakuras verspieltes Kleid und filigrane Halskette fast schon ironisch. »Also, erzähl!«

Ino lachte. »Das ist nicht sehr spezifisch.«

Dennoch warf sie sich in die reißerische Nacherzählung ihres letzten Lebensjahrzehnts. Sie begann mit dem Dreh ihres ersten Films, der sie damals in die Staaten geholt hatte, schilderte ihre Welttournee als Markenbotschafterin für eine junge Kosmetikfirma, beschrieb ihre zahlreichen Auftritte in Talkshows und die Interviews, die sie alle gegeben hatte, denn war ihr Leben nicht glamourös und wunderbar und fantastisch?

Sakura war eine gute Zuhörerin, aber eine fast ebenso gute Erzählerin, als sie endlich dran war und nach drei Gin Tonic, zwei Gläsern Wein und einem nicht zu verachtenden Schluck Sake erzählte, wie lange sie bei Sasukes Heiratsantrag geweint hatte, auf dem Weg zum Altar über ihr viel zu pompöses Hochzeitskleid gestolpert war und sich wegen der Morgenübelkeit während ihrer Schwangerschaft einmal in Sasukes Hausschuhe übergeben hatte.  Sie hatten Spaß. So wie früher, nur vollkommen anders.

Es war kurz vor Mitternacht, als Sakuras Smartphone klingelte und sie der Babysitterin versicherte, bald zu Hause zu sein.

»Schon?«, fragte Ino enttäuscht. Ihre Wangen fühlten sich warm an vom Alkohol und der gelösten Stimmung. Sie hatte nicht damit gerechnet, so lange nach ihrem Abschied einfach weitermachen zu können, wo sie ihre Freundschaft damals pausiert hatten. Es war eine Erleichterung. »Kann Sasuke nicht einspringen?«

»Aaah«, winkte Sakura ab und winkte den Kellner heran. »Keine gute Idee. Alles auf eine Rechnung bitte.«

Ino protestierte, aber Sakura ließ es sich nicht nehmen, ihre goldene Kreditkarte durch den Kartenleser zu ziehen und ein viel zu hohes Trinkgeld zu gehen.

»Wow, du hast es im Leben echt geschafft, reiche Frau.« Hätte Ino gewusst, dass sie ihre Rechnung nicht selbst begleichen würde, hätte sie sich nicht die teuren Getränke auf der Karte bestellt. »Verdienen Ärzte mittlerweile so viel?«

»Nur, wenn vier Fünftel des Haushaltseinkommens durch deinen Mann reinkommen«, seufzte Sakura mit einem Unterton, den Ino fast überhört hätte. »Oder sechs Siebtel? Acht Neuntel? Ich hab’s noch nie ausgerechnet.«

»Sag mal, Sakura, wie viel verdient Sasuke eigentlich?«

Sakura seufzte. »Viel zu viel und viel zu wenig. Teilen wir uns ein Taxi? Dein Hotel liegt auf meinem Weg.«

Obwohl Ino nur drei Jahre in Tokio gewohnt hatte, wusste sie, dass Sakuras Bezirk nicht nur sehr nobel war, sondern auch nicht wirklich auf dem Weg lag. Möglicherweise war Sakuras Orientierungssinn furchtbar. Oder sie wollte ebenso wenig, dass dieser Abend bereits endete.

Die Taxifahrt über versuchten sie so viele Worte als möglich in den ausklingenden Abend zu pferchen, die wichtigsten Anekdoten noch abzuhandeln, bevor sie vor dem Hotel hielten und Ino sich auf wackeligen Beinen aus dem Wagen schälte. Ihre in Amerika angeeignete Trinkfestigkeit erstreckte sich offenbar nicht über japanischen Gin und Sake. Hinter ihr hörte sie das Autofenster nach unten gehen.

»Schaffst du’s in dein Zimmer?«, fragte Sakura, ihre Silben etwas zu sehr in die Länge gedehnt.

Ino grinste schief, zumindest fühlte es sich so an. »Klar. Hab schon mit mehr Promille heimgefunden«, winkte sie ab. Sie hatte diesen Abend gemeistert, nun musste sie nur mehr aufrecht und mit Würde in ihr Hotelzimmer kommen.

»Hey, Ino«, hielt Sakura sie erneut zurück. Die Frage schwebte seit ihrem Telefonat heute Morgen zwischen ihnen. Nun hatte sie endlich den Mut gefunden, sie zu stellen. »Wieso bist du wieder in Japan?«

Ino zuckte die Schultern. »Spontane Entscheidung, du kennst mich ja. Die USA haben einfach nicht mehr das, was ich vom Leben erwarte.«

Es war nicht einmal die halbe Wahrheit.

 
 

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Startfeld


 

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Los Angeles, Kalifornien; 9 Jahre zuvor

 

»Na, alles klar für deine große Begegnung mit Benedido Cumberbumber?«

Ino nahm ihre Autoschlüssel im Vorbeigehen von der Küchentheke und warf ihrer Mitbewohnerin, die über die Sofalehne gebeugt spitzbübisch grinste, einen bösen Blick zu. »Manchmal hasse ich dich, Miley. Einmal, okay? Ich hab ihn nur einmal so genannt. Das ist nicht so einfach, wenn die Hälfte aller notwendigen Silben nicht in deiner verflixten Muttersprache vorhanden ist.«

»Ana kommt aus dem Iran und hat’s auch beim ersten Mal geschafft.«

»Klappe!« Ino warf einen Flipflop in Mileys vage Richtung. Ein anklagender Finger folgte. »Ihr werdet noch um mein Wohlwollen winseln, wenn ich erst einmal berühmt bin!«

»Sicher, wenn du uns ein Date mit Johnny Depp klarmachst«, meinte Ana. Sie knipste ein Foto mit ihrem Smartphone. »Damit wir immer den Tag in Erinnerung haben, an dem unsere kleine Ino ein großer Star wird. Soll ich’s gleich an die Presse verschicken oder erst in Gold einrahmen?«

Ino brummte leise. »Warum wohne ich nochmal mit euch zusammen?«

»Weil du dir alleine die Miete nicht leisten kannst«, summten die beiden im Chor und brachen in tragisches Gelächter aus. Miley sang abends in einer Pianobar und Ana war eine grenzwertig politisch inkorrekte Kabarettistin, die ihre Witze gerne über Frauen am Steuer und Steinigung machte. Niemand von ihnen konnte sich die Miete auch nur im Ansatz alleine leisten. Bis jetzt zumindest.

Denn Ino brach zu Größerem auf. Sie hatte alles in Japan zurückgelassen für diese Nebenrolle, hatte jedes Risiko in Kauf genommen, um eine alkoholkranke Autostopperin auf der Suche nach sich selbst zu spielen. Sie kannte das Drehbuch, hatte seit ihrer Ankunft in Los Angeles vor vier Monaten nur aufgehört zu üben, wenn sie ein aufregendes Foto oder ihren Status twitterte, um ihre Fans bei Laune zu halten, während diese auf den angekündigten Blockbuster mit ihr warteten.

»Viel Glück!«, riefen ihr Ana und Miley hinterher, als Ino die Tür öffnete und ihre Sonnenbrille aufsetzte. Sie warf ihnen eine Kusshand über die Schulter zu. Es hatte einige Wochen gedauert, bis sie sich an die freundschaftlichen Neckereien gewöhnt hatte.

Als Ino an diesem Morgen in Shorts und Sandalen auf Los Angeles‘ heiße Straßen trat, war sie sich sicher, dass We remember you ein Kinohit werden würde. Ein Jahr später sollte sie rechtbehalten.

Sie hatte es geschafft. Von hier an konnte es nur bergauf gehen.

 

 

 

—Tokio, Japan; Gegenwart
 

Mäßig beeindruckt sah Ino das Hochhaus hinauf. Die Strahlen der kühlen Herbstsonne brachen sich in den sauberen Glasfenstern und kreierten mit etwas Fantasie einen fast schon übersinnlichen Halo um die Fassade. Als sie das erste Mal davorgestanden hatte, war es ihr bestimmt so vorgekommen und sie hatte ehrfürchtig auf den großen Schriftzug gestarrt, der sich über die obersten drei Etagen einmal um den quadratischen Koloss zogen.

Sakiyama N.S.P. Talent Agency stand dort gut leserlich, so wie vor elf Jahren, als sie das riesige Foyer zum ersten Mal betreten hatte. Auch heute standen zwei junge Mädchen, vermutlich noch in der Oberschule, mit zitternden Knien davor und deuteten ehrfürchtig nach oben. Von ihrem Platz auf der Sitzbank gegenüber beobachtete Ino sie eine Weile. Beide waren hübsch, schlank und niedlich. Sie würden schon einen Platz dort finden, wenn sie den Mut hatten, hineinzugehen.

Nach einer Weile stand Ino auf, schulterte ihre Designerhandtasche und schob ihre Sonnenbrille über ihre Stirn hinauf, als sie nach so vielen Jahren erneut das riesige Foyer betrat.

Innen hatte sich mehr verändert. Die Möbel im Wartebereich waren ersetzt worden, es gab neue Teppiche und die Empfangsdame war neu. Ino nannte ihren Namen und verlangte Mabuchi Akane zu sprechen. Die Dame bat sie, sich zu setzen, suchte in ihrem Computer herum und telefonierte eine Weile. Fast eine viertel Stunde später kündigte ein sanftes Pling das Ankommen des Fahrstuhls an und kurz darauf entließen die metallenen Türen eine Frau mit kurzen Haaren und Klemmbrett.

»Yamanaka Ino«, sagte sie, jeder Schritt ein Klackern unter ihren Pumps aus dunkelblauem Lackleder. »Ich hätte niemals im Leben gedacht, dass du den Mumm hast, mir nochmal unter die Augen zu treten.«

»Mabuchi. Und ich hätte geglaubt, Sie wären längst in Rente, und doch sind wir beide hier.«

Mabuchi verschränkte die Arme über ihrem Klemmbrett. »Ich sehe schon, Amerika hat dich nicht gerade höflicher gemacht. Schockierend. Was kann ich für dich tun?«

Unwillkürlich verfestigte sich Inos Griff um die Henkel ihrer Handtasche. Sie hatte ganz vergessen, dass ihre frühere Agentin immer schnell zum Punkt kam. Verdrängt, besser gesagt. Es war ihr Talent, sich nicht über Dinge Gedanken zu machen, die etwas weiter als fünf Minuten in der Zukunft lagen. Darum stand sie hier, im Foyer ihrer alten Agentur, und sagte: »Ich möchte mit Ihnen reden. In Ihrem Büro, wenn’s geht.«

Fast schon hatte Ino damit gerechnet, dass Mabuchi in schallendes Gelächter ausbrechen würde. Doch die strenge Frau studierte ihr Klemmbrett intensiv, machte ein paar Notizen und nickte in Richtung Aufzug.

»Ich kann dir zehn Minuten geben. Sie da«, sagte sie an die Empfangsdame gewandt und schnippte mit den Fingern, als ihr der Name nicht einfiel, »wenn die Horde Mädchen kommt, die ich herbestellt habe, rufen Sie meinen Assistenten an. Er soll sie rumführen und beschäftigen, bis ich wiederkomme.«

»Sehr gerne, Mabuchi-san.«

Die Fahrt in den achtundvierzigsten Stock war so wie alle Fahrten in Aufzügen, nur zehnmal schlimmer. Im gebürsteten Stahl der Innentüren sah Ino den verzerrten Schatten ihrer Silhouette, die aufrecht stand und so tat, als würde sie nicht gerade zurück zu ihrer alten Agentur kriechen. Die gesamte Rückseite der Kabine war mit einem riesigen Spiegel ausgekleidet, damit berühmte Persönlichkeiten und solche, die es werden wollten, vor der Ankunft in der Agentur Haare und Make-up richten konnten. Vor Jahren hatte Ino das Dutzende Male pro Woche gemacht. Nun verbat sie sich strikt, sich umzudrehen. Sie wusste, wie sie aussah; hatte sich im Hotel mehrmals umentschieden, um das perfekte Outfit zu finden. Demütigung ertrug man besser in Prada.

Redete sie sich zumindest ein.

Mabuchi war noch nie eine gesprächige Person gewesen, wenn es nicht von ihr erwartet wurde. Auch jetzt wies sie Ino mit nicht mehr als einer Handbewegung einen Sessel vor ihrem grauen Schreibtisch zu und ließ sich selbst dahinter nieder. Der Bürosessel federte ihr leichtes Übergewicht mit einem kaum zu vernehmenden Laut ab, dann legte sie die Finger auf der Arbeitsfläche aufeinander und sah Ino abwartend an.

Sehr schön, dachte Ino grimmig. Sie prüfte ihre Gesichtsmuskeln auf eine selbstbewusste Mimik und überschlug die Beine. »Ich musste aus persönlichen Gründen nach Japan zurückkommen. Meine Agentur in Hollywood hat hier keine Kontakte und keinen Einfluss.« Es war nicht die Wahrheit, aber auch keine glatte Lüge.

»Du brauchst einen Job.«

»Ich möchte einen Job«, betonte Ino, als würde es einen Unterschied machen. »N.S.P. hat mich großgemacht. Ich kann mir nicht vorstellen, bei einer anderen Agentur unter Vertrag zu sein.«

»Das kann ich mir gut vorstellen. Wenige Agenturen nehmen alte Schauspielerinnen. Noch weniger nehmen alte Models.«

»Ich bin neunundzwanzig. Und ich habe Erfahrung. Sie können sich meine Filme und Fotos ansehen –«

»We remember you, Borderline, The Projection, wie hieß der letzte noch gleich?”

»Barrel for a thought

»Barrel for a thought, ja richtig«, wiederholte Mabuchi langsam. »Ich habe sie natürlich alle gesehen. Du bist gut, Yamanaka. Besser wahrscheinlich als drei Viertel der Leute, die täglich hier reinspazieren. Wir können dich schon irgendwo unterbringen. Aber du weißt sehr gut, dass Talent allein in dieser Industrie nicht reicht. Besonders nicht hier in Japan.«

Und wie sie das wusste. Trotzdem, »darüber wäre ich Ihnen sehr dankbar, Mabuchi-san.«

»Fein. Schick mir bis morgen Lebenslauf, Tapes und deine Fotomappe, dann werde ich sehen, was ich tun kann. Irgendwelche Rollen oder Themen, mit denen du ein moralisches Problem hast?«

Ino hatte mit den meisten Rollen oder Themen und mit Japans gesamter Filmindustrie ein Problem. Das war nur leider keine gute Antwort. »Nein. Ich habe allerdings eine Bedingung.« Sie machte eine kurze Pause. »Ich will meine Social Media Accounts selbst betreuen.«

Mabuchis Augenbraue wanderte skeptisch nach oben, als sie die Konsequenzen der Forderung evaluierte. Der Haken war klar. Sie würde keine Kontrolle darüber haben, was ihre neue alte Klientin nach außen tragen würde. Andererseits war Ino ein international bekanntes Gesicht, das der Agentur einen Haufen Geld bringen konnte. »Keine negativen Aussagen über die Agentur oder frühere, aktuelle oder potenzielle Auftraggeber.«

»Einverstanden.«

Erst draußen erlaubte Ino sich ein tiefes, langes und raues Raunen. Ihre Schultern sackten nach unten und ließen ihre Handtasche fast auf den aufgewärmten Asphalt fallen. Mit dem kleinen Finger erwischte sie die Schlaufe gerade noch rechtzeitig, balancierte ihre Bewegung mit einem Schritt nach vorne aus und stampfte mit dem anderen einmal kräftig auf den harten Untergrund. Nur weil viel zu viele Leute um sie herum waren, begann sie nicht zu schreien, sondern ballte ihren Ärger in einer Faust, die sie in ihrer Manteltasche versteckte.

Wie sie ihr Leben hasste! Aber irgendwo musste sie anfangen, und bevor sie sich an eine Supermarktkasse stellte oder Hostess wurde, gab sie sich lieber den gierigen Krallen dieser riesigen Agentur hin, die Models, Schauspielerinnen und Sängerinnen am laufenden Band fraß und wieder ausspuckte. Genau das hatte sie ihnen damals entgegengeschrien, als sie durch die großen Glastüren nach draußen Richtung USA marschiert war.

Was konnte schon schiefgehen?

 

 

 

Uchiha Itachi sah gut aus in Anzug und Krawatte, hatte er schon immer getan, der miese Angeber. Vielleicht war seine Variation an Kleidung deshalb so stark beschränkt. Ihn in etwas anderem als zumindest einem perfekt gebügelten Hemd zu sehen, war selbst für Sasuke ungewöhnlich bis irritierend, und die beiden waren immerhin im selben Elternhaus aufgewachsen. Auch heute machte Itachi eine souveräne, fast schon autoritäre Figur, als er vor der adrett gekleideten Menschenmenge eine zehnminütige Laudatio auf seinen Vater hielt.

Uchiha Fugaku und der Aufsichtsrat der UCHIHA Corp. hatten einen ganzen Universitätsflügel gespendet und wurden nun als Dank auf einer goldenen Plakette im Foyer verewigt. Der Bau hatte drei Jahre gedauert und ein pompöses Gebäude mit vier neuen Lehrsälen und einem Computerraum aus dem Boden gestampft. Die Gäste auf den Sitzplätzen waren geladen – Universitätspersonal, Politiker, Vertreter des Bauträgers, andere kleinere Investoren – dahinter drängten sich aufgeregte Studenten und andere Schaulustige um die Freiluftveranstaltung. Nichts davon störte oder behelligte Itachi auch nur ansatzweise. Er sprach seine Rede genauso, wie er sie dem Aufsichtsrat und Sasuke gestern probehalber vorgetragen hatte.

Die Lobrede endete, der Dekan der Universität war dran und nahm sich ebenfalls fast eine viertel Stunde Zeit, den Investoren in großen Worten zu danken. Am Ende teilte er sich eine übergroße Schere mit Fugaku und zerschnitt das rote Band, das vor den Eingangstoren des neuen Flügels drapiert worden war. Die Tore wurden von innen geöffnet, wo mehrere Angestellte in Hosenanzügen die hereinschwappende Menge teilten, um sie in kleineren Gruppen durch das fast fertige Bauwerk zu führen.

Sasuke ließ allen Gästen den Vorrang und schloss sich der letzten Gruppe an, in der sich auch die restlichen anwesenden Uchihas und der stolze Dekan eingefunden hatten. Halb interessiert lauschte er dem höflichen Geplauder, äußerte seine Laienmeinung über den besonders kunstfertig angelegten Treppenaufgang und wurde am Ende der Führung gemeinsam mit seiner Familie in einen zum Festsaal umfunktionierten Hörsaal geleitet.

»Imposant, ja wirklich!«, rief Mikoto begeistert aus. Sie hatte schon immer ein Faible für Kunst gehabt, insofern war es wenig verwunderlich, dass das moderne Glasmosaik, das dem Saal als Decke diente, sie in Verzückung geraten ließ. »Welcher Künstler hat das entworfen?«

Fugaku nannte einen Namen, denn natürlich war er über jedes noch so banale Detail dieses Bauvorhabens bestens informiert. Mit dem Zeigefinger nach oben gestreckt führte er seine Frau an der Schulter zu einer Stelle, von wo aus man das Mosaik noch besser betrachten konnte. Auf dem Weg sammelte er mehrere Interessierte ein, nicht wenige davon potenzielle Geschäftspartner oder Kunden.

»Was für eine Geldverschwendung«, murmelte Sasuke in sein Champagnerglas, das eine übereifrige Kellnerin ihm am Ende der Führung aufgedrängt hatte. Als würde jemand irgendetwas auf Wandgestaltung geben. Um das Geld hätten sie wahrscheinlich auch den gesamten Sportplatz erneuern können.

Aus den Augenwinkeln sah er Itachi an ihn herantreten. Gleich würde Sasuke belehren. Dieser Mensch war so berechenbar.

»So teuer war das nicht.« Und da war es auch schon. »Die Künstlerin gestaltet ihre Werke aus Altglas. Wir haben ihr zehntausend Yen für das Material gezahlt. Und eine Million für die Idee.«

»Ein Schnäppchen.« Noch weniger als die Informiertheit seines Vaters überraschte Sasuke die von Itachi. Sein Bruder war schon immer ein Streber gewesen, dessen Kopf die langweiligsten Fakten so mühelos und natürlich aufsaugte wie ein Schwamm. Er selbst hatte sich nicht nur oberflächlich mit dem Bauprojekt auseinandergesetzt. Die Gelder waren nicht über die UCHIHA Corp. geflossen, sondern stammten aus dem Privatkapital seines Vaters, Großonkels und mehreren entfernten Cousins. »Wenn sie so viel Geld für kaputte Glasflaschen ausgeben können, ist mir wenigstens klar, warum ich keine Teilfinanzierung übernehmen durfte.«

»Lass ihnen den Ruhm«, sagte Itachi. Er schob den Ärmel seines schwarzen Anzugs nach oben, um auf die Uhr zu sehen. Eine weibliche Stimme hinter ihm ließ ihn wieder aufsehen.

»Ich hab mir schon gedacht, dass du dich hier irgendwo rumtreibst, Sasuke – oder muss ich dich jetzt Uchiha-san nennen?«

Sasuke unterdrückte den Impuls, mit den Augen zu rollen. Seit er letztes Jahr einen möglichen Kunden wegen einer ähnlichen Geste verloren hatte, regulierte er seine emotionalen Reaktionen im professionellen Kontext streng. Stattdessen deutete er eine knappe Verbeugung an. »Tsunade-sama. Ich wusste nicht, dass Sie hier sind.«

»Dein Vater muss die Ex-Bürgermeisterin seiner Ex-Heimatstadt natürlich der Höflichkeit halber einladen. Normalerweise sage ich immer ebenso höflich ab, aber da ich heute zufällig in der Nähe war, dachte ich mir, ich schaue einen Sprung vorbei.« Sie tippte ihr Champagnerglas gegen seines und schwenkte bei Itachi ins Leere. »Wer hätte gedacht, dass man als Ex-Bürgermeisterin so viel weniger Zeit hat als im Amt?«

»Das Krankenhaus läuft gut, nehme ich an?«, fragte Itachi. Bei ihm war immer schwer zu sagen, ob er sich für etwas ehrlich interessierte oder nicht. Gemessen am Arbeitsinhalt der Frage wollte er es tatsächlich wissen. Tsunade tat ihm den Gefallen und Sasuke sah sich auf der Suche nach anderen Leuten um, die er alibihalber begrüßen musste.

»Acht Prozent Umsatzsteigerung im letzten Geschäftsjahr und Operationsbesteck ist so günstig wie noch nie. Ich kann nicht klagen. Man munkelt, ihr feilt gerade an einer neuen medizinischen Administrationssoftware?«

»Das ist Sasukes Projekt.« Itachi klopfte seinem Bruder leicht auf die Schultern.

»Wenn alles gut geht rollen wir Mitte nächstes Jahr aus«, übernahm Sasuke. »synCOM befindet sich noch in der Entwicklungsphase, aber sobald wir einen Prototyp haben, können Sie ihn gerne ausprobieren. Anwenderfeedback können wir immer brauchen.«

»Setzt mich auf die Liste. Es ist schon schwer genug, gutes Personal zu finden, da wäre eine funktionierende Software tatsächlich eine Errungenschaft. Apropos, wo ist eigentlich deine Frau?«

»Sakura arbeitet. Sie mag solche Veranstaltungen nicht sonderlich.«

Enttäuscht verzog Tsunade den Mund und leerte ihr Glas. »Zu schade. Richte ihr trotzdem schöne Grüße aus, ja?«

Das Gespräch stockte, wenig später verabschiedete Tsunade sich und Sasuke entschied sich ebenfalls für den Rückzug. Er war nur hier, damit sein Vater all seine Vorzeigesöhne beisammenhatte. Auf seiner Abschiedsrunde schüttelte er die Hände, die er zuvor übersehen hatte, ließ bei jedem eine kurz angebundene Floskel fallen und ließ sich erschöpft in die Ledersitze seines Autos sinken.

Nach drei Stunden kam er endlich dazu, seinen Posteingang zu überprüfen. Achtzehn unbeantwortete Mails, vier davon mit hoher Priorität, neun verpasste Anrufe. Und er hatte nur mehr zwanzig Minuten Zeit, um pünktlich zu seinem nächsten Meeting zu kommen.

Er parkte aus und trat aufs Gas. synCOM war sein erstes großes Projekt in der Firma. Die Marktchancen waren ideal, die Konkurrenz lahmte in diesem Sektor und sie waren noch keinen einzigen Tag in Verzug. Diese Software würde ein Erfolg werden, musste ein Erfolg werden. Sonst würde das sein letztes Projekt in diesem verdammten Familienunternehmen sein.

 
 


 

Vier Tage später klingelte Inos Smartphone. Ein Model fiel wegen einem Haushaltsunfall aus, es wurde kurzfristiger Ersatz gebraucht. 60,000 Yen dafür, einen Tag lang mit verschiedenen Modellen von Regenponchos im künstlichen Regen zu stehen. Das Gehalt war doppelt so hoch wie üblich und Ino musste zuerst die Währung umrechnen, bevor sie entschieden ablehnte. Fünfhundert Dollar für einen ganzen Tag? Das war ein Zehntel ihres normalen Tagessatzes. Sie war keine Anfängerin.

Den Rest des angebrochenen Tages verbrachte sie mit Kalkulationen. Mathematik war nie ihre Stärke gewesen, insofern mühte sie sich bis zum Heulkrampf damit ab, ihre Lebenserhaltungskosten hochzurechnen und mit ihrem Ersparten abzugleichen.

Sie war alles andere als arm. Obwohl sie manche Monate bis zu 50,000 Dollar verdient hatte – vor Steuern, aber trotzdem – waren ihre Fixkosten recht flach geblieben. Die meisten Designerstücke hatte sie Sponsoren zu verdanken oder nach erfolgreichen Fotoshootings angesammelt. Leute schenkten ihr gerne Dinge, wie sie bald festgestellt hatte. Sie hatte einiges an Kapital angesammelt. Für eine Stadt wie Tokio würde es ein gutes Jahr reichen, bis sie sich wirklich Sorgen machen musste. Bis dahin würde ihr schon etwas einfallen. Zu allererst brauchte sie Wohnung. Und schnelleres Internet.

Fünf Stunden später realisierte sie in einem nahen Coffeeshop, dass eine Wohnung in einer der dichtest besiedelten Städte der Welt zu finden nicht ganz so einfach war wie gedacht. Eine Wohngemeinschaft kam bei den beengten Wohnverhältnissen nicht in Frage und sie wollte auch nicht ewig weit von der Innenstadt wegwohnen. Die Sache war diffizil. Und wie groß war nochmal eine Tatamimatte? Gerade als sie aufgab und ihren Kummer in dem niedlichsten Bubbletea ihres Lebens ertränkte, vibrierte ihr Smartphone am Tisch.

»Sakura«, hob sie ab. »So ein Zufall, ich hab gerade an dich gedacht.«

»Ich bin ja auch deine einzige Freundin hier.«

»Punkt für dich. Wird schon noch, ich hab immerhin ein liebreizendes Wesen und hör auf zu schnauben!« Sie hörte Sakura verhalten lachen und streckte ihr hörbar die Zunge raus. »Ich brauche trotzdem deine Hilfe. Kennst du dich mit Immobilien aus?«

Sakura zögerte. »Nicht wirklich.«

»Egal. Ich hab mir vorhin ein paar Besichtigungstermine ausgemacht und brauche ein Paar rein-japanische Augen, die mir sagen, ob die Wohnungen das Geld wert sind. Bitte, ich hab doch keine Ahnung von den Wohnungsstandards hier!«

»Da ruft man dich einmal an …«, seufzte Sakura. »Wie viele Gefallen schuldest du mir schon?«

»Zu viele, hör auf zu zählen«, befahl Ino und klappte ihren Laptop zu. »Der erste Termin ist in einer Stunde in Shibuya.«

»Also schön, aber du musst mich vom Büro abholen und mir den extravagantesten Caramelloccino mitbringen, den diese Welt jemals gesehen hat. Und wir nehmen Sarada mit.«

»Kein Problem. Wie lange brauch ich von Tamachi zu dir?«

Sakura sagte zwanzig Minuten, aber es wurde fast eine Stunde. In Los Angeles hatte jeder sein eigenes Auto, die Straßen waren daher zwar überfüllt, aber wenigstens hatte man um sich herum ein bisschen Freiraum gehabt. Mit der Bahn in Tokio zu fahren war eine Erinnerung, die Ino gerne nicht wiedererlebt hätte. Schon gar nicht in der Stoßzeit. Die ganze zwanzigminütige Fahrt war sie zwischen Anzügen und Aktentaschen eingeklemmt und fluchte tonlos vor sich hin. Nur weil sie enorm viel Übung hatte, schaffte sie es, einen Schnappschuss von sich zu ergattern, den sie twitterte, sobald sie am Bahnsteig etwas Luft hatte.

Fünfter Tag zurück in Tokio. Hab die menschliche Nähe der Stadt vermisst, tippte sie mit ihren manikürten Fingernägeln und nahm sich vor, spätestens nächste Woche die Nagellackfarbe zu wechseln. Laut ihrem Feed war Metallicblau längst wieder aus der Mode, Pastell war nun en vogue. Ihr sollte es recht sein.

Die UCHIHA Corp. war nicht schwer zu finden, selbst wenn Sakura ihr keine minuziöse Wegbeschreibung für die achthundert Meter vom Bahnhof gegen hätte. Es war ein imposantes Gebäude von etwa zwanzig Stockwerken im Herzen Shinjukus, mit einem weitläufigen Eingangsbereich und einem Kreis Kirschbäumen um einen flachen Zierbrunnen; ein überraschend kitschiges Arrangement für die Uchihas. Nicht, dass Ino das sonderlich gut beurteilen konnte. Seit Sasuke vor über fünfzehn Jahren mitsamt dem Sitz der UCHIHA Corp. von Konoha nach Tokio übersiedelt war, hatte sie kaum mehr vier Sätze mit ihm gesprochen. Nicht, dass Sasuke zuvor allzu gesprächig gewesen wäre.

Mit einer seichten Herbstbrise im Rücken betrat sie das Foyer, meldete sich an und setzte sich in den hell gestalteten Wartebereich. Die Empfangsdame hatte ihr versichert, dass Uchiha Sakura-sama sofort für sie da wäre, dennoch schickte Ino eine kurze Nachricht. Zehn Minuten!, war die knappe Antwort.

Bis dahin suchte Ino ihren Feed nach interessanteren Nachrichten als Nagellack ab – bei einer Recherche für eine Rolle hatte sie bestimmt irgendwann einmal was mit Politik oder Literatur abonniert – und sah kurz auf, als sich drei Männer mit Aktentaschen ihr gegenüber niederließen. Als wäre es das Normalste auf der Welt, verfielen sie in wirtschaftliches Kauderwelsch, bis einer einen verwunderten Ausruf äußerte.

»Oh! Sie sind Yamanaka Ino, oder?«

Ino sah auf, ein breites Lächeln auf dem Gesicht. »Ja. Ich bin überrascht, dass Sie mich kennen.«

»Meine Tochter hat ihr Zimmer mit Fotos von Ihnen tapeziert. Wir haben alle ihre Filme gesehen. The Projection war ein Meisterwerk, so melancholisch und trotzdem nüchtern. Wären Sie so freundlich …?« Er begann seine Aktentasche zu durchforsten und nickte dankbar, als Ino eine ihrer Autogrammkarten hochhielt. Ja, sie war eitel genug, um immer Autogrammkarten bei sich zu tragen.

»Wie heißt Ihre Tochter?«

»Futaba. Mit den Kanji für doppelt und Blatt.«

Sie überspielte ihre kurze Nachdenkphase mit der Suche nach einem besseren Stift, bis ihr die Kanji wieder einfielen. Es würde wohl etwas länger dauern, bis sich wieder komplett akklimatisiert hatte. Sie überreichte die Autogrammkarte mit beiden Händen und grinste.

»Futaba wird sich unglaublich freuen. Darf ich Sie vielleicht noch um ein Foto bitten? Sie da, würden Sie – ja, perfekt.« Er drückte der Empfangsdame sein Tablet in die Hand und stellte sich gemeinsam mit seinen Kollegen um Ino auf. Mit ihren hohen Schuhen überragte sie alle drei Männer um ein paar Zentimeter. Die drei standen kerzengerade neben ihr, sodass sie aus einer Laune heraus ihre Arme um die Schultern ihrer beiden Nebenmänner legte und sie näher an sich heranzog. Die überraschten Gesichtsausdrücke würden sich hervorragend auf dem ansonsten geordneten Foto machen.

»Sehr gut! Wollen Sie auch?«, fragte sie den dritten, den sie vorhin nicht erwischt hatte. »Kommen Sie, seien Sie nicht schüchtern.«

Die anderen klatschten dumpf in die Hände und versuchten ihren jüngsten Kollegen zu ermutigen.

Eine Stimme durchschnitt das Gelächter, stahlhart und nicht amüsiert.

»Kurosawa-san.«

Ino wandte den Kopf zur Seite, um zu sehen, wer unbedingt den Miesepeter spielen musste. Er war hochgewachsen, trug einen Anzug und hatte den strengsten Gesichtsausdruck, den sie jemals gesehen hatte. Auf seinem Revers war das Logo der Uchihas gestickt. Sie kannte ihn von irgendwo her.

»Entschuldigen Sie die Verspätung«, fuhr er fort. »Ich hoffe, meine Empfangsdamen haben Sie nicht allzu sehr belästigt.«

Der Angesprochene nahm seine Aktentasche auf und sammelte sein Smartphone wieder ein. »Ganz und gar nicht, Uchiha-san.«

»Gehen Sie doch schon einmal vor, ich stoße sofort zu Ihnen.« Mit einer Geste leitete er die Männer zum Aufzug. An Ino gewandt sagte er weit weniger höflich, »Fotos mit Gästen zu machen ist wohl kaum Teil Ihrer Stellenbeschreibung, …?«

»Yamanaka … Ino?«, fragte sie mehr als sie sagte. Erst als die Empfangsdame ihre Hand hob, fiel ihr auf, dass sich ihre blauen Blazer zum Verwechseln ähnlich sahen. Sie lachte. »Ich denke, die Herrschaften hatten sehr viel Spaß.«

»Uchiha-sama, wenn ich kurz –«, versuchte die Empfangsdame einzuwenden, wurde jedoch von einer weiteren Stimme unterbrochen.

»Itachi-san«, sagte Sakura verwundert über den Tumult. Über ihrer rechten Schulter hing eine riesige Tasche, auf dem rechten Arm balancierte sie ein kleines Mädchen, das einen Plüschsushi umklammert hielt. »Ino. Ich wusste gar nicht, dass ihr euch kennt.«

Itachi, ja richtig. Sasukes genialer großer Bruder. Ein paar Mal hatte er Sasuke von der Schule abgeholt, dabei hatte Ino ein paar kurze Blicke auf ihn werfen können. Schon damals hatte er verklemmt wie eine Schachtel Heftklammern ausgesehen. Und mindestens genauso heiß wie jetzt. Für einen Japaner wenigstens.

Amüsiert streckte Ino ihm ihre Hand entgegen. Er ergriff sie nur zögerlich. »Wie gesagt, Yamanaka Ino. Ich bin eine Freundin deiner Schwägerin. Und Sasukes ehemalige Klassenkollegin.«

»Ich verstehe. Entschuldigen Sie das Missverständnis, Yamanaka-san.«

»Alles gut. Ich für meinen Teil hatte sehr viel Spaß. Also, Sakura, können wir gehen? Der Makler wird nicht ewig warten. Hat mich gefreut, Itachi.« Im Aufzug zur Tiefparkgarage begann Ino breit zu grinsen. »Dein Schwager ist ein schräger Vogel.«

»Wem sagst du das«, meinte Sakura und visierte einen grünen SUV an, in dem sie die Tasche und ihre Tochter verstaute. »Wir nehmen Sarada mit. Sasuke arbeitete heute länger und der Betriebskindergarten hat nur bis sieben geöffnet.«

»Ihr habt einen Betriebskindergarten hier? Praktisch.«

»Wir haben einen Betriebskindergarten hier, seit ich unbedingt arbeiten gehen wollte und Sasuke dagegen war, Sarada in einen öffentlichen Kindergarten zu stecken. So, das hätten wir. Möchtest du Sushi-chan halten, ja? Hier.« Sie drückte ihrer Tochter das Plüschessen in die Hand und ließ sich in den Fahrersitz fallen. »Sie geht nirgendwo hin ohne das Teil. Ehrlich, manchmal verfluche ich Itachi für dieses Weihnachtsgeschenk. Wir haben Sushi-chan mal in einem Restaurant liegen lassen. Das Geschrei war unerträglich, nicht wahr, du kleiner Kreischer?«, fragte sie in Brabbelstimme in den Rückspiegel. Das kleine Mädchen am Rücksitz warf freudig die Arme in die Luft und Ino kam nicht umhin, zu kichern.

»Du scheinst dich gut als Mutter zu machen.«

»Irgendwie krieg ich’s hin«, sagte Sakura, während sie rückwärts ausparkte und ihre Mitarbeiterkarte gegen das Lesegerät der Schrankenanlage hielt. »Hoffen wir, dass ich als Wohnungskritikerin genauso viel tauge.«

Tat sie, wie Ino später feststellte. Schon nach drei Wohnungen hatte Ino eine wesentlich bessere Vorstellung und kehrte mit einer Einkaufstasche voller Maklerunterlagen ins Hotel zurück. Der Tag war gut gewesen. Nicht so gut wie in Los Angeles oder Toronto oder London, aber in Ordnung.

Irgendwie.

Sie hatte gelacht, gescherzt, war amüsiert gewesen. Doch nun, wo endlich niemand mehr hinsah, ließ sie ihre Mundwinkel fallen und erlaubte sich, schlaff mit dem Bauch nach unten auf das knarzende Bett zu fallen. Sie hatte gerade noch Kraft, ihr Smartphone heranzuziehen und ihren Browser aufzurufen, um Sushi zu bestellen. Die Hotelbar war unverschämt teuer und Saradas Plüschding hatte ihr unsäglichen Gusto auf Fisch gemacht. Ehe sie sich aktiv davon abhalten konnte, hatte ihr Daumen die meistbesuchte Seite ihres Browsers angeklickt und ihre Augen begannen zu brennen.

Ino Yamanaka ist ein internationales Model und Schauspielerin. Erste internationale Bekanntheit erlangte sie mit ihrer Nebenrolle im Drama We remember you, stand auf ihrer Wikipedia-Seite, die sie mittlerweile auswendig kannte. Ein Fan hatte sie kurz nach dem Kinostart ihres ersten Films angelegt, seitdem war sie immer wieder erweitert worden. Bis vor zwei Jahren, als keine Filme mehr dazugekommen waren, keine großen Kampagnen mehr, nur mehr ein paar inhaltslose Auftritte in Late Night Talkshows und dieser eine peinliche Abend in einer ungeahnt brutalen Spielshow.

Ino Yamanaka ist ein internationales Model und Schauspielerin. War sie das noch?

Ein Anruf besetzte den Bildschirm. Ihre Mutter.

Frustriert drückte sie den Anruf weg und steckte ihr Smartphone tief unter das Kissen der unbenutzten Doppelbetthälfte. Sie würde ihr Leben wieder in den Griff bekommen. Dann würde sie ihre Mutter zurückrufen.

Irgendwann.

Für den Moment war sie zurück am heimischen Startfeld. Von hier an konnte es nur besser werden, oder?

 
 

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Der zweite Sohn


 

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Tokio, Japan; 10 Jahre zuvor

 

Stur blieb Sasuke vor dem ovalen Holztisch stehen, die letzte Folie seiner zwanzigminütigen Präsentation noch gegen die Projektionsfläche geworfen. Sein Bruder studierte sie intensiv, sein Vater war in seinen PDA vertieft. Sasuke schob die Hände in die Hosentaschen. Seit Wochen trug er nun schon Anzüge und würde sich auch bis zum Rest seines Praktikums nächsten Monat wahrscheinlich nicht daran gewöhnen.

»Was sagst du, Vater?«, fragte er. Sasuke hatte eine Einladung ausgeschickt, hatte den Besprechungsraum reserviert und in den letzten zwei Wochen diese Präsentation ausgearbeitet, um wenigstens diese halbe Stunde ernstgenommen zu werden. Das hier war ein offizieller Termin, und Fugaku hatte zweimal von seinen Mails aufgesehen.

»Hm«, meinte Fugaku. Er steckte den PDA in seine Brusttasche. »Alles schön und gut, Sasuke, aber für deinen Vorschlag müssten wir tief in den Basiscode der Software eingreifen. Kunden würden entweder ihre Datenbank verlieren oder wir müssten jedes einzelne Datenpaket manuell konvertieren. Die Personalaufwände würden uns jahrelang lahmlegen. Diese Idee hat keine Zukunft.«

»Es wäre ein ergänzendes Produkt«, beharrte Sasuke. Das Argument hatte er kommen sehen und bereits in seiner Präsentation entkräftet, während sein Vater ihm nicht zugehört hatte. »Wir fassen den Basiscode nicht an, arbeiten mit einem kleinen Team in einem komplett eigenen Branch, aber verwerten den bestehenden Basiscode.«

»Bewerbermanagementsysteme gibt es wie Sand am Meer«, sagte Fugaku und schlug den Heftordner zu, den Sasuke zur Ansicht zusammengestellt hatte. Er hatte nicht einmal bis zur dritten Seite geblättert. »Außerdem machen wir unser Geld mit großen Krankenhäusern, für die wir von Anfang an hunderte Funktionen im Programm bräuchten.«

»Aber –«

»Sasuke«, unterbrach Itachi ruhig, »lass mich nochmal die vorletzte Folie sehen.«

Sasuke schluckte seinen Protest, hart. Ohne es zu merken, hatte er unter der Provokation seines Vaters einen Schritt nach vorne gemacht, sodass er weit nach hinten reichen musste, um Itachis Bitte nachzukommen. Dieser lehnte sich im Sessel zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und schwieg.

Nach einer langen Minute sagte er, »wir könnten es als Sparvariante für Start-ups konzeptionieren. Weg von der Bürokratie der großen Firmen. Nachdem uns das keinen Umsatz machen wird, gehen wir mit Dumpingpreisen rein, verdrängen die Konkurrenz vom Markt.«

Zum ersten Mal in diesem gottverdammten Termin sah Fugaku tatsächlich auf die Präsentation. Nachdenklich strich er sich übers Kinn. »Das könnte Kanaba und diese Bastarde von LUB ruinieren.«

»Ja«, stimmte Sasuke ein. Er kämpfte sich aus dem Hintergrund wieder nach vorne. Es war seine Idee. »Und wir haben kaum Kosten damit.«

Fugaku schien noch nicht recht überzeugt, dennoch nahm er den Ordner in die Hand und erhob sich. »Gut, ihr bekommt eine Chance. Itachi, ich will bis Ende nächster Woche eine komplette Aufwandsschätzung mit Zeitplan. Nimm dir das Personal, das du dafür brauchst. Dann sehen wir weiter.«

Ohne weitere Worte verließ er den Raum und ließ die Tür hinter sich zufallen. Die großen Glasfenster, die den Blick in den Gang freigaben, ließen Sasuke seine Haltung wahren für den Fall, dass sein Vater widererwartend zurücksah. In den ganzen zwanzig Stockwerken gab es nur wenige Räume, die nicht von allen Seiten deutlich einsehbar waren. Es war nervig, an Tagen wie heute besonders.

»Gut gemacht, Sasuke.«

Er zischte. Gut gemacht? Was davon hatte er bitte gut gemacht? Sein Vater hätte ihn abgeschmettert, wäre Itachi nicht auf seine Seite gesprungen. Wie jedes verdammte Mal. Und wie immer war in Fugakus Augen plötzlich Itachi der große Visionär, der Wundersohn, der das Unternehmen zu ungeahnten Größen führen würde. Erst wenn es schiefging, würde es wieder Sasukes Idee werden.

»Klar«, sagte Sasuke schließlich nach einer viel zu langen Pause. Er konnte sich nicht davon abhalten, abfällig zu klingen. Itachi ignorierte es. »Ich organisiere die Schätzungen, die meisten habe ich längst in der Vorbereitung eingeholt. Keine Sorge, nächsten Monat bin ich wieder an der Uni und du kannst das Projekt gerne haben.«

»Sasuke –«

»Spar's dir.«
 

 

—Tokio, Japan; Gegenwart

 

Ersticktes Geschrei plärrte gemeinsam mit Statik in Sasukes Ohr und weckte ihn gerade rechtzeitig aus einem unruhigen Schlaf, um seinen Wecker vor dem Alarm abzuschalten. Stöhnend presste er seine Hände gegen sein Gesicht in der Hoffnung, sein Kreislauf würde bald zum Leben erwachen. Es dauerte fast fünf Minuten, ehe er sich aus dem Bett und ins Badezimmer quälen konnte.

»Guten Morgen«, sagte Sakura über die Theke und hielt ihre Wange hin, die er wie jeden Morgen flüchtig küsste, während er die letzten Knöpfe seines Hemds schloss. Sie hatte Tee gemacht, wie meistens. Die Angewohnheit hatte sie von seiner Mutter übernommen, nachdem diese ihr vorgeworfen hatte, Sasukes Vorlieben und Gewohnheiten nicht ausreichend zu kennen. Im Vorbeigehen nahm er den vorbereiteten Isolierbecher von der Theke.

Sakura war vor fünf Jahren bei ihm eingezogen und hatte anfangs nur ein paar ausgewählte Plätze für ihren Kram beansprucht. Dann war er ein paar Monate in Kanada gewesen und war zu flauschigen Kissenbezügen, exotischen Topfpflanzen und rosafarbenen – pardon, pfirsichfarbenen Vorhängen zurückgekehrt. Es hatte gedauert, aber er hatte sich daran gewöhnt. Nicht, dass er viel zu Hause war.

»Hat Sarada dich geweckt? Sie hat vorhin Sushi-chan fallen lassen. Du weißt ja, wie das ist.«

»Braucht sie wirklich noch ein Babyphon? Sie wird bald vier. Ihre Lungen sind groß genug, damit wir sie durch die ganze Wohnung hören.« Er beugte sich zu seiner Tochter hinab, die von ihrem roten Kindersessel aus mit runden Augen zu ihm hochblinzelte. »Nicht wahr, Sarada?«

Das Mädchen schürzte die Lippen, als verstünde sie, was er von ihr wollte.

»Keine Ahnung. Ich kann ja mal deine Mutter fragen, wie das bei dir war. Da Sarada zu neun Zehntel nach dir kommt, dürfte das einen guten Anhaltspunkt liefern.«

»Mach das«, antwortete Sasuke beiläufig. Das Vibrieren seines Smartphones lenkte ihn ab. »Ich muss los. Mein Vater hat den Statusreport zwei Stunden vorverlegt.« Er hatte bereits seine Jacke vom Haken genommen und seine Aktentasche aufgehoben.

»Sasuke«, hielt Sakura ihn zurück, die Lippen leicht geschürzt, so wie Sarada. »Wann kommst du heute nach Hause? Wir sehen dich kaum noch.«

»Ihr seht mich jetzt«, entgegnete er, während er seinen Schal um den Hals schlang und seine Aktentasche aufhob. Wo hatte er die verdammten Autoschlüssel gestern hingeworfen? »Ich kann nicht früher schlussmachen, solange wir die Auswertungen nicht fertighaben.«

»Wir bedeutet, dass mehr Leute daran arbeiten. Du bist Projektleiter, kannst du nicht irgendwas davon delegieren?«

Konnte er nicht. Würde er nicht. »Und Itachi die Früchte ernten lassen? Tut mir leid, Sakura.«

Enttäuscht ließ sie die Hände an die Seiten fallen und verzog die Lippen. »Denk wenigstens daran, dass du Sarada heute zu ihrer Freundin bringen musst!«, rief sie ihm hinterher, als er bereits zur Tür raus war.

Bis er bei der UCHIHA Corp. war, hatte er vergessen, was sie gesagt hatte. Da war ein schlechtes Gewissen, irgendwo in seinem Hinterkopf, weil er seine Familie vernachlässigte. Doch er konnte nichts dagegen tun. Dieses Projekt war seine Feuertaufe und sie hatten ausführlich besprochen, dass er diese Chance mit Leib und Seele ergreifen musste. Sakura hatte eingewilligt, für die kommenden Monate zurückzustecken. Sein schlechtes Gewissen war erloschen, sobald er sich an seinem Schreibtisch niederließ.

Sasuke kannte sein Büro mittlerweile besser als sein Schlafzimmer. Zwanzig Quadratmeter im elften Stock, Glasfront mit Blick über den Yoyogi-Park im Rücken, lackierte Holzregale mit dekorativen Büchern, eine Alibipflanze und ein gemusterter Teppich. Das war sein Reich, in dem er beweisen würde, was er konnte.

Die ersten Jahre in der Firma hatte er als besserer Praktikant in unterschiedlichen Abteilungen verbracht. Es war unangenehm gewesen, Abteilungsleitern Kaffee zu bringen und dabei Uchiha-sama genannt zu werden, aber er konnte verstehen, warum sein Vater ihn nicht sofort als vollwertigen Mitarbeiter einsetzte. Sakuras ungeplante Schwangerschaft hatten seinen Auslandsaufenthalt stark verkürzt, sodass er mit weniger Erfahrung und Expertise zurückgekommen war als vorgesehen. Der Kampf um sein erstes eigenes Projekt war hart gewesen, demütigend sogar an manchen Tagen. Dieses Projekt war sein Sprungbrett in die Managementebene, wo er als Uchiha hingehörte. Itachi war mit siebenundzwanzig COO geworden, daran war Sasuke vorbei. Trotzdem würde er seinen Wert beweisen. Und er würde das Statusmeeting heute dazu nutzen.

synCOM war ein von langer Hand geplantes Projekt, in dessen Zentrum eine Datenbank stand, die einen wesentlichen Teil der Infrastruktur großer Unternehmen abdecken konnte – synCOM würde Anrufe aufzeichnen, Personalakte verwalten, Drittdaten integrieren und war modular erweiterbar für spezifische Anforderungen wie Verschreibungen oder Projektauswertungen. Die technischen Details waren kompliziert und Sasuke hatte Wirtschaft studiert, nicht Informationstechnologie. Seine Aufgabe war es, Entscheidungen zu treffen, das Budget zu überwachen und alle zwei Wochen einen Fortschrittsbericht an Geschäftsführung und Aufsichtsrat zu geben. Erst vorgestern hatte sein Chefprogrammierer ihm die Lösung des Performanceproblems mitgeteilt, das sie seit einem halben Jahr aufgrund der riesigen Datenbank im Hintergrund mitschleppten.

Dieses Statusmeeting würde gut werden.

Doch das wurde es nicht.

Denn sie waren im Verzug, und die sieben Uchihas, denen er Rede und Antwort stehen musste, interessierten sich für nichts anderes. Der erste Prototyp hätte nächsten Monat an wohlgesonnene Kunden gehen sollen, um Feedback noch vor der Betaphase integrieren zu können. Sie waren kaum über dem Budget, der Zeitverzug war in Relation minimal, aber sieben Uchihas konnten heute einen beschissenen Button nicht anklicken und damit war alles andere irrelevant.

»Bei Projekten dieser Größe sind Verzögerungen normal«, versuchte Sasuke sachlich zu erklären. »Auf den Entwicklungscomputern läuft das Setup bereits mit einer Dummy-Datenbank, die Funktionalität ist gewährleistet.«

»Und trotzdem muss ich meinen beiden besten Kunden morgen beim Golfspielen erklären, warum sie ihren Prototypen nicht in der Hand halten«, wandte Fugaku ein. Unerbittlich und dabei so unglaublich prätentiös – so Uchiha, dass Sasuke nicht antworten konnte. Musste er auch nicht, es hätte nichts gebracht. Die fünf Aufsichtsräte stimmten ein, taten ihre Enttäuschung kund und verzogen sich so schnell sie gekommen waren. Fugaku blieb für ein kurzes Kopfschütteln zurück und, »nächstes Mal erwarte ich mehr, Sasuke«, dann folgte er ihnen. Nur Itachi war sitzengeblieben, vertieft in die letzten Seiten des Berichts.

»Hast du auch etwas zu sagen?«, brummte Sasuke.

»Wie lange weißt du schon, dass das Demo-Setup für heute nicht fertig wird?«

Sasuke zögerte. »Mittwoch.«

»Du wusstest, dass sie heute ein paar Klicks in synCOM machen wollten. Das ist alles, was sie interessiert.«

»Ich kann nicht zaubern, Itachi«, sagte er betont beherrscht. »Was hätte ich machen sollen? Mich selbst hinhocken und mal eben so in zwei Tagen eine Datenbank programmieren, an der ein ganzes Entwicklungsteam seit Monaten hängt?«

»Du hättest deinem Team am Mittwoch sagen können, dass sie sieben unserer leistungsstärksten Laptops mit der Dummy-Datenbank und der letzten funktionstüchtigen Version von synCOM aufsetzen sollen. Dann hättest du uns die Laptops gegeben, wir hätten ein wenig herumspielen können, Vater hätte wie immer am Design genörgelt, Inabi und Naka hätten sich über die Performance beschwert und Kaede hätte die Usability kritisiert, ohne zu wissen, was das ist, und niemand hätte sich weiter um ein paar kleine Verzögerungen gekümmert.«

Sasuke sagte nichts, stand nur aufrecht da und verbat sich, auch nur eine Schulter sacken zu lassen. Bei Itachi klang es so einfach – natürlich tat es das.

Als klar war, dass Itachi keine verbale Rückmeldung bekommen würde, klemmte er seine Aktenmappe unter den rechten Arm, drückte Sasukes Schulter mit der linken Hand und nickte ihm aufmunternd zu.

Es war das einzige positive Feedback, das Sasuke bislang bekommen hatte.
 

 

Die Wunde war desinfiziert, mit einem Pflaster zugeklebt und Sakura notierte die letzten Details der Behandlung in der elektronischen Akte ihres neuesten Patienten. Es war ein oberflächlicher Schnitt, den sich der Produktionsmitarbeiter im Warenlager an der scharfen Kante eines Regals zugezogen hatte. Er zog sich vom Handballen bis zum Ellenbogen und sah schlimmer aus als er war.

»Alles klar, Mitarashi-san. Vor und nach der Schicht gut mit dem Mittel hier reinigen –« Über ihren aufgeräumten Schreibtisch schob sie ihm ein Antiseptikum hinüber. »– und nach dem Duschen das Pflaster wechseln, dann sollten Sie keine Probleme haben.«

»Danke, Uchiha-sensei.« Er nickte ihr höflich zu und verließ ihre Ordination.

Betriebsärztin in einem dreitausend Mann starken Unternehmen zu sein, war nicht das Langweiligste, das sie sich vorstellen konnte. Aber auch nicht das Spannendste. Vor allem nicht, wenn ihr Schwiegervater Geschäftsführer war. Blutende Schürfwunden und Ohnmachtsanfälle bekam sie regelmäßig zu Gesicht. Vor allem in den handwerklichen Abteilungen, wie der Hardwareentwicklung oder den Fertigungsstraßen, konnten Schlafprobleme und psychische Belastungen schnell ernsthaften Schaden anrichten.

Als sie Sasuke überzeugt hatte, die UCHIHA Corp. um eine Ordination zu erweitern, hatte sie Zusatzausbildungen in Arbeitspsychologie und Gesprächsführung gemacht, um solche Unfälle im Unternehmen frühzeitig verhindern zu können. Die Gespräche waren freiwillig, kostenlos und anonym. Und wurden kaum in Anspruch genommen. Welch Wunder. Die Mitarbeiter mochten sie, trotzdem schienen sie ihr zuzutrauen, bei Uchiha Senior oder einem der Juniors zu petzen. Manchmal war es schwierig, mit Sasuke verheiratet zu sein.

Sie schloss die elektronische Akte, stützte das Kinn auf die Handfläche und tippte mit dem Finger auf das kleine Logo am Bildschirmrand, das einmal so viel Hoffnung und Stolz in ihr ausgelöst hatte.

Das Elektronische Verarbeitungssystem, kurz EVA, war Sasukes Praktikumsprojekt gewesen. Zehn Jahre war es her, dass er ihr ungewohnt aufgeregt von seiner Idee erzählt hatte. Damals war sie mitten im Medizinstudium gewesen und hatte hatte noch davon geträumt, wie sich seine Lippen auf ihren anfühlten, seine Hände an ihren Schenkeln, sein nackter Oberkörper gegen ihren gepresst –

Mit kräftigem Kopfschütteln holte sie sich zurück in die triste Realität, in der EVA mittlerweile zu einer konstanten Bestätigung ihrer langweiligen Existenz geworden war.

Ein Klopfen an der Tür kündigte einen neuen Patienten an. Vielleicht endlich jemand, der seinen Kummer nicht aus Angst vor einer Kündigung in sich hineinfraß. Doch es war nur ein Lieferant, der sie zwei Seiten unterschreiben ließ, ehe er ihr vier Kisten aushändigte.

»Ah, endlich wieder Mullbinden!«, rief sie fröhlich und hasste sich dafür. Würde so der Rest ihres Lebens aussehen; der Höhepunkt ihrer Woche eine Lieferung banaler Medizinprodukte? Ein ständiges Warten darauf, dass etwas Spannendes passierte?

Ihr Smartphone vibrierte in der Tasche ihres Kittels und noch einmal hasste sie sich über die jämmerliche Freude, die sie darüber empfand. Sie war erbärmlich. Der Name auf dem Display hob ihre Laune kaum. Sie ahnte, was kommen würde. 

»Sasuke. Was ist los?«

»Sakura, tut mir leid, aber ich kann Sarada heute nicht zu ihrer Freundin bringen.«

»Was soll das heißen? Du weißt das seit einer Woche.«

»Tut mir leid«, wiederholte er. »Mein Statusmeeting ist nicht gelaufen wie geplant und wir müssen hier noch ein paar offene Punkte diskutieren. Kannst du dich bitte um Sarada kümmern?«

»Wie stellst du dir das vor? Ich hab Termine heut Nachmittag. Es ist sowieso schon schwer genug, die Leute hier zur psychologischen Beratung zu bekommen. Ich kann nicht auch noch anfangen, Gespräche abzusagen. Sasuke? Sasuke – hörst du mir zu?« Tat er nicht, das verriet das Tippen von Tasten auf seiner Seite des Anrufs. Er war längst in eine Mail oder einen Bericht vertieft.

»Ich muss jetzt auflegen.«

Und weg war er. Wie heute Morgen, wie jedes Mal.
 

 

Du kannst nicht einfach jeden Auftrag ablehnen, hatte Mabuchi gesagt. Wie kann man nur so arrogant und eingebildet sein?, hatte Mabuchi geschimpft. Mach dieses Shooting, sonst bist du raus!, hatte Mabuchi gebrüllt.

Zu ihrer Verteidigung, sie hatte mehr Geduld gehabt als Ino gewettet hatte. Wortwörtlich; eintausend Yen mit Mabuchis Assistenten. Nach drei abgelehnten Aufträgen allerdings war Mabuchis Maß voll und nun stand Ino hier, ungeschminkt bis auf einen mandarinfarbenen Lippenstift, zwischen hohen Nadelbäumen am Rand von Tokio und versuchte irgendwie, den übertriebenen Look aus Fellweste und Cowboystiefeln überzeugend rüberzubringen.

Wie sie japanische Mode hasste.

»Bitte einmal das Bein anwinkeln, Yamanaka-san, etwas höher, ja genau so«, wies der Fotograf sie an. So ging das seit einer Stunde. Ihr war eiskalt, das Kunstfell kratzte und die Stiefeln passten nicht ordentlich. Es war wie bei jedem Shooting. Bloß wurde ihr bei diesem jede kleinste Bewegung diktiert, und das war, was sie ihre Kiefer aufeinanderpressen ließ.

»Etwas natürlicher lächeln, Yamanaka-san.«

»Ich geb dir gleich natürlich …«, murmelte sie tonlos, breitete die Arme hoch über dem Kopf aus und streckte ein Bein zur Seite aus. Ein Cowgirl mit knalligem Lippenstift war doch nicht niedlich, so wie man sie hier hinstellen wollte, sondern lebensfroh und wild. Sie hielt die Pose eine Weile, ehe sie in etwa ähnlich Dynamisches wechselte. Ein paar Fotos hörte sie knipsten, dann sah der Fotograf über seine Kamera zu ihr.

»Bitte halten Sie sich an die vorgegebenen Posen, Yamanaka-san.«

Sie schnaufte hörbar, schüttelte den aufwallenden Ärger über eine unwirsche Bewegung ihrer Arme aus. Und tat, wie ihr geheißen. Für das halbtägige Shooting bekam sie achtzigtausend Yen, vor Steuern. Für so wenig Geld konnte der Fotograf froh sein, ein derart eigenständiges und kreatives Model zu haben. War er aber nicht.

Wenigstens war das Essen gut gewesen. Ein Tropfen auf dem heißen Stein ihrer qualvollen Existenz, aber hey. Sie nahm, was sie bekam.

Dreihundert Fotos später bedankte sich der Fotograf bei dem Team, Mabuchis Assistenz achtete darauf, dass Ino bei der Verabschiedung auch ja höflich war, und schob sie zurück ins Auto. Sobald sie saß, war sie zu müde, um sich zu beschweren. Bei wem auch? Der Assistent ihrer Agentin hätte nicht verstanden, was sie störte. Stattdessen kramte sie ihr Smartphone aus ihrem Rucksack, um zwei verpasste Anrufe vorzufinden. Beide waren von Sakura vor etwa einer halben Stunde.

»Hey, Sakura«, begann sie ihren Rückruf. »Was kann ich tun für meine liebste Lieblingsfreundin?«

»Ino, zum Glück!«, rief Sakura ihr entgegen, seltsam erleichtert. »Du musst Sarada vom Kindergarten abholen und nach Nakano bringen.«

»Wie? Wen?« Verwirrt kramte Ino in ihrem Gedächtnis nach dem Namen. Ach ja. »Deine Tochter? Darf ich das überhaupt? Brauch ich dafür keinen Kinderführerschein oder einen Kurs oder so?«

Sakura schnaubte. »Meine Tochter ist doch kein Kampfhund! Ich meine, sie beißt, wenn du deine Finger beim Füttern nicht schnell genug vom Keks wegnimmst, aber – das ist nicht der Punkt! Sasuke muss länger arbeiten und ich kann meine Termine nicht verschieben. Bitte, Ino.«

Unsicher runzelte Ino die Stirn. Mit Kindern hatte sie es noch nie wirklich gehabt, schon gar nicht mit so kleinen. »Fein, wieso nicht. Aber du zahlst das Taxi.«

Im Endeffekt fuhren Ino, Sarada und Sushi-chan mit dem Zug. Sarada war derart begeistert von öffentlichen Transportmitteln, dass sie erst zu plärren aufhörte, als Ino das Taxi wieder weggeschickt hatte. Die Karte kauften sie gemeinsam, mehr oder weniger, und das Mädchen brabbelte eine Millionen Fragen zu Zügen, die Ino nicht beantworten konnte – warum gibt es Züge war eine Frage, die niemand beantworten konnte! Außerdem wog Saradas Rucksack eine gefühlte Tonne und Nakano war verdammt weit weg.

»Alle Gefallen, die du mir jemals getan hast, sind abgegolten«, schnaufte Ino ins Telefon, nachdem sie Kind, Plüschessen und Rucksack abgeliefert hatte und auf einer Parkbank zusammengebrochen war. »Alle, Sakura. Alle. Dieses Monster ist flink wie verflixtes Wiesel.«

»Sie ist ein Kleinkind, Ino. Kommst du nicht mit einer Dreijährigen klar?«

»Das ist – sie hat – ich schwör dir –« Raunend trat Ino in die Luft. Sie wusste gar nicht, wo sie anfangen sollte. Sarada war ihr dreimal ausgebüchst, hatte zwei tote Vögel aufgehoben und Freundschaft mit einem streunenden Fuchs geschlossen – und das alles, bevor sie überhaupt noch im Zug gewesen waren. »Vergiss es. Das glaubst du mir sowieso nicht. Ich muss sie aber nicht wieder abholen, oder?«

Sakura kicherte unverschämt amüsiert. »Nein, sie bleibt bis morgen dort. Danke, Ino. Du hast mich gerettet.«

»Und Sasuke arbeitet?«, fragte Ino, plötzlich erfüllt von neuer Energie. »Mädchen, du weißt, was das bedeutet. Du. Ich. Zwei sexy Tops und ein Club mit so lauter Musik, dass wir morgen heiser sind.«

»Ah, ich weiß nicht«, zauderte Sakura. Im Hintergrund war Rascheln und Schubladenschließen zu hören. »Sexy Tops hab ich seit Jahren nicht mehr und ich wollte heute noch Staubsaugen – okay, du hast recht. Ein Club soll es sein. Aber du musst mir was leihen.«

Und wie Ino das tat. Sie war erst vor zwei Tagen in ihr neues Apartment eingezogen und hatte nichts ausgepackt außer ihre notwendigsten Schminksachen. Bis Sakura ankam, kramte sie den ganzen Rest aus ihrem Koffer. Gegen acht klingelte Sakura. Sie hatte ihr Auto vorsorglich zu Hause stehen lassen und trug Sneaker und Jeans.

Es dauerte eine ganze Flasche Wein, pinken Lippenstift, eine Menge Mascara und noch viel mehr Gelächter, ehe sie bereit waren. Sakura war anzusehen, dass sie sich in dem aufregenden Trägertop nicht allzu wohl fühlte, aber zwei Schluck Rum übertünchten ihre Unsicherheit so weit, dass sie sich von Ino in ein Taxi schieben ließ.

In den angesagten Club reinzukommen war nicht schwierig, wenn man aussah, wie sie aussahen. Hinzu kam, dass Männerüberschuss herrschte und sie sich an der Warteschlange vorbeigewinkt umhüllt von kühlen LED-Lichtern in dröhnenden Elektrobeats wiederfanden. Noch bevor Sakura sich orientieren konnte, hatte sie bereits den ersten Whiskey Sour in der Hand. Freie Sitzplätze gab es nicht, also drängten sie sich durch die Menschenmasse auf die Galerie, von wo sie freie Sicht auf die vibrierende Tanzfläche hatten.

»Der DJ ist Kurayura«, schrie Ino und deutete auf das Mischpult am Kopf der Tanzfläche. Boxen und anderes Equipment zogen sich mehrere Meter über die Breite des Clubs, dahinter zeigte eine riesige Videowand abstrakte Visualisierungen der Musik.

»Wer?«, rief Sakura zurück.

Ino winkte ab. Sie hatte nicht erwartet, dass ihre brave Freundin, Ehefrau und Mutter, etwas von der Tokioter Clubszene wusste. Sie selbst hatte die Verbindung dazu über die Jahre in Übersee verloren und nur mehr sporadisch über Tweets erfahren, was wo los war. »Egal. Hey weißt du noch, als wir zum ersten Mal in Tokio weg waren?«

»Oh ja!«, rief Sakura euphorisch und hob ihr leeres Glas. Gemeinsam kämpften sie sich zur kleineren Bar auf der Galerie, um Nachschub zu erbeuten. »Wie alt waren wir da?«

»Neunzehn«, grinste Ino. »Ich hab dich nie wieder so besoffen gesehen.«

»Das war … kurz nach Sasukes Unfall und nachdem ich die Nase voll hatte, ihm bei der Physio zu helfen, weil er mich immer angeschnauzt hat. Der Sack.«

Ehe Ino antwortete, drehte sie sich um und bestellte zwei Shots. Alkohol hatte Sakura schon immer erbarmungslos ehrlich gemacht. Auch damals, als ihr die Aussichtslosigkeit ihrer einseitigen Liebe klargeworden war. An jenem Abend vor zehn Jahren war sie fast in den Armen eines hübschen Jurastudenten gelandet. Ein paar Wochen später hatte Sasuke es sich anders überlegt und sie waren ein Paar geworden.

»Ich versteh ja immer noch nicht, warum du ihn geheiratet hast«, meinte Ino. Die Lautstärke der Musik zwang sie dazu, sich gegen ihre Freundin zu lehnen und ihr ins Ohr zu schreien. Womöglich war sie auch nicht mehr ganz standsicher. »Er war in der Schule schon so ein eingebildeter Arsch. Gutaussehend, aber ein Arsch.«

Sakura machte einen vagen Laut und leerte ihr Glas in einem Zug. »Auf … alles außer Sasuke!«

»Alles außer Sasuke!«, stimmte Ino ein. Gemeinsam brachen sie in fast schon hysterisches Gelächter aus.

Viel mehr Getränke brauchte es nicht, um sie auf die Tanzfläche zu ziehen. Im bunten Trubel der feiernden Menge rissen sie die Arme in die Höhe, kreischten die leicht singbaren und auch weniger leicht singbaren Stellen bekannter Lyrics in das Tosen des Clubs. Pausen machten sie nur für einen Abstecher an die Bar und ein paar humorvolle Anekdoten aus ihrer Schulzeit oder den paar Monaten, die sie danach gemeinsam in Tokio gewohnt hatten.

Es war der beste Abend seit langem, für sie beide. Den Preis würden sie morgen bezahlen. Aber morgen war noch ein paar Stunden hin, und bis dahin war alles gut.
 

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Drama


 

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—Konoha, Japan; 12 Jahre zuvor

 

»Fein! Danke für gar nichts!«, brüllte Ino ins Handy und klappte es so hart zu, dass das Gehäuse bedrohlich knarzte. Ihr Gesicht war feuerrot vor Wut, ihre Kiefer mahlten aufeinander. Hätte Sakura ihr die Teetasse nicht aus der Hand genommen, hätte sie sie vermutlich gegen die Zimmerwand geschleudert und damit auf eines der Boygroup-Poster, die dort seit einigen Monaten residierten. Nicht viele Trends kamen pünktlich nach Konoha, die Boygroup hatte sich schon längst wieder aufgelöst.

»Was ist denn los?«, wollte Sakura wissen. Ihre Nachbarin und beste Freundin war vor fünf Minuten hereingestürmt, hatte einen Anruf angenommen und seitdem ins Handy geschrien. Sie machte eine Ecke auf ihrem Bett frei und platzierte Ino dort hin. In ihrer emotionalen Rage würde sie beim zornigen Herumgehen noch die Einrichtung demolieren.

»Meine Mutter«, fauchte Ino. Sie ballte die Hände zu Fäusten und schlug auf ein überlebensgroßes Pinguinkissen ein. Sie blinzelte die kleinen Tränen in ihren Augen weg. »Die wollen mich wirklich für die Modenschau haben und sie regt sich auf, weil ich ihr nicht beim Blumenbinden helfen kann! Wer interessiert sich für dämliche Hyazinthenkörbe?«

»Du bestimmt nicht. Kannst du nicht beides machen?«

»Nein. Selbst wenn – ich hab keine Lust, mich mit sowas zu beschäftigen!« Aufgebracht strangulierte sie das Kissen zwischen ihren Beinen. »Sie versteht einfach nicht, was das für mich bedeutet. Die haben mich aus achthundert Mädchen ausgewählt, das Hochzeitskleid vorzuführen. Das ist keine Schulmodenschau oder sonst irgendein Quatsch. Das ist offiziell und echt und ich bekomme Geld dafür. Das ist ein Job!«

Nachdem sie sich zumindest motorisch beruhigt hatte, wagte Sakura, sich neben sie zu setzen und einen Arm um ihre Schulter zu legen. »Kannst du ihr nicht erklären, wie wichtig dir das ist?«

»Sie will es nicht verstehen.« Ino zog die Beine an. »Aber ich werde das durchziehen. Sie wird mir meinen Traum nicht zerstören. Nicht sie, nicht dieses Kaff. Sobald ich den Schulabschluss hab, zieh ich nach Tokio.«

»Was ist mit Sai?«, fragte Sakura.

Ino stockte. Schüttelte den Kopf. Sie war zu aufgebracht, um darüber nachzudenken. »Sai unterstützt mich.«

»Tun wir alle, Ino«, versicherte Sakura ihr. »Wenn ich wirklich einen Studienplatz an der Tōdai bekomme, zieh ich mir dir mit. Dann sind wir beide nicht alleine. Okay?«

»Danke, Sakura.«
 

 

—Tokio, Japan; Gegenwart

 

Uchiha Itachi hatte ein festes Morgenritual. Um halb sechs stand er auf, brühte einen Espresso, joggte exakt fünf Kilometer und einundvierzig Meter in einer Zeit zwischen siebenundzwanzig und achtundzwanzig Minuten, duschte, trank seinen kalten Espresso während er die Morgenzeitung auf seinem Tablet durchscrollte und fuhr dann je nach Verkehrslage zwischen vierzig und fünfzig Minuten mit dem Auto zur Arbeit.

Nicht so heute, an diesem Dezembertag, an dem ein kleiner, eher unbedeutend wirkender Artikel seine Aufmerksamkeit etliche Minuten mehr beansprucht hatte als er für gewöhnlich einräumte. Er setzte ein Lesezeichen darauf, nahm das Tablet samt dem restlichen Aktenberg von der Ablage im Vorzimmer und verließ seine Wohnung.

Itachi wohnte im sechzehnten Stock eines Apartmentkomplexes außerhalb des Zentrums. Die Fahrt in die Stadt war um diese Uhrzeit erträglich, zumal er heute ausnahmsweise eine Autobahnausfahrt früher nahm. Sein kleiner Bruder wohnte wesentlich näher bei der UCHIHA Corp. und war bereits wach und in Hemd und Anzughose, als Itachi klingelte. Die Begrüßung fiel knapp aus, so wie morgens in der Firma. Es war auch ein rein geschäftlicher Besuch.

»Hier«, sagte Itachi und reichte Sasuke den Stapel, den er gestern zusammengesucht hatte. Es waren Überbleibsel der Jahre, in denen er fünf Tage die Woche im Büro geschlafen und am Wochenende die Arbeit mit nach Hause genommen hatte. »Das ist alles, was ich zu FPN noch habe. Die meisten Unterlagen sind bestimmt fünf oder sechs Jahre alt, die Marktforschungsergebnisse kannst du bestimmt wegwerfen. Wieso brauchst du das überhaupt?«

Er ließ sich an der freistehenden Küchentheke nieder und beobachtete Sasuke dabei, wie er die Ordner durchblätterte. »Einer der Programmierer hat erwähnt, dass ihr damals für dieses FPN-Projekt ein Zertifizierungskonzept ausgearbeitet habt. Wahrscheinlich funktioniert das für synCOM nicht, aber ich möchte es mir ansehen.«

»Investier nicht zu viel Zeit, wir haben bald bemerkt, dass FPN so nicht funktioniert. Wir sind nie über die Konzeptphase hinausgekommen.«

Sasuke schloss den Ordner und wandte sich dem Teekessel zu, der zu pfeifen begann. »Ich seh’s mir trotzdem an. Wofür steht FPN überhaupt? Niemand hat mir das bisher sagen können.«

Amüsiert erinnerte Itachi sich an die Wochen, in denen er mit seinen damaligen Kollegen in der Entwicklungsabteilung über dem ersten Konzept gebrütet hatte. Er hatte die Stelle des Teamleiters im Innovationsteams eben erst übernommen gehabt. »Fuck Project Names. Niemand von uns im Team hatte es sonderlich mit Namensgebung. Übrigens habe ich heute Morgen das hier gefunden.«

Er öffnete den Artikel von vorhin und schob Sasuke das Tablet entgegen. Der Text war kurz, sodass er in nur zwei Minuten gelesen war und Sasukes Mund offenstehen ließ.

»Das ist nicht wahr«, sagte er in nahender Fassungslosigkeit. Er las den Artikel noch einmal, diesmal langsamer. »Wie konnten die an diesen Auftrag kommen? Die haben doch kaum mehr als zwanzig Mitarbeiter.«

»Es reicht offenbar, um das Universitätsklinikum zu einem Vertrag zu bringen.«

»Taniyama hatte mir zugesichert, synCOM in der Pilotierungsphase zu testen. Und jetzt kaufen sie die Konkurrenz? Das ist …« Die Geschäftswelt. Das wussten sie beide sehr gut. Itachi war auch nicht hier, um seinem Bruder Vorwürfe zu machen. Absprachen wurden öfter geändert und das Universitätsklinikum war aufgrund deren Kapitalknappheit von jeher ein instabiler Interessent. Es war beeindruckend gewesen, dass Sasuke sie überhaupt so lange bei der Stange hatte halten können.

»Vater wird denselben Artikel gelesen haben«, vermutete Itachi. »Ich fliege heute nach Malaysia und werde bis Ende der nächsten Woche dort sein, also bin ich bei etwaigen Notfallmeetings nicht dabei.«

»Ich krieg das schon hin.« Sasuke schob das Tablet und den Artikel von sich. »Warte, was machst du in Malaysia? Warum weiß ich davon nichts?«

»Es betrifft keines deiner Projekte. Ich bin in Absprachen mit potenziellen Zulieferern für Leiterplatten.«

»In Malaysia?« Skeptisch runzelte Sasuke Stirn. »Hältst du mich für einen Idioten? Die haben doch gar nicht die Kapazitäten für unsere Auftragsvolumina. Du führst doch was im Schilde.«

»Ich führe gar nichts im Schilde«, beteuerte Itachi. Er hatte seinen Bruder schon so oft angelogen, dass es ihm fast schon natürlich über die Lippen kam. »Ich arbeite.«

Sasuke war nicht überzeugt. Er gab sich selbst etwas Zeit, während er die Küchenschränke nach einem Isolierbecher und Matchapulver durchsuchte. »Das ist die Arbeit von unseren Produktionsmanagern und Einkäufern, nicht von unserem gepriesenen COO. Dein Gehalt ist viel zu teuer für sowas. Vater würde das nicht erlauben. Also, was soll das?«

Gerne hätte Itachi ihm eine befriedigendere Antwort gegeben, überhaupt eine sinnvolle Antwort gegeben. »Die Geißel des All-In-Vertrages.«

 »Witzig. Mach nur deine Späße. Und stell dich drauf ein, dass Vater dich bei synCOM wieder verstärkt einsetzen will, nachdem ich das Projekt ja in den Sand setze – diese dämliche Kanne!«, unterbrach Sasuke sich selbst, als kochendes Wasser am Isolierbecher vorbei auf seine Hand spritzte. Reflexartig zog er sie weg, stieß den Becher um und fluchte erneut über das überall verteilte Matchapulver. »Kein Wunder, dass Sakura in letzter Zeit schlecht drauf ist, wenn sie diese Tortur jeden Morgen erträgt.«

Itachi verbat sich strikt, zu lachen. Die Szene war fast schon komödiantischer Natur, allerdings wollte er seinen kleinen Bruder nicht noch mehr gegen sich aufbringen. »Du siehst nicht so aus, als hättest du dir jemals in deinem Leben selber Tee gemacht.«

»Halt die Klappe«, brummte Sasuke sauer. Die Suche nach einem Wischtuch dauerte erneut. Insgesamt wirkte er wie ein Fremder in seiner eigenen Designerküche. »Sakura steht normalerweise früher auf –«

Ein leidendes Raunen unterbrach ihn und eine Blondine tastete sich mit zusammengekniffenen Augen an der Wand im Flur entlang in die offene Wohnküche. Obwohl sie alles andere als gesund aussah, war sie außerordentlich hübsch. Ihr blonder Pferdeschwanz hing halb gelöst über ihre nackten Schultern, ihr verrutschter Einteiler gab einen flüchtigen Blick auf den Rand ihres roten BHs frei und einer ihrer riesigen Ohrringe hatte sich um ihr Ohrläppchen geschlungen. Außerdem hatte sie eine Hand gegen den Mund gepresst und sah sich hilfesuchend nach etwas um.

Ohne Mitleid deutete Sasuke auf die Badezimmertür, durch die schnell verschwand. Itachi sah ihr nach, verwundert und überaus interessiert. Sein Bruder war kaum der Typ für Affären – oder? – und auf den gertenschlanken Modeltyp hatte er noch nie gestanden.

Wenig später drangen Würgegeräusche aus dem Bad, laufendes Wasser, dann tapste die Blondine bloßfüßig und unsicher auf die Küchentheke zu. Sie musste sich an Itachis Schulter festhalten, um sich auf den Barhocker neben ihm zu stemmen. Gemessen an ihrem qualvollen Ausdruck war es die Herausforderung ihres Lebens. Endlich in halbwegs festem Sitz, brach sie über der Theke zusammen.

»Sasuke, du musst mir Kaffee machen«, murmelte sie erschöpft von ihrer Odyssee.

»Ich muss gar nichts. Und wage es nicht, meine Kaffeemaschine anzurühren.«

Verzweifelt blickte sie auf, Tränen in den Augenwinkeln, die ihr Make-up weiter verwischten. Mit ihren langen Fingern langte sie nach Sasuke, verfehlte kläglich und drehte sich nach links. »Dann eben dein Bruder. Irgendjemand. Ich brauche Koffein, sonst bewege ich mich hier nicht vom Fleck.«

Dramatisch ließ sie sich zurück auf die Theke fallen, den Arm nach der Espressomaschine lechzend.

»Das hättest du dir überlegen müssen, bevor du meine Frau verführt hast«, entgegnete Sasuke eiskalt und wischte ihren Arm weg. »Ertrag deine Strafe.«

»Itachi!«, rief sie plötzlich und riss ihn am Kragen rum. Perplex starrte er in ihr fahles Gesicht, das ihm mit aller Intensität entgegenblickte. »Sei mein Retter.«

Direkt mit ihr konfrontiert, erkannte er sie endlich. Bei ihrer letzten Begegnung war sie wesentlich adretter gewesen, weniger übernächtigt und er hatte sie für eine Empfangsdame gehalten. Sakuras Freundin, wie war ihr Name noch gleich gewesen? »Yamanaka Ino?«

»Ist doch egal!« Theatralisch zog sie die Augenbrauen zusammen. »Namen sind Schall und Rauch für den Fluch unserer Existenz verdammt nochmal ich brauch Koffein sonst rede ich noch mehr Scheiß!«

Die Szene war absurd und sie offenbar betrunken, sodass er sich nicht anders zu helfen wusste, als ihre Finger von seinem Hemd zu lösen, in ihren Schoß zu legen und die Kücheninsel zu umrunden. Der Freundin seiner Schwägerin konnte er diesen Gefallen tun. Im Gegensatz zu Sasuke hatte er in seinem Leben schon genügend Heißgetränke zubereitet. Zwei Augenpaare beobachteten ihn dabei, wie er ihr ein Wasserglas hinstellte und einen Tasse Kaffee hinunterließ.

»Milch und Zucker?«, fragte er.

»Schwarz«, entgegnete sie mit aufleuchtenden Augen. Das Koffein schien sie etwas runterzubringen und sie trank die nächsten Minuten überwiegend schweigend, während Sasuke und Itachi die letzten Projektdetails austauschten. Vor Drittpersonen Firmenangelegenheiten zu diskutieren war eigentlich nicht sein Stil, aber es war nicht anzunehmen, dass eine Schauspielerin etwas mit den vielen Finanzbegriffen anfangen konnte. Sie interessierte sich auch nicht dafür, ihre Aufmerksamkeit galt ihrem Smartphone, mit dem sie offensichtlich Schnappschüsse der Partynacht gemacht hatte.

Wenig später ging die Schlafzimmertür auf und Sakura trat in die Küche. Sie sah weniger elend aus als ihre Freundin, wenn auch nur, weil sie sich die Zeit genommen hatte, sich abzuschminken und frische Kleidung anzuziehen. Ihr Teint war ebenso fahl wie Inos.

»Himmel ist mir schlecht«, jammerte sie und gesellte sich mit einer Flasche Orangensaft zu ihrer Freundin.

»Das kommt davon, wenn man Alkohol trinkt«, kommentierte Sasuke. »Wann bist du überhaupt nach Hause gekommen?«

Sakura versuchte angestrengt zu überlegen. »Keine Ahnung. Ino?«

Die Angesprochene machte eine wegwerfende Geste. »Ich weiß nicht mal, wie wir heimgekommen sind.«

»Wie wäre es das nächste Mal mit einem Zettel oder einer Nachricht, wenn du wegbleibst?«, schlug Sasuke vor. Selbst Itachi konnte den feindseligen Unterton hören, der Sakura aufsehen ließ.

»Ach«, brummte sie. »So wie deine ganzen Zettel oder Nachrichten, wenn du ewig im Büro bleibst und das Essen kalt wird? Du und deine Doppelmoral.«

Itachis letzte ernsthafte Beziehung war sechs Jahre her, verheiratet war er noch nie gewesen, insofern konnte er sich nicht beurteilen, was bei Eheleuten als Streit galt oder nicht. Fakt war, dass es ihn nichts anging. Ino hatte denselben Gedanken. Sie standen synchron auf.

»Seit wann trinkst du überhaupt? Nur weil deine Freundin von Welt wieder da ist, wirst du plötzlich unzufrieden mit deinem Leben?«, warf Sasuke seiner Frau entgegen, als Ino Itachi abseits fragte: »Du musst nicht zufällig Richtung Yoyogi-Park und hättest Platz, mich mitzunehmen?«

Er musste so zirka in die entgegengesetzte Richtung, aber sie sah nicht aus, als könnte sie hundert Meter in einer geraden Linie gehen – schon gar nicht in den hohen Schuhen, die sie sich überstreifte – und der Umweg war vertretbar. Sein Flieger ging erst zu Mittag.

Die Verabschiedung wurde vom Ehepaar kaum wahrgenommen, dann fand Itachi sich in seinem Wagen wieder, eine blonde Schauspielerin auf dem Beifahrersitz. Er aktivierte die Spracherkennung des Navis und ließ sie die Adresse sagen. Die technische Spielerei ließ sie erheitert die Hände zusammenschlagen.

»Dass ihr Wirtschaftsheinis auch immer so ausgefallene Luxussportkarren habt«, meinte sie, während sie die restlichen Elemente des Cockpits inspizierte.

»Das ist kein Sportauto, es ist ein Coupé. Bitte fass die Knöpfe nicht an, Yamanaka-san.«

Lachend hob sie die Hände hoch. »Sorry. Ich hab jahrelang einen kotzgrünen Kleinwagen gefahren. Schicke Autos faszinieren mich. Außerdem, Ino, bitte. Einfach Ino. Kein san, chan oder kun. Sama, wenn du willst, muss aber nicht sein.«

»Großzügig von dir.« Er bog beim Konnō-zaka Slope links ab, um dem aufkommenden Berufsverkehr zu entgehen, und hielt an der nächsten Ampel.

Ihm war nicht entgangen, dass Ino zuvor auch bei seinem Vornamen das Suffix weggelassen hatte. Das war … ungewöhnlich. Es erinnerte ihn an seine Zeit in Amerika und Europa, als er nicht Uchiha-sama gewesen war, sondern einfach Itachi, ein hart arbeitender Kollege, vor dem man keinen übertriebenen Respekt oder gar Angst haben musste.

»Großzügig ist mein zweiter Vorname. Da vorne nochmal links, den Rest kann ich zu Fuß gehen.«

»Sicher?«

»Nicht im Entferntesten«, sagte sie sich lachend. »Aber ich hab mal fast einen Hindernisparcours gegen einen Otter gewonnen, wie schlimm können da schon hundert Meter in einer geraden Linie sein? Da kannst du rechts ranfahren.«

Die Gegend war ihm gut bekannt, die UCHIHA Corp. war nicht weit entfernt. Sie hatte sich eine interessante Ecke zum Wohnen ausgesucht, umgeben von kleinen Cafés und einem Plaza, auf dem man häufig junge Künstler ausgefallene Instrumente spielen sah.

Er setzte den Blinker und hielt bei nächster Gelegenheit am Kundenparkplatz eines Supermarktes, auf dem zu dieser Uhrzeit noch gähnende Leere herrschte. Ino bedankte sich mit einem breiten Grinsen, dann war sie um die nächste Ecke verschwunden, schnell und nicht zu fassen wie ein Blatt im Wirbelwind. Itachi schüttelte den Kopf und fuhr wieder vom Parkplatz ab. Im Zentrum ihrer aufdringlichen Art fühlte er sich eher wie das Blatt.

Nicht, dass er Zeit hatte, über die Freundin seiner Schwägerin und deren Hang zur Dramaturgie nachzudenken, der vermutlich eines dieser Schauspiel-Dinger war. In ein paar Stunden ging sein Flieger und er musste sich bis dahin noch Gedanken machen, wie er seinem Vater die Reise nach Malaysia glaubhaft als geschäftlich relevant verkaufen würde. Fugaku hatte den Hang, jeden seiner Mitarbeiter zu kontrollieren, und machte auch vor seinen Söhnen nicht Halt.

Keinem von beiden.
 

 

Erschöpft und erledigt versuchte Ino noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen, ehe Mabuchi sie anrief und daran erinnerte, dass sie heute ein Casting hatte. Nun ja, mehr oder weniger. Der Produzent wollte sie, nun ging es darum, wie viel er bereit war zu zahlen. Ihre Wohnung war nicht allzu billig und sie brauchte nach wie vor Möbel. Bislang schlief sie auf einem Futon, das Wohnzimmer bestand aus einem Couchsessel und das winzige Gästezimmer war komplett leer. Würde es auch bleiben. Ino brauchte es nicht, hatte die höhere Miete aber ob der hervorragenden Lage in Kauf genommen. Die nächstbessere Wohnung wäre viel zu weit weg vom Zentrum gelegen.

Alles in Ordnung?, hatte sie Sakura geschrieben, sobald Itachi sie abgesetzt hatte.

Keine Ahnung, antwortete Sakura am frühen Nachmittag.

Ino überlegte, anzurufen, doch Sakura war eine erwachsene Frau und Sasuke war noch nie auch nur handgreiflich geworden. Also entschied sie, die beiden ihren Disput alleine ausfechten zu lassen.

Ein paar Fitnessübungen und einen Blaubeeren-Chia-Smoothie später – ein Mixer war ihr erstes und letztes Küchengerät – gerade als sie twitterte, dass nach dem Konsum von Chiasamen auf jeden Fall eine Zahnbürste zu empfehlen war, kam der antizipierte Anruf ihrer Agentin.

»Ich bin in zwanzig Minuten da, warte vor der Tür«, befahl sie ihr und legte auf, ehe Ino antworten konnte. Mabuchi hatte wohl gelernt, dass Inos freche Kommentare nur vermieden werden konnten, wenn Ino erst gar nicht zu Wort kam.

Das war auch das Kredo des Verhandlungstermins. Er fand in einem gut beleuchteten Besprechungsraum des Filmstudios statt und Ino hatte die erste halbe Stunde nicht viel zu tun. Der Produzent, der Regisseur und ein paar andere Mitwirkende hatten ihre Tapes zuvor eingehend studiert und waren überzeugt, dass die Rolle perfekt auf sie passte. Die eigentlich dafür vorgesehene Schauspielerin hatte aufgrund einer besseren Rolle abgesagt, sie standen unter Zeitdruck. Mabuchi stimmte ihnen zu, zählte Inos Schauspielerfahrungen noch einmal auf und war erleichtert, dass ihre nervenaufreibendste Klientin die Klappe gehalten hatte. Weitere zehn Minuten später hatten sich die Parteien auf eine nicht zu verachtende Gage geeinigt.

Doch Ino hatte eine Frage. »Also, nochmal wegen dem Drehbuch.«

Mabuchis Kopf fuhr herum, in ihren mandelförmigen Augen eine einzige Warnung. Ino ließ sich nicht beirren, ließ sie sich nie. Sie hatte das Drehbuch in den vergangenen Tagen aufmerksam gelesen und ein paar Szenen geprobt. Die Figur würde sie schon hinbekommen, leicht sogar. Aber, »verstehe ich es richtig, dass die emotionale Entwicklung meines Charakters damit endet, dass sie den Arzt heiratet?«

»Ja«, sagte die Drehbuchautorin. Sie war eine schlanke junge Frau, die sich nach einer kurzen Vorstellungsrunde vorwiegend im Hintergrund gehalten hatte. Takahashi Ayase sagte ihre Visitenkarte. »Der Grundgedanke dieses Nebenhandlungsstrangs ist, die Intensität der ambivalenten Beziehung zwischen den Hauptcharakteren auszubalancieren. Chiwa und Chiaki sind über drei Viertel der Handlung emotional zu unreif, um sich wirklich aufeinander einzulassen, was in Missverständnissen und Streits resultiert. Im Kontrast dazu sind ihre jeweiligen älteren Geschwister von Anfang an bereit, den anderen zu akzeptieren und zu unterstützen.«

»Mag sein«, wandte Ino ein. Sie blätterte zu der Szene, in der ihr Charakter den emotionalen Durchbruch erlangte. »Aber sie hat schwere psychische Probleme. Liebe löst das nicht.«

Unter dem Tisch trat Mabuchi gegen ihr Schienbein. Sie ignorierte es. Psychisch labile Charaktere waren ihre Spezialität. Dieses Drehbuch war Mist.

»Ich habe ein Problem mit der Kernaussage dieses Handlungsbogens.«

»Wir bemühen uns um Nuancen –«, begann die Autorin. Der Produzent unterbrach sie, »wir befinden uns seit zwei Monaten in Vorproduktion, Änderungen am Drehbuch sind nicht möglich, Yamanaka-san. Es tut mir leid, aber wir erwarten von Ihnen, die Rolle wie vorgesehen zu spielen.«

»Wieso? Es bräuchte zwei oder drei zusätzliche Szenen, in der sie in einer Therapie ihre Ängste aufarbeitet. Das würde dem Charakter mehr Tiefe verleihen und nicht suggerieren, dass–«

»Yamanaka«, zischte Mabuchi. Sie versuchte das Ruder rumzureißen, entschuldigte sich mehrfach beim Filmteam, boxte ihre aufmüpfige Klientin in die Seite, aber Ino diskutierte weiter und weiter und weiter, bis der Produzent sein Bedauern ausdrückte, keine Einigung gefunden zu haben, und sie beide höflich gebeten wurden, das Gelände zu verlassen. Ino hatte nichts unterschrieben und Mabuchi war sauer.

»Du hast dieser Agentur verdammt viel Geld gekostet, Yamanaka«, sagte sie betont ruhig, sobald sie wieder im Auto waren. Hinter ihrer geschminkten Fassade tobte ein Orkan. »Das ist nicht tragbar. Willst du hier wieder Fuß fassen, oder legst du es einfach darauf an, die Leute in der Szene zu verärgern?«

»Das Drama ist große Scheiße und das weißt du, Mabuchi«, entgegnete Ino. Sie war mit verschränkten Armen in den Autositz gesunken und stierte durch die Windschutzscheibe auf das Werbeplakat, vor dem sie geparkt hatten. »Meine Figur ist ein eindimensionaler Charakter und ihr Selbstmordversuch dient nur dazu, die kleine Schwester mit dem Bruder des Arztes zusammenzubringen. Das hat weder Tiefgang noch Sinn. Ich weigere mich, eine Frau zu spielen, deren gesamte psychische Probleme durch einen Heiratsantrag gelöst werden.«

Mabuchi schlug gegen das Lenkrad – eine ungewöhnlich emotionale Geste. »Jetzt hör zu Yamanaka, ich hab dich wieder aufgenommen, weil dein Name in der Industrie etwas wert ist. Dein Erfolg in Amerika ist ein Sprungbrett. Aber das bricht, wenn du zu viel Gewicht drauflegst und dich nicht endlich mal abspringst.«

Schwer ausatmend drehte sie den Zündschlüssel um und fuhr los. Zu lange am Parkplatz des Studios zu bleiben, würde nur Aufmerksamkeit erregen. Die Hälfte der Fahrt über schwiegen sie sich an. Mabuchi konzentrierte sich auf den dichten Abendverkehrt, Ino versuchte nicht darüber nachzudenken, was eben geschehen war. Es funktionierte nicht.

Raunend schlug sie ihre Handflächen gegen ihr Gesicht. Sie kam immer ungeschminkt zu Castings, um den Filmemachern ihr Gesicht als Leinwand zu präsentieren, andernfalls hätte sie eine Geste mit weniger Augenkontakt gewählt. So wie es war, presste sie die Finger gegen ihren Haaransatz und atmete ein paar Mal in ihre Hand.

»Es tut mir leid, okay?«, sagte sie schließlich, als Mabuchi in die Parkgarage der Agentur gebogen war. »Ich hab ja versucht, meinen Kopf abzuschalten. Aber diese Oberflächlichkeit meiner Figur regt mich auf.«

»Kann sie ja auch. Aber stumm und unbemerkt von der Außenwelt. Reiß dich zusammen, Yamanaka. Bist du ein Profi oder nicht?« Mabuchi stieg aus und wartete ungeduldig, bis auch Ino sich erhoben hatte, dann warf sie die Fahrertür zu. Etwas schwungvoller als notwendig. »Du gehst nach Hause und verhältst dich brav. Ich bügle das aus. Die sind unter extremem Zeitdruck, wen anderen als dich bekommen die nicht so schnell.«

»Fantastisch«, grummelte Ino.

Vier Tage später klingelte ihr Smartphone. Sie konnte die Rolle immer noch haben, wenn sie sich förmlich bei allen Beteiligten entschuldigte und sie für die Dauer der Dreharbeiten ihren Mund hielt. Fleiß, Gehorsam, Klappe halten. Die Arbeitsmoral in der japanischen Schauspielindustrie. Sie war dabei, Mabuchi diese Meinung deutlich zu sagen, und hätte es auch getan, wären ihr aus dem Briefkasten nicht vier Rechnungen entgegengefallen.

Ja, das Drama war sinnlos und kitschig. Aber sie konnte es sich auf Dauer nicht leisten, diese Rolle zu verweigern. Also fuhr sie in ihrem züchtigsten Hosenanzug mit Mabuchi zum Studio, verbeugte sich so tief man es von ihr verlangte, schob ein paar leere Floskeln über ihre Lippen und fand sich mit ihrer Situation ab. Drehbeginn war in acht Wochen, bis dahin wurde sie zur Aufnahme von Werbematerial und zu Kostümproben erwartet.

Wenigstens würde die Gage für ein paar Möbel reichen. Sie war nur für die notwendigste Einrichtung an ihr Erspartes gegangen, der Rest hatte auf ihren ersten großen Auftrag in Japan warten müssen. Das war drei Monaten her.

Ihr Bekanntheitsgrad in ihrem Heimatland war durch ihre früheren Erfolge in Amerika offenbar weniger stark gestiegen als erhofft.
 

 

»Ich meine, die Filme dort haben Millionen in die Kinokassen gespült! Und jetzt haben sie nicht mal eine ordentliche Hauptrolle für mich?«, beschwerte Ino sich an einem verregneten Wintersamstag inmitten Dutzender Schauküchen.

Sakura hatte sie zufällig bei den Wochenendeinkäufen auf der Straße getroffen und war kurzerhand von ihr zum Möbelkaufen mitgenommen worden. »Früher hab ich depressive Studentinnen mit Sinnkrisen gespielt, jetzt wird mein Suizid durch einen Goldring geheilt. Ist doch scheiße.«

»Würdest du in der Gegenwart meiner Tochter bitte nicht fluchen?«, bat Sakura, doch Sarada war viel zu beschäftigt damit, vom Einkaufswagen aus die vielen hübschen Dinge um sie herum zu bestaunen. »Ist die Rolle wirklich so mies?«

»Mieser als mies. Schau mal.« Ino hob ein Preisschuld hoch. »Ist das viel für ein Hängeregal? Ich hab keine Ahnung mehr von japanischen Preisen – und von Japan allgemein und dem japanischen Verständnis von Höflichkeit.«

»Höflichkeit war ja noch nie deine Stärke.«

»Ach ja, darum bin ich aus Japan abgehauen. Ich erinnere mich vage an das enthusiastische Mädchen von damals.«

Sakura lachte. Da sie in derselben Nachbarschaft wohnten, waren sie sich in letzter Zeit öfter über den Weg gelaufen. Es fühlte sich fast so an wie früher, als sie sich nach der Schule gegenseitig die Nägel lackiert hatten. Bloß dass sie heute ihre Tochter vor sich her schob und sich über Karrieren und Ehe unterhielten. »Ich werde übrigens keine Hilfe sein. Ich hab noch nie Möbel gekauft. Nach dem Uniabschluss bin ich vom Studentenwohnheim gleich zu Sasuke gezogen. Saradas Kinderzimmer hat Mikoto als Geschenk eingerichtet.«

Ino seufzte mitleidig. Sie waren auf der Höhe der Sofas und visierten die Couchtische an. »Die Uchihas kommandieren dich ganz schön rum. Warum hast du Sasuke überhaupt geheiratet?«

Ertappt wandte Sakura den Blick ab. Die Frage war nicht neu, die Antwort einfach. Seit ihrer Nacht im Club hatte Sakura darüber nachgedacht. »Als er mir den Antrag gemacht hat, waren wir sehr verliebt.«

Sie passierten einen unfassbar hässlichen Couchtisch, über den Ino eine Grimasse schnitt. Sie blähte die Wangen auf, als sie das Preisschild sah. »Und wieso bleibst du mit ihm verheiratet?«

Das war die wahrhaft schwierige Frage. Ino war immer schon gut darin gewesen, mit ihren direkten Fragen den Kern einer Problematik zu treffen. Sakuras Ehe lief suboptimal, so viel war sicher. Aber war es nur eine Phase, die sie überwinden mussten, oder hatte sie mit Sasuke einen Endpunkt erreicht? Sie wusste nur eines.

»Weil ich ihn liebe.«

»Ist Liebe genug?«, fragte Ino, als ob es so einfach wäre. Für sie war es das. Ihr rigoroser Blick auf menschliche Beziehungen war fast schon sarkastisch. Für sie war Liebe niemals genug, für gar nichts. Eine Beziehung war Arbeit, Kompromisse und Verständnis. Liebe brachte einen nur bis zum ersten Hindernis. Aber Ino war nicht Sakura, sie war nicht mit Sasuke verheiratet und hatte kein Kind mit ihm. Nichts daran war einfach.

»Vielleicht will ich mehr als ich verdiene«, sagte Sakura nach einer halben Ewigkeit. Nachdenklich strich sie Sarada übers Haar.

»Blödsinn.« Ino ließ das Preisschild fallen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Kein Wunder, dass Sasuke dich als Standardeinstellung seines Lebens hält. Du bist ihm ja auch immer nachgelaufen. Willst du das wirklich weiterhin machen?«

Sakura seufzte. »Frag mich das bitte nicht. Zumindest nicht in der Tischabteilung.«

Ino schüttelte den Kopf, ließ das Thema aber fallen.

In den nächsten Stunden suchten sie stilvolles Mobiliar aus, das Ino ein halbes Vermögen kostete. Wie viel die furchtbare Nebenrolle ihr einbrachte, hatte sie nicht gesagt, aber sie schien generell ein gutes Einkommen zu haben, das es ihr erlaubte, eine der hässlichsten und überteurtsten Stehlampen der Welt zu kaufen. Es wurde ein ausgelassener Nachmittag, an dem sie über Teppichmuster, Rabatte und Holzmaserungen sprachen.

Doch der Nachmittag ging vorbei, und was abends blieb, war die schmerzhafte Realisation, dass Sakura diese Erfahrung gerne mit Sasuke gemacht hätte. Kastenhöhen abmessen, Sarada im Bällebad verlieren, über Lampenschirme streiten, die kitschigsten Zierkissen der Abteilung finden und die Plastikbaguettes in der Küchenabteilung als Schwerter missbrauchen.

Sasuke war nicht da. Arbeitete wie jeden Samstag bis spät in die Nacht. Beschäftigte sich mit seinem Projekt und damit, seinen Bruder zu übertrumpfen und dieses sinnlose Lob seines Vaters zu bekommen, nach dem er seit bald drei Jahrzehnten erbittert strebte. All das tat er, anstatt mit ihr gemeinsam den neuen Bilderrahmen auszupacken, den sie erstanden hatte.

Sie wollte es nicht zugeben, wollte es nicht wahrhaben, aber Uchiha Sakura fühlte sich in dieser Ehe alleine.

Und sie wusste nicht, wie lange sie noch so weitermachen konnte.

 
 

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Szenenwechsel


 

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Konoha, Japan; 15 Jahre zuvor
 

»Naruto.«

Sasuke trat an den Tisch seines Freundes und sah mit verschränkten Armen auf ihn hinab. Wie üblich war sein Blick gleichgültig, fast schon herablassend. Naruto wusste es besser, oder schien sich zumindest davon nicht irritieren zu lassen. Seit zwei Jahren spielten sie zusammen im Fußballverein ihrer Mittelschule und pendelten seitdem in rasanter Geschwindigkeit von Kontrahenten zu Freunden und wieder zurück. Es war eine eigenartige Dynamik, die Sakura noch nie verstanden hatte, so sehr sie es auch versucht hatte. Musste ein Männerding sein. Neidisch war sie dennoch.

Naruto verschränkte die Arme hinterm Kopf und schaukelte mit dem Sessel nach hinten, um bequem zu Sasuke aufsehen zu können. »Jup?«

»Mach keinen Aufstand, egal was ich dir jetzt sage.«

Reflexartig sah Sakura auf und kaschierte die neugierige Geste mit einem nachdenklichen Blick aus dem Fenster. Zur Glaubwürdigkeit ihrer Aktion, die sowieso keiner der beiden wahrgenommen hatte, tippte sie mit dem Fingernagel auf das Lehrbuch, über dem sie brütete. Biologie war nicht das Uninteressanteste für eine Mittagspause, vor allem da Hinata krank war und Ino schwänzte, und sie nichts Besseres zu tun gehabt hatte. Bis Sasuke ihre Aufmerksamkeit unbewusst auf sich gezogen hatte.

»Ich mach nie Aufstände«, behauptete Naruto. Sasuke war nur einen Seufzer vom Augenrollen entfernt.

»Dann brich deine stolze Tradition nicht. Ich ziehe weg.«

»Waaa–« Naruto stockte, öffnete seinen Mund ein paar Mal, aber nichts kam heraus. Neben ihm war Sakura erstarrt, ihr Blick wieder auf das Lehrbuch gerichtet, ohne dass sie eine einzige Zeile sah. »Wieso? Wann?«

»Mein Vater verlegt das Hauptquartier unserer Firma. Offenbar ist Konoha ein zu kleiner Standort. Wir wollen expandieren, aber das Einzugsgebiet würde unseren Bedarf an Mitarbeitern nicht decken. Oder so.«

»Das ist mir egal! Wie zum Henker sollen wir das Winter Kokuritsu gewinnen? Ich kann die nicht allein zum Sieg führen!« Aufgeregt sprang Naruto in den Stand. »Wie, Sasuke?! Erst hauen Neji und Lee in die Oberschule ab und jetzt lässt du uns auch im Regen stehen!«

»Ihr findet schon einen Ersatz für mich. Keinen annähernd so genialen, aber möglicherweise kannst du … Shino oder … Shikamaru überreden …«

Sakura hatte genug gehört. Tränen der Enttäuschung standen in ihren Augen. Mit einer viel zu kraftvollen Geste klappte sie das Buch und eilte nach draußen, bevor sie zu weinen beginnen konnte. Sasuke sah ihr nicht einmal nach. Hatte er noch nie und würde er auch nie. Letzten Sommer noch hatte sie sich vorgenommen, ihn dieses Schuljahr endlich für sich zu gewinnen.

Nichts da.

Auf der Mädchentoilette verkroch sie sich in die hinterste Kabine und barg ihr Gesicht in die Hände. Mit ihren vierzehn Jahren war sie noch so naiv, sich dieses dämliche Ziel zu setzen, auf das sie gar keinen Einfluss hatte. Die Realisation traf sie hart; sie war kindisch, töricht und lächerlich. Nicht einmal einen Blick wert.

Und sie würde Sasuke niemals wiedersehen.

 
 


 

—Tokio, Japan; Gegenwart

 

Als Ino am Set ankam, war sie wenig beeindruckt. Nicht, dass nicht alles sehr professionell wirkte. Sie war nur allgemein nicht in der Stimmung, nach ihrem Disput mit den Schöpfern des Dramas irgendetwas Positives einzugestehen. Heute war die große Begrüßung vor dem offiziellen Drehbeginn und sie war eine Minute zu spät, dafür mit frischem Kaffee bewaffnet.

Mabuchi hatte einen anderen Termin und war das Risiko eingegangen, lediglich ihren Assistenten zu schicken, um ihre schwierigste Klientin in Zaum zu halten. Dabei hatte Ino sich fest vorgenommen, brav zu sein. Also stand sie nun hier, inmitten von Kabeln und Scheinwerfern, und wurde vom Regisseur in Empfang genommen.

»Yamanaka-san! Es freut mich sehr, dass Sie hier sind. Hatten Sie eine gute Anreise? Ja, wunderbar. Kommen Sie nur, sehen Sie sich um. Dort drüben stehen Ihre Kollegen, Sie möchten sie bestimmt kennenlernen.«

»Natürlich«, meinte Ino halb ehrlich. Viel Zeit zum Umsehen hatte sie nicht. Das Set war auch wenig spektakulär. Blue River spielte vorwiegend in einer Schule, einem Einfamilienhaus und einem Krankenhaus. Die Szenerie war entsprechend realistisch gestaltet und fast schon langweilig für jemanden, der bereits in Wüsten und den Highlands gedreht hatte. Vielleicht führte der Regisseur sie deswegen so schnell daran vorbei und hin zu den anderen Schauspielern, die am Rand eines Esszimmersets standen.

»Yamanaka Ino-san«, rief die junge Frau in der Mitte und verbeugte sich so quirlig und unsauber, dass es sogar Ino auffiel. »Seit ich gehört hab, dass du meine große Schwester spielst, fiebere ich dem Dreh entgegen! Dein Auftritt damals im Schultheater als Dämonenprinzessin hat mich erst zur Schauspielerei gebracht!«

Ino kramte tief in ihrer Erinnerung. Nada. »Und du bist …?«

»Kazamatsuri Moegi, aber mein Künstlername ist Kazuri Moegi. Nenn mich einfach Moegi. Wir waren in derselben Mittelschule. Ich hätte niemals gedacht, dass du nach Japan zurückkommst und ich die Gelegenheit habe, mit dir zu spielen!«

»Das habe ich auch nicht, aber hier sind wir«, gab Ino zurück. Es klang weniger missmutig als es hätte können, und das hatte sie schon genügend Kraft gekostet. Moegi konnte nichts für die Oberflächlichkeit der Produktion, die anderen Schauspieler ebenso wenig. Ino lächelte.

Die Vorstellungsrunde der Kernbesetzung war nicht ganz so schlimm wie befürchtet. Neben Ino gab es zwei weitere ausgebildete Schauspieler, der Rest waren Oberschüler ohne Erfahrung und aufsteigende Sänger, die ein Sprungbrett brauchten. Wenigstens war das Essen einigermaßen genießbar, während der Drehplan ausgehändigt und effiziente Eröffnungsreden geschwungen wurden. Die Zeit war knapp, das Budget eng bemessen und alle Szenen mussten in nur vier Wochen im Kasten sein. Drehtage von bis zu sechzehn Stunden waren anberaumt, Überstunden exklusive.

Inos Drehplan war in Ordnung, sie würde für die meisten Szenen in der ersten und letzten Woche benötigt werden. Ihr Text war nicht schwer, der schauspielerische Anspruch durchschnittlich. Weinen konnte sie seit Jahren auf Knopfdruck und mehr emotionale Expression wurde von ihrer Figur nicht erwartet. Ihre Kollegen schienen auch nett genug zu sein, vor allem Moegis enthusiastische Energie war fast schon entzückend. Es erinnerte Ino erinnerte an den Start ihrer Karriere. Ihren eigenen Optimismus, die Pläne, Ziele, Hoffnungen.

Ino beneidete sie. Als Moegi sie mit einem Funkeln in den Augen fragte, ob sie sie zum Bahnhof begleiten durfte, konnte Ino nicht ablehnen.

Die erste Hälfte des Weges sprach Moegi über die anstehenden Drehtage, in der zweiten teilte sie endlich Neuigkeiten aus Konoha mit – Uzumaki Naruto war der beliebteste Bürgermeister seit zwei Jahrzehnten, die lokale Oberschule war um eine Basketballhalle erweitert worden, letztes Jahr hatte ein neues Restaurant eröffnet. Mit den wenigsten Informatinen wusste Ino etwas anzufangen. Sie war seit zehn Jahren nicht mehr in Konoha gewesen, hatte genauso lange nicht mehr mit ihrer Mutter oder ihren ehemaligen Freunden Kontakt gehabt. Konoha war damals.

Dennoch war es eine nette Gelegenheit, Klatsch aufzuschnappen. Über Sai wusste Moegi nichts, dafür hatten ihre Eltern ihr am Telefon erzählt, dass Shikamarus Vater seit Wochen auf der Couch schlief und Chōji einen kleinen Bauernhof am Stadtrand gekauft hatte. Sie hätte auch gerne noch erfahren, wann der Geburtstermin für Hinatas zweites Kind anstand, doch eine Gruppe Oberschülerinnen unterbrach die Ausführungen. Eine von ihnen schrie auf, rannte auf Ino zu und hielt ihr einen Notizblock samt Kugelschreiber entgegen.

»Sie sind Yamanaka Ino-san! Würden Sie mir bitte ein Autogramm geben?«

Ihre drei Freundinnen, vorhin noch verwirrt, gaben einen begeisterten Laut von sich und kramten ebenfalls Schreibutensilien heraus. Unterschriften wurden gegeben, Fotos gemacht, und der kleine Tumult erregte die Aufmerksamkeit anderer Passanten. Bald standen gut zwei Dutzend Menschen um sie herum, verlangten Selfies mit den beiden Schauspielerinnen und weitere Autogramme.

»Wow!«, machte Moegi tief beeindruckt, nachdem sich der kleine Schwarm aufgelöst hatte. »Du bist wirklich unglaublich berühmt.«

Ino schüttelte den Kopf. »FOMO, sonst nichts. Eine holt sich ein Autogramm, zwanzig andere haben Angst, irgendetwas zu verpassen. Ich wette zweitausend Yen, dass niemand von denen hat auch nur einen meiner Filme gesehen.«

»Ach, dann haben sie jetzt wenigstens einen Grund, sich einen davon anzusehen! Welchen würdest du denn empfehlen?«

Eine ernsthafte Frage, mit der Ino nicht gerechnet hatte. Die Antwort darauf war zu voluminös für diesen Abend. Ihr Zug kam in fünf Minuten und Moegi musste in die andere Richtung. »Ein andermal. Wir werden bestimmt noch viele Gelegenheiten haben, uns über Filme zu unterhalten. Kleiner Tipp am Rande«, sagte Ino, als sie bereits die Stiegen zu ihrem Bahnsteig hinabstieg. »Üb das Drehbuch nicht zu viel, sonst wirkt es nur mehr einstudiert. Die nehmen selten das erste Take, also experimentiert direkt beim Dreh ein wenig rum.«

»Danke!«, rief Moegi ihr nach.

Sie würde den Rat nicht beherzigen. Die wenigsten jungen Schauspieler taten das. Zu groß war die Angst vor einem Blackout, vor einer Blamage vor der gesamten Besetzung. Ino hatte den Fehler auch gemacht, mehr als einmal. Ihre erste Szene hatte vierzehn Takes gebraucht, bis sie bereit gewesen war, von dem abzulassen, was sie im Spiegel bis zur Perfektion geübt hatte. Es war eine harte Lektion gewesen; dass Schauspielern mehr war als Worte in Tonfällen mit passender Gestik zu sagen.

Und es war alles umsonst. Sie bezweifelte, dass der Regisseur ihre Interpretation der großen Schwester wertschätzte. So wenig Takes als möglich. Effizienz. Bleib am Drehbuch, probier nicht rum.

Der Fahrtwind des einfahrenden Zuges ließ Ino ihren den Mantel enger um sich schlingen. Das Inneren war fast leer, sodass sie fast keinen Platz fand, von dem aus ihr Spiegelbild ihr nicht allzu enttäuscht entgegenstarrte.

Was zum Teufel machte sie hier?
 


 

»Was zum Teufel hat dieser Mensch vor?«

Raunend ließ Sasuke sich in seinen Bürosessel sinken und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Es war lang geworden. Keine Zeit für Frisörtermine. Sakura meckerte seit Monaten darüber.

Alibihalber blätterte Sasuke die Zeitschrift durch, die er sich gestern aus den Firmenarchiven besorgt hatte. Es war die einzige Literaturquelle in diesem verfluchten Gebäude, die etwas von Malaysia und Leiterplatten erwähnte, allerdings nicht im selben Artikel.

Ein vertrauter Ton kündigte eine neue E-Mail an, ein Blinzeln später schob sich eine Vorschau davon auf seinen Bildschirm. Ein weiterer Testbericht der Datenbank, er wollte die Details gar nicht wissen. Und er hatte keine Zeit dafür.

Ehe eine weitere Mail ihn stören konnte, stand er auf und eilte zielgerichtet zum Aufzug. Über die Jahre hatte Sasuke gelernt, dass kein Uchiha jemals angesprochen wurde, wenn er nur stramm genug durch die Gänge schritt. Auch diesmal grüßten die paar entgegenkommenden Angestellten lediglich höflich und wünschten ihm einen schönen Feierabend. Daran war gar nicht zu denken. Der Aufzug brachte ihn acht Stockwerke höher.

Wer zum ersten Mal die UCHIHA Corp. betrat, konnte sich leicht verirren. Der Grundriss des einundzwanzig Stockwerke hohen Gebäudes war klassisch L-förmig und zeichnete sich von außen durch den geschmackvollen Vorplatz aus, den seine Mutter vor Jahren entworfen hatte. Die Innengestaltung war weniger eingängig. Es gab eine Unendlichkeit an Zwischengängen, Verbindungstüren, Abkürzungen und Aufgängen, über die man sein Ziel entweder schneller erreichte oder dreimal so lange brauchte. Während seines Praktikums hatte Sasuke sich ständig verlaufen. Mittlerweile konnte er blind durch die meisten Etagen laufen.

Die Stockwerke achtzehn bis zwanzig waren weitgehend der Geschäftsführung vorbehalten und zeichneten sich durch grauen Teppichboden und holzvertäfelte Wände aus. Im Vergleich zu den Stockwerken darunter, hatten die Büros und Besprechungsräume hier kaum Glas. Neugierige Mitarbeiter konnten zwar jederzeit ungehindert nach oben kommen, jedoch wurden wichtige Unterredungen oder Geschäftstermine in Räumen mit minimaler Durchsicht abgehalten.

Itachis Büro folgte diesem Prinzip, darüber hinaus beinhaltete es einen Vorraum, in dem seine Assistentin pflichtbewusst unliebsame Besucher abwehrte. Es war eine undankbare wie meist einfache Aufgabe. Kaum jemand, der abgewimmelt werden konnte, wagte, Itachi mit irgendetwas zu behelligen. Die Tür zum Vorraum war noch geöffnet, schwaches Licht schien in den Gang hinaus. Sasuke verlangsamte seine Schritte. Ehe er auf sich aufmerksam machen konnte, hob Itachis Assistentin den Blick von einem Aktenordner.

»Guten Abend, Sasuke-san«, grüßte sie. Sie waren auf Vornamenbasis, seit so viele Uchiha-samas in der UCHIHA Corp. für Verwirrung gesorgt hatten und Sasuke ohnehin nur nach einer Ausrede gesucht hatte, nicht derart demütig adressiert zu werden. Er war weder sein Vater noch sein ach so genialer Bruder.

»Reina-san. Sie arbeiten ja noch.«

Sie verzog die Lippen zu einem ermutigenden Lächeln und klemmte ein metallenes Lesezeichen an die Stelle des Ausdrucks, an der sie unterbrochen worden war. »Sie auch«, entgegnete sie und stand auf. »Kann ich etwas für Sie tun? Ich nehme an, Sie wissen, dass Uchiha-sama sich auf Geschäftsreise befindet.«

»Ja«, antwortete Sasuke. Er war aus einem Impuls heraus aufgesprungen, nun stand er hier und versuchte mit sich selbst auszumachen, wie er sein Anliegen vorbringen konnte, ohne Argwohn zu erregen.

Jahrelang hatte Itachi eine Litanei an unzureichenden Assistenten verheizt, bevor er in Shirogane Reina gefunden hatte, was er als unentbehrlich bezeichnete. Sie war höflich, diszipliniert, eigenständig, und vor allem klug. Jede verdächtige Anfrage würde sofort an ihren Vorgesetzten gehen. Weiter zu zögern würde ihn allerdings auch nur suspekter machen.

»Ich habe mich nur gefragt, wie viele Ressourcen Itachi aktuell übrighat. Ich weiß, dass er an der Umstrukturierung unserer Vertriebsabteilung und am Rollout unserer Software im Iran beteiligt ist. Er soll mir bei synCOM helfen, aber ich möchte mir gerne von einer verlässlichen Quelle die Bestätigung abholen, dass er auch wirklich die Kapazitäten dafür hat. Sie wissen ja, wie er ist.«

Genau genommen hatte Itachi ihm eine derartige Hilfe niemals offen angeboten, aber das Szenario war glaubwürdig genug. Itachi war weithin bekannt für seinen Hang, sich einzumischen, obwohl er tausend andere Dinge zu tun hatte. Reina kannte seine Überstunden. Ohne zu überlegen sagte sie, »Die Meetings zur Unternehmensstrategie sind übernächste Woche, anderweitig sind keine großen Projekte geplant, an denen Uchiha-samas aktive Mitarbeit gefordert ist. Er hat mich vor seiner Abreise auch gebeten, den Terminkalender für die nächsten zehn Tage freizuhalten. Ich gehe davon aus, dass er seine Ressourcen bereits für Sie eingeplant hat.«

»Hat er?«

»Moment, lassen Sie mich nur etwas …« Sie beugte sich nach unten zu ihrem Computer und tippte darauf herum, bis sie fand, was sie suchte. »Ja. Ich habe vorletzte Woche einige Dokumente aufbereitet, das waren Projektunterlagen von synCOM. Er sollte sich also schon eingearbeitet haben.«

»Welche Projektunterlagen waren das?«

Die Frage schien sie stutzig zu machen. Hinter ihrer eckigen Brille wog sie ab, wie viel sie ihm sagen durfte. Es war sein Projekt, insofern hatte sie keine Chance, etwas zu verschweigen. »Die meisten finanziellen Aufstellungen. Projektpläne, Aufwandsschätzungen, Personalkosten. Entschuldigen Sie, Sasuke-san, ich war der Meinung, Sie hätten ihm diese Unterlagen gegeben?«

»Ach ja, richtig«, log er aalglatt und schüttelte den Kopf, als sei es ihm eben erst wieder eingefallen. Selten war er so froh gewesen, seine Emotionen hinter der Fassade seiner Gelassenheit derart gut verstecken zu können. »Das war diese eine E-Mail, die zu groß zum Verschicken war. Ich musste extra mit einem USB-Stick hochkommen. Danke, Reina-san, Sie haben mir sehr weitergeholfen. Schönen Abend noch, bleiben Sie nicht mehr zu lange.«

»Sie aber auch nicht«, meinte sie tadelnd.

Sasuke beeilte sich nach draußen. Diesmal nahm er die Treppen anstatt dem Aufzug. Er war zu aufgeregt, um still zu stehen. Natürlich war Reina der Meinung, er hätte Itachi die Unterlagen gegeben. Die Firmenprozesse sahen vor, dass derartige Dokumente nur durch den Projektleiter kommuniziert werden durften. Darüber hinaus machte es keinen Sinn, dass Itachi sie heimlich anforderte. Sasuke präsentierte diesen administrativen Kostenkram bei jedem Statusmeeting. Jeder im Aufsichtsrat kannte die Zahlen, sie waren kein Geheimnis.

Was zum Teufel führte Itachi im Schilde?

Es fiel Sasuke schwer, sich wieder in seinen Sessel zu pflastern und jedes Dokument aufzurufen, das auch nur irgendetwas mit synCOMs Kosten und Zeitaufwänden zu tun hatte. Sakuras Anruf ließ er in die Mailbox gehen, auch ihren zweiten und dritten. Nach dem vierten schrieb er eine kurze Textnachricht und stellte sein Smartphone lautlos.

Wenn Itachi die Zahlen gegen ihn verwenden wollte, musste Sasuke jede Ziffer auswendig kennen, für jeden Mehraufwand ein solides Argument haben. Er würde sich nicht ausmanövrieren lassen. Von niemandem.

Schon gar nicht von Itachi.

 
 


 

»Vielen Dank für Ihren Besuch, Uchiha-sama«, sagte ein kleiner, rundlicher Mann mit schütterem Haar. Auf der Werksführung hatte sein teurer Anzug einen kleinen Ölfleck abbekommen, weil er zu Demonstrationszwecken einer Maschine zu nahe gekommen war.

Nach der Führung wusste Itachi nun sehr viel über die Herstellung von Leiterplatten. Er wusste auch, dass die malaysische Fabrik, von der ihn nach einer weitschweifigen Verabschiedung durch den Besitzer ein Fahrer abholte, nicht als Lieferant der UCHIHA Corp. infrage kam. Die vorhandene Infrastruktur würde das Bestellvolumen nicht bedienen können. Itachi hatte das von Anfang an gewusst. Er war auch gar nicht hier, um potenzielle Vertragspartner zu begutachten. Er war hier, weil der Flug von Kuala Lumpur nach Singapur eine Stunde dauerte und niemand wissen durfte, dass er etwas dort zu erledigen hatte.

Die Zeit vor dem Abflug nutzte er, um mit dem bescheidenen WLAN des Flughafens noch einmal alle Unterlagen durchzugehen, die er in den letzten Wochen gesammelt hatte. Bei dieser Sache durfte er unter keinen Umständen Fehler machen. Nicht einen.

synCOMs Aufwände machten Sinn. Mehrfach und mehrmals war Itachi jede einzelne Zeile durchgegangen und fand auch jetzt nichts Merkwürdiges. Die Personalkosten entsprachen den verzeichneten Stunden, die Ausgaben für neue Hardware waren im Rahmen des Marktwertes, die Marketingkosten für das UI-Design waren etwas hoch, aber die Agentur, die Sasuke dafür beschäftigt hatte, war bekannt für ihre Preise. Das alles war von CEO und COO abgesegnet worden. Itachi konnte sich an den Tag erinnern, an dem er und Fugaku ihr OK gegeben hatten. Das alles verstand er.

Was er nicht verstand, waren die Kosten für diverse Beraterfirmen, die in keinem Projektplan aufschienen und von Sasuke in keinem Statusmeeting erwähnt worden waren. Dennoch waren sie offiziell auf das Projektbudget verbucht und flossen in unregelmäßigen Zahlungen nach außen. Vier Millionen Yen hier, sieben Millionen Yen dort, alles fein säuberlich aufgenommen und mit Belegen archiviert.

Itachi hätte verstanden, wenn sein Bruder sich externe Hilfe geholt hätte. Die Konzeptionsphase war schwierig gewesen, die Umsetzung lief alles andere als glatt, und im Spannungsfeld mit dem Aufsichtsrat, die ihn so gerne scheitern sehen wollten, war eine objektive Partei nicht die schlechteste Idee. Aber wieso diese Heimlichtuerei? Wozu hatte Sasuke diese Buchungen so tief versteckt, dass kein Uchiha sie jemals finden würde? Selbst Itachi war nur durch Zufall darauf gestoßen, weil die Buchhaltung seiner Assistentin unabsichtlich die falschen Zahlen geschickt hatte und sie den Irrtum erst bemerkt hatte, als die Unstimmigkeiten bereits aufgefallen waren.

Darum stieg Itachi in den Flieger, schlug eine Stunde Flugzeit mit dem Vorschreiben von E-Mails tot, und nannte dem erstbesten Taxifahrer die erste merkwürdige Rechnungsadresse. Sein Fahrer war ein komischer Kauz mit einem Barrett über der Glatze, der weder Englisch noch Japanisch sprach. Am Ende der vierzigminütigen Fahrt war Itachi sich nicht sicher, ob er einer Einladung zu einer Tasse Teh Tarik zugestimmt hatte, oder einer arrangierten Ehe mit seiner jüngsten Tochter. Ohne näher nachzufragen, wies Itachi ihn mit einem großen Geldschein an, im Halteverbot zu warten, während er das Firmengebäude betrat, das an der Adresse emporragte.

Im Inneren begrüßten ihn ein weitläufiges Foyer, hochglänzende Marmorfliesen und schwere Ledermöbel im Wartebereich. Eine Dame mittleren Alters fing ihn ab, fragte in perfektem Englisch nach seinem Anliegen und versuchte ihn höflich abzuwimmeln, als er verlangte, zu dem Adresszusatz gebracht zu werden, auf den die erste seiner merkwürdigen Rechnungen lief. Fast zehn Minuten lang diskutierten sie, bis sie ihren Vorgesetzten zu Hilfe holte und dieser seinen Vorgesetzten und Itachi schließlich in ein Nebenzimmer geführt wurde, wo mehrere Reihen Briefkästen an einer langen Wand angebracht waren.

Wie vermutet.

Auch die nächsten Adressen verliefen ähnlich. Edle Eingangsbereiche, Briefkästen im Hintergrund. Immer wurde Auskunft verweigert, bei einer Firm hatte Itachi sogar dreitausend Dollar in die Hand nehmen müssen, um mit eigenen Augen bestätigt zu bekommen, was er längst wusste.

Keine der Beraterfirmen, die Sasuke angeblich engagiert hatte, existierte. Zumindest nicht unter der angegebenen Rechnungsadresse. Itachi wäre stark verwundert, wenn sein naiver kleiner Bruder auch nur das Geringste davon wusste. Jemand missbrauchte seinen Namen und sein Projekt.

Etwas lief im Hintergrund der UCHIHA Corp. Und Itachi würde herausfinden, was.
 

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Risse im Porzellan


 

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Konoha, Japan; 22 Jahre zuvor
 

Ino sah kurz zurück, als ein klägliches Wimmern über den Schulhof huschte. Drei Jungs hatten eine ihrer Klassenkameradinnen ans Klettergerüst gedrängt und einen Halbkreis um sie gebildet, während sie versuchte, sich unter ihrer Schultasche zu verstecken.

Sie kannte das Mädchen. Seit sie denken konnte, war Haruno Sakura ihre Nachbarin, dennoch hatten sie noch nie ein Wort gewechselt. Obwohl Inos Freundeskreis die halbe Grundschule umfasste, war der Zirkel um sie herum fast schon provokant elitär, und auch wenn ihre Mutter sie ständig ermutigte, das nette Mädchen von nebenan doch mal zum Spielen einzuladen, passte Sakura einfach nicht hinein.

»Die schon wieder«, seufzte Ami. »Muss die sich immer so anstellen? Schau, Ino, jetzt heult sie gleich wieder!«

Einer der Jungs zog an Sakuras Stirnfransen, während seine Freunde Scheren mit den Fingern andeuteten, und tatsächlich begann sie zu weinen. Ino wandte sich ab, schritt nicht ein. Es war nicht ihre Aufgabe, schon gar nicht ihre Pflicht. Der Unterricht begann gleich, und sie musste noch Hausaufgaben abschreiben.

Dennoch plagte sie das schlechte Gewissen den ganzen Schultag hindurch, machte es schwierig, sich auf die Tafel oder das Lehrbuch zu konzentrieren. Mathematik, Hiragana, Musiknoten und schließlich ein absurder Text über eine Ente und einen Kranich zogen sich dahin, bis die Glocke Ino endlich von ihrem Elend erlöste. Langsam sortierte sie ihre Schulbücher in den Rucksack und wartete, bis der Andrang bei der Garderobe vorbei war. Wie immer ließ sie sich viel Zeit, ihre Eltern würden sowieso erst spät nach Hause kommen. Als sie endlich den Heimweg antrat, schickte die Sonne bereits goldoranges Licht über den verlassenen Schulhof.

Sie runzelte die Stirn, als sie das Mädchen von vorhin beim Gartenschuppen kauern sah. Falls Sakura sich verstecken wollte, war ein halbwegs einsehbarer Ort keine gute Idee. Ino seufzte.

»Hey«, rief sie ihr über einen Lorbeerbusch zu. Ihre Schultasche lag geöffnet neben ihr, der Inhalt unordentlich am Boden verstreut. Natürlich schluchzte die Heulsuse. Ihre gesamte Haltung war ein Bild des Jammers. Das rosafarbene Haar saß wild durcheinandergeworfen auf ihrem Kopf, ihre Knie waren angezogen und ihr Gesicht unter den langen Stirnfransen versteckt.

Ino rollte mit den Augen, umrundete den Busch und kniete sich neben das Häufchen Elend. Als sie begann, die Schulsachen einzusammeln, sah Sakura auf. Ihre Lippen teilten sich, als wolle sie etwas sagen. Heraus kam nichts.

»Wenn sie dich wegen deiner Stirn piesacken, musst du sie nur umso stolzer zeigen«, sagte Ino und hielt ihr den kleinen Bücherstapel hin. »Sie hinter Stirnfransen zu verstecken, macht es nur schlimmer.«

Sakuras ertränktes Schniefen ließ Ino genervt die Augen verdrehen. Doch vorgestern erst hatte ihre Lehrerin die Wichtigkeit von Freundlichkeit gepredigt. Vielleicht war das der Grund, weswegen sie ein Haarband aus ihrem chaotischen Rucksack kramte und auf die Bücher legte.

»Versuch’s mal damit.«

Von da an wurde es besser. Nicht sofort, aber Schritt für Schritt, bis der Tag kam, an dem Sakura nicht mehr zusammenzuckte, sobald jemand ihren Namen rief. Ino hatte vorgehabt, sie langsam in den kleinen Zirkel zu integrieren. Das Mädchen war schlau und lustig, sobald sie nicht mehr eingeschüchtert war. Ami, Rika und Minako sahen das anders. Anfangs bemühten sie sich, die schüchternen Scherze witzig und Sakuras Interesse für Tiere und Pflanzen spannend zu finden. Natürlich waren die Versuche evon Anfang an zum Scheitern verurteilt.

Doch zu ihrer Überraschung war es nicht nur Sakura, die sich aus dem Zirkel löste. Immer öfter fand Ino sich mit ihr im Park oder in ihrem Zimmer, anstatt in Amis Garten oder Rikas Spielzimmer, bis aus gelegentlichen Treffen die tiefste Freundschaft wurde, die Ino sich vorstellen konnte. Jede freie Minute war füreinander reserviert, jede Neuigkeit wusste die jeweils andere als erste, jede Freude wurde geteilt, jede Träne.

Was es umso bitterer machte, als Sakura Ino eines Nachmittags in den Park bestellte, zu der Schaukel, auf der sie jahrelang so viele ihrer Träume geträumt hatten, und mit ernstem Gesicht gestand, dass sie in ihren Klassenkameraden Sasuke verliebt war. Die halbe Mittelschule stand auf ihn, aber Sakura stellte sich eine Stufte über seinen Fanclub. Ihre Gefühle waren echt, und weil Ino offenkundig ebenfalls in ihn verliebt war, konnte sie diese Freundschaft nicht länger fortführen.

Sie gab ihr das Haarband zurück. Das verdammte rote Haarband, das den Beginn von etwas so Besonderem markiert hatte.

»Er weiß doch nicht einmal, dass du existierst, du und deine riesige Stirn!«, schmetterte Ino ihr entgegen, stopfte das Haarband in ihre Tasche. Sie war zu geschockt, um zu weinen. Und sie wurde wütend, als Sakura die Beleidigung einfach abschmetterte.

»Er wird es schon noch rausfinden, wart’s nur ab!«, versprach sie. Es war das erste Mal, dass Ino sie so selbstbewusst sah, so entschlossen. Wie ein neuer Mensch – ein fremder Mensch. Sie ging, ohne ein einziges Mal zurückzuschauen.

Die Leichtigkeit, mit der Sakura diese Freundschaft aufgab, war wie ein Messer ins Herz.

 
 

 

Tokio, Japan; Gegenwart

 

Unsicher tapste Moegi den leeren Gang entlang. Sie kannte den Weg in den Aufenthaltsraum, war ihn schon Dutzende Male gegangen, seit sie hier aufgenommen worden war. Doch heute war es anders. Ein ungutes Gefühl beschlich sie, als sie die angelehnte Tür mit einem Fuß aufstieß, eine leere Tasse in der Hand –

Japste entsetzt, als sie einen blonden Pferdeschwanz am Boden hinter der gelben Couch hervorragen sah, einen ausgestreckten Arm daneben. Ihr Rucksack rutschte über ihre Schultern, als sie auf die zusammengebrochene Gestalt zueilte und sich neben ihr auf die Knie fallen ließ.

»Nanri! Nanri!«, rief sie und schüttelte Ino am Oberarm. Unwirsch fuhr sie sich durch die Haare, stand auf, machte mehrere planlose Schritte durch den Raum, bis sie entspannt stehenblieb und sich die Panik in ihrem Gesicht zu einem erwartungsvollen Ausdruck verflüchtigte. »Und, wie war ich?«

»Sehr überzeugend«, lobte Ino, während sie aufstand und ihren Zopf richtete. »Ich hätte Chiwas Planlosigkeit aber nicht ganz so sehr ausgereizt. In der tatsächlichen Szene wird sehr viel Blut um mich rum sein, das ist normalerweise ein guter Hinweis darauf, dass man sofort die Rettung rufen sollte. Dass sie panisch herumläuft, trägt zwar zur Dramatik bei, ist aber etwas übertrieben.«

»Hmm…«, machte Moegi nachdenklich, dann sagte sie, »Ich dachte, ich könnte Chiwas Überforderung hier deutlicher herausstreichen. In allen anderen Szenen tut sie immer so erwachsen, ist aber eigentlich ziemlich feige und ratlos.«

»Du könntest erstarren«, schlug Ino vor. »Das zeigt ihre Überforderung, ohne die Szene in die Länge zu ziehen.«

»Das ist es! Kann ich das mal ausprobieren?«

Konnte sie und tat es auch. Es war das vierte Mal, dass sie heute die Szene um den Selbstmordversuch von Inos Charakter probten, und Mabuchi würde wieder toben, wenn sie beim Dreh nicht saß. Das war der einzige Grund, wieso Ino immer noch hier war, obwohl sie sich am liebsten unter der dicksten Bettdecke verkrochen hätte. Nicht aus Müdigkeit, sondern aus Frust.

Am Vormittag waren erste Werbeaufnahmen für Flyer und Covers gemacht worden, für die sie zum ersten Mal ihre Kostüme gesehen hatte. Sie waren genauso unmodisch und langweilig wie ihre Rolle, und obwohl es nicht überraschend war, nervte es Ino so sehr, dass sie fast zu schreien begonnen hatte über die grau-braune Garderobe. Und sogar ihr Nachmittag fiel ins Wasser, weil Sakura sie förmlich angefleht hatte, zu Saradas Geburtstagsparty zu kommen. Wenn Sasuke seine Arbeitskollegen einlädt, lade ich meine Freunde ein!, war ihr unschlagbares Argument. Oh Mann. In was ritt Ino sich da nur wieder hinein? Sie würde es schon noch erfahren. Bis dahin blieb ihr nur, weiter mit Moegi zu proben.

Es brauchte fünf weitere Versuche, bis sie zufrieden waren. Moegi war eine gute Schauspielerin, sehr engagiert und offen für Kritik. Wenn ihr männlicher Gegenpart nur halb so viel Arbeit in die Entwicklung seiner Rolle steckte und ebenso nuanciert spielen konnte, würde die Serie vielleicht sogar handwerklich gut werden. Die Handlung war nicht zu retten, aber vielleicht würde Ino ein paar Szenen als technische Beispiele in ihr Portfolio aufnehmen können.

Gegen sechzehn Uhr entschied Ino, dass es für heute reichte. Zum einen, weil Moegi langsam müde wurde, zum anderen, weil sie Saradas Geburtstagsgeschenk zu Hause vergessen hatte. Wenn sie schon als unerwünschter Gast in einen Haufen reicher Uchihas geworfen wurde, wollte sie wenigstens nicht wie ein Parasit daherkommen.

Schon bei ihrer Ankunft bereute sie, keine Ausrede erfunden zu haben. Sakura war noch nie allzu modisch gewesen, aber das wadenlange Kleid und die Föhnfrisur waren eine Nummer für sich.

»Schön, dass du da bist, Ino, das freut mich so sehr! Komm herein, fühl dich ganz wie Zuhause. Und du hast ein Geschenk mitgebracht, das wäre nicht nötig gewesen«, behauptete sie, als hätte sie diese Rede heute schon tausend Mal gehalten, doch alles, was Ino wahrnahm, waren die Perlohrringe.

»Bist du aus dem Seniorenheim ausgebrochen? Ehrlich, das ist ja strafbar.«

Sakuras Raunen war irgendwo zwischen genervt, aufgeregt und müde, und außerdem leise genug, um es im Vorzimmer zu behalten. »Hilf mir, Ino, ich flehe dich an!«

Womit sie Hilfe brauchte, war unschwer zu erkennen. Um den Esstisch saß gut ein Dutzend Uchihas, die aussahen, als wären sie mindestens so ungern hier, wie Sakura sie hier hatte. Nur Sarada schien Spaß an diesem Nachmittag zu haben und wälzte sich vergnügt in einem Haufen teurer Spielsachen.

Fast hätte Ino laut losgelacht. Die verkrampfte Szene konnte einem billigen Drama entspringen. Der Eindruck wurde noch verstärkt, weil die Wohnung so steril war, dass sie ein Set hätte sein können. Als Ino nach ihrer wilden Partynacht mit Sakura zum ersten Mal hier gewesen war, hatte ihr resttrunkener Kopf nicht viel von der Umgebung mitbekommen. Nun nüchtern und wach sah sie den Luxus, in den Sakura eingeheiratet hatte. Die Küche war so groß wie Inos halbe Wohnung, die Couchgruppe kostete wahrscheinlich mehr als ein Kleinwagen, die Frau neben Itachi war behängt mit Schmuck, so dezent und filigran, dass er bestimmt teurer war als der größte Klunker.

Großartig. Mit Japans reichen Familien hatte sie noch nie Kontakt gehabt und auch in Amerika hatte sie sich eher in den alternativen Künstlerkreisen herumgetrieben, wo Dreadlocks und Birkenstocks den modischen Alltag bestimmt hatten. Sie hatte ja sowas von keine Lust.

Das Geschenk übergab sie ohne großes Aufheben, zumindest von ihrer Seite aus. Bei den vielen kritischen Blicken, die jeden ihrer Handgriffe beäugten, hätte sie auch eine Bombe entschärfen können. Nur Sakura versuchte, einigermaßen natürlich zu wirken, während sie Sarada alibihalber beim Auspacken half.

»Danke«, sagte Sakura für ihre Tochter, die längst in der XXL-Packung Twinkies hing. »Das wird mir einige schlaflose Nächte bescheren.«

»Ach, die sind sau schwer aufzubekommen, ohne deine Hilfe schafft sie – oh«, unterbrach sie sich selbst. Sarada hatte die Plastikverpackung längst geöffnet und hing wie ein Fisch über dem Twinki, das viel zu groß für ihren Mund war. »Ähm, ja. Stell sie lieber weit nach oben. Die haben über zwanzig Gramm Zucker.«

Wie gerne hätte Ino weiter über die Nährwertverteilung von Junkfood gesprochen, leider bohrten sich die Uchihaaugen nach wie vor in ihren Rücken und Sakura begann die langweiligste Vorstellungsrunde der Welt. Wer wer war und wer was in der UCHIHA Corp. tat, merkte sie sich nicht. Auch die Firmenvorstellung, die Sasukes Vater ihr gab, war wenig interessant für sie. Erst seine Frau unterbrach ihn nach einer geschlagenen viertel Stunde, und Ino war ihr so unendlich dankbar dafür.

»Sie sind also eine Freundin von Sakura-san?«, erkundigte sie sich, als würde es sie wirklich interessieren.

»Ja. Wir sind gemeinsam zur Schule gegangen. Ich war auch mit Sasuke in einer Klasse. Ino Yamanaka. Sie können sich bestimmt nicht an mich erinnern.«

»Yamanaka Mariko-sans Tochter? Natürlich erinnere ich mich, sie macht die wundervollsten Blumengestecke. Wie geht es ihr? Nimmt sie immer noch an Ikebana-Wettbewerben teil?«

»Gelegentlich. Seit dem Tod meines Vaters reist sie nicht mehr so gerne.« Ino bereute sofort, das Thema angeschnitten zu haben. Normalerweise folgten darauf Nachfragen zum Begräbnis, die sie nicht beantworten konnte, weil sein Unfalltod so plötzlich gekommen war, dass sie es nicht rechtzeitig nach Konoha geschafft hatte. Sie war für einen Dreh in Argentinien gewesen. Drei Tage später war die gesamte Produktion abgebrochen worden, weil das Geld ausgegangen war.

Glücklicherweise schien Mikoto-san kein Interesse daran zu haben, der Höflichkeitsfloskel nachzukommen. »Und Sie?«, fragte sie stattdessen. »Sind Sie auch Blumenbinderin?«

»Im Leben nicht. Ich bin Schauspielerin, frisch zurück aus den Staaten.«

Mikoto-sans abfälliger Gesichtsausdruck sprach Bände, auch wenn sie versuchte, ihn mit einem unnötig kleinen Schluck Tee zu kaschieren. Die Profession schien ihr nicht sehr zuzusagen. Wie auch, wenn die meisten japanischen Schauspieler halbernste Karrieren mit vorgeschriebenen Interviews und Auftritten in peinlichen Gameshows hatten?

Nach ein paar obligatorischen Fragen zu ihren letzten Filmen driftete die Konversation endlich zurück ins Geschäftliche, was Ino die Freiheit gab, mit Sakura hinter die Kücheninsel zu flüchten. Die Fotos vom Standort der gemeinsam gekauften Stehlampe waren zwar weniger wichtig als das Wirtschaftsjargon, das da vorn am Tisch lief, dafür machte sie sich damit nicht so wichtig wie die restlichen ach so beschäftigten Gäste. Was genau diskutiert wurde, verstand Ino nicht. Der Release wird sich dadurch nicht signifikant verzögern, schnappte sie auf und, Malaysia war ein Versuch, ich habe nie versprochen, dass er funktionieren wird.

Letzteres war von Itachi gekommen, und es trat eine hitzige Debatte über Lieferkonditionen und Auftragsvolumen los, die Sakura seufzen ließ. Eine halbe Stunde später hatten sich die Kontrahenten argumentativ so sehr verkeilt, dass Mikoto-san zum Aufbruch drängte. Die Gesellschaft löste sich schneller auf, als Ino sich verabschieden konnte, falls sich jemand daran erinnert hätte, dass sie und Sakura überhaupt da waren. Nur Sasuke und Itachi blieben zurück, weiterhin vertieft in einer leisen Diskussion. Sakura hatte vor lauter Verzweiflung mit dem Abwasch begonnen.

»Du hast die krasseste Spülmaschine der Welt und wäschst die Hälfte deines Geschirrs manuell. Ist das jetzt dekadent oder geizig?«

»Es ist vor allem bescheuert. Aber Mikoto-san bringt mich um, wenn ich auch nur eine ihrer blöden Tassen kaputt mache. Die haben einen Goldrand«, äffte sie ihre Schwiegermutter nach. Ihr Gesichtsausdruck wurde sofort weicher, als ihr Blick auf Sarada fiel. Das Mädchen war in eine der größten Tragetaschen gekrabbelt und dort wie eine Katze zusammengerollt eingeschlafen. »Da ist wohl Bettzeit für jemanden. Sasuke, hilfst du mir? Sasuke!«

»Ja doch!«, gab er ungeduldig zurück. Während er Sarada hochhob, machte er letzte Anmerkungen zu was auch immer Itachi gesagt hatte, und hörte erst auf, als Sakura hinter ihm die Kinderzimmertür schloss, offenbar etwas zu schwungvoll. Saradas Geplärr folgte sofort.

Das ließ Ino und Itachi und Schweigen. »Tja«, durchbrach Ino es, bevor es unangenehm werden konnte. »Sind wohl nur noch wir beide.«

»Sieht so aus«, entgegnete er. »Ich sehe, du bist wieder ausgenüchtert. Das überrascht mich.«

Sie lachte. Ob das ein Scherz gewesen war? Vermutlich nicht. »Das ist zwei Monate her und ich hab schon schlimmere Kater gehabt – weit schlimmere. Einmal waren wir nach einem achtzehnstündigen Dreh in Cincinnati so aufgekratzt, dass wir um drei Uhr morgens die einzige Kneipe in dem Kaff, in dem unser Hotel war, gekapert haben. Die gesamte Crew, samt Regisseur. Am Ende haben sie uns Hausverbot erteilt. Ach, das waren Zeiten.«

»Ich bin mir sicher, Japan bietet eine adäquate Partyszene.«

Amüsiert schüttelte Ino den Kopf. Dieser Mann war so stocksteif wie eh und je. Ihr sollte es recht sein – eine harte Schale barg oft den genüsslichsten Kern – aber dafür brauchte sie Alkohol.

»Zweifelsohne«, imitierte sie Itachis Wortwahl, während sie Sakuras Schränke nach Wein durchsuchte. Unmöglich, dass reiche Leute nicht irgendwo einen unverschämt guten Tropfen rumliegen hatten, als wäre es Fusel. »Ich hab sie nur noch nicht gefunden. Kannst du was empfehlen?«

»Dazu bin ich leider nicht der richtige Ansprechpartner. Ich gehe nicht in Clubs, wenn es sich vermeiden lässt.«

»Ist das so?« Endlich hatte Ino etwas gefunden, das wie Rotwein aussah. Die Marke kannte sie nicht, den Preis wollte sie lieber nicht googlen. Ein Flaschenöffnet war wesentlich schneller gefunden, ebenso zwei überdimensionierte Rotweingläser, die sie zwischen sich und Itachi auf dem Tisch abstellte. Als sie einschenken wollte, hielt er die flache Hand über sein Glas.

»Danke, ich trinke keinen Alkohol.«

Halb gespielt schockiert riss Ino die Augen auf. »So etwas gibt es also wirklich? Ich dachte, abstinente Menschen wären so eine urbane Legende. Man lernt nie aus. Wieso trinkst du nicht? Schlimmen Kater in der Jugend gehabt? Alkoholproblem?«

Itachi formte die Lippen zu einem seichten Lächeln. Es sah so gestellt aus wie alles an ihm, aber sie nahm, was sie kriegen konnte. »Ich verliere nicht gerne die Kontrolle über mich. Außerdem habe ich selten Zeit, betrunken zu sein. Und wenn ich sie doch habe, laufe ich lieber eine zusätzliche Runde durch den Park, anstatt meine Leber zu zersetzen.«

»Schließt sich doch nicht aus. Die besten Joggingrunden sind die nach einem Mordskater, wenn du dich bei jedem Schritt übergibst und dir einfach nur die süße Erlösung durch einen schnellen Tod wünschst.« Demonstrativ prostete sie ihm zu. »Von meiner alten Wohnung in L. A. aus bin ich gerne nach langen Partynächten über den Strand gejoggt. Kater und Muskelkater, das ist ein Duo. Jetzt geht das natürlich nicht mehr. Die Laufrouten in Tokio sind eine Katastrophe.«

»Nicht, wenn du die guten kennst.«

Ino verzog die Lippen. »Ich hab noch keine gefunden. Alles nur Beton und Stein. Machst du sonst nichts außer Sport und arbeiten?«

»Ich lese. Manchmal sehe ich mir auch den ein oder anderen Film an.«

»Wie langweilig«, kommentierte Ino. Ihre Geduld für den Wein war aufgebraucht, er würde auch dekantieren, während sie trank. Außerdem gab ihr das die Ausrede, sich in den Sessel zu lümmeln. Langsam tat ihr Rücken vom geraden Sitzen weh. »Das sind viel zu erwachsene Hobbies. Ich hab in meinem Leben kein Buch gelesen.«

»Was ist mit Drehbüchern?«

»Nicht dasselbe. Ein Buch erzählt eine Geschichte, du musst sie einfach nur lesen. Bei einem Drehbuch erzählst du die Geschichte. Du sprichst nicht einfach nur nach, was drinsteht, sondern erweckst die Figur mit Tiefe und Nuance erst zum Leben. Das ist kein Hobby, sondern Arbeit.«

»Ich verstehe«, sagte Itachi langsam. Überraschenderweise war er ihrer legeren Haltung gefolgt und hatte sich ebenfalls zurückgelehnt. Und dennoch verströmte er mit seinem Designeranzug und seinem scharfen Blick diese unerschütterliche Aura von Autorität, die Ino nervte und faszinierte zugleich.

»Es gibt natürlich Unterschiede«, fuhr sie fort. »Manche Drehbücher sind nicht ganz so mies wie andere, aber sie sind alle unerträglich langweilig.«

»Also gibt es in deinen Augen kaum gute Filme?«

»Im Gegenteil, es gibt sehr viele gute Filme«, korrigierte sie und schenkte sich nach. »Ein Drehbuch ist ja nur ein kleiner Teil der Produktion. Kameraführung, Schnitt, Soundeffekte, Schauspieler und tausend andere kleine Dinge spielen wesentlich mit. Du hast bestimmt schon einmal einen Film gesehen, dessen Handlung eigentlich ziemlich gut war, der aber keine Emotionen oder Spannung transportieren konnte.«

Während er überlegte, versiegte das Weinen im Hintergrund endlich. »Nicht bewusst. Aber ich gestehe, ich bin kein großer Filmexperte. Kannst du etwas empfehlen? Einen deiner Filme vielleicht?«

Ino zögerte. Normalerweise empfahl sie Barrel for a thought oder jeden Film, in dem sie eine geistig instabile Person porträtiert hatte. Die intensiven, überzeichneten Rollen der Verrückten lagen ihr. »An deiner Stelle würde ich mir gar keinen meiner Filme ansehen. Alle sehr U.S. amerikanisch, die guten zumindest. Ich bezweifle, dass einer davon den Geschmack eines japanischen Geschäftsmannes trifft. Und wehe du siehst dir die japanischen Produktionen an. Hörst du?«

Abwehrend hob er die Arme, als würde er ihr beweisen wollen, dass er nicht sofort ihre IMBd-Seite aufrief. »Wie lange warst du in den Staaten? Du klingst, als würdest du sie vermissen.«

Die aufschwingende Tür zum Kinderzimmer unterbrach sie für einen Moment. Erst als Sakura sie wieder geschlossen hatte, antwortete Ino. »Ich war fast acht Jahre dort.«

»Wieso bist du zurückgekommen?«

Die simple, vorhersehbare Frage war so geladen, dass Ino für einen Moment die Luft zum Atmen fehlte. Mit einem großzügigen Schluck Wein überspielte sie ihr Zögern. Neben ihr nahm Sakura das leere Weinglas und füllte es bis weit über die Markierung.

»War einfach nicht von Dauer«, sagte sie schließlich vage. Mittlerweile hatte sich auch Sasuke zurück an den Tisch gesetzt. »West Hollywood verliert irgendwann seinen Reiz. Vielleicht wäre ich geblieben, hätte ich eines dieser schicken Appartements in Downtown bekommen, aber die sind alle von reichen Schnöseln mit Freunden besetzt. Unmöglich, dort auch nur eine Tür zu bekommen.«

»Itachi hat dort gewohnt«, warf Sasuke ein.

Fettnäpfchen. Ups. »Klar hast du das. Wo auch sonst? Wie hat’s dir gefallen?«

»Ich war nur ein paar Monate dort und habe nicht ganz so viel von der Stadt gesehen, wie ich wollte«, meinte Itachi. Dass sein Bruder ihn nach wie vor grimmig ansah, ignorierte er mit einer Gelassenheit, die Ino fast so sehr beeindruckte wie die vielen Orten, an denen er schon gewesen war.

Es brauchte nur eine kleine Aufforderung ihrerseits, um ihn von seinen Reisen erzählen zu lassen. China, Korea, New York, Silicon Valley, Zentraleuropa, überall ein neues Praktikum, Geschäftsführung mehrerer Start-ups, Kontakte knüpfen, Ideen generieren. Ino konnte nachvollziehen, warum Sasukes Miene immer finsterer wurde. Hätten die Erfolge, von denen Itachi so nüchtern erzählte, im Showbiz stattgefunden, hätte sie auf der Stelle losgekreischt.

Der Abend wurde länger, eine zweite Flasche Wein wurde geöffnet. Itachi weigerte sich nach wie vor, den guten Port zu kosten und Ino kam zu dem überraschenden Schluss, dass sie ihn irgendwie mochte. Er war steif und nüchtern, ja, aber auch weltmännisch und weniger langweilig als gedacht. Außerdem versprach er ihr, bei Gelegenheit ein Portfolio mit guten Laufrouten zusammenzustellen und nickte anerkennend, als sie seine härtesten Empfehlungen verlangte.

»Es gibt eine Hügelstrecke um den Tamafluss, totaler Höhenunterschied über acht Kilometer sechshundert Meter. Denkst du, du schaffst das, Ino?«, wollte er wissen, fast schon herausfordernd. Es war das erste Mal an diesem Abend, dass er Inos Namen sagte, und er tat es ohne Suffix, so wie sie es ihm vor ein paar Wochen befohlen hatte.

Hmmm. Wie interessant.

Ino lehnte sich nach vorne, ein Grinsen auf den roten Lippen. »Herausforderung angenommen.«

»Das wirst du bereuen«, prophezeite er, aber da war etwas fast schon Spielerisches in seinen Augenwinkeln. Noch interessanter.

»Werden wir ja sehen –«

Das Klirren einer zu Boden fallenden Schüssel unterbrach sie, gefolgt von Sasukes Faustschlag gegen die Marmorarbeitsplatte. »Könnten wir darüber bitte wie zwei normale Menschen reden?«, fauchte er.

»Zu einer normalen Konversation gehören aber beide Seiten«, fauchte sie und machte einen schnellen Schritt auf ihn zu, vielleicht um seine Hand zu nehmen, vielleicht aber auch, um ihm eine Ohrfeige zu verpassen. Ihr Fuß streifte die Schüssel, das blecherne Klirren ließ sie innehalten. »Vergiss es einfach, so wie jedes verdammte Mal!«

Sie ging an ihm vorbei, stieß ihn zur Seite, als er sie nicht vorbeilassen wollte. Die Abweisung war so kraftvoll gewesen, dass Sasuke nicht wagte, sie aufzuhalten, als sie ihren Mantel vom Haken riss, ihre Tasche nahm und die Eingangstür hinter sich zu donnerte.

Es war eindeutig das erste Mal, dass er seine Frau so erlebte.

»Das ist wohl mein Stichwort«, murmelte Ino, bedankte sich beim Schuhe-Anziehen für den netten Abend und eilte nach draußen. Auch wenn Sakura schon lange keinen Kraftsport mehr machte, konnte sie in ihrer Wut wahrscheinlich immer noch verdammt hart zuschlagen.

Doch als Ino sie einholte, war sie nicht wütend. Ihre Hände waren zu Fäusten verkrampft, ihre Schritte kräftiger als notwendig, aber vor allem standen Tränen in ihren Augen und ihre Lippen zitterten. Sie war frustriert und enttäuscht. Und entschlossen, das Luxusappartement, aus dem sie geflohen war, weit hinter sich zu lassen. Eine viertel Stunde lang marschierte sie, bis sie vor den geschlossenen Eisentoren eines Parks Halt machen musste.

Das unerwartete Hindernis ließ sie scharf Luft einsaugen, trieb die zurückgehaltenen Tränen aus ihren Augen hinaus in die kühle Luft, die erzitterte, als sie an den Eisenstangen rüttelte und zu schluchzen begann. Ino legte ihr eine Hand auf den Rücken, wartete, bis Sakuras Finger sich ein wenig gelockert hatten, und zog sie in eine Umarmung, in der sie ungesehen weiterweinen konnte.

»Du weckst alle Nachbarn auf.«

»Tut mir leid«, wisperte Sakura, doch sie weinte weiter, immer weiter, bis sie zu erschöpft für noch mehr Tränen war. Erst dann ließ Ino sie los, setzte sie auf eine Parkbank und ließ sich daneben nieder.

»Reden?«

Sakura schüttelte den Kopf, nur um doch zu sprechen. »Es ist nur jedes Mal dasselbe, wenn seine Eltern kommen. Dann ist er wieder einmal nur Sasuke, der zweite Sohn, der unbedeutende Sohn, und nicht mal dafür bin ich gut genug. In letzter Zeit hab ich das Gefühl, er stimmt ihnen zu. Was ihn angeht, und mich.«

»Er ist ein blöder Arsch. War er schon immer.«

Sakura zuckte die Schultern. »Ist er das? Oder bin ich unfair? Er hat so viel zu tun, so viel Verantwortung … alle zerren an ihm und ich will auch noch ein Stück seiner Zeit.«

»Oh nein, du gibst dir nicht die Schuld, hörst du?«, mahnte Ino. »Jeder kann mal viel zu tun haben. Dafür gibt es Prioritäten. Wenn du nicht seine bist, ist das nicht deine Schuld.«

»Aber was ist, wenn er mich satthat? Da arbeiten so viele intelligente, erfolgreiche Frauen unter ihm … was, wenn er …«

»Eine Affäre hat? Dann ist er ein größerer Arsch als ich bislang dachte und er hat dich nicht verdient.«

»So einfach ist das nicht, Ino. Nicht, seit wir Sarada haben.« Sie atmete aus, festigte ihre Stimme. Es half nicht. »Manchmal denke ich einfach, dass wir ein Hindernis für ihn sind. Die Frau und Tochter, wegen denen er nicht jede Nacht durcharbeiten kann, wegen denen er manchmal Meetings verschieben muss. Ich will keine Bürde sein. Ist das zu viel verlangt?«

»Nein.« Ino warf einen Arm um sie und drückte sie an sich.

»Und jetzt hab ich auch nich deinen Abend versaut.«

»Ach was, ich war schon bei schlimmeren Dramen dabei. Wortwörtlich«, sagte Ino. »Wenn du die Nase doch mal voll hast, weißt du, wo ich wohne.«

Sakura lachte, ehrlicher als erwartet. Dennoch war Ino besorgt, als sie dem Taxi nachsah, selbst als es längst in der Dunkelheit verschwunden war.

Ob sie überhaupt das Recht hatte, Sakura für feige zu halten? Sie insgeheim zu verurteilen, weil sie sich weigerte, aus einer sterbenden Ehe auszubrechen? Sie für naiv zu halten, weil sie immer noch an Sasuke glaubte, oder zumindest an ihre Liebe zu ihm?

Konnte sie es vor sich rechtfertigen, so über ihre beste Freundin zu denken, während sie selbst mit gebrochenen Beinen auf der Stelle trat und sich weigerte, einen Schritt vorwärts zu gehen?

Unter dem fahlen Mondlicht fragte Ino sich einmal mehr, wer von ihnen beiden die schlechtere Lügnerin war.

 
 

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Was wir gaben


 

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Tokio, Japan; 4 Jahre zuvor

 

Sakura fuhr hoch, kalter Schweiß auf ihrer Stirn, einsam in den glatten Satinlaken. Ein Alptraum hatte sie aus dem Schlaf gerissen – Schüsse, Schreie, Fratzen. Keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Heiße Schmerzen, ein alles umfassender Krampf in ihrem Unterleib.

»O Gott…«, stieß sie aus, krümmte sich über ihren Bauch. In den letzten drei Wochen hatte sie trotz des regnerischen Frühlings nackt geschlafen, weil sie in keinen Pyjama mehr passte.

Eine Wehe ließ sie aufschreien, laut. Diese verdammten Schmerzen. Schweiß stand auf ihrer Stirn, heißes Brennen zog sich durch ihren Körper. Aber sie musste durchhalten. Der Geburtstermin war erst in einem Monat, Sasuke war in China, würde erst in drei Wochen wiederkommen. Schon gut, hatte sie am Telefon gesagt, als er ihr von seinem Dilemma erzählt hatte. Die Firma in Shanghai wollte sein Praktikum um einen Monat verlängern. Ich komm schon klar.

Doch das tat sie nicht. Nicht mit diesen unsäglichen Schmerzen. Heiß, kalt, laut, leise, ein Chaos von Nervenimpulsen. Blind und taub tastete sie im Dunkeln nach ihrem Telefon, beugte sich einer neuen Wehe und wählte die Nummer ihrer Schwiegermutter. Vor der Hochzeit hatten sie kaum fünf Worte gewechselt, seit der Schwangerschaft war Mikoto unaufhörlich um sie herumgewuselt. Nicht ihretwegen, nicht direkt. Sarada war jetzt schon mehr Teil der Familie als Sakura es jemals sein würde.

Mikoto hob nach dem dritten Klingeln ab, erst verschlafen, dann plötzlich hellwach und kontrolliert hektisch. Sie gab Sakura Anweisungen – ungefragt, aber trotzdem. Bis heute ignorierte sie, dass ihre Schwiegertochter einen Universitätsabschluss in Medizin hatte. Sie hatte zwei erfolgreiche Kinder zur Welt gebracht, sie wusste es besser als fünf Jahre Studium.

In fünfzehn Minuten hatte sie die halbe Stadt durchquert, verfrachtete Sakura samt vorgepackter Tasche ins Auto. Ab dann begann etwas, an das sich Sakura später nur mehr als Qualen, unglaubliche Qualen erinnern würde. Die Autofahrt über schwollen die Wehen bis zur Unerträglichkeit an. Als sie die Privatklinik erreichten und die Schwester am Aufnahmeschalter es wagte, den Grund ihres späten Besuchs zu erfragen, packte Sakura sie am Kragen, zog sie über das Pult zu sich und kreischte sie an, »Wolldecken häkeln, verdammt, wonach sieht‘s aus?!«

Die Schwester agierte professionell, löste die verkrampften Finger um ihre Kleidung nachsichtig, aber bestimmt, und verständigte das anwesende Personal der betreffenden Abteilung. Sakura wurde in das schickste Krankenzimmer Japans gebracht, was so unnötig wie egal war angesichts der höllischen Schmerzen, die ihr die Sicht vernebelten. Durch einen weißen Schleier sah sie Kittel um sich herumwuseln, hörte wie durch Watte Mikotos Stimme Anweisungen geben.

Ich komm klar.

Tat sie nicht. Ohne Sasuke kam sie nicht klar. Sie hatte Schmerzen, solche verdammten Schmerzen, und der einzige Mensch, der jetzt zählte, war nicht da. Sie schrie. Brüllte. Weinte. Sie brauchte Sasuke, hier und jetzt.

»Zu viel Blut«, hörte sie die Ärztin vor ihr sagen und für einen Moment blieb Sakuras Herz stehen. Blut? »Plazentaablösung, Vorbereitung zum Notkaiserschnitt.«

Was?, wollte Sakura fragen, doch nur Schreie kamen aus ihrem Mund. Während dem Studium hatte sie sich nie für Gynäkologie interessiert, schon gar nicht für Schwangerschaft. Gefäße waren ihre Welt. Dennoch wusste sie genug, um zu wissen, dass Blut und Plazentaablösung gemeinsam nicht gut war.

Wo war Sasuke? Wieso war er nicht hier? Warum hörte er sie nicht, obwohl sie sich die Seele aus dem Leib schrie?

Sie weinte weiter, brüllte rau und heiser vor Schmerz und Verzweiflung. Nach seinem Unfall war sie monatelang für ihn dagewesen, hatte ihn in der Reha begleitet, hatte so getan, als würde sie seine Tränen nicht bemerken, wenn er sein Knie überanstrengt hatte oder frustriert vom langsamen Fortschritt gewesen war. Und er ging nach China, ließ seine Frau und ungeborene Tochter zurück wie zu schweres Gepäck. Diese Schwangerschaft war von Anfang an schwierig und kompliziert gewesen. Emotional. Körperlich.

»Sasuke!«, heulte sie, als eine Schwester ihr ein Schmerzmittel verabreichen wollte. Sasuke, Sasuke, Sasuke, beschwor sie ihn in ihren brennenden Gedanken, immer und immer wieder, bis das Anästhetikum sie endlich einholte.

Als Sakura wieder aufwachte, fühlte sie sich wie tot. Helles Licht drang gegen ihre Lider, ein sanfter Windschwall stieß gegen ihre hypersensible Haut, ein Vogel zwitscherte in der Ferne. Sie war zu schwach, um die Augen zu öffnen. Eine Stimme flüsterte ihr von irgendwo her, dass es Sarada gutging, und sie schlief wieder ein.

Als sie zum zweiten Mal aufwachte, lag ein Arm um ihre Schultern, ein Kinn an ihrem Scheitel. Auch wenn sie ihn seit Monaten nicht mehr gesehen hatte, erkannte sie ihn sofort; den Geruch, die Form der Muskeln, den Rhythmus des Atems.

»Sasuke?«, fragte sie matt. Er drückte sie an sich, küsste ihre Stirn sanft, dann stand er auf und kam zurück mit etwas Kleinem, das in eine Decke gewickelt schmatzte.

»Möchtest du sie halten?«

Vorsichtig ließ Sakura ihren Blick über das Bild vor ihr schweifen, fürchtete, dass sie nach wie vor halluzinierte. Doch es blieb. Sasuke war zurückgekommen, fast rechtzetig. Seine Schuhe standen in der Ecke neben seiner Aktentasche, seine Hose war zerknittert, sein Hemd gelockert. Und in seinen Armen hielt er seine Tochter. Ihre gemeinsame Tochter.

In diesem Moment zählte nicht, wie er herzgekommen war, wie er seine Mutter rausgeworfen hatte oder wie lange er Sakura davor alleingelassen hatte. Sie waren hier. Zu dritt. Eine perfekte kleine Familie.

Nur das zählte.
 

 

Tokio, Japan; Gegenwart

 

Es hatte Ino einiges an Überwindung gekostet, Sakura nach Itachis Telefonnummer zu fragen. Es hatte Sakura noch mehr Überwindung gekostet, sie rauszurücken.

Ob das so eine gute Idee ist?, hatte Sakura gefragt. Itachi-san ist das Gegenteil von Heiratsmaterial.

Chill, hatte Ino erwidert. Ich will nur seine Empfehlungen für Laufrouten einfordern. Und jetzt gib endlich her!

Noch stundenlang hatte sie sich über Sakuras Formulierung lustiggemacht. Kein Heiratsmaterial, als würde sie an sowas denken. Ihre letzte ernsthafte Beziehung war sieben Jahre her, ihre letzte funktionierende Beziehung sogar schon elf. Beide hatte sie für ihre Karriere aufgegeben, und sie bereute es nicht. Nicht wirklich zumindest. Laufstrecken, darum ging es. Und darum, Itachi etwas besser kennenlernen. Warum auch nicht? Er war attraktiv, interessant und reich. Sie wäre eine Heuchlerin, wenn sie behauptete, dass sie das nicht anzog.

Seitdem waren drei Wochen vergangen und sie hatte ihm immer noch nicht geschrieben. Zuerst, weil sie keinen guten Anfang gefunden hatte, danach, weil der Dreh von Blue River angelaufen und Zeit damit Mangelware geworden war. Letzte Kostümproben, Werbeaufnahmen, erste Interviews mit Magazinen und Sneak Peaks für YouTube, alles professionell organisiert und nicht ganz so schlimm, wie Ino befürchtet hatte. Ihren ersten Drehtag begann sie zur Überraschung aller Beteiligten positiv gestimmt.

Ihr Wecker klingelte um vier Uhr morgens, eine unmenschliche Zeit eigentlich, aber Ino war weit Schlimmeres gewöhnt. Diese Woche war fast noch okay, gerade einmal zwei halbe und zwei volle Drehtage. Das waren zweimal acht und zweimal achtzehn Stunden, lächerlich. Die gesamte Serie würde in nur sechs Wochen abgedreht sein, drei davon musste sie nicht einmal am Set sein. Der Vorteil einer Nebenrolle. Ihre Gage war trotzdem nicht weniger als die der Hauptrollen. Der Vorteil eines bekannten Namens.

Mabuchi holte sie pünktlich um halb fünf ab, bewaffnet mit dem größten Mokkaccino der Welt, und lieferte ihre Klientin ebenfalls pünktlich um sechs Uhr am Drehort ab. Inos Ankunft wurde kaum bemerkt, die Crew arbeitete am Aufbau des Sets und adjustierte das künstliche Dämmerlicht, das durch die Fenster von Chiwas Elternhaus fallen sollte. Eine Visagistin warf ihr eine Ladung Make-up ins Gesicht, das sie müde und krank aussehen ließ, der Kostümassistent steckte sie in ein langweiliges graues Kleid und dann hieß es warten.

Ino kannte das. Üblicherweise tauschte sie sich mit den anderen herumstehenden Schauspielern aus oder unterhielt sich mit Licht- oder Tontechnikern, die gerade nichts zu tun hatten. Hier hatte niemand Zeit für Geplauder, alles war durchgetaktet. Ihre beiden anwesenden Kollegen, Moegi und der Sänger, der ihren späteren Ehemann spielte, übten in einer ruhigen Ecke. Auch Mabuchi verabschiedete sich, sobald sie sich einigermaßen sicher war, dass Ino nicht Amok laufen würde. Würde sie nicht, nicht jetzt, wo es sowieso schon zu spät war. Der Vertrag war bindend und Ino hatte sich mit ihrer Unterschrift dazu verpflichtet, die Produktion nicht zu sabotieren.

Und vielleicht wurde das hier doch nicht so schlimm. Vielleicht war sie einfach nur negativ gewesen, überkritisch und unfair. Alle hier gaben sich Mühe, jeder war motiviert. Und sie musste sowieso das Beste daraus machen.

Bis zu ihrer ersten Szene schlug sie die Zeit auf ihrem Smartphone tot, dann durfte sie endlich mit Moegi gemeinsam das arrangierte Wohnzimmer betreten. Die Szene war recht simpel, aber lang. Moegi kam als Chiwa von der Schule nach Hause, Ino lag als Nanri in eine Decke gewickelt auf der Couch und erwachte mit der zufallenden Tür, um ihre kleine Schwester in einen lockeren Dialog zu verwickeln, der langsam in einen Streit eskalierte.

»Du liegst den ganzen Tag nur rum, Nanri«, warf Moegi ihr vor. Die Zeile war gut rübergebracht, Ino fühlte sich tatsächlich ein wenig schuldig. »Wann hast du eigentlich vor, mal wieder arbeiten zu gehen?«

Ino zuckte zusammen und zog die Decke enger um sich. Ihr leerer Blick ging direkt an der Kamera vorbei, fixierte eines der herumliegenden Scheinwerferkabel, als sie die Schultern zuckte. Die Szene zog sich vier Minuten in die Länge, schaukelte sich durch Nanris Passivität und Chiwas Ärger über Ereignisse, die zuvor in der Schule geschehen waren und erst nächste Woche gedreht werden würden, zu einem Streit hoch, den nur Chiwa führte und beendete, indem sie in ihr Zimmer verschwand.

»Schnitt! Kameras umstellen, alles auf Anfang!«, rief der Regisseur. Ino nutzte die kurze Pause, um ihre Schultern zu lockern und ihre Kiefer zu bewegen. Dann wickelte sie sich wieder in die Decke und begann erneut.

Viermal drehten sie die Szene in verschiedenen Einstellungen. Die Schauspielleistung schien zu genügen, die Kameras wanderten zum nächsten Set. Während Moegi dort alleine weiterspielte, wurde Ino in ein weiteres langweiliges Kostüm gesteckt.

Der Tag zog sich. Ab und an gab es Kritik vom Regisseur oder anderen kreativen Köpfen, die etwas zu sagen haben durften, Schauspieler wurden nicht gefragt. Viele Aufnahmen wurden beim ersten Versuch angenommen, was Ino nervte, aber wenig überraschte. Sie hatte nicht erwartet, hier eine experimentelle Produktion vorzufinden, bei der sie eine Szene so lange wiederholen durfte, bis sie einen authentischen Nervenzusammenbruch bekam. Als sie hier versuchte, ihren Tränenausbruch etwas extremer zu gestalten, wurde sie gebeten, das Zittern und Zögern zu unterlassen, da es zu explizit für dieses Format war.

Fein. Also fiel sie einfach um.

Der Tag zog sich weiter. Zwischen jeder Szene gab es Pausen, in denen sich Ino fragte, was sie hier tat. Ihre positive Stimmung war von schlechtem Essen gedämpft worden, ihre Motivation vom langweiligen Regisseur zertreten. Nicht einmal improvisieren durfte sie.

Ihre letzte Szene für heute war eine der schnulzigeren Sorte. Aus einem oberflächlich dramatischen Grund war Nanri aus dem Krankenhaus geflohen und verschanzte sich in ihrem Pyjama in der Wohnung ihres Vaters. Natürlich hatte sie praktischerweise vergessen, die Haustür abzuschließen, sodass ihr angebeteter Arzt hineinstürmen und sie in den Arm nehmen konnte.

Der Sänger spielte annehmbar. Seine Arme waren kräftig, als er sie hin und her wog und wartete, bis ihr Strampeln sie erschöpfte und sie zu weinen begann.

Es nervte sie, aber sie musste da durch. Fuß fassen, einen Ruf aufbauen, dann würden die guten Rollen schon kommen. Sie war dreißig, das war noch nicht allzu alt. Mit der Geschwindigkeit japanischer Produktionen würde sie in nicht einmal zwei Jahren ein beachtliches heimisches Portfolio haben. Durchhalten, einfach durchhalten.

Am Ende des Drehtages verließ sie als erste das Set, floh nach draußen die Straße hinunter, wo sie niemand mehr sehen konnte. Erst dort presste sie beide Hände so fest es ging über ihre Lippen und entließ ihren anschwellenden Schrei endlich.

Gottverdammt. Wieso nur tat sie sich das an?

Weil sie einen Vertrag mit einer horrenden Pönale hatte. Und weil sie stur und unbeugsam war. Weil sie nicht lernte. Nicht aufgeben konnte. Frustriert senkte sie die Hände an ihre Seiten und atmete aus.

Sie brauchte Ablenkung. Am besten gleich.

 

 

Itachis Firmenhandy läutete in der Tasche seiner Anzughose, auf seinem Schreibtisch vibrierte sein privates Smartphone. Beide ignorierte er im Angesicht seiner Assistentin, die erwartungsvoll vor ihm saß.

Shirogane Reina war definitiv mehr Geld wert als diese Firma ihr monatlich zahlte. So akkurat und organisiert wie sie, konnte kein zweiter Mensch sein, außer er selbst vielleicht. All ihren Vorzügen zum Trotz, war sie kein gutes Publikum zum Üben einer Produktpräsentation. Er arbeitete seit Wochen daran, immer mal wieder für ein paar Minuten pro Tag, wenn er Zeit dazu fand. synCOM brauchte mehr Großkunden, also hatten Sasuke und er sich die Akquise aufgeteilt, nachdem ihre Verkäufer hatten aufgeben müssen. Seine beste Vertriebsmitarbeiterin konnte einem Kamel Sand verkaufen, doch bis nach oben zum Scheich kam sie nicht. Itachis Name allein verschaffte ihm ausreichend Zeit mit Vorständen und Geschäftsführern, um ihnen die Vorteile von synCOM erklären zu können.

»Was sagen Sie, Shirogane-san?«, fragte er, nachdem er seinen Vortrag gehalten hatte. Er war zusammengestöpselt aus Marketingunterlagen, Entwürfen und internen Präsentationsfolien. Umfangreich und vollgepackt mit Information.

Shirogane klatschte einmal in die Hände. »Sehr gut! Ich finde, Sie arbeiten den Vorteil von synCOM wunderbar heraus. Vor allem die letzten Minuten mit den Kostenersparnissen sind sehr gelungen. Soll ich die Unterlagen in die Übersetzung schicken?«

Itachi verschränkte die Arme und schickte einen nachdenklichen Blick aus dem Fenster. Sein Büro war hoch oben, trotzdem sah er keinen Kilometer weit. Es gab hunderte Firmen in Tokio, jede davon in einem schicken Wolkenkratzer aus Glas und Erfolg. Sehr gut reichte nicht, nicht im Ansatz. Er brauchte atemberaubend, großartig, überwältigend.

»Nein. Ich werde alles noch einmal überarbeiten. Wir brauchen die Unterlagen sowieso erst, wenn wir eine funktionierende Betaversion haben. Wie lange dauert die Übersetzung normalerweise?«

»Für den Umfang etwa zwei Wochen. Eine, wenn wir Druck machen.«

Das war kurz genug, um ihm noch ein paar Wochen Zeit für Verbesserungen zu verschaffen. Halbwegs beruhigt überprüfte Itachi sein Firmenhandy, wo eine unwichtige E-Mail über einen neuen Abteilungsleiter in der Beschaffungsabteilung aufblinkte. Sein privates Smartphone offenbarte eine interessantere Nachricht. »Danke, Shirogane-san. Machen Sie Feierabend, ja?«, schlug er vor und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch.

Ein paar E-Mails, Unterschriften und Excel-Tabellen später dämmerte es draußen und zum ersten Mal seit Monaten verließ er sein Büro vor acht Uhr abends.

Du schuldest mir eine Laufroute. Heute Abend?, hatte Ino geschrieben. Kurz und bündig, keine Signatur. Er fand ihr Selbstvertrauen amüsant. Offenbar setzte sie voraus, einen so bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen zu haben, um nicht einmal ihren Namen unter die Nachricht zu setzen. Hatte sie in der Tat. Woher sie seine Telefonnummer hatte, war unschwer zu erraten.

Halb acht beim Musashi-Yamato Bahnhof, antwortete er.

Um zehn nach halb stieg sie tatsächlich aus dem Zug, voll ausgerüstet in legerer, aber professioneller Laufkleidung; enge Leggins, neongelbe Sportschuhe, lockeres Tank Top, Pulsuhr und Sportarmband, jetzt schon ein motiviertes Grinsen auf den Lippen. Sie hob eine Hand zum Gruß. »Ahoi!«

»Guten Abend.«

»Schönes Fleckchen hast du hier.« Sie deutete mit ihrem Zeigefinger in ihr Gesicht, während sie sich umsah. »Siehst du den Ausdruck? Das ist Neid.«

War es nicht. Es war Frust und dieser Frust hatte rein gar nichts mit der schönen Umgebung zu tun. Da Itachi das nicht wusste, bemerkte er nur ihre unruhigen Füße. »Möglicherweise wirst du gleich noch neidischer werden. Von hier starten zwei Strecken. Nach Süden geht es etwa sieben Kilometer durch den Higashiyamato Park. Nach Nordwesten führen dreizehn Kilometer übers Gefälle durch den Toritsu Sayama Park am Tama Lake vorbei. Hast du Präferenzen?«

»Gefälle klingt doch nett. Nehmen wir die.«

Gesagt, getan. Itachi führte den Weg an, die ersten vier Kilometer leichtfüßig über die ebenen Schotterwege des Parks und um einen kleinen See herum. Ino hielt gut mit, machte ab und an Kommentare zur Schwierigkeit der Strecke. Ab Kilometer fünf wurde es mühsam. Das Gefälle war nicht allzu steil, aber stetig und zog sich zwei Kilometer in einer Geraden bis zum Gipfel eines kleinen Hügels. Die Bäume hinderten das Mondlicht daran, die Laufwege zu beleuchten, sodass nur künstliches Licht aus den regelmäßig platzierten Straßenlaternen schien. Es war eine ruhige, klare Spätfrühlingsnacht an der Kippe zum frühen Sommer.

Und Ino gab alles.

Itachi war größer und gut in Form, natürlich konnte sie ihn nicht abhängen, aber das schien auch nicht ihre Absicht zu sein. In jedem ihrer Schritte lag ein wenig mehr Kraft als nötig, jede Armbewegung zum Ausbalancieren war etwas stärker als ihr Lauf erforderte. Das würde sie bereuen.

Der letzte Kilometer war der brutalste. Noch stand nicht mehr als ein feiner Schweißfilm auf ihrer Stirn, ihre Atmung war regelmäßig, aber der Hügel vor ihnen stieg schneller an als sie erwartet hatte. Mit jedem Schritt wurde sie langsamer, quälte sie sich mehr.

Bis sie plötzlich an Itachi vorbeizog, keuchend und schwitzend, aber so schnell, dass er beeindruckt war. Das konnte er nicht auf sich sitzen lassen. Wenn sie bergauf sprintete, konnte er das schon lange.

Er holte auf, überholte sie, auch wenn sein Körper ihn fragte, ob er den Verstand verloren hatte. Auf halber Höhe brannten seine Muskeln, seine Gelenke, sein Atem, dennoch rannte er weiter, weil Ino weiterrannte, stöhnend und kompromisslos. Es war faszinierend.

Sie erreichte das Ziel nur einen halben Schritt hinter ihm, brach mit einem letzten Kraftschrei neben ihm im kühlen Gras zusammen. Ein paar Strähnen hatten sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst und klebten an ihren erhitzten Schläfen, als wäre sie ein Werbeplakat für isotonische Getränke. Absichtlich ungeschminkt und dennoch schön.

»Scheiße!«, fluchte sie rau und flach, eine verkrampfte Hand an der Brust, ein euphorisches Grinsen im hochroten Gesicht. Morgen würde sie den übelsten Muskelkater ihres Lebens haben, ebenso wie Itachi selbst. Es war gedankenlos gewesen, sich zu einem sinnlosen Wettrennen hinreißen zu lassen. Laufen war seine Entspannungstherapie geworden. Das hier war alles andere als entspannend – und es war so viel besser.

»Du bist ganz schön schnell«, sagte er, nachdem er wieder ausreichend Atem hatte. Er reichte ihr seine Hand, um ihr auf die wackeligen Beine zu helfen. Ausgehen war ein Muss, egal wie erledigt man war. »Läufst du oft?«

Ino brauchte ein paar Atemzüge, um genügend Luft für eine Antwort zu sammeln. »Dreimal die Woche.«

»War die Strecke die Zugfahrt wert?«

Sie streckte ihre Arme hoch in den dunklen Nachthimmel, schwang die Beine aus und verzog den Mund über den Schmerz, den ihr die Bewegung bereitete. »Auf jeden Fall – behaupte ich zumindest jetzt noch. Wie könnte man einen beschissenen Tag auch besser beenden als mit dem spirituellen Tod? Das wird eine verdammt üble Heimfahrt.«

»Ich fahr dich«, bot Itachi an. »Ich muss sowieso zurück in die Innenstadt.«

»Klar, gerne«, nutzte sie das Angebot schamlos aus. »Ihr Anzugtypen macht echt nie Feierabend, oder?«

»Selten.« Er deutete gegen den Appartementkomplex, vor dem sie angekommen waren. »Ich muss allerdings vorher duschen.«
 

 

Ino wusste nicht, ob sie enttäuscht oder erleichtert sein sollte, dass Itachi offenbar keine Hintergedanken gehabt hatte, als er sie mit nach oben in sein Appartement genommen hatte. Schande. Nicht, dass sie nach der körperlichen Anstrengung irgendendetwas zustandegebracht hätte. Ihr ganzer Körper schmerzte, aber wenigstens dachte sie endlich an etwas anderes als diesen verdammten Drehtag.

Itachis Küche war auch viel interessanter. Groß und hochwertig wie sie war, sah sie nicht aus, als hätte er schon jemals auch nur Wasser darin aufgekocht. Die Einrichtung im Wohnzimmer war ebensp luxuriös und langweilig wie in Sakuras und Sasukes Wohnung. Wahrscheinlich war Mikoto auch hier als Innenarchitektin tätig gewesen war. Wo Sakura jedoch ihren eigenen verspielten Stil mit Zierkissen und Vorhängen eingeschoben hatte, war von Itachis Geschmack nicht viel zu sehen, falls er überhaupt einen für Möbel hatte. Für Kleidung auf jeden Fall. Als er aus dem Bad zurückkam, trug er einen seiner Designeranzüge, diesmal verziert mit Manschettenknöpfen.

»Schick«, kommentierte sie. »Sag bloß, du gehst noch aus.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob eine Spendengala als Ausgehen zählt.«

»Klingt jedenfalls furchtbar öde.«

»Ist es leider auch.« Im Vorbeigehen nahm er die Autoschlüssel vom Vorzimmerkästchen und hielt ihr die Tür auf. Auf dem Weg nach unten in die Tiefparkgarage skizzierte er den typischen Ablauf solcher Veranstaltungen, die nur zum Netzwerken da waren und oft mehr nervten als sie etwas brachten.

»Reich sein ist ja so hart«, seufzte Ino sarkastisch und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. »Wie überlebst du das nur?«

»Der Lebensstil bringt zumindest andere Arten von Problemen mit sich«, korrigierte er, als hätte sie ihre Frage ernst gemeint.

»Jaja, ich weiß«, winkte sie ab. »Arm oder reich, ist unsere Existenz allein nicht schon Leid genug für unsere zerstreuten Seelen?«

»Das klingt wie ein furchtbares Zitat.«

»Eine meiner Zeilen aus dem Drama, in dem ich mitspiele«, schnaubte sie. »Irgendwie mussten sie die Folge auf fünfzig Minuten kriegen. So eine sinnlose Serie, wirklich.«

»Sind die meisten Filme nicht irgendwie sinnlos?«

Inos zuckte die Schultern. »Nur so sinnlos wie jede andere Form von Kunst oder Kultur. Was ich meine, ist, jeder sehenswerte Film hat etwas, das er besonders gut macht. Das muss nicht die Handlung sein, es können auch Lichttechnik, Filmmusik oder Spezialeffekte sein. Niemand sollte einen Film drehen, um Zeit totzuschlagen. Was ist das sonst für ein Anspruch?«

»Du bist mit deinem Urteil sehr streng«, sagte Itachi, während er auf die Autobahn auffuhr. »Ich nehme an, die Filme, die du in Amerika gedreht hast, waren anspruchsvoller?«

Um Längen!, wollte Ino rufen, doch das erste Beispiel, das ihr einfiel, war dieser pseudointellektuelle Versuch, die Beziehung zwischen einem alten Mann und einer jungen Frau abzubilden. Der Film war ein Desaster gewesen, Kritiker hatten ihn zurecht in der Luft zerfetzt. Auch das zweite Beispiel war nicht besser. Alle ihre letzten Filme waren erfolglose Indiestreifen gewesen, produziert von prätentiösen Leuten mit einem ach so empfindsamen künstlerischen Anspruch. Aber es hatte Spaß gemacht, zu experimentieren, über die Strenge zu schlagen.

Mit geschürzten Lippen rutschte sie im Autositz ein wenig nach unten. »Fein. Erwischt. Das entschuldigt aber nicht die japanische Filmindustrie.«

»Das würde ich niemals verlangen«, meinte Itachi, ein leichtes Lächeln auf den Lippen.

Ihre Ausfahrt kam viel zu schnell, ihr Häuserblock auch. Itachi hielt nur kurz an, um sie aussteigen zu lassen, und war schneller weg als sie einen anzüglichen Witz machen konnte. Dieser Mann machte sie fertig. Da saß ein verschwitztes Model neben ihm und er fuhr einfach weg, ohne auch nur irgendwas zu versuchen. Ein Rätsel.

Ihre Enttäuschung wusch sie unter der Dusche hinfort, zusammen mit dem trockenen Schweiß. Zurück blieb das angenehme Gefühl ausgelaugter Muskeln, die sich bei jedem Schritt meldeten. Mit wohligem Schmerz kollabierte sie auf ihr Bett, die nackten Beine von sich gestreckt, um ihren Körper ein übergroßes Shirt der L.A. Rams –

Und wurde von ihrer Türglocke aufgeschreckt.

Es dauerte eine Sekunde, bis Ino realisierte, dass es ihre Glocke war. Manchmal klingelte der Postbote, wenn sie mal wieder Kleidung oder Schnickschnack aus dem Internet bestellt hatte, aber für Paketlieferungen war es definitiv zu spät. Skeptisch robbte sie aus dem Bett und tapste auf müden Beinen zur Tür. Ein kurzer Blick durch den Spion offenbarte, »Sakura!«

Sie hatte Sarada auf dem Arm, eine Reisetasche in der Hand, und versuchte zu lächeln, obwohl ihre Lippen zitterten und ihre Augen feucht im Schein der Außenlampe glitzerten.

»Hey. Kann ich für ein paar Tage hierbleiben?«

Wortlos ließ Ino sie eintreten. Ein Plätzchen für Sarada und Sushi-chan im ungenutzten Gästezimmer war schnell gefunden, dann verschwand Sakura für einige Minuten ins Bad. Indes warf Ino den Wasserkocher an, schaltete ihn wieder aus und holte eine Flasche Rotwein aus dem Regal. Betrachtete sie argwöhnisch und tauschte sie gegen Whiskey. Sie hatte keine Whiskeygläser, Wassergläser würden reichen.

Sakura ließ sich Zeit im Bad. Das Wasser lief länger als eine ausführliche Gesichtsreinigung erforderte, trotzdem sah sie ermattet und erledigt aus, als sie im Pyjama wieder nach draußen trat, auf einem Abstecher ins Gästezimmer nach Sarada sah, und schließlich verloren im Wohnzimmer stehenblieb.

»Sexy«, meinte Ino und nickte gegen die grüne Flanellhose und das bedruckte Bandshirt, die beide wie Kartoffelsäcke um Sakuras athletische Figur hingen. Fragend hob sie die Whiskeyflasche hoch. »Sieht aus, als wäre mal wieder Zeit für die Sasuke Uchiha Diät, hm?«

»Daran kannst du dich noch erinnern?«

Und ob Ino das konnte. Nach ihrem Schulabschluss hatten sie zwar nur für ein Jahr zusammen in einer kleinen Wohngemeinschaft in Tokio gewohnt, aber selbst in der kurzen Zeit hatte Sakura viel zu häufig wegen Sasuke geweint. Ino reichte ihr das Glas. »Ich bin eher verwundert, dass du dich erinnern kannst.«

Sakura leerte den Whiskey in einem Zug, schüttelte wild den Kopf über den harten Alkohol und entließ einen kleinen Aufschrei. »Genauso scharf wie damals, Himmel! Schenk nach.«

»Sicher? Morgen ist ein Werktag.«

»Ist mir egal. Alles. Meine Arbeit, meine Schwiegereltern, mein Ehemann. Und jetzt heul ich auch noch wegen ihm.« Mit ihrem Ärmel versuchte sie die aufkommenden Tränen zu beseitigen. Es funktionierte nicht.

»Was ist passiert, Sakura?«

»Nichts Besonderes. Das ist es ja … tagein, tagaus jedes Mal dieselben Ausreden, jedes Mal dieselben Vorwürfe. Aber heute … ich weiß nicht.« Sie schüttelte den Kopf, seufzte resignierend. Die Tränen waren schneller versiegt als sie erwartet hatte. Zurück blieb herbe Enttäuschung. Resignation. »Ich hab mein Leben lang auf ihn gewartet und jetzt sind wir verheiratet, haben ein Kind zusammen, und ich warte immer noch. Ich kann einfach nicht mehr.«

»Kann ich verstehen«, murmelte Ino, ertränkte ihr aufkommendes Seufzen in einem großen Schluck Whiskey. »Weiß Sasuke, dass du hier bist?«

»Als würde ihn das interessieren.«

»Schreib ihm wenigstetens, dass du hier bist. Auch wenn du wütend bist, sollte er zumindest wissen, dass es euch gutgeht.«

Sakura schniefte und verzog widerwillig den Mund. »Verdammt, seit wann bist du so erwachsen?«

»Alles Fassade. Jetzt trink. Damit wird’s besser, ich versprech’s.«

Es war eine Lüge, die sie beide zu gerne annahmen.
 

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Was und bleibt


 

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Tokio, Japan; 1 Tag zuvor

 

»Du kannst doch einfach nächstes Mal fahren«, schlug Sasuke vor, während er den letzten Manschettenknopf an seinem Ärmel fixierte. Die Dinger waren furchtbar hässlich, aber sie bildeten das Familienwappen ab und deswegen musste er sie bei offiziellen Anlässen tragen. Immer, ohne Ausnahme. Sein Vater bestand darauf.

Sakura trat zwischen ihn und den Standspiegel im Schlafzimmer. Um diese Uhrzeit war sie normalerweise schon halb im Bett, doch heute trug sie einen Hosenanzug, war geschminkt und zwang ihn, sie anzusehen.

»Sasuke, ich habe diesem Kongress schon vor einem halben Jahr zugesagt. Ist es wirklich zu viel verlangt, dass du einmal einspringst, wenn die Babysitterin kurzfristig absagt?«

»Ich würde ja, aber diese Gala ist wichtig. Kannst du nicht einfach nächstes Jahr dort hingehen?« Sasuke wandte sich ab, um seinen dünnen Sommermantel aus dem Kleidersack zu nehmen. Pragmatisch gesehen hatte er vollkommen recht damit. Sakura sah das anders.

»Nein! Ich brauche das für meine Fortbildung, sonst entziehen sie mir bald die Approbation! Ich hab doch nicht studiert, um als Hausfrau herumzuhocken!«

Er sah sie an, eine Augenbraue nach oben geschoben. Was genau wollte sie von ihm? Sie wusste seit Wochen, dass er zu dieser Gala musste. »Jetzt tu nicht so, als wäre das etwas Schlechtes. Wir brauchen dein Gehalt nicht und es kommt sowieso von meiner Familie. Wenn du zu Hause wärst, müsste Sarada wenigstens nicht mehr in diesen dämlichen Betriebskindergarten.«

»Das hast du gerade nicht gesagt.«

Doch. Hatte er. Und es reichte ihm langsam. Diese ewigen Zankereien über Haushaltsgeschichten, die ihm sonst wo vorbeigingen. Er hatte keine Zeit, sich um so etwas Gedanken zu machen. Nicht vor der Markteinführung von synCOM.

Er hielt ihren funkelnden Blick, begegnete ihm mit seinen eigenen dunklen Augen. »Denkst du etwa, mir macht das Spaß, mich jedes zweite Woche mit dämlichen Lackaffen zu treffen und ihnen Honig ums Maul zu schmieren, Sakura? Das geht mir wahnsinnig auf den Sack! Aber es ist mein verdammter Job, weil mein Nachname nun mal Uchiha ist. Wie denkst du, könnten wir uns das hier sonst leisten?«

»Als hätte ich auch nur ein einziges Mal um diesen ganzen Kram gebeten! Ich will keinen Reichtum, keinen Luxus, Sasuke, sondern einen verdammten Ehemann!«

Er brach den Blickkontakt ab, in die Ecke gedrängt durch ihre emotionale Anschuldigung. Sakura war gut darin, ihm ein schlechtes Gewissen zu machen. Es half nur nichts. Sobald er sich in der Firma bewiesen hatte, würde er zurückstecken können. Bis dahin musste er alles geben. Sie wusste das, zum Teufel, sie wusste das alles sehr genau.

»Du wusstest, wen du heiratest. Verlang jetzt nicht von mir, jemand anderer zu sein.«

Das ließ sie sprachlos zurück, wie immer, wenn er mit diesem Argument konterte »Sasuke!«, rief sie ihm hinterher. Sie stand am Ende des Flurs, ihre Silhouette im Halbschatten zwischen Dunkelheit und Licht im Wohnzimmer. »Wenn du jetzt gehst, gehe ich auch. Und ich komme nicht wieder.«

Er nahm sie nicht ernst. Als kleines Mädchen war sie ihm jahrelang hinterhergelaufen. Als erwachsene Frau ebenso. Das würde sich nicht ändern. Sie konnte nicht anders. Und er auch nicht.

»Mach, was du willst.«
 

 

Tōkyō, Japan; Gegenwart

 

Sasukes Kopf dröhnte, als sein Wecker frühmorgens klingelte. Die schweren Verdunkelungsschals waren über die Fensterfront gezogen, nur durch die kleinen Spalte links und rechts brachen zwei Streifen Morgenlicht in das Schlafzimmer. Es war ein nüchterner Morgen nach einem hitzigen Abend und einer Partynacht, in der er mehr getrunken hatte als üblich. Stöhnend stellte er das nervenaufreibende Piepen ab, um die Ruhe des Morgens noch ein wenig auszudehnen. Er hatte die Rechnung ohne seine Reflexe gemacht.

Im Berufsleben war eine Nasenlänge Vorsprung oft entscheidend, darum hatte er es sich angewöhnt, direkt nach dem Aufwachen seine E-Mails zu überprüfen. Ehe er sich davon abhalten konnte, fischte seine Hand das Firmenhandy vom Nachttisch und sein Daumen scrollte einmal seinen Posteingang durch. Es war ein Automatismus, ebenso wie das Annehmen eines Termins, den sein Vater ihn für hetue geschickt hatte. Keine anderen Teilnehmer. Verdammt. Raunen akzeptierte er und ließ sich zurück ins Bett fallen. Erst danach realisierte er, dass der Morgen zu ruhig war, zu still.

Stumm.

Und er erinnerte sich an die knappe Nachricht, die ihn gestern dazu gebracht hatte, mehr Bier in sich hineinzuschütten als geplant.

Bin mit Sarada bei Ino, hatte Sakura geschrieben, als wäre er nicht einmal eines ihrer Verben wert. Kein Smiley, kein Bild, nichts von dem bunten Kram, mit dem sie ihre Nachrichten sonst vollstopfte, einfach weil sie konnte und die gelben Gesichter so süß fand. Gestern hatte er gedacht, dass sie heute wieder da wäre. Sollte sie sich einen Abend lang ausheulen.

Doch als er ins Bad ging, fehlte Saradas Zahnspange – eines der wenigen Dinge in seiner Wohnung, von denen er genau wusste, wo sie lagen. Er suchte danach, weil es lächerlich war und er nicht glauben konnte, dass Sakura wegen einer dämlichen Auseinandersetzung ausgezogen war. Sie waren doch keine Teenager, die sich wöchentlich trennten und versöhnten, weil sie nichts Besseres zu tun hatten.

Aber Saradas Zahnspange blieb verschollen, gemeinsam mit Sakuras Reisetasche und einigen anderen Alltagsdingen. Zahnbürste, Kamm, Unterwäsche. Er kannte Sakuras Dessous, besser als ihre Kleider und Hosen, weil sie bei Reizwäsche immer nach seiner Meinung fragte. Drei fehlten, zwei mehr als sie sinnvollerweise am Körper tragen konnte.

Das konnte nicht wahr sein.

Brummend warf er die Schwebeschranktür zu, sodass der Aufprall am Ende der Schienen sie wieder einen spaltbreit aufschob und er mit seinem Fuß kräftig nachtrat, bis das beschissene Teil endlich geschlossen blieb. Tanzten ihm jetzt auch schon seine Möbel auf der Nase rum?

Auf dem Weg ins Büro versuchte er sich zu beruhigen, fuhr absichtlich ein paar Stundenkilometer unter der Geschwindigkeitsbegrenzung. Er war ein erwachsener Mann und er würde sich zusammenreißen. Das hier war lächerlich, alles daran.

Der Vormittag zog sich, vorwiegend, weil er alle paar Minuten auf sein Smartphone sah. Kein Anruf, keine Nachricht. Als er sich schließlich dazu durchrang, die Durchwahl von Sakuras Betriebsambulanz zu wählen, meldete sich ihre Kollegin und informierte ihn darüber, dass Sakura sich unbezahlten Urlaub genommen hatte. Rückkehr ungewiss. Diese Demütigung, sich bei Mitarbeitern über den Verbleib seiner eigenen Frau erkundigen zu müssen! War es das, was Sakura wollte? Ihm seine vielen Überstunden heimzahlen?

Ohne Verabschiedung legte er auf und wandte sich seiner Arbeit zu. Die Vorbereitung der Projektberichte für das nächste Statusmeeting war eine willkommene Ablenkung. Zahl um Zahl, Zelle um Zelle überprüfte er in Excel-Dokumenten, holte neue Informationen der betreffenden Abteilungen ein und ergänzte Listen und Tabellen, bis eine Erinnerung auf seinem Bildschirm aufpoppte und ihn darauf aufmerksam machte, dass sein Vater ihn in zehn Minuten erwartete. Die Termineinladung hatte keine Ortsangabe enthalten, was bei Fugaku automatisch bedeutete, dass er die Teilnehmer in seinem Büro erwartete. Er ging sicherlich nirgendwo hin, schon gar nicht zu seinem zweiten Sohn.

Also sammelte Sasuke alles zusammen, was für diesen ominösen Termin auch nur entfernt relevant sein konnte, und machte sich auf den Weg nach oben, wo sein Vater ihn bereits erwartete und ihm einen Platz auf einem der Besucherstühlen anbot.

»Wie formell«, kommentierte er, eine Spur zu sarkastisch. »Ist das meine Kündigung oder was soll der offizielle Rahmen?«

»Mach dich nicht lächerlich. Und vergreif dich nicht im Ton, Sasuke.« Fugaku sah ihn streng an, die Schultern gerade. »Wir müssen uns über dein Verhalten gestern unterhalten.«

Natürlich mussten sie das. Anstatt zu netzwerken, hatte er sich in einer Ecke betrunken wie der unwichtige Sohn, der er war. »Wieso? Itachi war doch da und hat sich vorbildlich verhalten. Wenn er da ist, braucht es mich doch sowieso nicht.«

»Werd nicht frech«, brummte sein Vater. Seine Geduld war offenbar jetzt schon aufgebraucht. »Diese Firma gehört immer noch mir und ich bin nicht bereit, die Markeinführung von synCOM in den Sand zu setzen, nur weil dir eine Laus über die Leber gelaufen ist. Wenn du mit dem Druck nicht fertig wirst, gib das Projekt ab. Ist das verständlich, Sasuke?«

War es, weil es dasselbe Lied war, das er seit drei Jahrzehnten sang. Und wie jedes Mal nickte Sasuke, entschuldigte sich widerwillig und entfernte sich aus dem Büro des Geschäftsführers. Wie jedes verdammte Mal. Und Sakura hatte immer noch nichts von sich hören lassen.

Es half nichts, er musste weitermachen. Berichte, Budgets, Controlling. Die Minuten zogen dahin, erst zäh wie Honig, dann schnell wie Treibsand, sobald er sich eingearbeitet hatte. Die Monotonie von Listen und Zahlen war eine willkommen stupide Aufgabe, in die er sich ausreichend hineinsteigern konnte, um sich abends zu wundern, wann es dunkel geworden war. An jedem anderen Tag hätte Sakura ihn längst darauf aufmerksam gemacht, dass er sich schon wieder verspätete.

Nicht heute. Natürlich nicht heute.

Er arbeitete weiter, immer weiter, bis alle Listen für nächste Woche vorbereitet waren und er sich an die Ausarbeitung der Vorlagen für übernächste Woche machte. Sein Team war längst zu Hause, so wie der Rest der Firma. Dann war der nächste Tag da und er quälte sich durch einen weiteren langsamen Vormittag. Wenigstens hatte er endlich die Freiheit, zu tun was er wollte, musste, ohne Sakuras konstantes Gezeter, ihre nie enden wollenden Beschwerden, weil er zu viel zu tun hatte. Endlich keine Bremsen mehr. Kein schlechtes Gewissen.

Es war befreiend. Zumindest hätte es das sein sollen.

Nach einer Woche begann sein Rücken zu schmerzen von den Powernaps auf seinem Stuhl, seine Augen brannten, sein Kopf hämmerte. Das Statusmeeting mit dem Aufsichtsrat und seinem Bruder war ein unsicheres Stolpern, aber drei doppelte Espresso und Schmerzpulver ließen ihn irgendwie funktionieren. Niemand schien sich daran zu stören, zumindest nicht mehr als daran, dass der Prototyp immer noch Performanceprobleme hatte. Niemand, außer Itachi.

»Du bist ja noch hier«, stellte er fest, nachdem er ohne zu klopfen in Sasukes Büro geplatzt war.

Sasuke sah nur flüchtig auf. »Es ist nicht einmal vier, natürlich bin ich hier.«

»Du siehst krank aus.« Itachis Blick fiel auf die zusammengeknüllte Kleidung am Boden, die Sasuke nach dem Wechsel heute Morgen achtlos dort hingeworfen hatte. »Hast du hier übernachtet?«

»Sakura ist mit Sarada zu Ino gezogen. Wieso sollte ich in eine leere Wohnung?«

»Weil du mit deiner Arbeit fertig bist. Du hast den Bericht schon gestern rausgeschickt.«

»Er ist nicht perfekt.«

»Es ist ein Statusbericht, niemanden interessiert, ob er perfekt ist.«

»Dich vielleicht nicht«, beharrte Sasuke. Er konnte diese Diskussion nicht auch noch verlieren. »Du wartest doch nur darauf, dass ich versage und du das Projekt retten kannst. Nur zu. Misch dich ein.«

Itachi zog die Augenbrauen zusammen. »Darum geht es nicht. Sasuke, könntest du bitte aufhören, deinen –«

»Was?«, fauchte Sasuke und fuhr mit einem so kräftigen Ruck in den Stand, dass der Bürosessel scheppernd nach hinten kippte. »Sakura schreit mich an, weil ich auf diese Gala gehe, Vater passt mein Verhalten dort nicht und jetzt kritisierst du mich, weil ich meinen beschissenen Job mache! Kann ich in meiner eigenen Familie überhaupt irgendwas richtigmachen?!«

Er riss seine Jacke vom Haken, wütend und mit seiner Geduld am Ende. Wieso konnte niemand sehen, wie er sich tagtäglich den Arsch aufriss für einen Erfolg, den ihm niemand gönnte – nicht sein Vater, nicht Itachi, nicht Sakura. Das alles war längst lächerlich geworden. Eine Farce!

Und er würde sie beenden, jetzt und sofort.
 

 

Ino kam überraschend gut durch die anspruchslose Szene, bei der sie nur traurig aus dem Fenster starren musste. Die Visagistin hatte ihr extra für diese Einstellung farbige Kontaktlinsen eingesetzt, damit das Blau ihrer Augen matter erschien. Eine Neuheit. Egal wie zerfleddert und kaputt ihre Rolle üblicherweise war, wie viel Dreck und Wunden sie trug, ihre Augen hatte noch niemand verdecken wollen.

In der Drehpause machte sie halb-höflichen Smalltalk mit einem jungen Lichttechniker, der mit diesem Film sein Debüt feierte. Sein Glück, die Lichttechnik war das einzig Passable. Kurz bevor sie zynisch, sarkastisch oder einfach nur gemein werden konnte, endete der Drehtag. Gestern war hart gewesen, achtzehn Stunden, vierundzwanzig Szenen, heute war einfach nur nervenaufreibend zäh. Wenigstens musste sie erst wieder in fünf Tagen am Set sein.

Sie verabschiedete sich und trat nach draußen, ehe Moegi sie auf einen Kaffee einladen konnte. Mabuchi und ihr Assistent hatten heute beide anderweitig zu tun, sodass Ino gezwungenermaßen den Zug nahm. Mit Sonnenbrille und Hut erkannte sie keiner, ohne ihre blauen Augen war sie einfach nur eine hübsche Japanerin.

Zu Hause erwarteten sie neue Schuhe. Rote Kinderballerina mit Strass und einem unbekannten Markenschriftzug. Dass es so etwas noch gab. Über Mode war sie eigentlich immer gut informiert. Daneben gelbe Louboutins, neueste Kollektion. Ebenfalls nicht ihre Schuhgröße.

Im Wohnzimmer erwartete sie ein kleiner Berg Einkaufstaschen. Keine schnöden Plastik- oder Papiertüten, sondern Hochglanzstücke mit goldfarbenen Logos, wie man sie in den teuersten Modeboutiquen des Landes bekam.

»Ich bin zu Hause«, rief sie in den kleinen Taschenwald, aus dem Sarada fröhlich ihren Kopf steckte. Jede der Taschen war groß genug, um hineinzukrabbeln und genau das tat sie. Nach einem kurzen Winken tauchte sie wieder ab und wühlte in den Resten von Papier und Etiketten herum.

»Willkommen daheim!«, kam es aus der Küche zurück, gemeinsam mit dem unverwechselbaren Duft von frisch gekochter Hausmannskost.

Ein wenig überfordert mit der heimeligen Atmosphäre folgte Ino den Gerüchen. Seit ihr Aussehen ihr Job war, aß sie meistens Salate, Suppen oder Gemüse, nichts davon wurde richtig zubereitet oder gar gekocht, ganz im Gegensatz zu Sakuras Yakitori, die fröhlich in Inos einziger Pfanne vor sich hin brutzelten.

»Hast du unabsichtlich ein Modehaus gekauft?«, fragte Ino.

»So gut wie.« Schnaubend stocherte Sakura im Wokgemüse herum. »Das wird eine saftige Kreditkartenabrechnung. Ich hoffe, das bringt ihn um. Und morgen kaufe ich Sarada ein echtes Pony.«

»Klingt legitim.«

Sakura nickte eifrig. »Könntest du mal das Fleisch umdrehen? Es riecht, als würde es gleich anbrennen – nicht so!«, unterbrach sie Inos Versuch, die Hühnerspieße mit einer Gabel zu wenden. »Man sticht doch nicht ins Fleisch! Nimm die Zange!«

Ino hob die Hände und trat einen Schritt vom Herd zurück. »Das wird mir zu kompliziert. Ich hab einfach nur Hunger.«

»Jetzt stell dich nicht so an, du bist ja wie – Sasuke.«

Das Stolpern über den Namen bemerkten sie beide ebenso wie sie entschieden, es in stummem Einvernehmen zu ignorieren. Die häuslich anmutende Szene trieb in ihrer Freundin sichtbare Melancholie hoch, sodass Ino ihr beim Vorbeigehen leicht auf die Schulter klopfte. Sie war nicht gut im Trösten; Whiskey sagte alles über ihre Art der Bewältigung aus. Wenn sie traurig war, ging sie feiern. In einem ohrenzerfetzend lauten Club aus voller Kehle zu schnellem Elektro House zu grölen und dabei wild zu tanzen, war eine der besten Methoden, um Dampf abzulassen und Tränen zu verjagen.

»Sag mal Sakura, wie schnell kannst du einen Babysitter organisieren? Wäre schade, wenn du das schöne Make-up heute nicht ausführst. Deine Louboutins gehören auch eingetanzt.«

Sakura schwenkte das Gemüse noch einmal durch, dann kippte sie es in eine Schüssel. War das Inos Schüssel? Sie konnte sich nicht daran erinnern, so ein Teil zu besitzen. »Ich weiß nicht. Heute war ein echt langer Tag. Ich bin die ganze Einkaufsstraße dreimal abgelaufen.«

»Ein Grund mehr für eine Party«, beharrte Ino. Sie drehte ihre temporäre Mitbewohnerin so schwungvoll an den Schultern, dass das Gemüse in der Schüssel fast über den Rand schlitterte. »Komm schon! Wie kannst du’s Sasuke besser heimzahlen? Wir nehmen auch seine Kreditkarte.«

»Also schön, lass mich ein wenig rumtelefonieren. Ich finde schon jemanden.«

»Nach dem Essen«, hielt Ino sie entschieden zurück, begleitet von Magenknurren. »Ich hab den ganzen Tag nichts gegessen und dein Zeug hier duftet unverschämt gut. Ich deck freiwillig den Tisch.«

Im Endeffekt half Sarada den Tisch zu decken und es dauerte dreimal länger als wenn Ino es alleine gemacht hätte. Das Mädchen ließ es sich nicht nehmen, jeden Teller, jede Gabel und jedes Glas einzeln behutsam zum Esstisch zu tragen, wo Ino die Sachen entgegennahm und wahllos hinstellte. An halben Drehtagen aß sie selten. Mit vollem Magen schauspielerte es sich nicht gut, schon gar nicht, wenn man eine depressive oder anderweitig psychisch kranke Rolle verkörperte.

Es war exakt die Sekunde, in der Sakura Reis, Gemüse und Fleisch in die Tischmitte gestellt hatte, als das Universum entschied, sich gegen Ino zu verschwören, und ihre Türglocke läuten ließ. Sie hatte seit Wochen nichts mehr im Internet bestellt. Das konnte nur eines bedeuten.

In böser Vorahnung stand sie auf. »Falls es Sasuke ist, soll ich ihm sagen, dass er abhauen soll?« Die Frage war nonchalant herausgekommen, mehr wie ein Witz, trotzdem wurde Sakura schlagartig blass um die Nase. Ihre Tochter reagierte weder auf die Türglocke noch auf die Erwähnung ihres Vaters. Dann würde Ino eben selbst entscheiden, je nachdem wie Sasuke sich benahm. Die Chancen standen gut, dass er ihr einen Grund für ein paar kreative Schimpfwörter geben würde; sein Klingeln war stürmisch und ungeduldig.

Durch den Spion verifizierte sie den Besucher und riss schwungvoll die Tür auf, eine Hand in die Hüften gestemmt. »Das ist kein Altersheim, unser Gehör ist ausgezeichnet«, blaffte sie, nur geringfügig mehr genervt als feindselig. »Was willst du, Sasuke?«

Sasuke konterte ihren Tonfall mit tiefem Brummen. »Mit meiner Frau sprechen.«

»Kannst du vergessen. Wir essen gerade in Frieden und Harmonie und du störst.«

»Halt dich aus unserer Ehe raus. Und jetzt hol Sakura.«

»Hör auf, mich anzukeifen. Du siehst aus wie ein tollwütiger Chihuahua –«

»Ino«, hielt eine Stimme hinter ihr sie zurück. Sakura trat an die Tür, die Arme verschränkt und die Lippen abweisend verzogen. »Schon gut. Könntest du eine Weile mit Sarada spazieren gehen?«

Teufel, nein!, wollte sie rufen. Sie hatte verdammten Hunger und da drin gab es Hausmannskost! Doch Sakuras Tonfall war so ernst, dass sie keine Wahl hatte. »Also schön«, seufzte Ino wenig begeistert. »Ruf mich an, wenn du mich brauchst.«

Sakura nickte und Ino sammelte Sarada samt Sushi-chan und einer dünnen Weste ein. Als sie nach draußen ging, schickte sie einen letzten warnenden Blick zu Sasuke. Er kniff die Augen zusammen, als wäre die ganze Sache ihre Schuld. Hinter der ersten Ecke hielt Ino an, wartete einige Minuten, bis sie sicher war, keine Schreie zu hören. Sie schüttelte den Kopf über ihre unangebrachte Neugierde. Das war, was es war. Natürlich auch ein wenig Sorge, aber die beiden waren erwachsen und konnten ihre Angelegenheiten selbstständig regeln. Sakura zumindest. Bei Sasuke war sie sich nicht so sicher.

Mit einem kurzen Blick in den klaren Himmel erinnerte sie sich daran, dass sie immer noch Hunger hatte. »Deine Eltern sind gemein«, murmelte sie zu Sarada, die mit Sushi-chan um ihre Schulter hing. »Werfen uns einfach raus und lassen das Essen kaltwerden. Schande. Was machen wir denn jetzt? Du hast auch Hunger, oder?«

Sarada sah sie aus großen Augen an, als müsste sie ernsthaft überlegen. Schließlich war sie zu einer Entscheidung gekommen, öffnete den Mund weit und deutete mit ihrem Finger hinein.

»Fabelhaft. Ich vermute mal, Grünkohlsmoothies sind nicht so dein Ding, hm?« Das Mädchen schüttelte angewidert den Kopf. »Kluges Kind. Also, wo sollen wir hin? Deine Mama hat einen ganz schön langen Atem, wenn sie mal loslegt, weißt du? Das wird länger dauern«, überlegte sie laut weiter. So ein Kind war praktischer als gedacht. Während sie die belebte Straße entlangging, sah sie niemand ob ihrer Selbstgespräche irritiert an.

Bei einer Fußgängerampel verzog Ino das Gesicht zu einer Grimasse. Sie wusste genau, wo sie hinwollte. Die UCHIHA Corp. war fußläufig in fünf Minuten erreichbar und obwohl Itachi nicht direkt nach einem Wiedersehen gefragt hatte, hatte er letztes Mal nicht allzu abgeneigt gewirkt.

Mit Sarada auf dem Arm zog sie mit der freien Hand ihr Smartphone aus der Hosentasche und wählte Itachis Nummer. Es war das erste Mal, dass sie ihn anrief. Es klingelte ein paar Mal, dann landete der Anruf in der Sprachbox.

»Ah, natürlich«, sagte sie alibihalber zu Sarada. »Dein hart arbeitender Onkel hat selbstredend keine Zeit für zwei arme Verstoßene wie uns – sieh an!« Sie hatte kaum den Satz zu ende gesprochen, da hatte sie einen Rückruf auf dem Display. Wie jeder andere normale Mensch in diesem Jahrzehnt, mied sie Telefonate grundsätzlich, weswegen ihr Herz einen aufgeregten Sprung machte, als sie abhob. Genau. Die Erinnerung an Itachis verschwitzten Körper neulich hatte gar nichts damit zu tun.

»Yo«, rief sie beschwingt. »Das ging ja fix.«

»Soll ich nochmal auflegen?«

Ein Scherz, wie süß! »Nein, aber du kannst etwas anderes für mich tun. Dein Bruder hat mich und deine Nichte aus meiner Wohnung geworfen und jetzt brauchen wir Asyl«, erklärte sie. »Wie ich Sakura und ihn kenne, werden sie sich stundenlang streiten. Sarada ist zwar eine reizende Gesellschaft, aber wenig gesprächig.«

Sie hörte ihn in irgendwelchen Unterlagen blättern, im Hintergrund telefonierte jemand sehr laut. »Ich habe noch einiges zu tun, aber wenn ihr wollt, könnt ihr in meinem Büro warten. Sieh es als Entschädigung für Sasukes –«

»Idiotie? Dämlichkeit? Arrogante Anmaßung und selbstherrlichen Egoismus?«

»Unhöflichkeit.«

Sie rollte lachend die Augen. »Ja, das auch. Bis gleich.«

Im Fastfoodladen ihrer Wahl war die Hölle los, darum kam sie erst eine viertel Stunde später an der Rezeption der UCHIHA Corp. an. Wie beim ersten Mal war das Foyer auch diesmal beeindruckend weitläufig. Mittlerweile war sie der festen Überzeugung, dass absichtlich fast kein Mobiliar herumstand, um die Halle noch riesiger wirken zu lassen. Sie meldete sich bei der Empfangsdame an und beobachtete sie dabei, wie sie skeptisch Itachis Durchwahl wählte und ein wenig unschlüssig den merkwürdigen Besuch durchsagte. Ihre Skepsis wurde zu Verwunderung, als er ihr offenbar sagte, die blonde Dame und das Kleinkind zu ihm zu schicken.

Aus einem irrationalen Grund fühlte es sich triumphal an, in Birkenstocks, Jerseyshorts und mit einer Tüte Fastfood durch die heiligen Hallen eines prestigeträchtigen Weltkonzerns zu wandern und vor Itachis persönlichen Assistentin aufzuschlagen, die Ino lediglich mit einem Wink hereinbat, während sie jemandem am Telefon sehr laut und sehr deutlich erklärte, dass man so kurzfristig keinen Termin mit Uchiha-sama bekam.

Uchiha-sama, hmmm.

»Tut mir leid. Schwerhöriger Einkäufer«, sagte sie, während der Mann am anderen Ende der Leitung in einen langatmigen Monolog vertieft war. »Mein Name ist Shirogane Reina. Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Yamanaka-san. Uchiha-sama erwartet Sie bereits, gehen Sie bitte einfach durch. Falls sie etwas benötigen, bin ich gerne für Sie da.«

Die Verbeugung fehlte, aber auch so war Ino mit der übermäßigen professionellen Höflichkeit überfordert. »Ähm, cool. Danke«, sagte sie und stieß die Tür auf, die Shirogane gemeint hatte. Was sich dahinter offenbarte, war wenig überraschend.

Das Büro war nüchtern und praktisch eingerichtet, dennoch hochwertig, sodass Ino fast ein schlechtes Gewissen hatte, die aufgeräumte Atmosphäre mit dem Geruch ihres Fastfoods zu torpedieren. Itachi sah von seinem Computer auf. Durfte man überhaupt so unverschämt gut aussehen in gelockerter Krawatte und aufgekrempeltem Hemd? Frechheit. Sie hob die Essenstüte hoch.

»Hey. Wir haben Essen dabei. Hunger?«

»Ich hatte nichts bestellt.« Er stand auf, um ihr die Tüte abzunehmen und Saradas Händchen zum Gruß zu schütteln, wobei er so unbeholfen aussah, dass es fast schon niedlich war.

»Eine Aufmerksamkeit des Hauses. Dein dämlicher Bruder hat mich um Sakuras selbstgemachte Yakitori gebracht, darum tilge ich meinen Frust mit dem fettigsten Fastfood, das ich finden konnte.«

Mit einer Kopfbewegung lud er sie ein, weiter in sein Büro zu treten. Hinter ihr schloss er die Tür. Die Szene wäre sexy und verheißungsvoll gewesen, wäre Saradas Anwesenheit nicht ein klares Indiz dafür gewesen, dass hier und heute nichts Unzüchtiges geschehen würde.

»Nettes Büro«, kommentierte sie mit Blick aus der riesigen Fensterfront, die in Itachis Rücken über die gesamte Wand verlief. »Kein Wunder, dass du so ein spießiger Workaholic bist.«

»So spießig bin ich hoffentlich nicht«, sagte er. Mit einer freien Hand machte er auf seinem Schreibtisch Platz für das Essen. Während er sich wieder in den überdimensionierten Chefsessel sinken ließ, nahmen Ino und Sarada die Besucherstühle in Beschlag, von wo aus das Mädchen die einzelnen Essensverpackungen ausräumte und ordentlich auf dem Schreibtisch platzierte.

»Dieses Kind ist außerordentlich gut erzogen«, meinte Itachi. »Ich frage mich, wie Sasuke das hinbekommen hat.«

Ino überschlug die Beine. »Können wir nicht von Sasuke reden? Für heute hab ich die Nase voll von ihm. Dein Vater ist anstrengend, Sarada, ist dir das bewusst?«

Doch Sarada war zu beschäftigt mit all den raschelnden Tüten, in denen sie irgendetwas vermutete. Sie begann zu wimmern und zu schniefen, als sie es nicht fand.

»Was hat sie denn?«, fragte Itachi.

Ino zuckte die Schultern, »woher soll ich das wissen? Vielleicht hat sie Durst? Trägt sie Windeln? Ist sie stubenrein?«

»Sie ist keine Katze.«

»Soweit wir wissen«, schränkte sie mit betontem Ernst ein, »wer weiß, welche Sexpraktiken Sasuke und Sakura –«

»Nein«, unterbrach Itachi sie bestimmt. »Du kannst diesen Satz nicht zu Ende bringen.«

Amüsiert brach Ino ihre Einwegstäbchen auseinander und nahm eine Minifrühlingsrolle auf. Es war schwer zu sagen, ob sein entsetzter Gesichtsausdruck oder sein verzweifelter Tonfall lustiger war. »Die menschliche Fantasie ist grotesk, hm? Hat Sasuke eigentlich Haare auf der Brust? Ich hab ihn nie in Schwimmsachen gesehen.«

»Bitte hör auf.«

Lachend stopfte sie sich die ganze Rolle in den Mund und stöhnte genüsslich auf. Sarada tat es ihr gleich, als sie ihr eine gebackene Garnele anbot. Die Freude hielt nicht lange an. Mit ein paar Bissen war das Mädchen satt und ihre Lippen begannen einmal mehr zu beben.

»Mist, den Ausdruck kenn ich«, meinte Ino. »Gleich fängt sie an zu heulen. Hey, Sarada, nicht weinen, ja? Was möchtest du denn? Essen? Trinken? Musst du aufs Töpfchen? Itachi, jetzt hilf hier doch mal, sie ist deine Nichte!«

Abwehrend hob er die Arme. »Du hast sie mitgebracht. Als Sasuke kleiner war, hab ich ihn vor den Fernseher gesetzt, wann immer er mir auf die Nerven gegangen ist. Funktioniert vielleicht hier auch?«

Schlagartig begannen Saradas Augen vor Begeisterung funkelnd. »Owa! Owa!«

»Oh ja?«, wiederholte Itachi.

Ino korrigierte, »Otter. Sie meint Otter. Sakura hat ihr gestern einen meiner älteren Auftritte in einer Gameshow gezeigt, seitdem will sie ständig den dummen Clip sehen. Wage es ja nicht!«

Zu spät. Itachi hatte das Video längst im Internet gefunden. Eine Sekunde später ertönte das verhasste Intro. Es war eine dämliche japanische Show, mit der ihr Management versucht hatte, ihren Erfolg in Amerika auch in Japan zu konsolidieren. Der Versuch war mäßig erfolgreich gewesen, der Preis die ewige öffentliche Lächerlichkeit. Vierzehn Millionen Klicks. Was machte einer mehr?

»Also schön«, resignierte sie. »Wenn du jede Achtung vor mir verlieren willst, spring zu Minute dreißig.«

Bevor Itachi dazu kam, boykottierte Sarada den Verusch. Die Garnelen mit beiden Händen mampfend, verteidigte sie die Computermaus gegen jede Störung. Sie wollte die ganze Show in all ihren schrillen Farben sehen, sodass er er seine Hände zurücknehmen musste.

»Die Kleine ist echt herrisch«, bemerkte Ino. Gut zu wissen, dass sie sogar ihren Onkel in die Flucht schlug. »Hat sie von Sakura.«

»Eindeutig.«

Eine kurze Pause entstand, die nur von der aufgeregten Stimme der beiden Moderatoren im Video durchbrochen war. Für eine Minute aßen sie weitgehend schweigend, dann hielt Ino die Stille nicht mehr aus. »Was genau machst du hier eigentlich, dass du so ein schickes Büro brauchst?«

»COO«, sagte er, als wäre das eine Antwort. In seiner Welt war es das wohl auch. »Das bedeutet Chief Operating Officer. Ich leite das operative Geschäft, also die Prozesse im Betrieb, und ich steuere die Gewinne.«

Ihre Frühlingsrollen waren vernichtet, nun war sie bei den Tintenfischringen angelangt. »Klingt wie ein nichtssagender Wikipedia-Artikel. Was machst du wirklich den ganzen Tag? Rein praktisch gesehen.«

Die Frage schien ihn zu überraschen. Offensichtlich dachte er zum ersten Mal darüber nach. »Ich … im Grunde plane ich Strategien, um das Unternehmen weiterzuentwickeln. Ich treffe Entscheidungen, behalte den Überblick über die Richtung und den Status der Firma und kontrolliere die Abteilungsergebnisse. Wenn die Zahlen nicht stimmen, versuche ich, mit den Abteilungsleitern Strategien zu entwickeln, um sie wieder hinzubekommen.«

»Du mischst dich also in alles ein und sagst den Leuten, wie sie ihren Job machen sollen«, fasste Ino zusammen. »Klingt wie etwas, worin du echt gut bist.«

»Danke«, sagte er sarkastisch. »Aber ja, ich bin gut in dem, was ich tue. Findest du das merkwürdig?«

Sie schüttelte den Kopf. »Im Gegenteil, ich beneide dich um deinen Ehrgeiz. Einmal in Argentinien haben wir Tag und Nacht gedreht, um den gottverdammt besten Film der Welt zu machen. Hat nicht ganz funktioniert, aber wir hätten keine Sekunde weniger arbeiten wollen.«

»Jetzt nicht mehr?«

Wieder so eine direkte Frage, die wie ein Feuerpfeil gegen ihre heitere Fassade prallte. Itachi hatte eindeutig ein Talent dafür, sie Dinge zu fragen, über die sie eigentlich gar nicht nachdenken wollte. »Jetzt lebe ich in den Tag hinein und versuche mit minimalem Aufwand die maximale Gage zu verdienen. Irgendwie muss ich ja meine Schuhkollektion finanzieren.«

»Frauen und Schuhe. Das war mir schon immer ein Rätsel. Ich war einmal mit meiner Ex einkaufen und es war ein furchtbar ödes Erlebnis. Wie viele Schuhe braucht eine Frau überhaupt?«

»Gegenfrage. Ich besitze etwa vierzig Paar Schuhe. Wie viele Krawatten besitzt du?«

»Touché.« Die genaue Anzahl erfuhr sie nicht, stattdessen beobachtete er sie dabei, wie sie weiterhin mit Genuss das Fastfood verzehrte. Wie er sie ansah, war nicht unangenehm oder verurteilend, eher nachdenklich. Die gesamte Atmosphäre war ein wenig langsamer geworden, schwerer, weil diesmal sie eine Frage gestellt hatte, die etwas in ihm auslöste. »Darf ich dich etwas fragen, Ino?«

Sie nickte, weil ihr Mund mit Sushi gefüllt war.

»Hast du jemals bereut, Schauspielerin geworden zu sein?«

Sie hatte mit allem gerechnet, nur nicht damit. Völlig unvorbereitet klappte ihr Mund auf, dann wieder zu. Natürlich hatte es Tage geben, an denen sie ihre Karriere verflucht hatte. Hundertfach hatten ihre Drehpläne ihr Privatleben durchkreuzt, hatten verhindert, dass sie Sakuras Brautjungfer war oder am Begräbnis ihres Vaters teilnahm. Aber das waren die Opfer, die man bringen musste, nicht wahr? Niemand bekam etwas umsonst.

»Keine Ahnung«, antwortete sie schließlich. »Wieso fragst du?«

»Nur einer meiner sinnloseren Gedankengänge«, behauptete er, aber die langsame Stimmung war schwer geworden. Ernst. Erdrückend. Ino war unendlich froh, als Saradas vergnügtes Quietschen ihren Auftritt ankündigte.

Ino wusste, was jetzt kam. Mit so viel Restwürde, wie sie aufbringen konnte, akzeptierte sie ihr bitteres Schicksal und beobachtete sich selbst einmal mehr dabei, wie sie in Knieschützern und Helm an eine Startlinie trat. Neben ihr ließ eine Tiertrainerin den animalischen Gegner von der Leine. Von allen dämlichen Viechern auf der Welt hatte der Produzent dieses Segments ausgerechnet die Idee gehabt, Yamanaka Ino in einem Hindernisparcours gegen einen verdammten Otter antreten zu lasen.

»Zugegeben«, kommentierte Itachi die Aufstellung, »damit habe ich nicht gerechnet.«

Das Startsignal ertönte, Ino und Otter liefen los. Das Tier war enorm gut trainiert gewesen. Noch heute konnte sie sich lebhaft daran erinnern, wie sie auf dem skurrilen Parcours um jeden Zentimeter Vorsprung gekämpft hatte. Für die meisten Hindernisse gab es keine offizielle Bezeichnung, irgendein Verrückter hatte sie sich wohl in einem dunklen Kämmerchen ausgedacht, ohne zu bedenken, dass echte Menschen darüber laufen würden. Die Konstruktion war über einem langläufigen Wassergraben aufgebaut, der gleich eine wesentliche Rolle spielen würde.

Vierzig Sekunden nach dem Start schlug Ino sich gut. Sie war gerade über eine schräge Wand geklettert, hatte eine halbe Sekunde Vorsprung, als sie den Halt verlor, fehltrat und mit einem entsetzten Schrei über die Rückseite der Wand nach unten purzelte. Auf einem Trampolin landete, seitlich hochgeschleudert wurde und natürlich auf dem Nachbarparcours landete. Den Otter erfasste. Mit sich nach unten zog in den Wassergraben.

Und Itachi schrie auf – nein, lachte so laut, dass Ino erschrak. Er warf den Kopf in den Nacken, presste eine Hand gegen den Bauch und lachte einfach nur. Unkontrolliert, laut, fast schon hysterisch. Gerade als er sich einigermaßen gefangen hatte, biss der Otter in Inos Ohr, ließ sie aufheulen und zu Boden fallen, wo sie wild im seichten Wasser strampelte. Das gab ihm den Rest.

Sein eben erst leiser gewordenes Lachen schwoll erneut an und mit seiner zweiten Hand verdeckte er sein Gesicht, damit er keine weitere Sekunde mehr bezeugen musste. Andernfalls hätte es ihn wahrscheinlich von innen heraus zerrissen.

Leider war die Szene noch nicht vorbei. Helfer kamen angerannt, stolperten im Wasser herum und versuchten, Ino zu helfen, was den Otter nur noch aggressiver machte. Dann hatte endlich jemand im Filmstudio die Güte besessen, eine ungeplante Werbepause zu schalten. Nach der Überblendung ging es im Studio weiter.

Itachi brauchte eine volle Minute, um sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Die Reaktion war normal, jeder Zuseher hatte ähnlich reagiert, manche sogar noch heftiger. Doch Itachi in schallendem Gelächter zu sehen, war seltsam. Erst da fiel Ino auf, dass sie weder ihn noch Sasuke jemals hatte lachen sehen. Verschmitzt grinsend, überlegen lächelnd, hämisch kichernd, ja, aber niemals einfach nur ehrlich lachend, weil die dargebotene Komik die Selbstbeherrschung überstieg.

Das war etwas wert, nicht wahr?

Räuspernd richtete er seine verrutschte Krawatte und setzte sich wieder gerade hin. Mit dem Zeigefinger wischte er eine kleine Träne aus dem Augenwinkel. »Tut mir leid, Ino. Das hat mich eiskalt und unvorbereitet erwischt. Das muss wehgetan haben.«

Ihre inbrünstige Bejahung wurde durch den Klingelton ihres Smartphones unterbrochen. Sakuras Foto und Name blinkten auf dem Display. Fast hatte Ino vergessen, weswegen sie hier mit Sasukes Bruder rumsaß und sich dämliche Videos ansah. »Entschuldige mich kurz.« Sie wandte ihm den Rücken zu, als änderte das irgendetwas daran, dass er sie perfekt hören konnte.

»Ino!«, rief Sakura, sobald Ino den Anruf angenommen hatte. »Du musst mir packen helfen.«

»Großartig! Also habt ihr euch wieder versöhnt –«

»Ich muss weg, Ino. Nicht nur ein paar Blocks. Weit weg.«

 
 

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Heimkehr


 

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Konoha, Japan; 11 Jahre zuvor

 

»Du kannst mich nicht abhalten!«

Inos Gesicht war hochrot, ihre Augenbrauen zornig verengt, ihr Puls durch die Decke gegangen. Eben noch hatte sie letzte Fotos mit ihren Schulfreunden gemacht, Nummern ausgetauscht und sich mit Sakura für einen Einkaufsbummel morgen verabredet. In einem Monat würden sie zusammen nach Tokio ziehen, dafür brauchten sie dringend passende Kleidung.

Nun scheiterte sie daran, Worte zu finden, die ihre Wut und Enttäuschung beschrieben. Ihre Mutter betrachtete ihr aufgeregtes Äußeres, wusste sehr genau, was sich in ihrem Inneren abspielte.

Tausend Mal hatten sie diese Diskussion geführt. Tausend Mal hatte sie ihrer Mutter klargemacht, dass sie den dämlichen Blumenladen nicht übernehmen würde. Sechste Generation – na und? Was konnte sie dafür, in diese Familie hineingeboren worden zu sein? Warum musste sie ihre Träume dafür aufgeben? Das hatte sie sich schon so oft gefragt.

 Und dieses Mal würde das letzte sein.

Sie stürmte hinauf in ihr Zimmer. Hörte sich nicht an, was ihre Mutter zu sagen hatte. Es war immer dasselbe; Ino hatte ein Talent für Blumen, für Ästhetik und für Farben. Es war ihre Pflicht und ihr Privileg, dieses Talent im Blumenladen der Familie fortzuführen.

Als sie ihre Habseligkeiten in ihren Koffer warf, war ihr bewusst, dass sie eben eine selbstsüchtige Entscheidung getroffen hatte. Sie konnte ihre Mutter verstehen. Mit ihrer Weigerung, das Familienunternehmen weiterzuführen, zerstörte sie das Lebenswerk von fünf Generationen. Ein Stück Geschichte. Bei der Gründung war er eines der ersten Geschäfte Japans gewesen, das offiziell einer Frau gehört hatte. Der Stolz ihrer Familie. Ein Symbol für alles, was die Yamanakas waren. Unabhängig, stark, widerstandsfähig. Der Laden hatte den Ersten Japanisch-Chinesischen Krieg überlebt, den Zweiten Weltkrieg, die Verlorene Dekade. Nach zweihundert Jahren stand er immer noch dort, wo ihre Urururgroßmutter ihn erbauen hatte lassen.

Aber ihre Mutter machte sich keine Mühe, sie zu verstehen. Warum sollte Ino dann die Erwachsene sein? Sie war bereit, alles zu opfern. Nur nicht für eine Karriere als Floristin.

»Wo willst du hin?« Der Blick ihrer Mutter bohrte sich in ihren Rücken. Ino stand vor der Haustür, den Koffer in der Hand, einen Rucksack um den Rücken. »Wenn du jetzt gehst, will ich dich nie wiedersehen.«

Ino drehte sich nicht um. Wollte – konnte der Frau nicht in die Augen sehen, die sie vor eine derartige Wahl stellte. In Wahrheit war es keine Wahl. Es gab keine Alternative, gab es seit langem nicht mehr.

Langsam fasste Ino in ihre Hosentasche und zog den Schlüsselbund heraus. Eine violette Blume aus Perlen bildete das Herzstück, rundherum waren Schlüssel für Haus, Gartentor und Briefkasten befestigt. Er wog kaum mehr als das Nagellackfläschchen, das sie gestern aufgebraucht hatte, und doch lag er so viel schwerer in ihrer Hand. Zu schwer.

Sie streckte die Hand zur Seite aus.

Ließ ihn zu Boden fallen.

Und ging.
 

 

Konoha, Japan; Gegenwart

 

»Als du weit weg gesagt hast, hab ich nicht mit einer Reise ans Ende der Welt gerechnet«, seufzte Ino und lehnte sich tief in ihren Sitz zurück. Der Blick aus dem Zugfenster offenbarte hohe Berge und weite Wälder. Es war so kitschig ländlich wie auf einer Postkarte. Widerlich. Sie hatte ganz vergessen, was für ein Landei sie eigentlich war.

Sakura sah von ihrer Zeitschrift auf. »Konoha ist doch nicht das Ende der Welt. Meine Eltern haben Sarada seit einem Jahr nicht mehr gesehen, während Mikoto-san ständig bei uns rumhängt. Sarada soll in dem Bewusstsein aufwachsen, dass sie zwei Großelternpaare hat.«

»Wieso muss ich dafür büßen, dass Sasukes Mutter aufdringlich ist?«

»Jetzt mach kein Drama«, sagte Sakura. Beiläufig gab sie Sarada ein Bilderbuch aus dem Rucksack. »Konoha ist meine Heimat. Und deine auch.«

Ja. Genau das machte Ino Angst.

Halbherziger Smalltalk beherrschte die restliche Fahrt. Sakura wollte ihren Streit mit Sasuke um keinen Preis ansprechen und Ino versuchte, ihre schlechte Laune in Zaum zu halten. Über Itachi wollte ebenfalls keine der beiden reden. Ino hatte zwar ihren Ausflug in sein Büro erwähnt, aber Sakura schien sich dazu nicht äußern zu wollen. Also begnügte sie sich damit, ab und an auf ihr Smartphone zu schielen, um ja keine Nachricht zu verpassen. Falls denn eine kam. Im Moment sah es nicht so aus.

Konohas Bahnhof war klein, um nicht zu sagen winzig. Es gab einen Bahnsteig, auf dem im Dreistundentakt Züge in abwechselnden Richtungen hielten und die wenigen Fahrgäste ausspuckten, die sich hierher verirrt hatten. Und Verirrung war die einzige Möglichkeit, hier zu stranden. Tourismus gab es kaum, Import und Export hielten sich in Grenzen. Die flache Umgebung machte es leicht, das Dorf fast ausschließlich mit lokalen Produkten zu versorgen. Luxusgüter wie Autos und hochspezialisierte Güter wie Medizinprodukte oder Klimaanlagen waren die einzigen Dinge, die eingeführt wurden. Konoha hatte es nie notwendig gehabt, sich mit der Außenwelt zu verständigen. Vielleicht war das der Grund, warum die Architektur und die Kultur hier so untypisch waren für den Süden Japans.

Neben einem Getränkeautomaten, der seit zwanzig Jahren nicht mehr funktionierte, hatte der Bahnhof nichts zu bieten. Darum fielen Sakuras Eltern am Bahnsteig auch sofort auf. Wie bestellt winkten Mebuki und Kizashi aufgeregt, nur für den Fall, dass Sakura vergessen hatte, wie sie aussahen, und umarmten sie freudig. Sie waren gerade einmal vier Erwachsene und ein Kleinkind, doch das Kuddelmuddel an Gliedmaßen und freudigen Ausrufen war Ino fast zu viel heimelige Herzlichkeit. Weder Mebuki noch Kizashi kümmerten sich darum.

"Ino-chan!", rief Mebuki und zog sie in ihre Arme. Kizashi klopfte ihr kameradschaftlich auf die Schulter, »Es ist so schön, dich wiederzusehen.«

Es war erdrückend. In L.A. hatte sie die schwierige Beziehung zu ihrer Mutter niemals erwähnt. Sie hatte auch nie vom Heimweh erzählt, das jeder verpasste Anruf ihres Vaters in ihr auslöste. Hier wusste es jeder. Ino schluckte.

»Auch schön, euch wiederzusehen. Es ist ewig her.«

»Allerdings!«, lachte Kizashi. Mit seiner großen Hand nahm er sie ein paar Zentimeter zur Seite. »Seit Sakura uns gesagt hat, dass ihr kommt, diskutieren wir, welche Pose am besten für das Wiedervereinigungsfoto wäre. So vielleicht?« Er streckte einen Arm gen Himmel und hob den zweiten über seine Augenbrauen. »Oder wir könnten auch …«

Mebuki ließ von Sakura ab und schüttelte den Kopf. »Jetzt kommt erstmal mit nach Hause. Ihr hattet bestimmt eine lange Fahrt und seid erschöpft. Ich habe Teppanyaki vorbereitet. Du kannst bei uns übernachten, Ino-chan.«

Mist, daran hatte Ino gar nicht gedacht. Konoha verfügte über eine einzige Gästepension mit vier Zimmern, die ihren Ansprüchen ja sowas von nicht genügten. Ihr Elternhaus war ebenfalls keine Option. »Danke, das wäre toll«, meinte sie in vollem Bewusstsein, wie skurril es war, im Nachbarhaus ihres Elternhauses zu nächtigen.

Sakura schnaubte. »Wehe du machst dich wieder so breit wie früher. Ich hab heute noch blaue Flecken von deinen Versuchen, mich aus meinem Bett zu werfen.«

Die Fahrt zum Haus der Harunos über wurden sowohl Sakura als auch Ino ausgequetscht – wie ging es Sakura im Job, hatte sie endlich die fünf Schwangerschaftskilo verloren, wo wohnte Ino in Tokio, war sie mittlerweile liiert, wie lange gedachte sie in Japan zu bleiben? Auf die letzte Frage konnte Ino nur vage antworten. Sie war ein internationaler Star, hatte in Hollywood gedreht und war auf einem Dutzend Cover verschiedenster Hochglanzmagazine erschienen. Natürlich nahmen Mebuki und Kizashi an, dass sie lediglich für ein oder zwei Projekte auf der Durchreise war.

Bis zum Abendessen hatte Ino von den meisten nennenswerten Dreherlebnissen und Pannen erzählt und Sakura hatte bewiesen, dass sie noch in ihre alten Hosen passte. Mit etwas Nachdruck zwar, aber niemand wollte kleinlich sein. Es animierte sie dazu, beim Teppanyaki doppelt zuzulangen. Mebuki hatte sich ihrer Enkeltochter angenommen, schnitt ihr Fleisch und Gemüse in mundgerechte Häppchen, während Kizashi das Kind mit allerhand Grimassen und Tiergeräuschen bespaßte. Die beiden waren so zuckersüß mit dem Mädchen, dass Ino fast das Herz aufgegangen wäre, hätte sie in ihrem Kopf Platz gehabt für einen positiven Gedanken.

Denn mit all der heimeligen Heiterkeit kam die Realisation, dass ihre Mutter im Haus nebenan saß, wahrscheinlich in ein neues Blumenarrangement vertieft. Rüberzugehen und Hallo zu sagen, würde unangenehm werden. Doch sie aktiv zu meiden würde bedeuten, sich schuldig zu fühlen. Das tat sie nicht.

»Sieh an«, sagte Sakura plötzlich mit Blick auf ihr Smartphone. »Naruto hat Wind davon bekommen, dass wir im Dorf sind. Er lädt uns auf ein Bier ein. Jetzt. Lust?«

Oder floh einmal mehr wie der Feigling, der sie war.

Die Entscheidung war viel zu einfach.
 

 

Seit sie Sasuke gesagt hatte, dass er sich zum Teufel scheren konnte und ihn mit beiden Händen vor Inos Tür gesetzt hatte, herrschte Funkstille zwischen Sakura und ihm. Sie konnte nicht einmal mehr rekapitulieren, warum der Streit schon wieder eskaliert war. Inzwischen war es seine gesamte arrogante Art, die sie nicht mehr ertragen konnte. Diese Selbstverständlichkeit, mit der er ihr fast schon befohlen hatte, ihre kindische Rebellion sein zu lassen und nach Hause zu kommen. Sein komplettes Unvermögen, den Grund für ihre Unzufriedenheit zu verstehen.

Als Sakuras Smartphone exakt vierundzwanzig Stunden später piepte, hoffte sie für einen Moment, dass es ihr Mann war. Sie hasste sich dafür. Aber es war nur eine Textnachricht von Naruto, der sie zum Ausgehen einlud.

Mebuki hatte die Gelegenheit ergriffen und die beiden Frauen regelrecht aus dem Haus gescheucht, wahrscheinlich, um ihre Enkelin ohne die kritischen Augen ihrer Tochter verwöhnen zu können. Sakura achtete sehr darauf, wie viel Zucker Sarada am Tag aß und wie viel sie fernsah. Kein Zweifel, dass das Mädchen heute den Himmel auf Erden erleben würde.

Auf dem Weg in ihre alte Stammkneipe versuchte Sakura, nicht allzu sehr darüber nachzudenken, wie hyperaktiv Sarada nach einer Schüssel Cornflakes am Abend sein würde. Das war offiziell das Problem von Oma und Opa. Sie versuchte auch nicht daran zu denken, wie sehr Sasuke es verurteilte, wenn Sakura ihr sinnfreie Kinderserien zeigte oder kitschigen Mädchenkram kaufte.

Sie ist eine Uchiha, zieh sie nicht an wie eine Prinzessinnenpuppe, hatte er immer wieder gesagt. Diese Fixation auf seinen dämlichen Familiennamen war ihr unbegreiflich.

Sie ist vor allem ein vierjähriges Mädchen!, hatte sie immer wieder geantwortet, wenn sie in einem Feenkostüm in den Kindergarten gehen will, dann soll sie!

Sie schüttelte sich aus ihren Erinnerungen, ehe sie wütend werden konnte.

»Sasuke?«, fragte Ino neben ihr. Sie waren einige Minuten schweigend Konohas enge Straßen entlangspaziert, Sakura in Gedanken und Ino in ihr Smartphone versunken.

»So offensichtlich?«

»Du schnaubst ohne direkt ersichtlichen Grund und hast eben deinen Mann verlassen. Ist nicht schwer zu erraten, meine ich.«

»Ich hab ihn nicht verlassen …«, korrigierte Sakura. Sicher war sie sich nicht darüber. »Noch nicht. Denke ich. Ich weiß nicht.«

Tat sie wirklich nicht. Seit sie in Konoha war, schwankte sie zwischen Wut und Traurigkeit. Um diese Uhrzeit waren die Straßen menschenleer und die Stille so ländlich verschlafen, dass es fast schon wehtat. Jede Sekunde schien hier ein bisschen langsamer zu vergehen als anderswo, ließ sie ein wenig intensiver nachdenken über alles, was vorgefallen war. Nicht gestern oder vor zwei Tagen oder vor einem Jahr, sondern sehr viel früher, in der Mittelschule, als Sasuke so unerreichbare gewesen war. Mittlerweile war sie seine Frau. Die Mutter seiner Tochter. Und er war es immer noch. Unerreichbar.

Ino sah sie eine Weile ernst von der Seite an, teilte ihre rot geschminkten Lippen und schloss sie wieder. Seufzend sagte sie, »Tut mir leid, Sakura. Ich will dir echt gerne helfen, aber mir fällt nicht einmal ein dummer Spruch ein. Siehst du, Sasuke treibt auch mich an meine Grenzen. Wer hätte das gedacht?«

Da war er mal wieder, dieser humorvolle Ernst, der so typisch Ino war und Sakura lachen ließ. Bis heute verstand sie nicht, wie Ino diese Gratwanderung schaffte.

»Ehrlich gesagt will ich gerade nicht über ihn nachdenken. Wahrscheinlich feiert er seine neugewonnene Freiheit mit Überstunden.«

»Mir scheint, das wäre eine allgemeine Krankheit in der Familie Uchiha.«

»Meinst du Itachi-san?«

Einmal hätte sie gerne gesehen, wie ihre selbstbewusste Freundin sich ertappt fühlte oder gar errötete. Nichts da. Ino grinste schief über einen privaten Gedanken und sagte, »Ich bin nicht gerade subtil, hm? Wer hätte auch gedacht, dass dieser zugeknöpfte Langweiler, der Sasuke manchmal nach der Schule abgeholt hat, so ein heißer Typ wird? Das Leben ist skurril.«

Sakura verzog unschlüssig den Mund. In all den Jahren war sie mit Itachi nie warm geworden. Teilweise, weil sie nicht viel gemeinsam hatten. Teilweise auch, weil Sasukes ewiger Konkurrenzkampf mit ihm sie davon abhielt, ihn sympathisch zu finden. Itachi war ihr weniger wie ein zugeknöpfter Langweiler als ein berechnender Selbstdarsteller vorgekommen. Trotzdem schien Ino ihn zu mögen, sie waren alle erwachsen und Sakura hatte keine Intentionen, ihre Freundschaft schon wieder wegen einem Uchiha zu kippen. »Ist es in Ordnung, wenn ich das nicht kommentiere?«

Ino zuckte die Schultern und schulterte ihre Handtasche neu. »Schon gut, ich kann’s mir denken. Falls es dich beruhigt, ich will ihn nicht heiraten. Nur ein bisschen harmlosen Spaß, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Danke. Das Bild meines nackten Schwagers beim Sex war genau das, was mir heute gefehlt hat.« Sakura schauderte. »Wenn ich ehrlich bin, überrascht es mich nicht einmal, dass er gerade bei dir seine Hormone wiederentdeckt.«

»Was soll das denn heißen?«

»Dass ich ihn noch nie habe flirten sehen, außer bei Saradas Geburtstag mit dir. Wie machst du das? Wieso schaffst du das mit so einer Leichtigkeit, wärhend …«

»Du noch immer einem Typen hinterherschmachtest, der dich nicht verdient hat?«, vervollständigte Ino.

Sakura wollte zustimmen. Doch das war es nicht; nicht wirklich zumindest. Die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Lkws ließen sie den Kopf abwenden, vom Gehsteig vor ihr zum Sportplatz auf der anderen Straßenseite, den sie zuvor absichtlich ignoriert hatte.

Wie oft war sie früher dort gewesen, um Sasuke beim Fußballtraining anzufeuern? Selbst nachdem er längst weggezogen war, hatte es sie dort hingezogen. Erst aus Melancholie, dann aus Nostalgie, und irgendwann, weil Naruto dort gewesen war.

»Im Gegensatz zu Sasuke«, brachte sie schließlich heraus. Sie spürte Tränen in ihren Augen aufsteigen, diesmal nicht aus Wut oder Frust, sondern aus trauriger Nostalgie. »Erinnerst du dich, an das Match gegen Suna? Als wir uns die Kehlen rausgeschrieben haben wie bei einem Länderspiel?«

Schon beim flüchtigen Gedanken daran grinste Ino. »Ich erinnere mich vor allem an Sasukes angepissten Gesichtsausdruck, weil er uns so peinlich fand.“

»Er war so leidenschaftlich damals.«

»Und?«

Es war eine berechtigte Frage. Sakura hatte keine Ahnung, was sie damit sagen wollte. Ob sie bereit war, sich zu fragen, ob Sasuke sie jemals geliebt hatte, sie aus eigenem Antrieb geheiratet hatte, mit ihr eine Familie gegründet hatte. Oder ob sie noch immer dasselbe Mädchen war wie damals. Etwas, mit dem er sich abgefunden hatte, weil sie immer da war und er sie sowieso nicht loswurde. Ob sie ihm ihren Traum aufgedrängt hatte. Ob das der Grund war, wieso sie beide unglücklich miteinander waren.

»Keine Ahnung«, sagte Sakura schließlich, schob den emotionalen Mahlstrom in ihrem Kopf zur Seite. Die Bar kam in Sicht und sie wollte keine Trübsal mehr blasen. Mit ein wenig Überwindung zwang sie sich dazu, ihre Schultern hochzunehmen und zu lächeln. Während eines Psychologiscurriculums an der Uni hatte sie einmal gelernt, dass physisches Verhalten Emotionen provozieren konnte. Wer lachte, wurde ein wenig fröhlicher.

Ob es tatsächlich ein psychologischer Effekt war, der ihr Herz leichter werden ließ, oder die ausgelassene Meute, die sich um einen Tisch ganz hinten geschart hatte, war schwer zu sagen. Es war auch vollkommen irrelevant.

»Sakura-chan!«, hörte sie Naruto brüllen. Aufgeregt sprang er auf und lief auf sie zu. Seine Umarmung riss sie fast von den Füßen. Prüfend hielt er sie eine Armlänge von sich, um sie einmal von unten nach oben zu mustern. »Du hast dich gar nicht verändert.«

»Du dich auch nicht«, stellte sie fest.

Die restlichen Anwesenden erhoben sich ebenfalls zu abwechselnden Begrüßungen, Komplimenten und zu – »Hast du etwa zugenommen, Ino?« – den obligaten kameradschaftlichen Beleidigungen. Für die unüberlegte Frechheit kassierte Shikamaru einen Klaps auf den Hinterkopf inklusive einer ausführlichen Erläuterung von Inos strengem Diätplan.

Obwohl nicht einmal die halbe Klasse gekommen war, dauerte die chaotische Begrüßung eine halbe Stunde, und mündete in einer noch chaotischeren Bestellung von Bier, Wein und Limonaden. Dann kamen endlich die Neuigkeiten.

Dass Naruto zum Bürgermeister gewählt worden war und zwei Kinder mit Hinata hatte, war Allgemeinwissen. So ziemlich jeder hatte das Märchen der beiden mitbekommen. Dass er seinen Job als erster Mann des Dorfes, Ehemann und Vater ernst nahm und zur Zufriedenheit aller erledigte, war die eigentliche Überraschung. Andere Dinge waren weit weniger deutlich zu Sakura nach Tokio durchgedrungen. Chōji hatte um die Ecke ein Restaurant eröffnet und war ebenfalls Vater geworden, Kiba trug seine Haare lang und trainierte Drogenspürhunde für die Polizei, Hinata hatte neben ihrer Vollzeitbeschäftigung als Mutter einen gemeinnützigen Verein zur Unterstützung von Schulabbrechern gegründet, Tenten schickte liebe Grüße und ein Foto von den Leichtathletik-Staatsmeisterschaften in Fukuoka und Shikamaru war erst letzten Monat zum Kommissar befördert worden.

»Er darf jetzt offiziell Leute festnehmen«, erklärte Naruto mit einer weitschweifigen Geste, die wohl Gefängnismauern darstellen sollten. Hinata wich in aller Seelenruhe seinen Armen aus, als hätte sie die Bewegung längst antizipiert. Kein Zweifel, dass die beiden ein Herz und eine Seele waren.

»Das durfte ich auch schon vorher, Naruto«, berichtigte Shikamaru. »Außerdem vermeide ich es normalerweise, Personen zu verhaften. Zu viel Papierkram.«

Ino knallte ihre Handfläche auf den Tisch. »Ich hab so gewusst, dass du das sagst! Das ist wie früher, als wir beim Schulturnier im Staffellauf nur den dritten Platz gemacht haben, weil du nicht auf das blöde Siegerpodest klettern wolltest!«

»Das ist doch überhaupt nicht wahr. Wir haben verloren, weil Chōji immer den Sportunterricht geschwänzt hat, um danach beim Mittagessen der Erste in der Kantine zu sein.«

Chōji zeigte sich schnell geständig und sie brachen in Gelächter aus. So ging der Abend weiter, ausgelassen und fröhlich. Anekdoten wurden erzählt, Erinnerungen rekapituliert, Details erfragt. Vor allem Ino wurde über ihre Filmkarriere ausgequetscht und scheute nicht davor zurück, ausgewählte Ausschnitte voluminös wiederzugeben.

Zur Verwunderung aller war sie die erste, die sich verabschiedete. Die ganze Zeit über hatte sie ihr Smartphone überprüft und ein riesiges Geheimnis darum gesponnen, von wem sie eine Nachricht erwartete. Sakura hatte ihr den Spaß gelassen, selbst als sie Opfer der eingehenden Befragung zu diesem Thema geworden war.

Mit Ino entschwanden auch Shikamaru und Chōji, Kiba folgte kurz darauf, als seine Frau ihn aufgeregt am Telefon darüber informierte, dass eine seiner Hündinnen dabei war, Welpen zu werfen. Hinata blieb noch eine halbe Stunde, in der sie sich vorwiegend über ihre Kinder unterhielten, dann ging auch sie, um die Babysitterin abzulösen. Es war weit nach Mitternacht und morgen war ein Arbeitstag.

Zurück blieben Naruto und Sakura auf dem großen Tisch, der von leeren Gläsern und Tellern überquoll. Für sieben Leute hatten sie einen Haufen konsumiert.

»Hoffentlich haben die mich nicht wieder auf der Rechnung sitzen lassen«, maulte Naruto in böser Vorahnung. »Bürgermeister haben echt ein läppisches Gehalt. Hätten die mich nicht mit überwältigender Mehrheit gewählt, hätte ich längst hingeschmissen. Diese Knauserer.«

Sakura hob ihre Geldbörse. »Ich zahle. Das ist das Mindeste, wenn ihr euch schon alle Zeit nehmt.«

»Ach ja, du bist ja jetzt reich. Wie viel Kohle hat Sasuke eigentlich? Arbeitet er immer noch so viel? Du kannst ihm ausrichten, dass ich immer noch sauer bin, weil er nicht auf meiner Hochzeit war.« Naruto lehnte sich auf seinem Sessel zurück und leerte den Rest seines Biers. »Sakura-chan?«

Sie schluckte ihre aufquellenden Tränen, versuchte es zumindest, aber das Wiedersehen hatte sie emotional mürbe gemacht. Diese gelöste Stimmung, die vielen Erinnerungen. Es rief ihr ins Gedächtnis, wie einfach ihr Leben einmal gewesen war. Damals, als Sasuke in einer dieser schicken Privatschulen wichtige Dinge gelernt hatte und sie in der staatlichen Oberschule vom Erwachsenwerden geträumt hatte. Niemals hätte sie mit fünfzehn gedacht, sich später in diese Zeit zurück zu sehen, wo ihre Tage ohne Sasuke so trist und trübe erschienen waren. Und dass sie sich Sasuke heute, wo sie eine Familie mit ihm hatte, kein Stück näher fühlte als früher.

»Ehrlich gesagt, Naruto«, sagte sie mit belegter Stimme und lachte flach, »bin ich froh, dass Sasuke auf unserer Hochzeit war.«

Er lachte mit so viel kompromisslosem, aufrichtigen Mitgefühl, dass sie nicht anders konnte, als ihn zu umarmen. »Soll ich ihn verprügeln?«

»Lieber nicht. Die letzten Male hast du immer gegen ihn verloren.«

»Ich würd’s für dich versuchen. Vielleicht hilft Hinata mir. Sie kann echt gruselig sein, wenn sie will. Iss niemals den Kuchen, den sie für ein Schulfest gebacken hat und neben dem definitiv keine entsprechende Notiz war, egal wie oft sie das behauptet!«

Sakura setzte sich wieder auf. Der Themenwechsel war willkommen und die minimale Eifersucht gut in den Griff zu kriegen. Nach dem Verlust seiner Eltern und dem exzessiven Mobbing an ihm in der Grundschule hatte er es verdient, glücklich zu sein. Sie legte den Kopf schief. »Das ist sehr … spezifisch.«

»Das ist vor allem Verleumdung!«, rief Naruto. »Wir diskutieren das seit einem Jahr und ich schwör’s dir, sie ist nicht von der Wahrheit zu überzeugen. Diese Frau hat einen rechten Haken, das kannst du dir nicht vorstellen. Und Himawari kommt ganz nach ihr.« Er schauderte.

»Himawari ist ein Baby.«

»Na und? Hab ich dir übrigens schon das Foto von Boruto gezeigt, als wir letzten Sommer angeln waren und …«

Sakura lachet. Wenigstens irgendetwas war in dieser Welt noch in Ordnung.
 

 

Ino bezweifelte, dass sie es eine Sekunde länger in der Bar ausgehalten hätte. Das Wiedersehen war humorvoll und nostalgisch gewesen, aber etwas war mitgeschwungen. Etwas, das nur sie wahrgenommen hatte. Es war vage gewesen, so wie bei Sakuras Eltern, als diese beim Abendessen begierig nach den interessantesten Drehorten gefragt hatten.

Der Spaziergang durch die Nacht klärte Inos Kopf, wenn schon nicht ihr Herz, das sich seit ihrer Ankunft in Konoha nervös zusammengezogen hatte und nicht mehr lockerlassen wollte. Niemals hätte sie gedacht, als erwachsene Frau noch einmal herzukommen. Jede Ecke barg so viele emotionale Verbindungen, dass ihr übel wurde.

Dort drüben bei der Ampel hatte ein Modelscout sie angesprochen, gleich daneben am Eisstand waren sie vor ihrem vorletzten Schulfest zusammengekommen, um einen Racheplan für die Nebenklasse zu schmieden, nachdem diese ihre Idee einer Hüpfburg als Klassenattraktion fürs Schulfest geklaut hatten. Und dort vorne, wo das Schultor zum Parkplatz hinausging, war vor fünfzehn Jahren Sasuke in Itachis schwarzen Mercedes gestiegen, den dieser zum achtzehnten Geburtstag oder zur bestandenen Führerscheinprüfung oder einfach so bekommen hatte, um ihn ein allerletztes Mal abzuholen und Ino hatte keine Traurigkeit verspürt, sondern nur Sehnsucht. Ja, verpisst euch aus diesem verfluchten Kaff, hatte sie gedacht, ich bleib hier auch nicht mehr lange.

Ihr Smartphone vibrierte in ihrer Hand. Den ganzen Tag über hatte sie es immer wieder überprüft und sich selbst eingeredet, dass sie auf ein Zeichen von Itachi wartete. Nun, wo sie alleine auf den dunklen Straßen stand, konnte sie die Lüge nicht länger aufrechthalten. Ihre Finger begannen zu zittern, ihr Herz zog sich noch weiter zusammen, ihre Knie wurden weich, weil sie ganz genau wusste, wer sie anrief. Die Nummer war nicht eingespeichert, aber sie kannte sie auswendig. Früher hatte sie sie gewählt, um ihren Eltern auszurichten, dass sie spontan bei Sakura zu Abend aß oder länger als geplant wegblieb. Heute ging sie ran und die Stimme am anderen Ende klang so fremd und falsch.

»Ino.«

Nur ihr Name. Einfach nur ihr Name, natürlich. »Mutter.«

»Mebuki hat mir erzählt, dass du hier bist.«

»Und?«

»Ich habe …« Sie unterbrach sich selbst. »Komm vorbei, wenn du Zeit hast. Es wird nicht lange dauern. Gleich, wenn du kannst. Ich habe eben Feierabend gemacht.«

»Meinetwegen.« Das hatte Ino davon, in die Bar geflohen zu sein. Nun hatte ihre Mutter sie eingeladen, auf ein Heimspiel noch dazu.

Den ganzen Weg zu ihrem Elternhaus versuchte sie, sich eine Ausrede auszudenken, und, als sie keine fand, sich zu wappnen für was auch immer kommen wurde. Sie hatte keine Ahnung. So nahe sie ihrem Vater gewesen war, so schwierig und undurchsichtig war das Verhältnis mit ihrer Mutter immer schon gewesen.

Zehn Minuten später bahnte sie sich ihren Weg durch den dunklen Vorgarten. Die Pflanzen waren perfekt gepflegt, aber das Bewegungslicht war immer noch kaputt, so wie vor drei Jahren, als ihr Vater ihr auf dem Weg zum Baumarkt davon erzählt hatte, bevor er wegen eines Hustenanfalls hatte auflegen müssen. Nur paar Wochen später war er gestorben.

Mit einem tiefen Atemzug verscheuchte sie das beklemmende Gefühl, als ihre Mutter die Tür öffnete.

»Ino. Da bist du ja.«

»Hab ich doch gesagt.«

»Ja.«

Ihre Mutter trat zur Seite, um ihre Tochter einzulassen. Sie schien gleich zur Sache kommen zu wollen, denn sie wies den Weg durch das Haus in eines der Gästezimmer, das Inoichi über die Jahre zum Museum für seine Modellflugzeugsammlung umfunktioniert hatte. Ino kannte den Weg noch, würde ihn niemals vergessen. Wie hätte sie auch können, wo sie ihn als Kind doch so oft auf und ab gelaufen war, um ihrem Vater an seinen freien Tagen beim Basteln zuzusehen.

Es traf sie wie ein Schlag ins Gesicht, als ihre Mutter die einfache Holztür nach innen aufmachte, langsam und andächtig, um das Knarzen der Scharniere nicht zu laut werden zu lassen. Das Haus war alt und seit ihr Mann gestorben war, schien dem Verfall niemand mehr entgegen zu wirken. Die einzige Veränderung, die sie vorgenommen hatte, war ein geschmückter Schrein inmitten der alten Modellflugzeuge. Orchideen, Lilien, Zebragras und Astern schlangen sich um die Ecken und Kanten und bildeten einen bunten Rahmen für das Foto in der Mitte, das Yamanaka Inoichi zeigte. Er saß auf einem Hocker in seiner Stammkneipe, einen halbleeren Bierkrug in der Hand.

»Gutes Foto«, sagte Ino.

»Von allen, die ich von ihm habe, ist es dieses, das mich am meisten an ihn erinnert.« Ihre Mutter trat neben sie. »Ich möchte ihm gemeinsam mit dir gedenken, wenigstens ein Mal. Er hätte es so gewollt.«

Sie hatte recht. Streits mochten häufig gewesen sein im Hause Yamanaka, aber Inoichi hatte seine beiden Mädchen gleich vergöttert. Ino nickte. Gemeinsam zündeten sie Räucherstäbchen an, falteten andächtig die Hände. Und schwiegen.

Das erste Geräusch, das Ino hörte, war ihre Mutter, die sich erhob und eine knarzende Schublade aufschob. Als sie die Augen öffnete, fand sie ein kleines Kästchen am Boden vor ihren Knien. Es war geöffnet, darin lag ein dünnes Silberkettchen, an dem der Schriftzug Los Angeles hing.

»Dein Vater hat es vor ein paar Jahren auf einem Jahrmarkt am Hauptplatz entdeckt. Sowas findet seinen Weg normalerweise nicht nach Konoha, darum hat er es als Zeichen gesehen. Er hat es immer in seinem Portemonnaie mitgehabt. Es ist nur billiger Tand, aber ich dachte, du würdest es haben wollen.«

Ino nickte, hob das Kettchen aus der Schatulle. Das Material war leicht und rostete an den meisten Stellen, weil es von billiger Qualität war, vermutlich legierter Messing. Und doch fühlte es sich kostbar an.

»Danke.«

Damit war alles gesagt, alles gegeben. Ino lehnte die Einladung zum Tee ab, verließ den Schrein, ließ das Foto zurück, wo es hingehörte. Erst im Vorgarten zögerte sie, als ihre Mutter nicht sofort die Tür hinter ihr schloss.

Sie drehte sich um. »Was?«

»Nichts.« Ihre Mutter sah sie an, wartete ab – nein, rang sich durch. »Ich frage mich nur, ob es das wert war.«

Ino verschränkte die Arme. »Was willst du von mir hören? Dass ich es bereue?«

»Nein. Ich will nur ehrlich wissen … wenn schon mein Mann so sinnlos gestorben ist, ob ich meine Tochter wenigstens aus gutem Grund verloren habe.«

Ino schluckte. Die Frage war unmöglich zu beantworten, nicht jetzt, nicht hier, nicht vor ihrer Mutter.

»Ja.«

Aber war es das wirklich?
 

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Was wir wollen


 

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Konoha, Japan; 13 Jahre zuvor

 

Langsam wurde Ino langweilig. Nicht, dass sie etwas dagegen hatte, Modell für einen fortgeschrittenen Zeichenkurs zu stehen. Sie hatte es ja auch angeboten, als sie mitbekommen hatte, dass einer ihrer Lehrer Zeichenkurse im Bildungszentrum gab.

Eine Stunde maximal, hatte der Lehrer versprochen, weil sein Kurs nur fünfzig Minuten dauerte und die Klasse danach nur noch schnell aufräumen musste. Nun saß sie schon drei Stunden hier, weil einer der Kursteilnehmer partout nicht fertig werden wollte. Selbst der Lehrer hatte irgendwann resigniert und ihm einfach den Schlüssel dagelassen.

»Hey, wird das heute noch was?«, fragte sie genervt. »Ich hab Dinge zu tun.«

Der Junge war so vertieft, dass er sie nicht hörte, obwohl er sie in diesem Moment direkt ansah, um die Konturen ihrer Lippen aufzunehmen. »Bitte nicht bewegen«, instruierte er zum gefühlt tausendsten Mal.

»Das sagst du so leicht. Ich muss langsam los, könntest du dich beeilen? Viel?«

»Tut mir leid, ich …« Er stockte, schüttelte frustriert den Kopf und warf den Pinsel beiseite. Endlich. »Das wird nichts. Ich bekomme es einfach nicht hin. Du kannst aufstehen.«

Erleichtert streckte Ino sich ausgiebig, lockerte jeden verspannten Muskel, bis sie sicher war, einigermaßen normal gehen zu können. »Darf ich mal sehen?«, fragte sie neugierig. Wenn der Typ so lange gebraucht hatte, musste er ein blutiger Anfänger sein. Wie sehr hatte er ihr Gesicht wohl entstellt? Er trat zur Seite, damit sie hinter die Staffelei treten konnte. In ihrem Kopf hatte sich bereits ein gemeiner Spruch formuliert. Er blieb ihr im Hals stecken.

»Das ist …« Angestrengt suchte sie nach einem passenden Wort. »Atemberaubend. Wow.«

Zentimeter für Zentimeter inspizierte sie aus unterschiedlichen Blickwinkeln ihr Abbild auf der Leinwand. Der Typ hatte sie extrem gut getroffen. Es war, als schaute sie in einen Spiegel.

»Es ist Schrott«, meinte er, fast schon zornig, und stellte das Bild mit der bemalten Seite gegen die Wand.

»Das ist überhaupt kein Schrott!«, beharrte Ino. Sie hatte die anderen Bilder gesehen, keines davon war ansatzweise so detailgetreu und akkurat wie dieses. »Wenn überhaupt, ist das hier das genialste Bild aller Zeiten. Und das nicht nur, weil ich drauf bin.«

»Es ist Schrott, weil du nicht drauf bist.«

Sie spürte ihre Augenbrauen nach oben wandern. Für sie sah die blonde Sechzehnjährige eins zu eins aus wie sie. Vom Haaransatz bis zum Schlüsselbein. »Das verstehe ich nicht.«

»Du hast dieses … dieses Etwas … ich weiß nicht, was es ist, aber ich bekomme es einfach nicht auf das Bild. Egal, wie ich deine Lippen zeichne oder deinen Blick, es geht einfach nicht. Das ist mir noch nie passiert.« Plötzlich kam ihm eine Idee. Er riss die Augen auf, nahm ihre Hände in seine. »Yamanaka-san! Würdest du mir wieder Modell stehen? Nächstes Mal – nächstes Mal schaffe ich es vielleicht!«

Ino starrte ihn an. Blinzelte. Dann begann sie zu kichern. »Du bist echt der schrägste Vogel, den ich jemals getroffen hab. Wenn du unbedingt möchtest, darfst du mich wieder zeichnen. Wer hätte gedacht, dass ich zu schön für ein Bild bin? Ha! Das muss ich Sakura erzählen!«

»Danke, Yamanaka-san!« Er nickte eindringlich.

»Ino reicht. Ino-sama, wenn du willst, muss aber nicht sein. Und du bist?«

»Sai. Mein Name ist Sai.«

 
 

 

Konoha, Japan; Gegenwart
 

Als Sakura aufwachte, war ihr übel. Kotzübel. Möglicherweise hätte sie sich doch nicht von Naruto zu Sake hinreißen lassen sollen. Wann waren sie überhaupt aus der Bar gewankt? Es hatte definitiv gedämmert. Sie konnte von Glück reden, dass sie ihr Elternhaus noch gefunden hatte.

»Uuuuh«, machte sie, um ihre Stimme zu testen. Sie klang rau, aber stabil. Sehr gut. Nachdem sie es offensichtlich nicht einmal mehr geschafft hatte, ihre Bluse ordnungsgemäß auszuziehen, hatte sie Schlimmeres befürchtet. Vorsichtig setzte sie sich auf, um einen Eimer neben dem Bett zu finden. Unbenützt zum Glück. Zähneputzen war trotzdem keine schlechte Idee.

Im Badezimmer fand sie ihren Vater, der versuchte, Sarada einen Zopf zu flechten. »Ah, Sakura, du bist ja schon wach.«

Seine Stimme dröhnte in ihrem Kopf; hatten sie schon immer so ein derbes Echo im Badezimmer gehabt? »Aaah …«

Das Zähneputzen war eine anstrengende Angelegenheit, ihre Augen für die Gesichtswäsche zu schließen fast unmöglich. Wie sie es schaffte, sich präsentabel zu machen, ohne sich zu übergeben, würde ihr für immer ein Rätsel bleiben.

Ihr Vater war mittlerweile zum dritten Mal an Saradas Zopf gescheitert und übergab die Aufgabe an seine Tochter, die zwar kein Meisterwerk produzierte, aber wenigstens etwas, das Saradas kritischem Urteil standhielt.

»Deine Mutter hat Hinata-san samt Kindern eingeladen«, informierte er sie. »Unsere kleine Sarada will besonders hübsch für unsere kleinen Gäste aussehen.«

»Ach, wirklich?«, fragte Sakura rhetorisch und beäugte ihre Tochter skeptisch. »Und ich dachte, ich hab noch ein paar Jahre Zeit, bevor ich mich mit sowas beschäftigen muss. Die Eitelkeit hast du eindeutig von deinem Vater, junge Dame.«

»Na, jetzt sei mal nicht so streng«, meinte ihr Vater beim Rausgehen. »Ich erinnere mich an ein kleines Mädchen, das mal hier gewohnt hat und sich stundenlang die Haare frisiert hat, um einen bestimmten kleinen Jungen in der Schule zu beeindrucken.«

»Ja, und am Ende hab ich ihn geheiratet. Ich mag Naruto sehr, aber wenn er jemals Saradas Schwiegervater wird, haben wir nie wieder ein normales Familienfest. Papa!«, rief sie ihm hinterher, als er lachend im Elternschlafzimmer verschwand. Sakura deutete streng auf ihre Tochter. »Du lässt dir Zeit mit Liebesdingen, hörst du? Unsere Familie muss ja nicht noch komplizierter werden.«

Sarada sah sie aus großen Augen an, den Kopf schiefgelegt. »Gombizierder!«

»Ja, genau das!«, nickte Sakura und hob sie hoch.

Im Esszimmer erwartete sie ein reich gedeckter Tisch, an dessen Speisen sie sich nicht wagte. Mebuki war keine große Köchin, nur für Gäste betrieb sie einen solchen Aufwand. Solange Hinata das Kunstwerk nicht in seiner vollen Pracht bemerkt hatte, war jeder stibitzte Happen ein Risiko. Außerdem war Sakura so übel, dass sie selbst an ihrem Tee nur zurückhaltend nippte. Die erste halbe Tasse lang brachte ihre Mutter sie auf den neuesten Stand. Sarada war gestern mit nur einer Stunde Verzögerung ins Bett gegangen, Opa hatte ihr ein paar neue Wörter beigebracht, Ino war erst kürzlich für eine Joggingrunde raus.

Die restliche Tasse über unterhielt ihre Mutter sich mit Sarada und zeigte ihr, wie man Teigtaschen faltete. Das Kind sah aufmerksam von der Küchenanrichte aus zu und bekam sogar einen eigenen Teigklumpen zum Üben. Sie war gut. Nach ein paar Versuchen waren bereits erste Formen zu erkennen. Wäre der Teig nicht mehrmals zu Boden gefallen, hätte man ihn glatt verwenden können.

»Sakura«, sagte ihre Mutter nach einer Weile. Die Teigtaschen waren fertig und wanderten eine nach der anderen in die Pfanne. »Ich wollte dich gestern nicht vor Ino-chan in Verlegenheit bringen. Aber, gibt es einen Grund, warum du plötzlich hier aufgetaucht bist? Ist alles mit Sasuke-san in Ordnung?«

Sakura sah auf. Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass ihre Mutter ihren eigenen Schwiegersohn mit dem neutralsten, generischsten Suffix der japanischen Sprache ansprach. Ein Symptom der Distanz, die Sasuke mit jedem hielt. Selbst mit ihr, irgendwie.

»Es …« Sie tat sich schwer, ein passendes Wort zu finden. Die Beziehung zu ihren Eltern war liebevoll, aber sie war hergekommen, um vor ihren Problemen wegzulaufen, nicht, um über sie zu sprechen. »Wir gehen uns nur ein wenig auf die Nerven.«

Ihre Mutter zuckte die Schultern. »So ist die Ehe eben. Es gibt Hochs und Tiefs. Hab ich dir jemals erzählt, dass dein Vater und ich nach deiner Geburt kurz vor der Scheidung standen? Das waren vielleicht turbulente Zeiten.« Beim Gedanken daran lachte sie in sich hinein. »Ich weiß gar nicht mehr, warum eigentlich. Es ist so lange her.«

Davon hatte Sakura nichts gewusst. Ihre Eltern waren ihr immer wie ein normales Paar vorgekommen, standardmäßig zufrieden mit einander. Streits hatte es selten gegeben. Nicht so wie bei ihr und Sasuke. »Wieso seid ihr zusammengeblieben?«

»Hmm?« Überlegend schwang Mebuki den Kochlöffel über ihre Schulter. »Keine Ahnung. Ich habe damals einfach gewusst, dass ich ohne ihn sehr einsam wäre. Seine dummen Anwandlungen zu akzeptieren, schien mir die bessere Lösung zu sein.«

»Ebenso«, fügte ihr Vater hinzu, der das Gespräch vom Vorraum aus belauscht hatte. Er kniff seiner Frau in die Wange, woraufhin sie ihm mit dem Kochlöffel auf die Nasenspitze schlug. »Ein Temperament wie ein Drache, aber irgendwie hält mich das auf Zack. Nicht wahr, Liebling?«

Mebuki schnaubte und wandte sich wieder ihren Teigtaschen zu, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Es war nicht der Rat, den Sakura hören hatte wollen. Genauer betrachtet war es überhaupt kein Rat. Grübelnd trank sie ihren kalten Kaffee aus. Dann klingelte es.

»Das muss Hinata sein. Ich mach auf«, sagte sie und stand auf. Im Vorzimmerspiegel prüfte sie ihr Äußeres. Gerade noch passabel. Wahrscheinlich war Hinata es gewöhnt, als erste Frau in Konoha von adretteren Gastgebern in Empfang genommen zu werden, aber immerhin war es ihr Mann gewesen, der an Sakuras schlechtem Zustand Schuld trug. Sie öffnete die Tür –

Und ihr freudiges Lächeln fror ein.

»Sasuke.« Er stand vor ihr in Anzug und Krawatte, beides verknittert von der langen Autofahrt und vermutlich einem vorangegangenen langen Arbeitstag. Ein Kaffeefleck prangte auf seinem Kragen, er hatte die Autoschlüssel noch in der Hand. Kein Anruf vorher, keine Nachricht. Sein Glück, sonst wäre sie noch außer Landes geflohen. »Was machst du hier?«

»Dich und Sarada nach Hause holen natürlich.«

Sie verschränkte die Arme, schloss die Haustür hinter sich. »Einfach so?«, fragte sie skeptisch. Sie sah die schwarzen Schatten unter seinen Augen, die unordentliche Frisur, seinen müden Blick. Er musste die ganze Nacht durchgefahren sein, um zu so einer Uhrzeit hier zu stehen.

Sasukes Augen schweiften zu Boden, über die Fußmatte und wieder zu ihr. »Nicht einfach so. Ich weiß, dass ich in letzter Zeit abweisend war. Die Firma ... mein Vater … ich stehe unter wahnsinnigem Druck. Und ich bin nicht gut darin, damit umzugehen. Es tut mir leid. Bitte«, sagte er leise. Eindringlich. »Komm wieder nach Hause.«

Soweit Sakura es beurteilen konnte, meinte er es ehrlich. Sasuke war vieles – arrogant, distanziert, unhöflich, egoistisch – aber er war ein lausiger Lügner. Darum hatte sie damals gewusst, dass er sie mit seinem plötzlichen Heiratsantrag nicht hatte verarschen wollen. Es musste ihn viel Überwindung gekostet haben, bei ihr aufzutauchen und diese Entschuldigung vorzubringen.

Und es brach ihr das Herz, ihn so zu sehen. Zerfahren und fahl. Ihre Abwesenheit tat ihm nicht gut. Aber das – und die Enttäuschung darüber war fast noch schlimmer als alles andere – konnte ihre Ehe nicht retten. Sie hatte ihn nicht aus Mitleid geheiratet und sie würde ihn nicht aus Mitleid zurücknehmen.

»Warum sollte ich?«, fragte sie, langsam, unsicher, ob sie die Antwort darauf hören wollte. Also sprach sie weiter, »Was wartet zu Hause auf mich? Derselbe Trott, der mich fortgetrieben hat? Was bringt mir deine Entschuldigung? Was bringt es mir, Sasuke, dass es dir leidtut? Was ist heute anders als letzte Woche?«

Sie hatte Mühe, ihre Stimme eben zu halten, nicht zu sehr anschwellen zu lassen. Sasuke hatte nicht damit gerechnet. Verloren und überfordert sah er sie an.

»Ich – ich weiß es doch auch nicht, verdammt, Sakura! Was soll ich dir noch sagen, außer, dass ich dich vermisse? Das tue ich, okay?«

Das war nicht, was sie wissen wollte. Sie sah seinen Schmerz, sah seinen inneren Kampf, den er seit Jahren mit sich austrug. Hatte versucht, ihm damit zu helfen. Aber er hatte ihre Hilfe nie angenommen. Jahrelang war sie auf ihn zugelaufen, mit allem, was sie war und was sie geben konnte, und sie war gegen seine Barriere gelaufen, immer und immer und immer wieder, hatte sich aufgerappelt in der Hoffnung, dass sie irgendwann durchbrechen würde.

Doch das war sie nicht. Kein einziges Mal.

»Warum hast du mich geheiratet, Sasuke?«

Seine Augen weiteten sich. Ratlos suchten sie etwas in ihrem Gesicht, das ihm einen Anhaltspunkt darüber geben konnte, was sie von ihm hören wollte. Sie gab ihm nichts.

»Ich …«, begann er. Trat einen Schritt zurück. Die Frage traf ihn, und dass sie es tat, traf auch Sakura. Hart. Weil ich dich liebe war die offensichtliche, die einfache Antwort. Nicht einmal das brachte er heraus. Schon gar nicht das. In Sasukes geschockten Augen herrschte so viel emotionales Chaos, dass es Sakura innerlich zerriss.

Er beendete den Satz.

»Ich weiß es nicht. Sakura. Ich weiß es nicht.«

Ein Teil in ihr starb. Qualvoll.

»Ich auch nicht, Sasuke.«

Sie ging zurück ins Haus. Schloss die Tür. Und weinte.

 
 

Bei all dem Meckern über ihr verschlafenes, isoliertes, weltfremdes, rückständiges Heimatkaff hatte Ino eines völlig vergessen. Die Szenerie war atemberaubend. Konoha mochte es an vielem mangeln, aber an Laufrouten bestimmt nicht. Von einem flachen Waldstück über hügelige Wiesen oder steile Berge und längliche Seen bot die Landschaft alles, was sich eine anspruchsvolle Läuferin wünschen konnte.

Es war daher nicht verwunderlich, dass sie an einem der umliegenden Seen einen Künstler erblickte, vertieft in seine Staffelei, auf der sich erste Züge der klaren Landschaft abzeichneten. Seine Haare waren schwarz und kurz, seine Haut blass und er war so sehr auf seine Kunst fokussiert, dass er sie nicht hinter sich über den Schotterweg vorbeilaufen hörte.

Er war nicht Sai.

Auch wenn er ihm ähnlichsah, auch wenn sie sich oft dort vorne am Steg getroffen hatten – erst für seine Versuche, ihre Essenz einzufangen, später für Gespräche, Umarmungen, Küsse – er war es nicht. Sai war immer schon zu groß für Konoha gewesen, so wie sie, war weggegangen für eine Karriere als Künstler. Mittlerweile war er ein gefeierter Maler, füllte Vernissagen, lebte wahlweise in London und New York. Natürlich war er nicht hier.

Ino war enttäuscht, aber auch erleichtert. Sie hatten sich im Guten getrennt, lange bevor er hatte einfangen können, was er immer in ihr gesehen und nicht begreifen hatte können. Heute folgten sie einander auf Twitter, likten und retweeteten gelegentlich besonders gute Tweets. Die letzte private Nachricht war acht Jahre her. Es war in Ordnung. Das war das Leben.

Ino beschleunigte ihre Schritte auf den letzten Kilometern durch das schattige Waldstück vor der alten Stadtmauer, die heute keine Funktion mehr hatte, außer ein historisches Kulturgut zu sein. Heute Morgen war sie extra früh aufgestanden, um der Mittagshitze zu entgehen, trotzdem war es jetzt schon unerträglich heiß. Verdammter Süden. Als sie in die Einfahrt der Harunos einlief, war sie so erschöpft, dass sie kaum die Kraft hatte, sich über die schwarze Limousine zu wundern, die dort parkte. Sie tat es, als sie den Fahrer erblickte.

»Sasuke!«, rief sie, doch er ging wortlos an ihr vorbei, warf die Autotür hinter sich zu und raste davon. Oje.

Es überraschte Ino nicht, Sakura weinend in ihrem Kinderzimmer vorzufinden. Unter Tränen erklärte sie, was vorgefallen war, bis Hinata eintraf und sie entschied, den Nachmittag lieber mit heiteren Gesprächen als im Elend zu verbringen. Ino wusste nicht, was schlimmer war. Jedenfalls wusste sie am Abend viel zu viel über Windelqualität, pürierte Nahrung und ab welcher Konsistenz Ausscheidungen problematisch waren.

Und dann war alles vorbei. Konoha, Nostalgie, Heimat, und Ino seufzte erleichtert in ihrem Zugabteil. Nach einer letzten Nacht in Sakuras Kinderzimmer hatten sie den frühesten Zug erwischt und würden am Nachmittag wieder in Tokio sein. Drei Tage. Ino hätte es keine Stunde länger ausgehalten. Nicht neben ihrer Mutter und dieser omnipräsenten Frage – war es das wert gewesen?

Sie wollte nicht darüber nachdenken, tat es nicht. Packte ihre freien Stunden voll mit Charakterstudien und Gedankenessays in der Hoffnung, doch noch mehr aus ihrer Figur herausholen zu können. Manchmal dachte sie sogar, dass es funktionierte.

Den ersten Drehtag nach ihrem Ausflug überstand sie. Sieben Szenen, einunddreißig Einstellungen, eine Stunde Verzögerung, weil ein Praktikant über ein Kabel gestolpert und das Equipment in einem Dominoeffekt in Unordnung gebracht hatte. Ein ganzes Take im Eimer. Ino nutze die Chance, um zu experimentieren, aber Bitte halten Sie sich an das Drehbuch, Yamanaka-san und Schreien Sie bitte nicht so laut, das verstört die Zuschauer.

Scheiß drauf, war ihre stumme Antwort darauf, weil sie sich keinen Vertragsbruch leisten konnte.

War es das wert gewesen?

Erneut diese verfluchte Frage.

Ja!, musste die Antwort lauten. Jetzt, hier, in dieser beliebigen Seitengasse auf dem Weg zum Bahnhof. Warum konnte Ino sie nicht geben?

Der einbrechende Regen erwischte sie eiskalt, durchweichte ihre Sneakers und ihren Blazer lange bevor sie ein Taxi erwischte. Zu spät bemerkte sie, dass ihre Handtasche offen war. Das Skript war durchnässt. Ob das ein Zeichen war?

Sie brauchte Ablenkung. Gute Ablenkung.

 
 

 

»Wir legen Budgets nicht zum Spaß fest, Tanaka-san. Bringen Sie das in Ordnung«, sagte Itachi und legte auf.

Dieser Tag war ein Kampf. Erst die Sache mit Shiroganes verlegtem Memo, dann die Tippfehler in den Pressemeldungen, nun auch noch sein bester Abteilungsleiter. Nicht einmal Sasuke war hier. Schlimmer noch – er war seit zwei Tagen verschollen. Einfach nicht mehr zur Arbeit aufgetaucht, was Itachi gezwungen hatte, seine eigene Arbeit liegen zu lassen und Sasukes Außentermine zu übernehmen. Nun war es lange nach Feierabend und Itachi hatte nichts geschafft; keine Marketingunterlagen freigegeben, keine Produktpräsentation finalisiert.

Zum ersten Mal seit Jahren hatte er nicht die geringste Lust, vorne bei der Kreuzung links abzubiegen und ins Büro zu fahren. Das war der exakte Moment, in dem sein Smartphone über die Freisprecheinrichtung klingelte.

Bitte nicht, dachte er in der Erwartung, die Durchwahl der IT-Abteilung oder des Einkaufs auf dem Display vorzufinden, weil irgendjemand noch ganz dringend eine Unterschrift brauchte. Stattdessen erblickte er einen weit weniger abschreckenden Namen.

»Anruf annehmen«, befahl er seinem Auto und wartete, bis das Klingeln verstummte. »Hier spricht Uchiha Itachi.«

»So förmlich?«, hörte er Ino fragen. »Ich bin überfordert.«

Ein schmales Lächeln stahl sich auf Itachis Lippen. Er wusste, dass sie nicht überfordert war, so gut wie sie wusste, dass er ihren Namen vor der Anrufannahme gesehen hatte. Es war ein dummes, kleines Spiel. Unnötig, aber jetzt gerade sehr willkommen.

»Hat mein dummer kleiner Bruder dich mal wieder vor deine Tür gesetzt?«

»Nope. Aber mein Cuba Libre und ich sind einsam, nachdem ich seine Brüder alle ausgetrunken habe.«

Itachi sah auf die Uhr. Kurz vor halb neun. Ein paar wenige Mitarbeiter würden noch in der UCHIHA Corp. sein, vielleicht schaffte er es sogar, ein paar liegengebliebe E-Mails zu bearbeiten und die Berichte über die heutigen Termine fertigzustellen. Oder … »Wo bist du?«

»Chū Kōhan. Ein Tisch für zwei am Fenster. Spektakuläre Aussicht. Solltest du dir nicht entgehen lassen.«

Das Chū Kōhan war ihm ein Begriff. Eine schneidige Bar im mittleren Stockwerk eines Hochhauses um die Ecke. Erst vor ein paar Wochen hatte er dort ein paar langjährigen Großkunden auf Firmenkosten zu einem überteuerten Weinverkostungsabend eingeladen. Die Aussicht war moderat, die Zweiertische üblicherweise eher an ungünstigen Positionen verteilt. »Reizvoll. Kannst du eine halbe Stunde warten?«

»Je länger du mich alleine lässt, desto mehr Cuba Libre töte ich.«

»Ist das gut oder schlecht?«

»Kommt drauf an«, summte sie.

Itachi fragte nicht nach. Sie flirtete gerne, testete aus, wie weit sie gehen konnte. Es war amüsant, erfrischend. Die Frage war, wie weit er gehen konnte, ohne ihr falsche Hoffnungen zu machen. Er würde es herausfinden.

Eine Schauspielerin inmitten einer voll ausgelasteten Bar zu finden, war einfach. Mit ihrem offenen, blonden Haar stach sie aus der dunklen Masse hervor wie ein Blitzschlag, und selbst in Sneakers und Pullover war sie weit und breit die attraktivste Frau im Raum. Und sie wusste es.

»Das war keine halbe Stunde«, stellte sie fest, ein halbes Grinsen auf ihren roten Lippen.

»Soll ich nochmal gehen?«

»Hatten wir diese Diskussion schon einmal oder hab ich ein Déjà-vu?«, fragte sie rhetorisch, während er Platz nahm und grünen Tee bestellte. Seine Getränkewahl ließ sie schnauben. »Also betrinke ich mich weiterhin alleine. Wie enttäuschend.« Sie hob ihr Glas Richtung Bar, um Nachschub zu bestellen.

»Ich bin untröstlich.«

»So siehst du aus«, seufzte sie. »Du kannst es wiedergutmachen, indem du mir etwas erzählst. Ganz egal was. Ich brauche etwas, das meine Gedanken beschäftigt.«

»In der Mittelschule habe ich meinen Mathematiklehrer korrigiert. Er hat behauptet, ich läge falsch. Zwei Wochen später hatte er einen sechzehnseitigen mathematischen Beweis am Tisch, dass ich recht hatte.«

Ino blinzelte ihn an, vielleicht, um zu überlegen, ob die Geschichte ihren Anforderungen entsprach, dann schüttelte sie lachend den Kopf. »Wären wir in derselben Klasse gewesen, hätte ich dich wirklich, wirklich krass gemobbt.«

»Dann bin ich sehr erleichtert, dass wir uns erst jetzt kennengelernt haben«, erwiderte Itachi. »Allerdings bin ich vermutlich immer noch derselbe spießige Streber wie damals.«

Ino nahm einen Schluck von ihrem neuen Cuba Libre. »Ja, aber jetzt siehst du gut aus. Das ist ein echt guter Schutzfaktor gegen Mobbing.« Sie zuckte die Schultern über das Kompliment, das ihr so leicht über die Lippen gekommen war, dass Itachi es fast überhört hätte. »Gib’s zu, du würdest immer noch arbeiten, wenn ich dich nicht abgefangen hätte, oder?«

»Bin ich so durchschaubar?«

»Nur in diesem Punkt. Wovon hab ich dich denn abgehalten? Nur, damit ich abschätzen kann, welche deiner ach so wichtigen Aufgaben ich getoppt habe.«

Für einen Moment fehlten ihm die Worte. Es war der Moment, an dem ihr Knöchel beiläufig seine Wade streifte. Die Berührung war so kurz, dass er nicht sicher war, ob sie Absicht oder Versehen gewesen war. Diese Frau. Sie spielte gerne, und sie spielte gut.

»Marketingunterlagen für die Markteinführung unseres neuen Produkts«, sagte er endlich. »Sobald wir eine funktionierende Betaversion haben, werde ich alle potenziellen Großkunden abklappern, um ihnen in einer beeindruckenden Präsentation klarzumachen, dass sie synCOM unbedingt brauchen.«

Ino lehnte sich zurück, Cuba Libre in der Hand, und nickte gegen ihn. »Cool, lass hören. Die Rolle krieg ich locker hin. Ich hab Off-Off-Broadway mal eine selbstherrliche Karrierefrau gespielt, die regelmäßig in hinterzogenem Geld badet und langsam den Verstand verliert, weil ihre betrogenen Mitarbeiter die Scheine mit Gift bestreichen. Weit weg von CEOs kann das ja nicht sein.«

»Soweit ich weiß, baden reiche Menschen selten in Geld. Üblicherweise korreliert Reichtum negativ mit Bargeld.«

»Es ging ja auch um die Metapher«, versetzte sie. »Also? Ich könnte mal wieder eine Rolle brauchen, bei der ich mich nicht langsam und qualvoll erdrosseln will. Tu mir den Gefallen.«

»Ist das nicht ziemlich albern? Wir sind mitten in einer Bar.«

»Sag bloß, dir sind Trockenübungen peinlich. Das ist ja niedlich.« Wieder streifte sie sein Bein, diesmal eindeutig mit Absicht. »Jetzt komm schon. Ich hab Unterhaltung und du kannst arbeiten. Ist das nicht ein perfekter Deal?«

Ob Ino sich auf seine Kosten amüsieren wollte? Aber sie hatte recht, er sollte eigentlich noch arbeiten. Was war schon dabei? Außerdem war es überraschend schwer, ihr etwas abzuschlagen. Huh. »Also schön. Aber du musst aufpassen und am Ende ehrliches Feedback geben.«

»Aye, aye, Sir!«

Itachi unterdrückte ein Augenrollen. Aus der Sache kam er nicht mehr raus. Egal. Er richtete sich auf. »Erst einmal möchte ich mich für Ihre Zeit bedanken, die Sie sich genommen haben, um diesen Termin heute wahrzunehmen«, begann er. »synCOM ist das neueste Produkt in unserer Integrationssoftwarereihe. Dabei handelt es sich um ein Tool zum Schnittstellenmanagement, mit dem Sie Informationen aus unterschiedlichen Datenbanken synchronisieren können.«

Und er legte los. Zwanzig Minuten lang erzählte er von den Features und Vorteilen von synCOM. Es war ein gutes Produkt, in das viel Entwicklungsaufwand und Innovation geflossen war. Usability, Performance, Konfigurationsmöglichkeiten, unterstützte Programmiersprachen, Kosten. Die tatsächlichen Zahlen und manche Namen änderte er ab für den unwahrscheinlichen Fall, dass die Konkurrenz zufällig am Nebentisch saß. Tat sie ziemlich sicher nicht. Die anderen Gäste interessierten sich kein Stück für die Genialität, die hinter synCOM steckte.

Und Ino … Ino sah furchtbar gelangweilt aus.

»Wow«, sagte sie, doch es klang wie das genaue Gegenteil. »Ich weiß nicht, was ich erwartet habe.«

»War es so schlecht?«, wollte er wissen. »Das ist eine ernstgemeinte Frage. Von dieser Präsentation hängen Aufträge im Millionenbereich ab, ich kann es mir nicht leisten, dass mein Publikum einschläft.«

»Nein! Es ist nur …« Nachdenklich spitzte sie die Lippen. »Ich kapier einfach nicht, was mir dieses Produkt bringen soll?«

Itachi hob seine Augenbrauen. Es gab wenige Leute, die ihn auf seinem Fachgebiet kritisierten. Aber er hatte nach ihrer Meinung gefragt. »Der technische Überblick hat natürlich nur für bestimmte Zielgruppen Relevanz –«

»Das meine ich nicht. Du hast das sehr gut erklärt, Schnittstellenmanagement, Datensynchronisation über verschiedene Programme, alles schön und gut. Aber, hm, ich weiß nicht. Klang eher wie eine Vorlesung als ein Verkaufsgespräch.« Plötzlich flackerte ein Leuchten in ihren Augen auf. »Herausforderung. Ich wette, ich kann dir dein eigenes Produkt verkaufen.«

Niemals, wollte Itachi instinktiv sagen. Wie sollte sie ohne jedwedes Produktwissen auch nur ansatzweise eine Präsentation darüber zustande bringen? Genau darum konnte das hier verdammt unterhaltsam werden. Er breitete seine Hände aus. »Die Bühne gehört dir, Ino. Wie viel Vorbereitungszeit brauchst du?«

»Oh du süßes Unschuldskind«, machte sie, fast schon beleidigt. Sie nahm einen letzten Schluck Cuba Libre, lockerte ihre Nackenmuskeln und schloss die Augen. Als sie die Lieder wieder aufschlug, sah sie ihn so professionell und entschlossen an, dass Itachi für einen Moment die Luft wegblieb. Und dann sprach sie.

»Warum sollten sie keine zehn Praktikanten hinsetzen, die händisch all ihre Daten von einem Tool ins andere übertragen? Oder ein paar Mitarbeiter dazu verdonnern?« Eine Pause folgte. »Weil synCOM billiger ist, keine Fehler macht und nicht mal Pinkelpausen braucht. Und in den nächsten zwanzig Minuten zeige ich Ihnen, wie genau das funktioniert.« Selbstgefällig klatschte sie in die Hände. »Und dann kommt dein ganzes technisches Blabla. Verkauft?«

»Fein«, gab er langsam zu. »Möglicherweise bin ich schon zu tief in der Materie drin, um zu beurteilen, was Außenstehende begeistert.«

»Oder ich bin einfach ein Naturtalent. Jetzt komm schon.« Sie stupste sein Knie mit ihrem an, diesmal eher neckisch als suggestiv. Es hatte denselben Effekt. »Spring über deinen Schatten und gib zu, dass du ein bisschen beeindruckt bist.«

Eine Rechtfertigung lag ihm auf der Zunge – Marketing war nicht sein Metier, Bedarfsschaffung als Verkaufsmethode war ihm wohl bekannt. Aber sie hatte recht. Er prostete ihr zu. »Ich bin beeindruckt.«

»Na siehst du? Wer hätte gedacht, dass eine einfache Schauspielerin das mal schafft, hm?« Zufrieden sah sie durch die Fensterfront nach draußen, wo das Lichtermeer der umliegenden Bürogebäude immer kleiner wurde. An ihre Stelle trat die Beleuchtung der Vergnügungsviertel weiter westlich, die in allen möglichen kunterbunten Farben durch das Glas brachen und ihr Gesicht in warmes Licht tauchten.

Itachi folgte ihrem Blick. Nicht, weil er interessiert war an dem, was sie beobachtete. Seine Abwehrhaltung kostete einfach zu viel Kraft, wenn er in ihr Gesicht sah – das spitze Kinn, die blauen Augen, den schlanken Hals. Die Einfachheit, mit der sie ihn in eine Konversation verwickeln konnte.

»Übrigens, Itachi. Danke.«

»Wofür?«

Sie lachte, leise und tief und über etwas, das sie nicht preisgeben würde, und lehnte sich ihm ein wenig weiter entgegen, weil das war, was man üblicherweise bei einem gut laufenden Date machte. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, ihre Augen fokussierten seine Lippen mit einer Intensität, die seinen Puls in die Höhe trieb. Sie war so schmerzhaft attraktiv, so unterhaltsam und facettenreich, so komfortabel ähnlich und doch reizvoll anders.

Und doch.

»Tut mir leid, Ino.«

Für ein Blinzeln konnte er die Enttäuschung über die Zurückweisung in ihrem Gesicht sehen. Es hätte Itachi gewundert, hätte es sie kalt gelassen, Schauspielerin hin oder her. Sie verstanden sich gut, besser als er jemals erwartet hätte, hatten tausend Gemeinsamkeiten und dabei noch nicht einmal über ihren gemeinsamen Herkunftsort gesprochen. Doch es hatte keinen Sinn. Nicht jetzt in dieser Phase seines Lebens.

Sie fing sich schnell wieder, lehnte sich zurück und überschlug lächelnd die Beine. »Kaum bin ich dreißig, krieg ich nicht mal mehr einen Typen im Anzug rum. Mein Leben geht wirklich den Bach runter«, scherzte sie und bestellte lachend ein weiteres Getränk.

»Das hat nichts mit dir zu tun.« Die generischste Begründung der Welt. »Ich bin einfach –«

»Schon gut. Du bist mir keine Erklärung schuldig«, sagte sie. Es klang ehrlich. Als hätte sie damit gerechnet. »Workaholic, große Ambitionen, strenge Familie, schon klar. Außerdem bin ich ein großes Mädchen. Darauf sollten wir anstoßen.«

Und sie waren wieder zurück in einer heiteren Unterhaltung, in der er ihr zum zweiten Mal versicherte, dass er sie nicht verarschen wollte und tatsächlich keinen Alkohol trank. Mühelos hatte sie es geschafft, seinen unangenehmen Moment zu überbrücken. Sie flirtete nach wie vor, wahrscheinlich, weil sie nicht anders konnte, und warf ihm vor, ein Spießer zu sein, weil er nicht mehr darauf einging. Also tat er es.

Der Abend klang so harmonisch aus, wie er begonnen hatte. Sie hatten viel gelacht, noch mehr diskutiert. Wenn sie wollte, war Ino eine gute Zuhörerin, zumindest bis an den Punkt, an dem ihr ein Gedanke kam, den sie loswerden wollte. Dann war kein Kraut gegen ihren Rededrang gewachsen. Musste es auch nicht, wie Itachi fand. Er hörte ihr gerne zu, egal bei welchem Thema. Sie hatte das seltene Talent, den Einkauf von Socken als spannendes Abenteuer wiederzugeben.

Er übernahm die Rechnung und fuhr sie nach Hause, beides trotz ihrer mehrfachen Weigerung. Ino wusste sehr gut, dass er ein schlechtes Gewissen hatte, und machte ein paar selbstironische Scherze darüber. Die kurze Autofahrt über verbrachten sie mit belanglosem Smalltalk. Erst als er in ihre Straße bog, fiel ihr eine amüsante Geschichte über ihre erste Begegnung mit einem Gürteltier ein.

Die Erzählung war okay, nicht lustiger als ihre anderen, und hätte Itachi nicht zufällig eine rare Parklücke vor ihrem Wohnhaus erspäht, hätte er sie in zweiter Spur aussteigen lassen und wäre nach Hause gefahren. Es war spät, morgen um halb neun war das erste von mehreren Meetings zur Budgetplanung des nächsten Geschäftsjahres angesetzt. Aber die Parklücke bot sich an, also stieg er mit aus, begleitete sie bis zur Tür, um sie in der begeisterten Wiedergabe des skurrilen Streits mit dem Gürteltier um ein Gurkensandwich nicht zu unterbrechen. Ino nahm sein Geleit kommentarlos an, beendete ihre Geschichte mit dem großen Finale – sie hatte ihr Sandwich aufgrund sabbriger Beißspuren dem Tier überlassen – und blieb vor ihrer Wohnungstür stehen.

Sie war nur ein wenig kleiner als er, trotzdem schaffte sie es, suggestiv durch ihre dichten Wimpern zu ihm hochzublicken. »Letzte Chance.«

Wieder einer ihrer halbernst gemeinten Scherze. Diesmal fielen keine schillernden Farben auf ihr Profil, sondern künstliches Licht des Bewegungsmelders über ihrer Tür. Trotzdem war er versucht. Aber es war sinnlos, nach wie vor, würde es lange bleiben, und er hatte sie bereits abgewiesen. Jetzt einzuknicken war seiner nicht würdig.

»Gute Nacht, Ino«, sagte er und wandte sich zum Gehen –

Er kam nicht weit. Ino fing ihn ab, hielt ihn am Kragen seines Hemdes zurück und zog ihn zu sich. Die plötzliche Nähe ließ seinen Puls in die Höhe schießen, auch wenn sie absichtlich ein paar Zentimter vor seinen Lippen gestoppt hatte. Ein paar Sekunden passierte nichts, nur ihr heißer Atem auf seinem Gesicht. Dann lachte sie leise und tief. »Einen Versuch war’s wert.«

Sie ließ ihn los, machte einen Schritt zurück, grinsend, als bereite es ihr ungemeines Vergnügen, ihn in den Wahnsinn zu treiben. Dabei war sie so von sich überzeugt, so sicher, ihn durchschaut zu haben, dass sie überrascht aufkeuchte, als er seine Selbstbeherrschung über Bord warf, sie gegen die Tür drängte und seine Lippen gegen ihre presste.

Es war kein romantischer Kuss, nicht schüchtern oder vorsichtig, und Ino schien es absolut nichts auszumachen. Ihre Überraschung hielt nicht lange. An seiner Gürtelschnalle zog sie ihn zu sich, kompromisslos und verheißungsvoll. Ihr Shirt rutschte mit seinem Handgelenk nach oben, gab ein wenig nackte Haut frei, über die er seine Fingerkuppen strich. Sie war glatt und weich und warm und o Gott wie lange hatte er schon keine Frau mehr berührt.

Wie sie in dem verschlungenen Knäuel aus Armen und Beinen ohne hinzufallen in die Wohnung kamen, bekam er nur am Rande mit. Er konnte das siegreiche Grinsen auf Inos Lippen spüren, als er sie gegen etwas drängte, das sich wie eine Küchentheke anfühlte. Ins Schlafzimmer schafften sie es ohne Hosen und auch nur, weil Ino ihr neues Sofa nicht zweckentfremden wollte. Das Bett war ohnehin sehr viel bequemer. Sie brachen darauf nieder, verkeilt in ein menschliches Chaos aus Küssen und Berührungen und o Gott, ja, genau da!

Wochenlang hatte sie kokettiert und gereizt und jetzt wo sie nackt und stöhnend und erregt zitternd unter ihm lag, konnte Itachi nicht verstehen, wie er es so lange ausgehalten hatte. Und als sie ihre Arme um seinen Rücken schlang, ihn umdrehte und sich auf ihn rollte, wusste er es noch weniger.

Er bereute nichts. Nicht jetzt in diesem Moment wenigstens.

 
 

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Der stete Tropfen


 

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Tōkyō, Japan; 10 Jahre zuvor

 

Er konnte es nicht spüren, aber er hörte es. Hörte den donnernden Angriffsschrei, den Aufprall einer Wucht gegen die andere, das brutale Brechen von Knochen. Hörte das Publikum in entsetzter Verzückung johlen und brüllen. Hörte sich gegen die Torstange schmettern. Das Pfeifen des Schiedsrichters. Das Rauschen in seinen Ohren.

Dann. Stille. Schwarz.

Sasuke erwachte nur allmählich. Übelkeit schwappte über ihn hinweg, dämpfte die Geräusche um ihn herum – kontrolliert hektische Stimmen, Schritte um ihn herum, metallisches Rascheln. Schlanke Finger zogen seine Augenlider auseinander, ein Lichtpunkt blendete ihn.

»Patient bei Bewusstsein. Fertig machen zum Transport.«

Er wurde zur Seite gerollt, auf eine Trage gehievt und nach draußen geschoben. Da war kein Schmerz, kein Drücken oder Ziehen. Sein gesamter Körper war taub. Nein. Stumm. Während sie auf den Krankenwagen warteten, sprachen die Ersthelfer ihm gut zu, versicherten ihm, dass alles wieder werden würde. Die Ärzte sagten etwas anderes.

Femurfraktur, beidseitig. Seine Oberschenkelknochen waren gebrochen. Sehr ungewöhnlich, meinten die Ärzte. Es bedurfte enormer Kraftaufwände, um die stabilsten Knochen des Skeletts zu brechen. Nichtsdestoweniger war es passiert und er lag mit zwei obskuren Metallgestellen um seine Beine auf dem Krankenbett eines Einzelzimmers, die Bettdecke über seine Knie nach oben geschlagen.

»Scheiße«, zischte er. Mit seinen Fingerkuppen tastete er über den komplizierten Fixeur aus perfekt eingestellten Schrauben und Stangen. Zog daran, nur um zu prüfen, ob es wirklich wehtat. Zuckte laut fluchend zurück, als höllischer Schmerz von gerissenen Muskeln und gequetschtem Gewebe seine Wirbelsäule hinaufschoss.

»Sasuke-kun!«

Er wollte nicht zu ihr sehen; konnte ihr nicht in die mitleidigen, treuherzigen Augen blicken. Diese junge Frau, die ihm schon als Mädchen nachgelaufen war und ihn selbst hier in Tokio noch verfolgte. Soweit er sich erinnern konnte, war sie bei jedem Regionalspiel seiner Fußballmannschaft gewesen. Jedes Mal hatte sie ihn angefeuert, selbst – oder gerade wenn er ihren Jubel für unnötig hielt. Denn er war gut. Einer der Besten sogar. Darum war er nicht wie sein perfekter Bruder auf die Tōdai gegangen, sondern an eine Universität mit einer ernstzunehmenden Fußballmannschaft. Platz zwei in der Universitätsliga, zu großen Teilen dank ihm.

Nun sah Sakura ihn so. Einen Krüppel. Und er konnte es nicht ertragen.

»Geh weg«, befahl er in einem Tonfall, der hart und kalt klingen sollte, aber rau und jämmerlich herauskam. Vorhin hatte Sasuke seine Eltern weggeschickt – seinen vielbeschäftigten Vater, der extra aus einem wichtigen Meeting geholt worden war und seine wohlmeinende Mutter, die es gewagt hatte ihn zu trösten mit, du hättest ja sowieso nur mehr die nächste Saison spielen können, bevor du dein Auslandsjahr machst.

Sakura dachte nicht daran, zu gehen. Schuldbewusst hob sie ihre leeren Hände. »Ich wollte dir etwas mitbringen, aber ich wusste nicht, was in so einer Situation angemessen ist.« Langsam stellte sie einen der Besucherstühle neben das Bett und ließ sich darauf nieder. »Darum hab ich nur ein Versprechen mitgebracht.«

»Ich will nichts, Sakura.«

Sie schüttelte den Kopf. »Du bist aufgewühlt und hast Schmerzen, aber das ist nicht das Ende der Welt, Sasuke-kun. Die moderne Physiotherapie ist gut und mit einem Fixeur geht alles viel schneller. Du bist nicht der erste Fußballspieler, der schwere Verletzungen hat. Sie kommen alle wieder auf die Beine und du auch.«

»Nein, Sakura, komme ich nicht. Muss ich auch nicht, nicht wahr? Wir können die UCHIHA Corp. einfach rollstuhlgerecht machen.«

Sie blinzelte verwirrt. »Was?«

»Du verstehst das nicht, okay? Wie könntest du.«

Jahrelang hatte er nichts gesagt, hatte sich von ihr beschatten lassen, denn welchen Unterschied machte es schon? Aber jetzt, hier, in diesem Moment der Verletzlichkeit, konnte er nicht den Mann spielen, der ihre übertriebene Bewunderung wert war.

»Du raffst es nicht, Sakura! Weil du keine Ahnung hast, wer ich wirklich bin! In welcher Welt ich lebe! Verdammt!« Er schlug eine Faust auf die weiche Matratze. Eine effektlose Geste, so sinnlos wie sein Ausbruch. Er war erbärmlich. So unglaublich erbärmlich.

»Ach ja?« Sakura legte ihre Hand auf seine Faust, erst zaghaft, dann umfasste sie sie. »Fußball ist mehr für dich als nur dein Hobby. Beim Spielen fühlst du dich frei und gut. Und du kannst es nicht ertragen, dass deine Familie deine Leidenschaft nicht akzeptiert und nur auf deinen Abschluss wartet, damit du dein Leben dem Familienunternehmen widmest. Ich weiß vielleicht nicht alles, Sasuke-kun, aber wenn du dir mal die Mühe machst, mit mir zu reden, höre ich zu. Also stell dich nicht so an.«

Er starrte sie an, direkt in diese funkelnden grünen Augen, die ihm so empathisch wie herausfordernd fixierten, als würden sie nur darauf warten, dass er ihr einen weiteren Happen hinwarf, an dem sie ihm beweisen konnte, wie falsch er lag.

Aber da war nicht mehr. Das war alles. Sein gesamtes Leben in zwei Sätzen zusammengefasst.

»Ich verstehe dich«, fügte Sakura hinzu und lehnte sich ihm entgegen, damit sie auch seine andere Hand in ihre nehmen konnte. »Ich war nie in deiner Situation, aber ich verstehe was du durchmachst. Lass mich dir helfen, Sasuke-kun. Nur dieses eine Mal.«

Er sah sie weiterhin an. Seine Brust zog sich zusammen, sein Atem verkürzte sich. Was passierte mit ihm? Plötzlich waren da Tränen in seinen Augen, wie damals vor so vielen Jahren, als er seinen Vater angefleht hatte, ihn in Konoha zu lassen, bei seinen Freunden, seinem Team, seinem Zuhause. Nur dass er sie diesmal nicht zurückhalten konnte.

Und plötzlich schluchzte er. Weinte er. Zum ersten Mal seit seiner Kindheit, als ihm finstere Monster Angst gemacht hatten. Und Sakura … Sakura schüttelte nicht wie seine Mutter amüsiert den Kopf, befahl ihm nicht wie sein Vater, sich zusammenzureißen. Sie überschritt die Grenze, die er vor so vielen Jahren gezogen und seitdem mit Schulterzucken und Augenrollen verstärkt hatte. Ließ sich neben ihm am Bett nieder.

Und umarmte ihn.
 

 

Tōkyō, Japan; Gegenwart

 

Sakura rümpfte die Nase über die achtlos am Boden liegende Männerhose. Nicht, weil es eine Hose war oder weil sie eindeutig auf den Hüften eines Mannes gesessen hatte, bevor Ino sie in vermutlicher Verzückung über dessen festen, runden Hintern gestreift hatte, ehe sie in Ekstase über das entkleidete Individuum hergefallen und – nein.

Sakura störte sich nicht daran, dass Ino offensichtlich einen Mann abgeschleppt und so lauten Sex mit ihm gehabt hatte, dass Sarada davon aufgewacht war. Das Kind war noch zu klein, um lusterfüllte Schreie zu verstehen. Es frustrierte sie, dass sie es hatte mitanhören müssen.

Frustriert kickte Sakura die Männerhose zur Seite, um den Weg zum Esstisch freizumachen, wo sie ihren Laptop aufklappte und langgezogen seufzte. Wann hatte sie zuletzt mit ihrem Ehemann geschlafen? Es war zu lange her. An ihr letztes gutes Mal mit Sasuke konnte sie sich nicht einmal erinnern. Zu viele einsame Nächte und hitzige Streits waren seitdem vergangen.

Nun saß sie in Inos Küche und googelte neben einer randvollen Kaffeetasse, wie man Kündigungsschreiben formulierte. Je früher sie sich ein eigenes Leben aufbaute, desto besser. Egal wie es mit Sasuke und ihr weiterging. Gestern hatte sie ein langes Telefonat mit ihrer früheren Mentorin geführt und sie darum gebeten, ein gutes Wort in einem der örtlichen Krankenhäuser für sie einzulegen. Krankenhäuser waren gut vernetzt und Tsunade wusste, wie man Fäden zog. Mit etwas Glück konnte Sakura nächstes Jahr sogar mit ihrer Facharztausbildung beginnen. Stellen für Kardiologie gab es fast überall.

Erst nach einer Weile wurden ihre Recherchen durch das Klicken einer Tür am Ende des Flurs gestört. Die leichten Schritte gehörten eindeutig zu Ino, die ein paar Sekunden später in Jogginghose und mit zerzaustem Haar vor Sakura stand.

»Ach ja, ich wohne ja derzeit nicht alleine hier. Ups.«

»Anstrengende Nacht gehabt?«

»Möglich«, meinte Ino knapp, unschuldig an ihrem Getränk nippend. Mit dem Schluck versuchte sie das breite Grinsen zu kaschieren, das sich über ihre Lippen zog. Nicht, dass ihr Versuch irgendetwas brachte.

Das war das Höchstmaß an gespieltem Desinteresse das Sakura aufbringen konnte. Sarada war längst im Kindergarten und so wie Inos Liebhaber geklungen hatte, würde er sich noch ein paar Stunden ausruhen müssen. Mit hochgezogenen Augenbrauen klappte Sakura den Laptop zu. »Also. Wer ist er? Wie sieht er aus? Erzähl mir alles.«

Ino presste die Lippen aufeinander. »Ich bin mir nicht sicher, ob du das hören möchtest«, überlegte sie vage.

Sakura verengte die Augen. »Komm schon, Ino! Ich brauch irgendwie wieder Erotik in meinem Leben und die Wände sind so dünn, dass ich sowieso quasi dabei war. Wen hast du aufgerissen? Verzweifelter Künstler? Insolventer Hedgefondsmanager?«

»Nein!« Entsetzt warf Ino die Arme in die Luft. »Jetzt hör auf zu raten. Bei dir klingt mein Beuteschema ja erbärmlich.«

Das Ausweichmanöver war viel zu leicht zu durchschauen. Seit wann war Ino so eine Geheimniskrämerin in diesen Dingen? Wenn überhaupt, wusste Sakura zu viel von ihrem Sexleben. Dass sie jetzt so herumdruckste, war verdächtig. Und der eben aufgetauchte Mann im Türrahmen machte deutlich, warum.

Es dauerte eine Sekunde, bis Sakura verarbeitet hatte, was sie sah. Einerseits, weil sie Uchiha Itachi noch nie mit zerknittertem Hemd, offenen Haaren und ohne Hosen gesehen hatte. Andererseits, weil sie erst die Chance ausrechnen wollte, dass ihr Schwager aus einem komplett anderen Grund als dem offensichtlichen halbnackt vor ihr stand. Pech für sie. Die Situation war ziemlich eindeutig. Sie versuchte krampfhaft, Itachi nicht mit dem lauten Stöhnen der vergangenen Nacht in Verbindung zu bringen; versuchte nicht daran zu denken, dass sie sich ziemlich detailliert vorgestellt hatte, welche Stellungen der mysteriöse Liebhaber wohl gewählt hatte und versuchte die gesichtslose Gestalt ihrer Gedanken nicht mit ihrem Schwager zu ersetzen.

Es half alles nichts.

»Sakura-san«, brachte er als erster heraus. Ino hatte ihr Gesicht in die Handflächen gedrückt, um nicht Zeuge dieser peinlichen Begegnung zu werden.

»Itachi-san.« Sakura schluckte. »Deine Hose liegt hinter der Couch.«

Er nickte nüchtern, dann verschwand er ins Wohnzimmer. Ino folgte ihm, eine stumme Entschuldigung auf den Lippen.

Über die nächste Minute versuchte Sakura sich auf ihr Kündigungsschreiben zu konzentrieren und nicht auf die gesenkten Stimmen, die vom Wohnzimmer ins Badezimmer und von dort den Flur entlang zum Eingangsbereich wanderten. Sie würde so tun, als wäre das hier nie passiert. Niemalsniemalsniemals. Nein. Ein paar Minuten später kam Ino zurück, vollständig angekleidet, und Sakura konnte es nicht ignorieren.

»Er trägt Boxershorts von Armani«, sagte Sakura. Der Anblick hatte sich eingebrannt. Würde für immer in ihren Gedanken bleiben. »Es überrascht mich nicht, aber jetzt weiß ich mit definitiver Sicherheit, dass mein Schwager Boxershorts von Armani trägt.«

»Willst du immer noch wissen, wie groß sein –«

»Nein!«, unterbrach sie. »Alles, nur das nicht. Verdammt, Ino! Von allen Männern auf der Welt, die du haben kannst, musst du ausgerechnet mit Itachi-san schlafen!« In ihrer Agonie brach sie über ihrem Laptop zusammen und wedelte resignierend mit ihrer Hand über dem Kopf. »Dieses Leben ist zu viel für mich.«

»Jetzt reiß dich zusammen.« Lachend stupste Ino sie an der Schulter. »Wir sind alle erwachsen. Du bist mit seinem Bruder verheiratet, also wirf nicht mit Steinen. Wir sitzen beide im selben Glashaus.«

Sakura sah auf. Ihrer Meinung nach saßen sie nicht im selben Glashaus. Sasuke war unreif und egozentrisch, aber Itachi … »Du hast recht. Tut mir leid. Ich will nur nicht, dass du … du siehst ja, wie das mit Sasuke läuft. Sein Bruder ist zehnmal schlimmer.«

»Mag sein.« Ino ertränkte ein verschmitztes Grinsen in ihrer Kaffeetasse. »Aber der Sex ist Wahnsinn. Ist Sasuke auch so gut mit der Zunge –«

»Ino!«
 

 

Sasuke kam zu spät. Eine Minute. Verfluchte sechzig Sekunden, weil der Aufzug unvorhergesehen hängen geblieben war und er die Treppen hatte nehmen müssen. Der Vortrag über Verantwortung und die Notwendigkeit von Pünktlichkeit in der Geschäftswelt hatte doppelt so lange gedauert.

Itachi kam ebenfalls zu spät. Eine halbe Stunde, ganz ohne Begründung oder Entschuldigung. Er wurde begrüßt und über die bereits diskutierten Punkte der Agenda gebrieft.

Das Leben war beschissen. Dieses Unternehmen war beschissen. Ein Haufen bigotter Lackaffen in einer hübschen Welt aus goldenen Kugelschreibern und wichtigen Signaturen. Sasuke kannte ihre Namen und ihren Verwandtschaftsgrad zu ihm – seine Cousins Inabi und Naka, seine Großtanten Kaede und Fumi, sein Großcousin Tetsu – dennoch waren sie nichts mehr als ein Einheitsbrei an dunklen Augen und schwarzen Haaren, die ihn kritisch beäugten. Wie viel musste er noch geben, um dazuzugehören? Bis vier Uhr morgens hatte er Tabellen und Projektpläne aktualisiert, hatte Hochrechnungen angestellt, hatte seinen Schlaf und sein letztes frisches Hemd für diese eine Zahl geopfert, »Zwanzig Millionen Yen.«

»Bist du sicher, dass du damit auskommst, Sasuke?«, fragte Fugaku, tief versunken in dem Ordner, in dem Sasuke alles minuziös aufgeschlüsselt hatte.

Natürlich war er sich sicher. Seit einer Woche trug er rastlos alle relevanten Informationen dafür zusammen, nur für zwei Tage unterbrochen durch seine sinnlose Fahrt nach Konoha. Seine Rechnungen waren perfekt. Aber sein Vater wollte die Antwort nicht von ihm hören.

»Wie siehst du das, Itachi?«

Sasuke war nicht überrascht. Wartete wortlos, bis sein genialer Bruder die Ausdrucke durchgegangen war und seine Bestätigung gab. Ja, die Zahlen erschienen ihm realistisch. Welch Wunder, Sasuke hatte etwas richtiggemacht. Kaede und Tetsu funkelten ihn an, als hätte er ihnen ins Gesicht gespuckt. Seit Jahren wartete der Aufsichtsrat darauf, dass er einen letzten fatalen Fehler machte, um ihn ein für alle Mal loszuwerden. Nicht heute.

»Die Posten acht, neun und sechzehn«, sagte Itachi plötzlich, den Blick auf die Unterlagen gesenkt, »sehe ich allerdings als redundant. Wenn wir sie zusammenfassen und um die Hälfte kürzen, sparen wir rund vierzehn Prozent. Und wir sollten die Übersetzungskosten auf die Marketingabteilung buchen.«

»Übersetzungskosten vor dem Launch laufen immer über das Projektbudget«, wandte Sasuke ein. Es war ein schlechtes Argument, und er realisierte es in dem Moment, in dem er es gesagt hatte.

Angespannte Stille legte sich über den runden Mahagonitisch. Ein paar der Anwesenden überlegten, der Rest wartete ab. Überraschenderweise war es Fumi, die zuerst wieder sprach. Sie war eine kleine, strenge Frau Ende sechzig, die seit vierzig Jahren in die Geschickte des Unternehmens involviert war. Sasuke konnte sich nicht daran erinnern, jemals ein direktes Wort mit ihr gewechselt zu haben. Umso überraschter war er, als sie ihn unvermittelt ansah.

»Wenn Sasuke-san darauf vertraut, dass die Umsätze im nächsten Jahr an die Erwartungen herankommen, sollten wir das Budget freigeben. Spricht noch etwas dagegen außer ein etwas schlechterer Jahresbericht?«

Erneut fokussierten alle Augen auf Itachi. »Die Frage ist wohl eher, was für einen etwas schlechteren Jahresbericht spricht.«

Frustriertes Zischen schob sich durch Sasukes Lippen nach draußen. Verdammt. Er hatte sich vorgenommen, ruhig zu bleiben. Professionell zu sein. Keine Angriffsfläche bieten, nicht in den Zahlen, nicht an seinem Verhalten. Und doch. »Was genau ist dein Problem?«

Er wusste, dass er schlecht reagierte. Dass er die Anwesenden förmlich einlud, ihm seine schlechten Manieren, sein unprofessionelles Auftreten vorzuwerfen. Ihm einmal mehr zu sagen, dass er sich ein Beispiel an seinem perfekten Bruder nehmen sollte, der ihn einfach nur ansah, als verstünde er die verfickte Frage nicht.

Aber Sasuke hatte alles gegeben, jeden Tag, jede Nacht, hatte sich von Kaffee und Kopfschmerzpulver ernährt, um diesen Bericht zusammenzustellen. Alles. Für das hier.

Dafür, dass Itachi mit einem einzigen Satz den winzigen Funken von Respekt zunichtemachte, für den Sasuke seit Jahren kämpfte. Er konnte Fumi eine Notiz in den Unterlagen machen sehen und er wusste, dass er verloren hatte. Einmal mehr. Einfach so.

Er stand auf. Und ging. Aus der Tür, in den Aufzug, hinunter in die Tiefparkgarage. Fuhr nach Hause. In eine leere Wohnung. Warf sein Sakko in eine Ecke und öffnete so viele Hemdknöpfe, bis er wieder frei atmen konnte. Ein Fußballspiel, das war, was er jetzt brauchte.

In einem der hinteren Kanäle fand er eines. AFC Champions League, Viertelfinale. Urawa Reds gegen al-Hilal, ein Spiel auf verlorenem Posten für die Saudi-Araber, aber immerhin hielt sich der Ballbesitz in etwa sechzig zu vierzig. Es brachte ihn auf andere Gedanken, machte ihn nostalgisch bis zu dem Punkt, an dem er die zweite Halbzeit ignorierte und ein Fotoalbum aus einer lange vergessenen Schublade kramte. Sakura hatte es ihm geschenkt, als er einen harten Rückschlag bei seiner Physiotherapie erlebt und vom Aufgeben gesprochen hatte. Es war kitschig, wie alles, was sie jemals für ihn gebastelt hatte, und dieser kleine, bislang unbedeutende Fakt ließ sein Herz verkrampfen.

Es waren schöne Erinnerungen, die er durchlebte, als er die Fotos samt verschnörkelten Beschriftungen und künstlerischen Versuchen von gemalten Fußbällen und Toren durchblätterte. Selbst ohne die Angabe von Ort, Datum und Gegner hätte Sasuke die meisten Fotos identifizieren können. Jedes seiner Spiele war auf irgendeine Art unvergesslich gewesen.

Beim Heimspiel gegen die Ryūtsū Keizai Universität im März vor acht Jahren hatten sie in den ersten sechs Minuten zwei Tore geschossen und in der zweiten Halbzeit mit acht zu zwei bitter verloren. Im Freundschaftsspiel gegen die Medizinische Fakultät der Akita Universität in der nächsten Saison war er wegen einer Kollision mit einem Verteidiger im eigenen Strafraum nach nur sechzehn Minuten Spielzeit ausgewechselt worden. Und im Finale der Kantō-Regionalliga gegen Waseda United hatte er nach einem riskanten Ballwechsel das entscheidende Tor in der vierundneunzigsten Minute geschossen und damit seinem Team zum ersten Mal seit sechzig Jahren den Aufstieg in die dritte Liga derJapan Pro Soccer League erkämpft – in der sie das erste Spiel vernichtend verloren und sich allesamt ein blaues Auge geholt hatten, denn natürlich hatten sie nichts in einer Profiliga zu suchen.

Bei jedem Spiel hatte es etwas gegeben, das ihn begeistert hatte, egal ob Sieg oder Niederlage. Und jetzt? Jetzt saß er in Budgetmeetings und trug Projektberichte vor und konnte einen Tag nicht vom nächsten unterscheiden.

Ein Anruf riss ihn aus seinen Gedanken. Itachi. Er hatte keine Lust, abzuheben, dennoch tat er es. Vielleicht, weil er sich selbst hasste. Weil er sowieso auf verlorenem Posten stand. Besser, er brachte es schnell hinter sich.

»Was willst du?«, fragte er. Im Hintergrund hörte er Fahrgeräusche und Hupen. Später Abendverkehr. War er wirklich den ganzen Abend dagesessen und hatte seiner verpatzten Fußballkarriere nachgetrauert?

»Die Marketingunterlagen sind fertig. Yoshida-san hat die Flyer und Broschüren auf die neue Präsentation angepasst.«

»Und?«, brummte Sasuke. Was ging ihn das an? Es war nicht so, als hätte er in seinem Projekt irgendetwas zu sagen. Seit Wochen quälte Itachi sich mit dieser verdammten Präsentation herum. Natürlich bekam er sie gerade jetzt fertig, um seine Genialität pünktlich zu den Budgetmeetings einmal mehr unter Beweis zu stellen und Sasuke den letzten Funken Genugtuung zu nehmen, der ihn über ebenjene Wochen über Wasser gehalten hatte.

»Ich dachte, du würdest sie gerne sehen, bevor wir sie in Übersetzung und Druck geben. Es ist immerhin dein Projekt.«

Auf Papier vielleicht. Dass Itachi ihn daran erinnern musste, wer die Projektleitung eigentlich hatte, sprach eine andere Sprache. »Wie alles andere, das du tust, wird bestimmt auch das brillant sein. Gib sie frei, ist mir scheiß egal.«

»Sasuke –«

»Nein, wirklich«, beharrte er. Sasukes Knie protestierte, als er aufstand. Stundenlang auf dem Boden zu sitzen war keine gute Idee gewesen. Während er in seiner dunklen Küche nach Alkohol und einem passenden Glas suchte, sagte er, »Du machst das schon. Und weil du so genial bist, trinke ich auf dich. Scotch ist hoffentlich nach deinem Geschmack. Cheers.«  

Er hörte Itachi seufzen, dann legte er auf. Trank das viel zu volle Glas mit zwei Schlucken aus und unterdrückte den aufkommenden Husten, den die süß-brennende Flüssigkeit aus den Tiefen seiner Kehle heraufkitzelte. Eine heiße Gänsehaut jagte über seinen Nacken seine Arme entlang und ließ ihn schaudern.

Ein zweites Glas folgte, diesmal nicht auf seinen Bruder, sondern auf seinen Vater und Tante Fumi und Cousin Tetsu und den Rest des Aufsichtsrates – nein, auf seine gesamte Familie, die er seit dreißig Jahren enttäuschte. Der zweite Sohn mit seinem sinnlosen Hobby und der nicht standesgemäßen Ehefrau. Der kluge Junge, der leider kein Genie war. Der ach so bemüht war und doch nichts auf die Reihe bekam.

Das dritte Glas trank er auf Sakura. Seine Frau, die er gegen den Willen seiner Familie geheiratet hatte. Die er in diesem Haifischbecken als Verbündete gesehen hatte. Und die ihn am Ende ebenso verraten hatte wie alle anderen. Die behauptet hatte, dass sie ihn verstand, seinen Kampf, seine Fehler, und nun weg war, weil sie es nicht verstand. Es tat weh, so unglaublich weh, dass er die Scotchflasche mit seinem Arm und einem Wutschrei zur Seite wischte. Realisierte, dass sie fallen und zerbrechen würde, wie sein Projekt, wie seine Ehe, wie die Beziehung zu seiner Tochter, weil Scherben alles war, das er produzieren konnte. Versuchte die Flasche aufzufangen in einem verzweifelten Versuch, weil er es nicht ertragen konnte, noch mehr zu zerstören.

Aber er konnte es nicht länger leugnen und die gläsernen Kanten schnitten in seine Haut und taten mehr weh als alles andere, weil die Schnitte und das Blut und die Scherben einhergingen mit der bitteren, der einzigen Wahrheit.

Er hatte nicht nur alles gegeben, er hatte alles geopfert. Und nun saß er da, beobachtete das Blut über seine Haut quellen und in feinen Linien über seinen Unterarm rinnen und schmollte wie ein unreifes Kind, das mit dem Fuß laut aufgestampft hatte und trotzdem nicht beachtet wurde. Weil er ein Idiot war. Ein sinnloser, dummer Idiot, der einem Lob nachjagte, das er niemals bekommen würde, egal wie sehr er sich anstrengte.

Er würde immer der zweite Sohn bleiben. Immer nach Itachi kommen. Immer eine Armlänge entfernt bleiben von der Anerkennung, der er so versessen seit dreißig Jahren nachjagte.

Und es war ihm egal. Weil es nicht synCOM oder die UCHIHA Corp. oder sein Vater oder Itachi war, deren Abwesenheit ihm in seinem tiefsten Moment heiße Tränen in die Augen trieb. Weil er nicht das Lob vermisste oder eine brüderliche Umarmung.

Sondern Sakuras naiven Optimismus, Sakuras bedingungsloses Lächeln. Sakura, die immer dagewesen war, für die er nichts hatte opfern müssen, sondern die ihm alles geschenkt hatte. Sakura, die nicht da war, um ihn zu trösten, als er in raues Schluchzen und bittere Tränen ausbrach, bis seine Stimme brach.

Weil er versagt hatte. Nicht als Projektleiter oder Mitarbeiter.

Sondern als Mensch.
 

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Spontankäufe


 

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Tōkyō, Japan; 7 Jahre zuvor
 

Zwei Millionen Yen. Drei Stunden Beratungsgespräch im edelsten Juwelier der Stadt. Der Aufwand, Izumis Lieblingsring unbemerkt zu entwenden. Zwei eingeforderte Gefallen, um einen Tisch im besten Lokal Japans zu bekommen. Und Izumi starrte das rote Samtkästchen auf dem gedeckten Tisch vor ihr nur an. Es war ungeöffnet und sie würde es auch nicht öffnen. Weil sie längst wusste, was sich darin befand. Der Schmerz in ihrem Gesicht sprach Bände, als sie es über die Tischdecke zurückschob.

»Tut mir leid«, sagte sie leise.

Damit hatte Itachi nicht gerechnet. Wie auch? Sie waren seit dem Studium zusammen, hatten sich gemeinsam am Campus verlaufen und waren aus der Bibliothek geworfen worden. Hatten sich in Izumis schmalem Einzelbett um jeden Quadratmillimeter Platz gezankt, weil ihr karges Zimmer im geförderten Wohnheim so viel näher war als Itachis voll ausgestattetes Appartement am Stadtrand.

»Ich verstehe nicht«, erwiderte Itachi. Er klang gefasst, aber war alles andere als das. Sie waren das perfekte Paar. Izumi war kultiviert und elegant, verstand sich hervorragend mit seiner Mutter und konnte sogar seinem Vater das ein oder andere Kompliment entlocken. »Du wolltest doch immer heiraten.«

Ihre Augen suchten nach etwas in seinem Gesicht, das ihr Aufschluss darüber geben konnte, was hinter seiner gelassenen Maske in ihm vorging. Nach neun Jahren war sie gut darin geworden. Sie fand, was sie gesucht hatte, und legte ihre Hand auf seine.

»Ja. Ich liebe dich, Itachi, und das werde ich immer. Aber … du lebst für deine Firma, für deine Familie. Bitte verlang von mir nicht, dasselbe zu tun. Die Zukunft, die wir haben können, würde uns beide nur unglücklich machen.«

Er sah sie an, suchte nach einer Antwort, einem Einwand, irgendwas, doch es kam nichts. Izumi hatte sich entschieden und er musste akzeptieren, dass sie recht hatte.

An diesem Abend übernahm sie die Rechnung und er fuhr sie nach Hause. In all den Jahren hatte sich nie eine gemeinsame Wohnung ergeben. Vielleicht war das schon das erste Symptom gewesen. Itachi wusste es nicht. Es war irrelevant.

Sie umarmten sich zum Abschied. Ein nüchternes Ende nach einer langen Zeit.

Am nächsten Tag nahm er das Jobangebot in Los Angeles an, das er bislang aufgeschoben hatte. Er würde nutzen, was Izumi ihm geschenkt hatte – die Freiheit, sich seiner Arbeit zu widmen. Ohne Einschränkungen.
 

 

—Tōkyō, Japan; Gegenwart

 

Itachi wunderte sich über viele Dinge an diesem Morgen. Warum Tanakas E-Mail mit den Abteilungsergebnissen des letzten Quartals immer noch nicht in seinem Posteingang war, oder warum Ino sich seit Tagen nicht gemeldet hatte, oder warum Sasuke nach dem Budgetmeeting komplett übergeschnappt war. Vor allem aber wunderte er sich, ob er nach all den Jahren nicht mehr rechnen konnte.

Eins plus eins ergab zwei und von dort war es in Itachis Kopf nicht mehr weit zum globalen Maximum einer Polynomfunktion. Nur dass die Zahlen vor ihm aus keiner gängigen oder ihm auch nur ansatzweise bekannten Funktion, Gleichung oder Annäherung hervorgehen konnten. Sie waren falsch, schlichtweg falsch, und er fragte sich, wie das sein konnte.

Nein, das war falsch formuliert. Wer eins und eins zusammenrechnen konnte, war auch dazu in der Lage, Briefkastenfirmen in Singapur und fehlerhafte Kostenreporte zu kombinieren. Das Merkwürdige war nur, dass die Briefkastenfirmen plötzlich Gelder in die Firma hineinpumpten.

Nach seiner Reise nach Singapur hatte Itachi die Sache ruhen lassen in der Hoffnung, dass die paar Millionen versickerten Yen eine einmalige Sache waren. Wenn ein paar ältere Familienmitglieder ihre Rente aufpolieren wollten, hätte er das nicht gutgeheißen, aber er hätte die Sache ziehen lassen. Doch unerklärliche Umsätze in Milliardenhöhe waren nichts, das er weiterhin ignorieren konnte. Vor allem nicht, wenn er den Sinn dahinter nicht verstand. Die Beträge waren keiner Rechnung, keinem Projekt oder Kundenbetreuer zugeordnet. Sie waren einfach da. Wie konnte das sein?

Unzufrieden rollte Itachi mit seinem Schreibtischstuhl nach hinten und stemmte die Arme gegen die Glasfront seines Büros, um seinem steifen Nacken ein wenig Erleichterung zu verschaffen. Seit Ino ihn rückwärts auf ihr Bett geworfen hatte, fühlten sich seine obersten Wirbel an, als hätte jemand einen Zementsack angehängt. Er würde sich davon nicht ablenken lassen. Weder von nervigen Schmerzen noch von intimen Gedanken. Vielleicht war es gut, dass Ino nicht anrief. Dann musste er sie nicht versetzen.

Die UCHIHA Corp. hatte eine lange und schmerzhafte Geschichte, geprägt von Aufstiegen und Fällen gleichermaßen. Sie war als Handwerkerbetrieb mit dem Ausbau des staatlichen Telefonnetzes gewachsen, war gefallen mit stärker werdender Konkurrenz, war gerettet worden durch die Spezialisierung auf interne Telefonanlagen in Großunternehmen, und war erneut gefallen durch den Vormarsch der Computer. Es war zu großen Teilen Itachis Verdienst, dass sie heute lukrative Software für Intranet und Schnittstellen verkauften, anstatt mit verstaubten Telefonanlagen herbe Verluste zu schlucken.

Sein Großvater hatte das Unternehmen großgemacht und mit Kurzsichtigkeit an die Wand gefahren, sein Vater hatte es gerettet und mit seinem Traditionsbewusstsein ein zweites Mal fast zerschmettert. Itachi hatte es vor dem Aufprall bewahrt und er würde den Kreis nicht mit Ignoranz oder Ablenkung fortsetzen. Und er würde damit anfangen, seinem Vater ein paar Fragen zu stellen.

Fugakus Büro war nur ein paar Türen weiter, trotzdem straffte Itachi seine Krawatte und warf sein Sakko um, nur für den Fall, dass ihm ein Mitarbeiter über den Weg lief. Es war eine gute Entscheidung gewesen. Er war kaum aus der Tür, als ihn die Personalchefin abfing, um ihn darüber zu informieren, dass ihr gestriger Abteilungsbericht obsolet war. Sakura hatte gekündigt und stürzte damit die medizinische Abteilung in helles Chaos. Itachi gab sich milde überrascht und wies sie an, sich sofort um einen Ersatz zu kümmern, das restliche Gespräch vertagte er. Er hatte keine Zeit für die innerbetriebliche Auswirkung von Sasukes Ehedrama. Dachte er.

Das Büro seines Vaters war leer, auch sein Assistent war nicht auf seinem Platz. Ein Blick auf die Uhr enthüllte Itachis Fehler. Kurz vor Mittag holte Fugaku sich meistens Kaffee aus dem Automaten in der Produktion – ganz heimlich, wenn die dortigen Arbeiter bereits auf Mittagspause waren, um ja nicht zugeben zu müssen, dass er in den Tiefen seines feinen Magens die dünne Instantbrühe jedem italienischen Espresso vorzog. Es war nur eine von Fugakus Marotten, die er hinter dem archaischen Image des reichen Geschäftsführers verbarg. Itachi hatte ihn schon vor Jahren durchschaut. Er wusste auch, dass sein Vater üblicherweise zehn Minuten für seinen Beutezug benötigte, also ließ er sich auf einem der Besprechungsstühle nieder und wartete, bis die Tür geöffnet wurde. Es war nicht sein Vater, der eintrat.

»Itachi-san«, sagte Inabi überrascht. In seinen Händen hielt er einen Aktenordner und zwei Tablets. »Ist Fugaku-san nicht hier?«

»Offensichtlich nicht.« Itachi gestikulierte gegen einen zweiten freien Stuhl. »Ich warte auf ihn, du kannst mir gerne Gesellschaft leisten. Vielleicht kannst du mir ja sogar behilflich sein.«

Bis auf das Zucken in seinen Fingern blieb Inabi ruhig. »Ich werde mein Bestes versuchen, Itachi-san.«

»Anwälte sind doch schlau«, sagte Itachi. Er stand auf, um seine zwei Zentimeter überlegene Körpergröße ausspielen zu können. Dutzende Stunden Rhetoriktraining hatten ihm jeden bekannten Trick indoktriniert, und visuelle Ebenen waren gleich zu Anfang dran gewesen. »Kannst du mir beantworten, von wo wir in diesem Geschäftsjahr drei Milliarden Yen Gewinn eingefahren haben?«

Inabi bewegte sich keinen Millimeter. »Drei Milliarden? Vielleicht solltest du dich ein wenig ausruhen und nochmal nachrechnen.«

»Ich habe mich nicht verrechnet.«

»Oh, davon gehe ich auch nicht aus.« Inabi machte einen Schritt nach vorne und senkte die Stimme. Sein verengter Blick ging an Itachi vorbei über die sonnige Skyline der Stadt. »Es wäre nur besser für uns alle, wenn du trotzdem nochmal nachprüfst. Dich eingeschlossen. Ein gutgemeinter Rat unter Freunden.« Er trat zurück und deutete eine knappe Verbeugung an, sein Tonfall wieder neutral und geschäftig wie zuvor. »Wenn du Fugaku-san findest, sag ihm, Flux wird mal wieder verklagt und bittet um unsere Stellungnahme zur Datensicherheit unserer Produkte.«

»Ich werde es ihm ausrichten. Inabi-san.«

Dann war Inabi verschwunden und Itachi erlaubte sich, für einen kurzen Moment die Schultern zu senken. Verdammt. Das machte die Sache wesentlich komplizierter.

Für den Moment blieb ihm nichts weiter übrig, als ungesehen aus dem Büro seines Vaters zu verschwinden und seiner täglichen Arbeit nachzugehen, als wäre nichts gewesen. Bearbeitete E-Mails, als wäre nichts gewesen. Ignorierte eine eingehende Nachricht auf seinem privaten Smartphone und arbeitete weiter, als wäre nichts gewesen. Schickte Shirogane nach Hause und arbeitete weiter, als wäre nichts gewesen.

Bis ein Streit ihn ablenkte. Er war gedämpft durch ein wenig Distanz und eine geschlossene Tür, aber Itachi hatte Sasuke oft genug schreien gehört, um seinen aufgeregte Stimme auszumachen. Er wollte nicht nachsehen, wollte sich nicht einmischen in welche Kontroverse auch immer Sasuke und sein Vater jetzt schon wieder verkeilt waren. Doch der Streit dauerte an und der Tag war zu aufreibend gewesen.

Er stand auf, kümmerte sich diesmal nicht um seine lockere Krawatte und die aufgekrempelten Ärmel, und kam gerade rechtzeitig an, um Fugakus scharfe Frage durch die geschlossene Tür zu hören – »Ich wusste von Anfang an, dass dieses Haruno-Gör dich runterzieht! Wieso hast du sie überhaupt geheiratet?«
 

Wieder dieselbe entwaffnende Frage in diesem herablassenden Tonfall. Wieder dieselbe Implikation, derselbe Vorwurf, dieselbe Laier wie jeden Tag, jeden verdammten Tag.

Einmal mehr hatte sein Vater ihn in sein Büro zitiert, um ihn über sein unangebrachtes Verhalten zu belehren. Hatte nicht einmal nachgefragt, warum sein gesamter Unterarm einbandagiert war. Was kümmerten ihn die Dummheiten des zweiten Sohns, des unwichtigen Sohns? Nicht eine Silbe hatte er über Sasukes fahlen Blick oder Sakuras Kündigung verloren, oder die Tatsache, dass sein unwichtiger Sohn trotz allem pünktlich erschienen war.

Doch diesmal hatte Sasuke keinen Frust gespürt, keine Verzweiflung, sondern nur Wut, die so unbedingt, so dringend aus ihm herauswollte, dass er nur nach einer Ausrede gesucht hatte, um schreien zu können.

Und jetzt, wo er sie gefunden hatte, war er ruhig. Weil schreien keinen Sinn machte, nichts ändern würde. Weil Fugaku nicht derjenige war, dem er die Fehler anlasten konnte. Weil Sasuke endlich verstanden hatte, warum er so wütend war und was er wirklich sagen wollte.

»Weil ich Sakura heiraten wollte.«

Es war ein kleiner Satz, in irgendeinem anderen Kontext offensichtlich und wenig bewegend. Für Sasuke war es eine bahnbrechende Erkenntnis. Er blieb nicht, um die Reaktion seines Vaters zu beobachten. Sie war nicht wichtig, weil sein Vater nicht wichtig war. Weil die UCHIHA Corp. nicht wichtig war. Weil sein Bruder nicht wichtig war, den er mit seinen schnellen Schritten beim Verlassen des Büros umrannte und fast zu Boden stieß.

»Und du«, sagte Sasuke, noch ehe die Tür zugefallen war. Sein Vater konnte es ruhig hören, sollte es hören. »Du hast gewonnen, Itachi. Übernimm das Projekt, es gehört dir. Ich hab keine Lust mehr, für euch den scheiß Sündenbock zu spielen.«

Er hörte seinen Namen in seinem Rücken, doch er hatte alles gesagt. Was danach kam, interessierte ihn nicht, nicht jetzt zumindest. Sein Bruder schien das anders zu sehen. Schritte eilten ihm über den Teppichboden nach, eine Hand hielt ihn an der Schulter zurück.

»Sasuke, wo willst du hin?«

»Zu meiner Frau und meiner Tochter.«

Itachi schüttelte den Kopf. »Du bist viel zu aufgeregt, um zu fahren.«

»Du hältst mich nicht auf.«

Sasuke war auf jede Gegenwehr gefasst, war für jede Standpauke gewappnet – es war noch nicht einmal halb sechs und der Projektleiter konnte nicht vor Sonnenuntergang nach Hause gehen, schon gar kein Uchiha, denn Uchihas atmeten und bluteten für diese Firma. Doch Itachi bog in sein Büro ab, zog sein Jackett vom Kleiderhaken, und sagte, »Im Gegenteil. Ich fahre dich.«

Sasuke war zu perplex, um zu widersprechen.

Die Fahrt nach unten war schweigsam und unruhig, der kurze Weg zum Auto in der Tiefparkgarage und die Fahrt nach draußen ebenso. Itachi fuhr konzentriert über die voller werdenden Straßen, machte keine Anstalten, nachzufragen oder zu kommentieren. Nur das Radio spielte leise Musik, manchmal unterbrochen von Ansagen der Moderatorin und Werbung für Hundefutter.

Sasuke zog sein Smartphone aus der Tasche. Sakura hatte keinen Grund, ihm seine unglaubliche Erkenntnis zu glauben. Er musste ihr beweisen, wie ernst er es meinte.

»Fahr dort links«, wies er Itachi an.

Itachi schenkte ihm einen skeptischen Seitenblick. »Der schnellste Weg geht geradeaus.«

»Wir legen einen Zwischenstopp ein.«
 

 

Sakura stürzte aus der Dusche, nur ein dünnes Handtuch um ihren seifigen Körper, und erwischte ihr Smartphone gerade noch beim letzten Klingeln. Erst jetzt fiel ihr auf, dass ihre Aufregung reichlich übertrieben war, doch wer konnte es ihr verdenken?

Als Betriebsärztin zu arbeiten war nicht das Schlechteste gewesen. Die Arbeitszeiten waren für ein junge Mutter unüblich vorteilhaft, der Verdienst war gut, die Nähe zu ihrem Apartment – Sasukes Appartement – ein Bonuspunkt. Aber sie konnte mehr. Ein Universitätsabschluss summa cum laude hatte ihr eine Turnusstelle an einer renommierten Klinik eingebracht, von dort aus hätte sie überall hingehen können. Doch dann war sie mit Sarada schwanger geworden und Mikotos zermürbende Reden von Familienpflichten und Erwartungen an Uchihamütter hatten Sakura in die Stelle als Betriebsärztin getrieben. Nach der Karenz hatte sie versucht, sich mit Weiterbildungen in Psychologie und Mediation herauszufordern, aber sie war töricht gewesen. Welcher Mitarbeiter klagte schon bei der Schwiegertochter vom Chef?

Darum setzte ihr Herz einen Schlag aus, als sie eine Festnetznummer auf dem Display erkannte und der Mann am anderen Ende der Leitung sie tatsächlich zu einem Vorstellungsgespräch im ANA Medical Center in Setagaya einlud. Tsunade war genial!

Natürlich nahm sie an, legte auf und sprang vor Freude so hoch in die Luft, dass sie beim Aufkommen ihre Knie bedrohlich knacksen hörte. Wenn sie diesen Job bekam, würde sie viel praktische Erfahrung aufholen müssen, aber sie war schlau und, auch wenn gerade ihr Rücken wehtat, war sie noch jung genug, um in ein paar Jahren ihren Facharzt zu machen.

Zum allerersten Mal seit Jahren sah das Leben wieder gut aus.

Den ganzen Tag über behielt sie ihr Grinsen, selbst als sie Sarada vom Kindergarten abholte und die Pädagogin ihr erzählte, dass Sarada sich heute mit einem Jungen geprügelt hatte. Sie war also nun in der Trotzphase, kein Drama! Nichts konnte ihren Tag trüben.

Während Sarada aß, durchforstete Sakura die Homepage des ANA Medical Centers. Es war ein Allgemeinkrankenhaus mit den meisten üblichen Stationen, inklusive einer Psychiatrie. Wenn sie Glück hatte, konnte sie sich ihre Psychologieweiterbildung anrechnen lassen und ein wenig Zeit sparen. Ja, das Leben war eindeutig wunderbar, wunderbar, wunderbar. Sogar das Klingeln an der Tür war wunderbar, denn sie hatte sich einen sündhaft teuren Designermantel bestellt und –

»Sasuke.«

Ihre Euphorie war weg. Nicht einmal zerbrochen mit sichtbaren Scherben am Boden, sondern einfach weg, als wäre sie nie dagewesen. Sie seufzte, leise und kurz, weil sie keine Kraft für eine neue emotionale Achterbahn hatte.

Er sagte nichts, hob nur eine blaue Stofftasche hoch, an deren Seiten Netze eingenäht waren. Sie gaben den Blick auf ein verängstigtes schwarzes Kaninchen frei. Jetzt war er komplett übergeschnappt. Hatte die Einsamkeit ihn gebrochen, oder die viele Arbeit? Ungewolltes Mitleid quoll in ihr hoch, als das Kaninchen fiepte und Sasuke sich an einem geschundenen Lächeln versuchte.

»Ich wollte einen Hund«, sagte er endlich, als täte das irgendetwas zur Sache. Sein Teint war fahl, seine Kleidung zerknittert, seine Augen müde, ein Verband war um seinen Unterarm geschlungen, doch er sah klar aus und sprach ruhig, beherrscht. »Aber die Verkäuferin meinte, dass man Welpen nicht einfach in einer Kleintierhandlung kaufen kann. Also hab ich den Kerl hier mitgebracht.«

»Sasuke, ich …« Sie wusste nicht, wie sie den Satz zu Ende bringen sollte. Vorsichtig fragte sie, »Brauchst du Hilfe? Seelischen Beistand meine ich.«

Mit einem verwunderten Blick zu dem Kaninchen schien Sasuke zu realisieren, welchen Eindruck er machte. Er sah wieder auf und schüttelte den Kopf. »Ich … ich habe gekündigt. Und habe endlich eine Antwort. Ich habe dich geheiratet, weil ich dich liebe, Sakura. Nicht, weil du dich an meinem Arm auf Galas schick machst oder du einflussreiche Beziehungen hast. Du hast nie in den großen Plan meiner Familie gepasst, kein Stück weit.«

»Wenn du mich provozieren willst, Sasuke, bist du auf einem guten Weg –«

»Nein! Was ich sagen will – du und Sarada, ihr seid das einzige, für das ich mich jemals bewusst entschieden habe. Nicht, weil mich jemand beeinflusst hat, oder weil man es von mir erwartet hat, sondern weil ich dich an meiner Seite haben wollte –«

»Na und?« Sie verschränkte die Arme. »Das sind nette Worte, wirklich, aber mehr nicht. Woher weiß ich, dass ich dir diesmal vertrauen kann?«

»Weißt du nicht.« Sasukes Stimme wurde schneller, aufgeregter, angespornt von etwas tief in ihm. »Aber, Sakura, es ging niemals um dich. Ich war das Problem. Das verstehe ich jetzt. Und von hier aus können wir weitergehen. Nicht wahr?«

»Das klingt nicht halb so romantisch wie du vielleicht denkst.«

»Mag sein«, fuhr er fort, machte einen Schritt auf sie zu; nur einen kleinen, um zu testen, ob sie zurückweichen würde. Als sie auf der Stelle blieb, legte er seine freie Hand auf ihre Wange, strich sanft darüber und Himmel fühlte es sich gut an. »Aber es ist echt. Und es ist ein Anfang.«

Sakura nickte nach unten. »Und das Kaninchen?«

»Spontankauf. Wir können es bis heute Abend zurückgeben, wenn du es nicht willst. Aber ich dachte, es wäre gut, um dir ein Versprechen zu geben. Dass, egal wie es weitergeht, ich jeden Tag früh genug zu Hause sein werde, um es zu füttern. Das heißt, ich bin auch früh genug zu Hause, um mit dir zu kochen und Sarada ins Bett zu bringen.«

Sakura war überfordert. Er hatte sie wieder losgelassen, hielt ihr das Kaninchen erwartungsvoll entgegen. Und vielleicht war es die Euphorie des heutigen Tages, die sie überzeugte, sie erneut etwas wagen ließ, diesmal ganz bewusst.

Sie streckte die Hand nach dem Kaninchen aus. »Wir sollten es reinbringen. Das arme Kerlchen sieht aus, als hätte es eine Panikattacke.« Vorsichtig händigte Sasuke die Tasche aus und beobachtete Sakura von der Türschwelle aus, wie sie Inos Küche nach einer Wasserschüssel und übriggebliebenem Gemüse durchsuchte. Sie drehte sich zu ihm um. »Jetzt komm schon rein, deine Tochter hat dich seit Wochen nicht mehr gesehen.«

Er lächelte. Zum ersten Mal seit Jahren.

»Danke, Sakura.«

 

An seine Wagentür gelehnt sah Itachi nach oben, wohin Sasuke mit dem Kaninchen verschwunden war. Auf dem Weg von der Tierhandlung zu Inos Wohnung hatte er mehrfach den Kopf geschüttelt. Sein kleiner Bruder war, obgleich er es im Leben nicht zugeben würde, immer schon impulsiv gewesen. Itachi rechnete nicht damit, dass er allzu bald wieder nach unten kommen würde. Doch das Wetter war schön und heute hatte er noch keinen Plan, wie er den Betrug in der UCHIHA Corp. angehen sollte, also entschied Itachi, ein wenig zu warten. Nur für den Fall.

Er hatte gerade einen Termin mit der Personalchefin für morgen bestätigt, da trat jemand an ihn heran und lehnte sich neben ihn an seinen Wagen. Nicht viele Menschen wagten sich einfach so an sein poliertes Coupé heran, oder an ihn. Daher überraschte es ihn nicht, dass er die einzige Frau erblickte, die sich in letzter Zeit einen regelrechten Spaß daraus gemacht hatte, seine persönlichen Grenzen auszureizen.

»Tsk. Stalker.«

Er deutete nach oben zu ihrer Wohnung. »Chauffeur.«

Hinter ihrer großen Sonnenbrille hob Ino eine Augenbraue. »Was?«

»Sasuke hatte wohl heute einen phänomenalen Moment der Selbsterkenntnis, den er unbedingt Sakura-san mitteilen wollte. Wenn ich du wäre, würde ich da in nächster Zeit nicht raufgehen.«

»Was – oh. Mein. Gott. Ich hoffe, sie haben keinen Sex auf meinem neuen Sofa.« Ino schauderte. »Sie haben bestimmt Sex auf meinem neuen Sofa. Verdammt. Ich brauch ein neues Sofa.«
 

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Elfenbeinturm


 

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New York City, New York; 4 Jahre zuvor

 

»Naja«, sagte Ino in ihrem schönsten Englisch und überschlug die Beine, damit sie bequemer auf der roten Couch sitzen konnte. Sie liebte Auftritte in Late Night Talk Shows über alles andere. Reden konnte sie, egal über welches Thema, und außer dem verständlichen Verbot von böswilligen Kommentaren über den aktuellen Film, gab es kaum Restriktionen, was sie erzählen durfte. »Sagen wir es so: Wenn wir den Regisseur dazu gezwungen hätten, während unserer Nacktszenen ebenfalls nackt auf seinem Stuhl zu sitzen, wäre das bestimmt nicht das Schrägste gewesen, das an diesem Set passiert ist.«

Gelächter, Applaus, eine kurze Abmoderation durch den Gastgeber – Ino Yamanaka, meine Damen und Herren, nächste Woche auf der großen Leinwand zu sehen in Barrel for a thought. Nackt oder nicht, ein ausgezeichneter Film über die Angst vor Intimität. – dann war die Aufzeichnung zu Ende und das Publikum tröpfelte langsam unter der strengen Aufsicht der Produktionsassistenten aus dem Saal. Gemeinsam mit der Live-Band, den anderen beiden Talkgästen und dem Gastgeber posierte sie für ein paar Fotos, dann war alles vorbei und sie bekam ein Bier.

»Sei ehrlich, Ino«, sagte der Gastgeber. »War der Regisseur wirklich nackt?«

Anfangs hatte sie sich daran gewöhnen müssen, dass man sich in den USA grundsätzlich mit dem Vornamen ansprach. Nach mittlerweile fünf Jahren wunderte sie sich, wie sie die steife Etikette und die oberflächliche Höflichkeit in der japanischen Filmindustrie jemals ausgehalten hatte. Eine Frage wie eben wäre dort unmöglich gewesen. Eine Antwort wie die folgende noch weniger.

»Er wollte diese Nacktszene unbedingt bei Minusgraden drehen. Es war nur recht und billig, dass er auch die Hüllen fallen lässt. So schnell hatten wir noch nie eine Szene im Kasten.«

Sie lachte bei der Erinnerung an den Moment, an dem sie mit vor Kälte bibbernden Lippen Gerechtigkeit gefordert hatte und der Regisseur tatsächlich eingewilligt hatte, weil auch er lebte und starb für seine Kunst – und wenn es sein musste, erfror. Es war ein genialer Drehtag gewesen. Undenkbar in Japan, wo das Machtgefälle zwischen Regisseuren und Darstellern derart schief war, dass jedes Widerwort ein Kündigungsgrund war.

Darum war sie weg, auf nimmer Wiedersehen, und würde niemals mehr zurückkehren.

Nie mehr.
 

 

Tokio, Japan; Gegenwart

 

Von ihrem Logenplatz an ihrem Esstisch aus beobachtete Ino skeptisch, wie Sakura ihren Koffer packte, ihn Sasuke in die Hand drückte und anschließend einen letzten Rundgang durch die Wohnung machte, um sicherzugehen, dass sie nichts vergessen hatte. Obwohl ihre beste Freundin ihr glückliches Grinsen kaum in Zaum halten konnte, war Ino alles andere als begeistert von den jüngsten Entwicklungen. Menschen änderten sich nicht so einfach, und ein schwarzes Kaninchen war noch lange kein Beweis für … was auch immer es war, das Sakura dazu bewogen hatte, ihrem Mann jene zweite Chance zu geben, die sie ein paar Tage zuvor noch ausgeschlossen hatte.

Sasuke war schon immer ihre Schwachstelle gewesen.

Was vorgefallen war, blieb zwischen dem Ehepaar. Sakura hatte versucht, es ihr zu erklären, nachdem Sasuke zusammen mit dem Kaninchen gegangen war, aber die Worte waren so durcheinander gewesen, dass Ino sich mit dem Wissen zufriedengegeben hatte, dass es ihrer Freundin gutging. Sasuke war und blieb ein Rätsel. Ino sollte es recht sein.

»Jetzt schau nicht so«, kommentierte Sasuke ihren funkelnden Blick aus verengten Augen und fügte hinzu, »das gibt Falten.«

»Komiker bist du jetzt auch? Mann, wie viele Level bist du in den letzten Wochen aufgestiegen?«

»Ino«, tadelte Sakura von der Seite. Im Vorbeigehen boxte sie Sasuke in den Oberarm. »Und du sei auch nett.«

Gemeinsam sammelten sie Sarada ein, verstauten Kind und Koffer in Sasukes Auto, dann waren sie weg und Ino blieb zurück in einer Wohnung, die sich plötzlich sehr viel größer anfühlte. Und sehr viel leerer. Saradas Quengeln und Sakuras allabendlichen Diskussionen mit ihrer Webserie, waren in den letzten Wochen die Melodie ihres Lebens geworden. Sakura hatte sie abgelenkt, hatte ihr mit frisch gekochten Mahlzeiten und gemeinsamen Filmabenden das Gefühl gegeben, dass ihr Leben in Ordnung war.

Aber sie hatte nach wie vor diese bescheuerte Rolle und auch die nächsten Jobangebote waren nicht vielversprechender. Dass sie mit Itachi geschlafen hatte, änderte nichts am großen Ganzen. Nicht einmal ansatzweise. Eine kurze Ablenkung, um nicht komplett den Verstand zu verlieren. Es hatte nicht lange angehalten.

Wenigstens war sie Nanri bald los. Heute war ihr letzter Drehtag, nächste Woche würde das Filmmaterial in die Postproduktion gehen. Sie konnte es kaum erwarten.

Am Set war nichts vom nahen Ende zu bemerken. Licht und Ton arbeiteten so akkurat und effizient wie immer, ihre Schauspielkollegen sprachen über die für heute geplanten Szenen und der Regisseur gab letzte Anweisungen über die Position der Kameras. Während Ino in der Maske müdes Make-up ins Gesicht geschmiert bekam, spielte Moegi eine trübselige Einzelszene sechs Mal, jedes Mal unter strengeren Anweisungen, harscherer Kritik, bis der Regisseur zufrieden war. Ino gesellte sich zu ihr für einen Dialog voll schwesterlichen Einfühlungsvermögens, dann wechselte sie in ein anderes Kostüm und wurde zum nächsten Set gescheucht.

Ihre letzte Szene hasste sie am allermeisten, denn sie war das Symptom von allem, was falsch war an dem Drama. Der Heiratsantrag des Arztes, den sie überglücklich weinend annehmen musste. In ihrem Krankenzimmer, weil Nanri sich am Tag zuvor erneut hatte das Leben nehmen wollen. Also nahm sie mit einem freudigen Ausruf an und stellte sich wieder auf Anfang, als der Regisseur die nächste Einstellung ansagte. Bislang hatten sie auf Hiros Gesicht fokussiert – der Sänger, der den Arzt spielte – nun würde sie dran sein. Das Skript verlangte Tränen von ihr. Grandios.

»Heute ist dein letzter Drehtag, oder, Yamanaka-senpai?«, fragte er, während die Kameras umgestellt wurden. Schon vor ihrer ersten gemeinsamen Szene hatte sie ihm angeboten, sie beim Vornamen zu nennen, aber sie war älter und erfahrener und darum war es unbedingt notwendig, sie mit senpai anzusprechen.

»Ja, aber keine Sorge, ich bleibe euch noch eine Weile für die ganzen Vermarktungssachen erhalten. Haben wir übernächste Woche nicht einen gemeinsamen Auftritt in dieser komischen Talkshow?« In ihrem Rücken konnte Ino die Unzufriedenheit des Regisseurs mit den Kamerapositionen hören. Nochmal nachadjustieren, Kamera zwei weiter links und etwas höher.

»Ich bin schon gespannt, was sie uns fragen werden.«

»Ja«, log Ino unenthusiastisch. Die Interviews würden genauso gestellt und vorgeschrieben sein wie alles andere, damit man sie möglichst gut in das Bonusmaterial für spätere DVDs oder YouTube-Videos verwerten konnte. »Kann’s kaum erwarten.« Noch mehr Adjustierungen an den Kameras. »Wie hat’s dir gefallen? Die Schauspielerei meine ich. Machst du weiter?«

Er lachte verlegen. Die Maskenbildnerin hatte ihn ein wenig älter geschminkt als er war, damit er die Rolle glaubhaft rüberbringen konnte. Der Arztkittel tat sein Übriges. »Es war eine wunderbare Erfahrung. Meine Agentur sagt, dass ich die Publicity der Serie lieber nutzen sollte, um mein neues Album zu promoten. Du könntest übrigens kommen. Zu einem meiner Konzerte meine ich. Wenn du Lust hast.«

»Ah, danke, aber ...«

»Aber du hast einen Freund?«

»Nein«, korrigierte Ino. Sie hatte einfach keine Lust. Die Antwort blieb sie ihm schuldig, weil die Kameras endlich eingestellt waren und sie ihre auswendig gelernten Zeilen unter Tränen erneut herunterbeten musste. Und dann war alles geschafft.

Sie gab ihr Kostüm ab, plauderte höflich mit der Maskenbildnerin und holte sich im Rausgehen das nächste Skript ab – diesmal nicht für den nächsten Drehtag, sondern für die anstehenden Interviews. Weil das ihr Leben war. Vorgefertigte Fragen und Antwortvorschläge, die nicht optional waren.

Es war erbärmlich. So unglaublich erbärmlich, dass Ino sich auf die Toilette flüchtete, bevor sie noch einmal hören musste, wie man ihr falsches Schauspiel lobte.

Sie hatte es nicht geschafft, ihrer Figur Tiefe zu geben. Etwas rauszuholen aus diesem Misthaufen, in den sie sich widerwillig geworfen hatte. Sie hatte versagt.

Die Erkenntnis traf sie so heftig, dass sie sich am Waschbecken abstützen musste, um nicht den Halt zu verlieren. Ein dumpfes Echo hallte an den Wänden wider, als ihre Tasche zu Boden fiel und ihr Smartphone über die Fliesen schlitterte. Da war ein Sprung im Display, aber es funktionierte noch. Sie konnte jemanden anrufen, mit jemandem sprechen, um endlich zuzugeben, was sie seit ihrer Heimkehr leugnete.

Aber Sakura hob nicht ab und Itachis Privathandy war ausgeschaltet. Mehr Leute kannte sie hier nicht. Weil sie es in einem dreiviertel Jahr nicht geschafft hatte, Beziehungen aufzubauen, Freundschaften zu schließen. Sie hatte jede Einladung ihrer Schauspielkollegen abgelehnt, jeden Anknüpfungspunkt im Keim erstickt, so wie eben mit dem Sänger, weil sie nicht hier sein wollte.

Nicht hier an diesem Set, nicht hier in der japanischen Schauspielindustrie. Nicht am Ende ihrer verdammten Karriere.

Mit der Faust schlug sie gegen das Waschbecken, schrie auf, als harter Schmerz durch ihre Knochen fuhr. Sie musste sich beruhigen. Ein Zusammenbruch half niemandem, schon gar nicht ihr, schon gar nicht hier.

Hinter ihr ging die Tür zur Toilettenkabine auf und Ino zuckte zusammen.

Nur Moegi, versuchte sie sich zu beruhigen, während ihre junge Schauspielkollegin an das benachbarte Waschbecken trat, offensichtliche Zweifel in ihrem matten Gesicht, ob sie Ino auf den Schrei ansprechen durfte.

»Hey«, nahm Ino ihr die Entscheidung ab. »Harter Tag?«

Ertappt zuckte Moegi zusammen. Ihre schmalen Lippen strengten ein schwaches Lächeln an. »Nur etwas zu wenig gegessen. Nicht der Rede wert.«

Ino nickte, aber sie durchschaute die Lüge durch das dicke Make-up und das produzierte Lächeln. »Wie viele Szenen hast du heute noch?«

»Ich bin fertig, aber ich muss noch das Drehbuch für morgen üben. Tabe-san hat den Dialog umgeschrieben und ich verheddere mich immer in der letzten Zeile.«

»Brauchst du Hilfe?«

Brauchte sie. Dringend. Moegi war gut, aber sie war blass und müde und hungrig. Ino kommentierte nichts davon. Es stand ihr nicht zu, nicht, wenn sie selbst so oft an diesem Punkt gestanden hatte; wenn Drehtage verschwammen und Uhrzeiten nichts mehr bedeuteten, weil es nur noch das Set und den Regisseur und das Drehbuch gab und wie um alles in der Welt sollte sie einen Abend unter Freunden hineinquetschen, wenn vierundzwanzig Stunden für einen Arbeitstag nicht reichten? Üben, proben, immer wieder, bis sie zufrieden war mit ihrem Ausdruck im Spiegelbild, nur um nach Action! doch alles anders zu machen.

Leben und sterben für die Kunst.

Sie hatte es geliebt. Gefeiert. Hatte alles dafür geopfert. Und nichts zurückbekommen.

Gemeinsam probten sie bis spät in die Nacht hinein. Das Set war längt geräumt, die Crew zu Hause, nur mehr der Nachtwächter ging seine Runden und brachte ihnen Tee aus der Personalküche, als er sie im Pausenraum erwischte. Es war keine schwierige Szene, aber viel neuer Text und Moegi war nicht zufrieden mit ihrer Aussprache. Alles auf Anfang, noch einmal.

Bis Ino das Drehbuch in die Luft warf. »Das reicht langsam, oder? Du brauchst Schlaf, sonst wird das sowieso nichts.«

»Nein«, erwiderte Moegi entschlossen. »Ich muss das bis morgen können. Die Produktion darf sich nicht verzögern, nur weil ich meinen Text nicht einstudiert habe. Ich schaffe das.« Doch hre Schultern sackten nach unten, ihr Blick fiel. Als Hauptdarstellerin hatte sie die meisten Szenen, bekam die meisten Drehbuchänderungen, hatte die längsten Tage und den meisten Druck. Und sie begann langsam zu verstehen, worauf sie sich eingelassen hatte.

Letztlich siegten Hunger und Müdigkeit. Während sie auf ein Taxi warteten, jammerte Moegi dem Nachtwächter seinen letzten Müsliriegel ab und schlang ihn herunter, weil der Taxifahrer keine Krümel in seinem Auto haben wollte.

Die Fahrt war schweigsam, durchtränkt von Erschöpfung und schwerem Blues aus dem Radio. Ino hatte den Kopf ans Seitenfenster gelehnt, vor dem Straßenlaternen in verschwommenen Streifen an ihr vorbezogen.

»Das alles ist es wert, oder?«, fragte Moegi plötzlich. Ihre Augen suchten nach Bestätigung, einem Hinweis, dass es besser werden würde, irgendwann, wenn sie berühmt genug war.

Schon wieder diese Frage.

War es das wert gewesen? Alles aufzugeben, alles zurückzulassen für diese eine große Rolle in den USA? Um danach eine weitere hübsche Chinesin in Hollywood zu sein, oder bist du Koreanerin?

»Ino-senpai?«

Das Taxi hielt an.

»Ja«, log sie einmal mehr, weil die Wahrheit zu schmerzhaft war.

Wieso bist du wieder in Japan?

Die USA haben einfach nicht mehr das, was ich vom Leben erwarte.

Moegi nickte, stieg aus. Ino blieb zurück, ihr Smartphone in der Hand. Wann hatte sie zuletzt ihre Wikipedia-Seite aufgerufen? Sie war so stolz gewesen, als ein Fan sie angelegt hatte. Ino Yamanaka ist ein internationales Model und Schauspielerin, stand da, doch es war eine Lüge, nicht wahr?

Eine Lüge, die sie sich seit ihrer Rückkehr selbst einredete.
 

 

Sasuke hatte den schönsten Ordner der Firmengeschichte hinterlassen, wie Itachi feststellte, nachdem er endlich dazu gekommen war, ihn zu öffnen. Man konnte seinem kleinen Bruder viel vorwerfen – Impulsivität in letzter Zeit mehr als alles andere – aber er hatte seine Arbeit tadellos gemacht. Der Projektordner hatte die entsprechende Klassifikation, jeder Unterordner war durchnummeriert und beschrieben, jedes Dokument trug das Erstellungsdatum und Autorenkürzel im Namen, sodass Itachi sofort wusste, wen er anrufen musste, um aktuelle Informationen zum Performanceproblem der Datenbank zu erhalten.

Es war beeindruckend, wie viel Energie Sasuke investiert hatte, um jede einzelne Unternehmensrichtlinie bei der Dokumentenerstellung einzuhalten. Itachi selbst kannte bei weitem nicht alle auswendig und er wandte noch weniger an. Früher schon, aber seit Jahren konnte er es nicht mehr vor sich rechtfertigen, seine wertvolle Zeit mit der Suche nach den richtigen Dokumentenvorlagen zu verschwenden.

Der Verantwortliche für das Performanceproblem hatte die gesuchte Antwort parat und klang reichlich überrascht, warum der COO der Firma ihn deswegen anrief. Itachi hatte bereits einen Termin für morgen ausgeschickt, bei dem er allen Projektmitarbeitern die Veränderungen in der Projektleitung erklären würde. Etwas gekürzt natürlich. Die wahre Geschichte über Sasukes Schreikrampf würde früh genug durch die Büros gehen. Dieses Gebäude hatte Ohren und er hatte laut genug geschrien.

Es klopfte an seiner offenen Tür und Itachi sah seinen Vater im Türrahmen stehen. Normalerweise meldete Shirogane Besucher an, aber Fugaku war einer der wenigen, die in diesem Büro jeden Raum unangekündigt betreten durften. Außerdem war es spät und Shirogane war längst zu Hause.

»Vater. Du bist noch hier.«

»Es ist einiges liegengeblieben«, meinte er. Sein Unterton ließ keinen Zweifel zu, dass er Sasuke dafür verantwortlich machte. »Du hast die Unterlagen von synCOM angefordert.«

»Das sollte ein Projektleiter auch tun. Meine Assistentin hat sie mir erst heute Nachmittag besorgt. Es wird einige Tage dauern, bis ich genügend eingearbeitet bin, um dir spezifischen Fragen beantworten zu können.«

»Darum geht es nicht«, wandte Fugaku ein. Er trat in den Raum, schloss die Tür hinter sich. Niemand außer ihnen beiden war mehr hier, schon gar nicht auf Itachis Etage. Die Geste war symbolisch. Sie machte Itachi stutzig. Vorsichtshalber speicherte er alle offenen Dateien.

»Sondern?«

»Naka wird die Projektleitung von synCOM übernehmen. Der Aufsichtsrat hat es heute beschlossen.«

»Naka-san hat keinerlei Projekterfahrung.«

»Die meisten operativen Aufgaben sind erledigt, die Teams arbeiten nur noch die Listen ab.«

»Du weißt, dass das nicht stimmt«, erwiderte Itachi ungerührt. Er stand auf. »Worum geht es hier wirklich, Vater?«

Fugaku sagte nichts, musste er auch nicht. Itachi kannte den Grund längst. Sein Vater war ein Feigling.

»Wie tief steckst du drin?«, wollte er wissen. Er hatte auf Enttäuschung gehofft, irgendein Anzeichen, dass er seinem Vater trotz all seiner Vorbehalte doch vertraut hatte. Dass Uchiha Fugaku hinter seinen vielen Marotten und Fehlern genauso großartig war, wie alle immer behaupteten. Sie kam nicht.

»Es ist nicht so einfach, Itachi.« Ausreden. Wie immer. »Sie könnten uns alle rauswerfen. Ich muss unsere Familie schützen. Deine Mutter, dich und Sasuke. Und du solltest dich ebenfalls raushalten.«

»Unser Aufsichtsrat pumpt über mehrere Briefkastenfirmen verschleierte Milliarden in unsere Firma und ich soll mich raushalten?«, fragte er, umrundete den Schreibtisch. »Was erwartest du von mir?«

Mit großen Schritten durchquerte Fugaku den Raum, in seinen Augen Bedauern und Befürchtung gleichermaßen. Langsam legte er seine Hände auf die Schultern seines ältesten Sohnes. Sie waren Verbündete, er und Itachi, oder nicht? Itachi, das Wunderkind, der Stolz der Familie. Gemeinsam hatten sie die UCHIHA Corp. gerettet, geführt, hatten nächtelang Unternehmensstrategien diskutiert und über Führungstheorien philosophiert. Sie waren Vater und Sohn.

»Du verstehst das nicht«, sagte Fugaku eindringlich. »Du kennst den Aufsichtsrat nicht so gut wie ich. Manchmal muss man Entscheidungen treffen, die einem widerstreben. Ich tue das für unser aller Wohl. Vertrau mir. Itachi.«

Eine unmögliche Forderung. Vertrauen lag nicht in Itachis Natur, zumindest nicht diese Art. In fünfunddreißig Jahren hatte er sich immer nur auf sein eigenes Urteil verlassen. Und dieses sagte ihm, dass nun der Zeitpunkt gekommen war, von dem er immer schon gewusst hatte, dass er kommen würde.

Seit Itachis Kindheit hatte seine Familie seinen Weg vorgelegt. Fortgeschrittene Fremdsprachenklassen nach der Schule, ein Wirtschaftsstudium an der Tōdai, Praktika bei Bekannten in einflussreichen Unternehmen, Auslandsaufenthalte, der Einstieg ins Familienunternehmen. Er war gefolgt, hatte das Beste aus diesen Stationen herausgeholt. Kein Widerwort, nicht eines in all den Jahren, weil sich die Erwartungen zufällig mit seinen eigenen überlappt hatten. Darum war er der brave Sohn gewesen, der gute Sohn, der auf seine Karriere fokussiert war, anstatt am Rasen Bälle zu kicken und sich in ein nicht standesgemäßes Mädchen zu verlieben.

Nun überschnitten sich die Erwartungen nicht mehr.

»Tut mir leid, Vater«, antwortete Itachi schließlich, ruhig, langsam, damit Fugaku jede Silbe davon verstand. »Ich werde dieser Sache auf den Grund gehen. Egal, wer darin verwickelt ist.«

Fugaku seufzte. »Das ist bedauerlich.« Dann klopfte er seinem Sohn auf die Schulter, fast traurig. Er schloss die Tür hinter sich, als er nach draußen in den menschenleeren Korridor verschwand. Eine erneut symbolische Geste, die Itachi nicht deuten konnte.

Erschöpft lehnte er sich gegen die Fensterfront. Es war spät, kurz vor Mitternacht, und das farbenfrohe Licht der Gebäudebeleuchtungen brach sich in den Tropfen des aufkommenden Regens. Regenschirme wurden gespannt, weit unten auf den Straßen, wo Menschen mit geregelten Arbeitszeiten und weniger Verantwortung ihren freien Abend verbrachten. Es war Freitagnacht – eine Zeit, die in diesem Büro keinerlei Bedeutung hatte. Schon gar nicht jetzt. Was auch vorging, es war groß. Riesige Summen und wichtige Namen. Wie sollte er die Sache angehen? Wo anfangen, wie weitermachen?

Itachi wandte den Blick von den nassen Straßen erst wieder ab, als er sein Privathandy am Schreibtisch vibrieren hörte. Kaum jemand rief ihn unter dieser Nummer an. Er war in keinen Vereinen, hatte keine Freunde; nur Ino, die bei weitem keine einfache Freundin war, aber auch nicht viel mehr.

Er hob ab. »Hallo, Ino.«

»Hey«, grüßte sie schwach. Ihre Stimme klang belegt, selbst durch die mäßige Tonqualität des Mobilfunknetzes. »Arbeitest du noch?«

»Ja. Ist alles in Ordnung?«

»Ja –« Er konnte sie tief ausatmen hören. »Ehrlich gesagt … ich weiß nicht. War ein harter Tag. Wann hörst du auf zu arbeiten?«

Eine berechtigte Frage. Es war nach zehn Uhr und sie klang, als würde sie jemandem zum Reden brauchen. Trotzdem. »Heute gar nicht.«

Die Antwort ließ sie zögern. »Oh. Es ist nur … ich hab grad irgendwie eine mittelschwere Sinnkrise und …« Inos Stimme zerbrach in leises Schluchzen, das sie krampfhaft versuchte zu unterdrücken. Er konnte sie schniefen hören, während sie offenbar das Smartphone wegdrehte, um die Geräusche nicht allzu laut zu ihm durchdringen zu lassen. »Und ich weiß nicht, wen ich sonst anrufen soll.«.

Genau das war, warum er mit sich gehadert hatte, als Ino ihn verführt hatte. Zu dem Zeitpunkt hatte er nachgegeben, hatte ihr die Tür und sich selbst ein Stück weit geöffnet. Das hatte er davon. Nun waren da Erwartungen, die er nicht erfüllen konnte. Wie damals mit Izumi. Und wie damals war die UCHIHA Corp. wichtiger, würde es immer sein, musste es immer sein, weil tausende Jobs und Familien darauf angewiesen waren, dass sie auch nächstes Jahr und das danach noch das volle Gehalt mit Überstunden zahlen konnten.

»Tut mir leid. Ich habe zu viel zu tun«, sagte er. Legte auf. Schrieb eine Notiz an Shirogane, falls sie morgen ankam, während er bereits in einem Meeting saß. Er brauchte die Buchungsbelege und Rechnungen des letzten Jahres mit allen Details, und er durfte keine Sekunde verlieren.

Er würde herausfinden, was hier geschah, denn er war Uchiha Itachi, der Stolz der Familie, das Talent hinter jeder guten Businessentscheidung der letzten sechs Jahre.

Und er hatte noch keine Ahnung, wie wenig ihm das alles helfen würde.

 
 

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Kleine Schritte


 

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Los Angeles, Kalifornien; 7 Jahre zuvor

 

»Eine Schande, dass deine Mutter nicht mitgekommen ist«, meinte Inoichi und fing einen Tropfen seiner Kiwieiscreme mit der Zunge auf. In Los Angeles’ Hochsommer Eis zu essen, war eine riskante Angelegenheit, aber er hatte nicht auf seine Tochter hören wollen.

»Sie wird mir nie vergeben, oder?«

»Meine beiden Mädchen sind eben stur«, wich er aus. »Aber es ist schön zu sehen, dass es dir hier gutgeht. Alleine dafür hat sich der Urlaub gelohnt.«

»Ja.« Ino warf den Kopf zurück, um ihr Gesicht besser in die Sonne zu halten. Vor ein paar Minuten hatten sie sich nach einer ausgiebigen Stadttour auf der Steinmauer der Strandpromenade niedergelassen, um den Sonnenuntergang über dem stillen Meer zu beobachten. »Ich bereue keine Sekunde.«

»Das ist schön.« Er schlang seinen freien Arm um ihre Schultern und drückte sie an sich. »Versprich mir nur eines, Ino. Wenn du mal reich und berühmt bist, vergiss niemals, wer du bist.«

Sie warf ihm einen Blick aus den Augenwinkeln zu, aber er hatte die Lider geschlossen und sein Gesicht ebenfalls gen Sonne gewandt. »Versprochen.«

»Ach ja, und vergiss nicht, uns ein Haus zu kaufen. Ich will ein Smarthome mit Lichtern, die beim Klatschen angehen, und singende Toiletten in jedem Stockwerk! Hörst du? Das hat oberste Priorität!«

Lachend zuckte Ino die Schultern. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass das nicht unbedingt die landläufige Definition von Smarthomes ist, Papa. Aber klar, bei meinem ersten Academy Award bekommt ihr eine singende Toilette. Deal?«

»Deal.«
 

 

—Tokio, Japan; Gegenwart

 

Als Sasuke aufwachte, langte er in einem ersten Instinkt nach seinem Smartphone, dessen kleines Lämpchen aufgeregt blinkte. Die Uhr zeigte kurz nach acht – wann hatte er zuletzt so lange geschlafen? Durch den Vorhangspalt fielen bereits kräftige Sonnenstrahlen in das Schlafzimmer, in dem nur mehr ein halb ausgepackter Koffer Zeuge der gestrigen Heimkehr war. Sakura hatte versucht, ihren gesamten Kram zu verstauen, aber sie hatte während der Trennung zu viele Racheeinkäufe auf seine Kreditkarte getätigt, um damit fertig zu werden, bis Sasuke es nicht mehr ausgehalten hatte und angefangen hatte, sie mit Küssen und Streicheln abzulenken. Nun lag sie nackt an seiner Seite, eine Hand quer über seine Brust, und sie sabberte. Er hatte ganz vergessen, dass sie meist mit offenem Mund schlief.

Sachte versuchte er ein Stück nach links zu rücken, um sein Smartphone zu fassen zu bekommen. Die Bewegung provozierte ein müdes Raunen unter dem rosa Haarschopf.

»Sasuke«, murmelte Sakura, ohne die Augen zu öffnen, »wenn du es anfasst, schwöre ich bei Gott, du wirst es bitterlich bereuen.«

Er stoppte, schluckte und hob demonstrativ seine leeren Hände hoch. »Alte Gewohnheit, tut mir leid.«

Sakura richtete sich auf und streckte sich, nur um erschöpft wieder auf die Matratze niederzubrechen. Der Sex gestern war nicht einmal ansatzweise so gut gewesen wie sie beide sich erhofft hatten. Jahre der emotionalen und körperlichen Distanz hatten sie ungeschickt und unsicher miteinander gemacht.

»Also«, lenkte er sich ab. »Wie läuft so ein freier Tag?«

Resignierend schüttelte Sakura den Kopf. Mit ihren Fingern hob sie sein Kinn und strich über den leichten Bartschatten, der sich in den vergangenen Tagen dort gebildet hatte. »Rasieren erstmal. Und Frühstück. Die Reihenfolge kannst du dir aussuchen.« Schwungvoll stand sie auf und streckte sich erneut ausgiebig.

»Erst Frühstück. Soll ich Sarada wecken?«

Nachdenklich legte Sakura den Kopf schief, während sie eine der bereits ausgepackten Hosen über ihre Beine zog. »Das mache ich lieber. Sie ist in letzter Zeit morgens etwas unleidig.«

»Oh. Okay.«

Sakura hatte seit jeher ein Talent dafür gehabt, hinter seine glatte Fassade zu sehen, selbst in seinen erbärmlichsten Momenten von Selbsthass und Verzweiflung. Jetzt seine Enttäuschung zu bemerken, war ihre leichteste Übung. Sie setzte sich auf die Bettkante und drückte seine Hand. »Das ist keine Bestrafung, Sasuke. Du warst den meisten Teil ihres Lebens einfach nicht da. Ich kann dir verzeihen, aber sie weiß kaum, dass du ihr Vater bist. Gib uns ein wenig Zeit, ja?«

Sasuke nickte, konnte nichts anderes tun als das. Jedes ihrer Worte war wahr. Bei synCOMs offiziellem Kick-off war Sarada ein Jahr alt gewesen, seitdem hatte seine Beziehung zu ihr aus gelegentlichen Momenten bestanden. Er wusste, dass er selbst daran schuld war. Aber es war hart, die Konsequenzen seiner sowieso schon schmerzlichen Selbsterkenntnis in voller Tragweite zu sehen. Frühstück würde dabei nicht helfen, aber Sakura hatte ihn darum gebeten.

Müde manövrierte Sasuke sich nach einer kurzen Morgentoilette in seine Küche und durchwühlte sämtliche Schränke, bis er etwas gefunden hatte, das man für ein Frühstück verwenden konnte. Vom Kinderzimmer aus hörte er Quengeln und Diskussionen, während er prüfend an der Müslipackung roch. Sakura war nur ein paar Wochen weg gewesen, bis dahin konnte Müsli nicht schlecht werden, oder? Er war fast schon erleichtert, dass er tatsächlich eine Mahlzeit zustande bekam, bis ein Blick in den Kühlschrank offenbarte, dass keine frische Milch da war. Natürlich nicht. Er war kaum zuhause gewesen.

Als Sakura mit Sarada an der Hand aus dem Badezimmer kam, hob sie eine Augenbraue über den leeren Esstisch.

Sasuke zuckte die Schultern. »Tut mir leid. Nichts da«, sagte er. Im selben Moment klingelte sein Smartphone. Itachi. Den konnte er sowas von überhaupt nicht gebrauchen. Er schaltete auf stumm. »Was machen wir jetzt?«

Nachdenklich sah Sakura sich in der großzügigen Wohnküche um. Auch sie fand nichts Essbares. »Ich habe später ein Vorstellungsgespräch. Wenn du jetzt mit Sarada losfährst, könnt ihr noch was im Supermarkt kaufen, bevor sie im Kindergarten sein muss. Kriegst du das hin?«

»Klar«, behauptete er, ohne zu wissen, ob es der Wahrheit entsprach. Wie schwer konnte es schon sein, mit einem Kleinkind einkaufen zu gehen?

Schwierig, wie sich herausstellte. Den gesamten Weg über plärrte und heulte Sarada und keine der vorhandenen Süßigkeiten im Supermarkt konnte ihren Schreikrampf lindern. Auch bei der Auswahl ihres Frühstücks war sie äußerst unkooperativ, sodass Sasuke sich ohne ihre Zustimmung für einen Müsliriegel und ein Päckchen Orangensaft entschied. Erst im Flur des Kindergartens beruhigte sie sich. Er versuchte, sich seine Enttäuschung nicht allzu sehr anmerken zu lassen, als die Pädagogin im Betriebskindergarten ihn höflich grüßten und sich offensichtlich darüber wunderten, dass Uchiha-sama vor ihr stand. Sarada lief zu ihren Freunden, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, und Sasuke ging, bevor er irgendeinem anderen Uchiha über den Weg laufen konnte. Nicht, dass sonderlich viele von ihnen in diesem Teil des Firmengebäudes unterwegs waren.

Als er wieder nach Hause kam und eine Tüte mit halb wahllos zusammengesuchten Einkäufen auf den Küchentresen warf, war Sakura bereits verschwunden. Eine Notiz lag am Küchentisch, Wünsch mir Glück und fütter das Kaninchen!

Er legte den Zettel beiseite und kramte eine Karotte aus der Einkaufstüte. Der Kaninchenkäfig stand übergangsweise auf dem Couchtisch vor dem Fernseher, bis sie einen dauerhaften Platz entschieden hatten. Und vielleicht einen größeren Käfig gekauft hatten. Wenn das Tier noch ein bisschen wuchs, würde es ziemlich eng werden.

Sasuke öffnete den Käfig und hielt dem Kaninchen versöhnlich eine Karotte entgegen.

»Und, kleiner Freund?«, fragte er ratlos. »Was machen wir jetzt?«
 

 

Shiroganes Freund hatte ihr letzte Woche einen Antrag gemacht, aber anstatt sich zu freuen, brach sie in Panik aus. Nicht, weil sie ihn nicht liebte, ganz im Gegenteil. Aber wer um alles in der Welt sollte Uchiha-sama bei diesen wichtigen Dingen helfen, wenn sie sich eine Woche Urlaub für die Hochzeitsreise nahm?

»Wenn Sie mir die ganzen Bilanzen verschaffen, bin ich für die nächsten Monate erstmal versorgt«, hatte Itachi ihr mehrfach versichert, bis sie ihm endlich geglaubt und begonnen hatte, die Finanzbuchhaltung zu tyrannisieren.

Und nun stand er hier.

»Was soll das sein?«, fragte er sie mit einem Deut gegen seinen Schreibtisch, der unter Kisten und Papierbergen nicht mehr zu sehen war.

Entschuldigend neigte Shirogane ihren Kopf. »Die Dokumente, die Sie angefordert hatten, Uchiha-sama.«

»Das ist Papier. Damit kann ich nicht arbeiten.«

»Ich weiß. Aber Minami-san hat darauf bestanden, dass er keine Berechtigung hat, diese Dokumente in elektronischer Form zur Verfügung zu stellen.«

So sehr Itachi gehofft hatte, sich zu irren, so sehr hatte er es kommen sehen. Natürlich wollte der Aufsichtsrat ihm seine Nachforschungen so schwer als möglich machen. Das war die Strafe für seine offene Provokation. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Shirogane nicht alles in ihrer Macht Stehende versucht hatte, um an die entsprechenden Dateien zu kommen. Sie konnte beängstigend sein, wenn jemand ihre Arbeitsaufträge behinderte.

Er würde sich selbst darum kümmern müssen. Dem COO würde sich Minami nicht entgegenstellen können.

Doch genau das tat er. Bleich und fast schon zitternd unter den strengen Augen des Chefs seines Chefs seines Chefs, aber er bedauerte nach wie vor mit einer tiefen Verbeugung, dass er klare Anweisungen von ganz oben hatte. »Bitte wenden Sie sich an den Aufsichtsrat, Uchiha-sama, dann komme ich Ihrer Anfrage sehr gerne sofort nach.«

Itachi hielt seinen funkelnden Blick einen Moment aufrecht in der Hoffnung, dass der Buchhalter doch noch einknickte. Leute einschüchtern konnte er gut. Leider schien die Autorität der höchsten Führungsebene schwerer zu wiegen als sein bedrohliches Auftreten. Er entließ seine Arme aus der strammen Verschränkung und nickte. »Wie Sie wollen.«

»Bitte«, japste Minami, »feuern Sie mich nicht.«

Itachi gab keine Antwort, verließ die Buchhaltungsabteilung mit schnellen Schritten und atmete seine Aufregung im Treppenhaus hörbar aus. Am liebsten hätte er die Scheibe mit baren Fäusten eingeschlagen, doch das Treppenhaus war ein Fluchtweg und verfügte deswegen über Sicherheitsglas, an dem er sich nur sämtliche Knochen gebrochen hätte. Ein Krankenhausaufenthalt war das Letzte, das er brauchen konnte.

Zurück in seinem Büro bedeutete er Shirogane, ihr aktuelles Telefonat zu beenden. »Neuer Plan. Leiten Sie Ihr Telefon zum Empfang um und sagen Sie den Leuten unten, dass Sie niemanden durchstellen sollen. Unter keinen Umständen. Ich will für heute nicht gestört werden. Dann können Sie Feierabend machen.«

»Uchiha-sama, ich verstehe nicht ... ist alles in Ordnung?« Sie sah an ihm vorbei zu dem ungeordneten Chaos an Dokumenten und Berichten. Was er vorhatte, lag auf der Hand. »Sie wollen das doch nicht alles alleine durcharbeiten? Das wird Wochen dauern. Lassen Sie mich wenigstens helfen!«

Das Angebot war verlockend. Sie war schlau und konnte gut mit Zahlen umgehen. Aber er konnte niemanden in diese Sache mit reinziehen, schon gar nicht jemanden, der nicht zur Familie gehörte. »Gehen Sie nach Hause und feiern Sie Ihre Verlobung.«

Die Skepsis in Shiroganes Augen war deutlich, dennoch fragte sie nicht weiter nach, telefonierte nur kurz mit dem Empfang und ging. Sobald sie weg war, schloss Itachi alle Türen und versuchte, sich Orientierung über den lachhaft großen Papierberg zu verschaffen.

Es war unglaublich, wie unübersichtlich ungeordnete Finanzbuchhaltung sein konnte. Wer auch immer die Stapel sortiert hatte, hatte einen absichtlich schlechten Job gemacht. Deckblätter waren beim Zusammenheften vertauscht worden, Inhaltsverzeichnisse fehlen größtenteils, Seiten waren nicht in der korrekten Reihenfolge. Er konnte sich fast schon vorstellen, wie der gesamte Aufsichtsrat nachts zusammengesessen war, um mit Heftklammermaschinen bewaffnet das größtmögliche Chaos zu produzieren und Itachis pflichtbewusste Hartnäckigkeit darunter zu begraben.

Nicht mit ihm. Das hier war unbequem und unnötig, aber er würde die Sache noch lange nicht ruhen lassen, nur weil er keine elektronische Suchfunktion benutzen konnte.

Etliche Stunden arbeitete er ohne Störung. Die automatische Anrufweiterleitung ließ kein einziges Klingeln durch, sein Firmenhandy war auf lautlos gestellt, sein Privathandy ausgeschaltet. Pausen gab es nicht, brauchte er nicht. Nur Kaffee gönnte er sich, wann immer er das Gefühl hatte, seinen Fokus zu verlieren.

Wie lange er hier gesessen war, als Inabi ohne zu klopfen in seinem Büro stand, wusste Itachi nicht. Stunden vielleicht, oder Tage. Seine Muskeln brannten, als er zum ersten Mal seit Ewigkeiten seinen Kopf aufrichtete.

 »Inabi-san, was kann ich für dich tun? Fass dich bitte kurz. Wie du siehst, bin ich beschäftigt.«

Inabis Mundwinkel zuckten zu einem süffisanten Lächeln nach oben. Kein Zweifel, dass er das Bild urkomisch fand. »Fünfunddreißig ist reichlich alt, um dir jetzt noch Humor anzueignen, findest du nicht? Wie auch immer. Es gibt etwas, das der Aufsichtsrat mit dir besprechen möchte. Da du nicht gewillt zu sein scheinst, deine Anrufe oder E-Mails zu beantworten, überbringe ich die Nachricht gerne offiziell.«

»Und diese Nachricht wäre?«

»Wir hatten heute Morgen eine Abstimmung. Aus gegebenen Anlässen befindet der Aufsichtsrat dich einstimmig als aktuell nicht vertrauenswürdig, um Projektverantwortung zu tragen, Kundentermine wahrzunehmen oder Entscheidungen über Budget und Strategie zu treffen.«

Verdammt. Itachi hatte nicht gedacht, dass sie so schnell handeln würden. Sei’s drum. Mit seinen Aktienanteilen war er Key-Stakeholder. »Ihr könnt mich nicht rauswerfen«, sagte er ruhig. Rein rechtlich konnten sie das sehr wohl.

»Wer wird denn gleich so übertreiben?«, warf Inabi gespielt schockiert ein. Dramatisch hob er seine Arme. »Wie soll die UCHIHA Corp. ohne ihr hauseigenes Genie auskommen? Nein, Itachi-san, wir entziehen dir nur die Entscheidungsbefugnis.«

»Ich darf das Gebäude also betreten, aber nicht arbeiten.«

»Vorerst«, sagte Inabi. »Wir werden die aktuelle Situation analysieren und zum gegebenem Zeitpunkt entscheiden, in welchem Ausmaß wir dir unser Vertrauen weiter entgegenbringen können.«

Keine schlechte Taktik. Er hatte gehofft, dass sie nicht darauf kommen würde. Äußerlich blieb er ruhig, umrundete langsam seinen Tisch, Schritt für Schritt mit finsterer werdendem Blick.

»Wir ihr wollt. Genießt euren kleinen Triumph. Aber wenn du aus diesem Büro trittst und du dir endlich erlaubst, erleichtert auszuatmen und deine Schultern hängen zu lassen, die du gerade so krampfhaft oben hältst, wirst du einsehen, was euch dieser kleine Sieg kosten wird.«

Inabi wich nicht zurück. Auch wenn sie nicht da waren, hatte er den gesamten Aufsichtsrat im Rücken, und er wusste es. »Du kommst dir so gut vor, Itachi-sama. Aber am Ende bist du nur ein einzelner Mann. Und wir alle brennen darauf zu sehen, wie weit dich das bringt.« Mit einer wegwerfenden Geste wandte er sich zum Gehen. »Frohes Schaffen.«

Itachi verengte die Augen.

Was zur Hölle hatte der Aufsichtsrat in der Hinterhand, wenn ein Feigling wie Inabi plötzlich derart selbstsicher war?
 

 

Inos Augen waren geschwollen, das konnte selbst Make-up nicht überdecken. Nach einer Nacht mit Pizza, Whiskey und einem Friends-Serienmarathon, hatte sie in den frühen Nachmittag hinein geschlafen, bis sie aufwachte und wütend war. Auf die japanische Filmindustrie. Auf ihre Agentur. Auf Itachi. Auf ihre naiven Hoffnungen, ihre viel zu ambitionierten Ziele. Auf sich selbst.

Im Vorbeigehen überprüfte sie alle verpassten Anrufe des heutigen Tages, nur um drei von ihrer Agentin vorzufinden, einen von Sakura, keinen von Itachi.

Sie hatte nicht wirklich erwartet, dass er sich nach seiner deutlichen Abfuhr gestern melden würde. Trotzdem war sie enttäuscht, wenn auch nur, weil ihr das die Genugtuung nahm. Gestern hätte sie eine Schulter zum Ausweinen gebraucht. Heute erwartete sie eine Entschuldigung oder wenigstens eine Erklärung. Gleichzeitig wusste sie, dass sie nichts davon bekommen würde. Nicht, nachdem Itachi seine Prioritäten klargemacht hatte.

Also doch ein One-Night-Stand. Ein Jammer. Sie hatte ihn wirklich gerngehabt.

Es machte sie nur noch wütender. Die emotionale Spirale trieb sie zu einem intensiven Dauerlauf durch den nächstgelegenen Park, der bei dem perfekten Wetter aus Sonnenschein und Wärme an allen Flecken von Paaren, Familien und Studenten der nahegelegenen Kunstakademie bevölkert war. Mehrmals musste Ino abbremsen, ausweichen, kollidierte einmal knapp mit einem Dalmatiner, der von seinem Besitzer an einer viel zu langen Leine gehalten wurde. Hunde waren verboten und Ino wollte darauf aufmerksam machen, aber ihre zornige Unruhe hatte sie längst weitergetrieben, weiter, weiter, immer weiter, bis sie erschöpft und immer noch wütend mit einer viel zu großen Schüssel Rohkost auf ihrer Couch zusammenbrach. Während sie fortgewesen war, hatte sie einen weiteren Anruf von Sakura verpasst. Eine nachgefolgte Nachricht verkündete, dass sie ab nächster Woche einen neuen Job hatte.

»Yay«, raunte Ino in dem kläglichen Versuch, sich ehrlich zu freuen.

Missmutig stopfte sie eine Handvoll Karottenschnitzel in ihren Mund, schob eine zweite und dritte nach, obwohl sie sich nichts sehnlicher wünschte als fettige Chips. Ihre Karriere war sowieso vorbei – nicht, weil sie keine Rollen mehr bekam. Sondern weil sie keine gute Miene mehr zum bösen Drama machen wollte. Sie hatte keine Lust mehr, inhaltlose Interviews zu geben und generische Fotoshootings zu ertragen, bei denen man genauso gut einen Pappaufsteller von ihr verwenden konnte. Nichts von dieser Person war sie, nichts davon hatte irgendetwas mit Yamanaka Ino zu tun – mit der Frau, die sich mit ihrer Ausstrahlung und ihrem Biss auf die abgefahrensten Sets der Weltgeschichte gekämpft hatte.

Ja, sie hatte ihre Konkurrenz manchmal manipuliert und möglicherweise hatten zweideutige Kommentare gegenüber dem einen Produzenten oder dem anderen Regisseur ihr manch eine Hauptrolle eingebracht, aber sie hatte sich niemals verkauft. Nicht ihren Körper und schon gar nicht ihre Persönlichkeit. Sie würde nicht damit anfangen. Nicht für die beste Rolle der Welt, und schon gar nicht für japanische Dramas.

Und wenn das bedeutete, ihrer lahmenden Karriere den Gnadenstoß zu geben, dann sollte es so sein.

Mit neuem Elan – zornigem Elan, aber Elan nichtsdestotrotz – schwang sie die Beine von der Couch und wählte die Nummer ihrer Agentin. Mabuchi ging nicht ran, dafür informierte ihr Assistent sie, dass seine Chefin einen Auswärtstermin hatte. Es bedurfte nur ein paar manipulativer Fragen, um ausreichend Informationen aus ihm herauszuquetschen und Mabuchis Aufenthaltsort zu schlussfolgern. Mit dem Zug waren es gerade einmal zwanzig Minuten und eine viertel Stunde Fußweg zu dem unscheinbaren Bürogebäude. Auf dem ungeduldigen Weg rief sie Itachi erneut an; wenn sie schon dabei war, ihr Leben aufzuräumen, konnte sie mit ihm gleich anfangen. Doch ihr Anruf ging in die Mailbox. Fein. Itachi würde warten müssen. Er hatte Wichtigeres zu tun, und sie auch.

Sie wäre einfach so in die Büros gestürmt und hätte jeden Raum nach Mabuchi durchsucht, hätte der Portier sie nicht aufgehalten. Ihr Anliegen erschien ihm merkwürdig, darum ließ er sie im Foyer warten, während er diverse Mitarbeiter durchtelefonierte. Es dauerte fast eine halbe Stunde, in der Ino unruhig durch das Foyer streifte und mehrerer Diskussionen mit dem Portier anfing. Jedes Mal aufs Neue vertröstete er sie, dass sich bald jemand um sie kümmern würde.

Dann stand Mabuchi vor ihr, die Arme verschränkt, ihr brauner Bleistiftrock vom vorangegangenen Termin zerknittert, und starrte aus vorwurfsvollen Augen auf ihre anstrengendste Klientin hinab.

Ino hatte sich keine Rede zurechtgelegt, keinen Monolog im Kopf geübt. Sie wusste, was sie sagen wollte. Langsam stand sie auf, überragte dabei Mabuchi und ihre Lackpumps um ein paar Zentimeter. Holte Luft.

»Ich kündige.«

Mabuchi runzelte die Stirn. »Wie stellst du dir das vor? Du hast einen Vertrag.«

Damit hatte Ino nicht gerechnet. Schimpftiraden oder Flüche hätte sie eher erwartet als eine faktenorientierte Frage, die sie sich selbst noch nicht einmal gestellt hatte. Sie war aus einem emanzipatorischen Impuls hergekommen, nicht, um das Kleingedruckte zu diskutieren. Ihr Zögern gab Mabuchi die Möglichkeit, sie am Ellenbogen zu packen und nach draußen auf den Parkplatz zu zerren. Erst vor ihrem Auto ließ sie los, lehnte sich gegen die Fahrertür und schüttelte tadelnd den Kopf.

»Deine Antwort, Yamanaka?«

»Ich –«

»Ich gebe dir deine Antwort«, unterbrach Mabuchi streng. Hinter ihr schaltete sich die Straßenbeleuchtung in der langsam einbrechenden Dämmerung mit hörbarem Knistern ein. »Wenn du jetzt aussteigst, sind das in etwa 35 Millionen Yen an Pönalen. Dein Vertrag mit N.S.P. geht noch vier Jahre. Falls dich also nicht gerade eine andere Agentur unbedingt für Unsummen abwerben will, kann ich mir kein Szenario vorstellen, in dem das für dich irgendwie machbar wäre. Also?«

Ino machte einen Schritt nach hinten, um in der engen Parklücke Platz für eine aufgeregte Geste zu haben. Es war so unbeschreiblich absurd! Sie hatte sich im Schneegestöber nackt ausgezogen, in Cincinattis verwanzten Hotelbetten geschlafen, hatte sich monatelang von Pferdemilch und gebratenen Meerschweinen in Peru ernährt – und letztlich hatten ein mittelmäßiges Drehbuch sie gebrochen.

»Jetzt mach keine Szene«, unterbrach Mabuchi sie, bevor sie überhaupt etwas gesagt hatte. »Niemand kann Divas leiden. Außerdem, was willst du machen, wenn du aussteigst? Was kannst du denn schon, außer schauspielern?«

Die einfache Wahrheit traf Ino wie ein nasser Fetzen, unerwartet und real. Trotzdem, »Alles ist besser, als –«

»Jetzt hör zu, Yamanaka.« Mabuchis Smartphone klingelte in ihrer Handtasche. Mit einem Blick aufs Display drückte sie den Anruf ab. »Ich sag dir, was mit meinen letzten ausrangierten Schauspielerinnen passiert ist. Eine hat reich geheiratet, eine andere schlichtet im Supermarkt Regale nach. Das ist kein Leben für dich, oder? Warum auch? Dich will niemand ausrangieren. Jeder weiß, was du wert bist, und wenn du dich ein wenig zusammenreißt, werden die Rollen von ganz alleine kommen. Wenn du willst, können wir morgen sogar in Ruhe deine Gagenanteile verhandeln. Jetzt fahr erstmal nach Hause und denk darüber nach, ob ein bisschen persönlicher Ausdruck dir ein Leben als Küchenhilfe oder Reinigungskraft wert ist. In Ordnung?«

Die zweite Wahrheit traf Ino wie eine Faust, erbarmungslos und ehrlich. Sie reagierte über, nicht wahr? Ohne es zu merken, war sie zu einer dieser pseudointellektuellen Künstlerinnen mit prätentiösen Ansprüchen geworden. Millionen von Leuten hassten ihre Jobs. Sie war nichts Besonderes.

»Ich denke darüber nach. Danke, Mabuchi.«

Ja, das würde sie. Nachdenken. Einen Plan machen. Für eine Zukunft in der Schauspielindustrie, mit der sie leben konnte. Doch dafür brauchte sie ein schlaueres Hirn als ihres.

Im Taxi Richtung Innenstadt war sie versucht, Itachi anzurufen, doch seine Abweisung machte sie immer noch zu wütend. Sakura würde mit ihrem neuen Job keine Zeit haben. Sie brauchte jemanden mit Hirn und Zeit. Ja, das würde funktionieren.

»Sakura!«, rief sie in ihr Smartphone, sobald ihre beste Freundin rangegangen war. »Ist Sasuke da? Ich hab eine Aufgabe für ihn.«

 
 

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Planlos


 

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Konoha, Japan; 17 Jahre zuvor

 

Itachi runzelte die Stirn, als seine Mutter ihm ein Bündel entgegenhielt und behauptete, dass das sein Bruder wäre. Seltsam. Was da eingewickelt war, sah nicht so aus. Da war ein Flaum dunkler Haare, aber das Gesicht war zerknautscht, der Kopf ein wenig unförmig. Grotesk.

»Willst du ihn halten, Itachi?«, fragte seine Mutter mit einem sanften Lächeln auf den Lippen, während sie ihm das Bündel vorsichtig in die Arme legte.

Es war schwerer als gedacht. Und merkwürdiger. Wie konnte jemand so klein sein, so zerbrechlich wirken, so unbehelligt von der Welt in den Armen eines Fremden schlummern, einen Daumen im Mund und ein Schmatzen auf den Lippen? Itachi war enttäuscht. Über die letzten Monate hatte er sich mehr erhofft.

»Kann er morgen mit zum Fußballspielen kommen?«, wollte Itachi wissen. Denn darum ging es doch. Ihm war ein Spielkamerad versprochen worden. Doch sein eMutter schüttelte tadelnd den Kopf und strich ihm liebevoll übers Haar, den Blick auf das Bündel, seinen Bruder, niedergeschlagen.

»Nein, das wird noch ein bisschen dauern.«

Sie hatte recht, diese kleinen Beinchen würden das eigene Körpergewicht kaum tragen. Sowas Blödes. Damit wollte er nichts zu tun haben. »Aber was soll ich dann mit ihm machen?«

Mutter lachte. »Auf ihn aufpassen. Du bist jetzt ein großer Bruder, Itachi, das bedeutet Verantwortung. Verstehst du?«

Natürlich verstand er, was Verantwortung bedeutete. Sein Vater trichterte es ihm ein, seit er denken konnte. Aber wieso musste gerade er verantwortlich sein für etwas so … Hilfloses? Er wollte es loswerden, das Bündel seiner Mutter zurückgeben, damit er endlich mit seinen Freunden spielen gehen konnte. Vielleicht konnte er sich in fünf Jahren noch einmal mit Sasuke beschäftigen, wenn er so alt war, wie Itachi jetzt und zu etwas zu Gebrauchen war. Ja, das war ein guter Plan.

Und doch hielt er inne. Sasuke war aufgewacht, lächelte ihn an. Ein schiefes, weiches Lächeln, für das er die Verantwortung trug.

»Hm«, machte er leise. »Meinetwegen.«

 
 

 

—Tokio, Japan; Gegenwart

 

Itachi erwachte mit Kopfschmerzen. Er hatte zu wenig getrunken, zu wenig geschlafen, zu wenig Sport gemacht in letzter Zeit. Langsam aber sicher rächte sich sein Versuch, diese verdammte Firma zu retten. Noch bevor er seine Beine aus dem Bett bemühte, überprüfte er seine beiden Smartphones auf neue Nachrichten. Er hatte eine Menge bekommen – der IT-Leiter wollte das Jour fixe verschieben, Marketing brauchte Freigaben für synCOMs Release-Event. Kein Anruf von Sasuke.

Über die letzten Tage hatte Itachi seinen kleinen Bruder mehrmals erfolglos angerufen. Er wollte nichts Bestimmtes; nur nachfragen, ob es ihm gutging. Eine Familie konnte erfüllend sein, keine Frage, aber Uchihas arbeiteten. Uchihas strebten nach etwas, immer, weil Stillstand in ihrer Welt Rückschritt war. So waren sie gestrickt, so wurden sie erzogen. Itachi war das zumindest. Und bis vor ein paar Tagen hatte er gedacht, dass auch Sasuke es war. Ein Irrtum offensichtlich.

Itachis Smartphone vibrierte in seiner Hand, und als hätte er ihn beschworen, erschien Sasukes Name auf dem Display. Es war sechs Uhr morgens, was unter gewohnten Umständen nicht ungewöhnlich gewesen wäre. Sie hatten oft Telefonate um diese Uhrzeit geführt, wenn Dinge nicht warten konnten, bis sie sich in der Firma sahen.

Im Aufstehen nahm Itachi den Anruf an. »Guten Morgen, Sasuke.«

»Morgen.« In Sasukes Hintergrund waren Vögel und Schritte zu hören. »Hab ich dich geweckt?«

»Sei nicht albern«, erwiderte Itachi. »Wieso bist du um diese Uhrzeit schon wach?«

»Ich hole Cornflakes. Sarada will nicht aufhören zu schreien, ehe sie ihre Schokoriffeln hat. Wir haben nur Schokokissen zu Hause – und nein, das ist nicht dasselbe. Kann ich was für dich tun?«

Itachi ignorierte den angestrengten Unterton in Sasukes Stimme. Das Brummen seiner Kaffeemaschine ließ ihn etwas lauter sprechen. »Ich wollte nur fragen, wie es dir geht.«

»Ach ja?«, fragte Sasuke. Seine skeptisch zusammengezogenen Augenbrauen waren fast schon hörbar. »Wieso interessiert dich das? Ist was mit synCOM passiert? Mit der Firma? Warum rufst du wirklich an? Itachi!«, setzte er nach, als dieser nicht sofort antwortete.

Es war eine schwierige Frage. Nein, eigentlich nicht. Die Antwort darauf war schwierig. Er konnte Sasuke nicht in diese Sache hineinziehen. »Du bist so misstrauisch, kleiner Bruder.«

»Womit ich meistens rechthabe. Vor allem, wenn es die Firma betrifft. Sag bloß, jetzt hacken sie auf dir rum. Das würde ich zu gern sehen.«

»Ich habe alles im Griff«, behauptete Itachi. Hatte er auch, oder? »Genieß deine freien Tage. Und schöne Grüße an Sarada-chan. Und Sakura-san.«

»Klar…« Sasuke klang alles andere als überzeug. »Man sieht sich.«

Er hatte aufgelegt, bevor Itachi sich verabschieden konnte. Um Schokoriffeln zu kaufen offenbar. Wie kurios. Doch er schien glücklich zu sein, befreit, und allein das war Grund genug, ihn nicht zu involvieren, auch wenn synCOM die stärksten finanziellen Unstimmigkeiten aufwies und Itachi seine Hilfe gut hätte gebrauchen können. Es war irrelevant.

Mit einem großen Schluck trank Itachi seinen Espresso aus und fuhr Richtung Innenstadt. Er würde es auch alleine schaffen, und er würde Sasuke weiterhin den Rücken freihalten, so wie all die Jahre zuvor auch –

»Autorisierung fehlgeschlagen?«, las er den Text auf der Parkschranke. Zum ersten Mal seit sehr, sehr vielen Jahren runzelte er die Stirn aus Verwirrung. Das Ding konnte nicht kaputt sein. Itachi war früh, aber vor ihm mussten zumindest die Kundenbetreuer für den mittleren Osten angekommen sein. Das ließ nur mehr eine Möglichkeit.

Er warf die Warnblinkanlage an und stieg aus. Zu Fuß umrundete er den Schranken, nahm die Treppen hinauf ins Erdgeschoss und schritt durch das Foyer auf den Empfang zu. Den Gruß der Empfangsdame erwiderte er kaum, bevor er die Parkkarte hochhob. »Könnten Sie bitte die Autorisierung überprüfen? Schnell, wenn Sie so freundlich wären.«

»Natürlich, Uchiha-sama.« Eilig nahm sie die Karte entgegen und zog sie über den Scanner. »So etwas passiert häufiger Mal. Vielleicht haben Sie sie beim Einkaufen zu nahe an die Kassa gelegt? Manche Geschäfte benutzen diese Geräte zum Entmagnetisieren, die entladen auch unsere … huh? Das ist seltsam.«

Itachi verengte die Augen. »Was genau?«

»Mein Computer sagt, dass Sie keine Berechtigung zum Tragen einer Parkkarte haben. Möglicherweise spinnt das System schon wieder rum, die Dinger sind manchmal – ich meine, ich werde dem Helpdesk Bescheid sagen. Die sollten das heute noch behoben haben. Nehmen Sie bis dahin eine Reservekarte. Ich stelle eine zweite auf Ihren Vater aus.«

Mit einem knappen Nicken nahm er die farblose Plastikkarte an, die sie ihm ein paar Mausklicks später über den Tisch zuschob. Fehler im System? Wohl kaum.

Die Reservekarte funktionierte, was Itachi erneut die Stirn runzeln ließ. Was für einen Sinn hatte es, seine Parkkarte zu sperren? Er war dabei, einen Betrug in Milliardenhöhe aufzudecken, eine Parkschranke würde ihn doch nicht aufhalten. War der Aufsichtsrat nun zu einfachem Mobbing übergegangen?

War er nicht.

Itachi blieb stehen, als er im Vorzimmer zu seinem Büro ankam. Und Leute Akten hinaustrugen. Kiste um Kiste, Stapel um Stapel, wie eine minimalistische Ameisenstraße. Und sie nahmen nicht nur die angeforderten Bilanzen mit, sondern alles. Lose Kabeln hingen herum, wo vorhin noch ein Drucker und Shiroganes PC gestanden hatten, Regale waren halb bis ganz geleert, der Schreibtischsessel war in Schutzfolie gewickelt.

»Passen Sie doch auf!«, hörte er plötzlich Shirogane in seinem Büro rufen. Als er eintrat, sah er sie mit einem der Möbelpacker um ein ledergebundenes Buch streiten. Sie zog ein wenig fester daran und stolperte einen Schritt zurück, als der Mann es abrupt losließ. Aufgebracht presste sie die Lippen aufeinander, kaum glücklich mit ihrem sinnlosen Sieg.

Itachis Büro hatte es noch schlimmer getroffen als das Vorzimmer. Sein Computer und Laptop waren verschwunden, die Kaffeemaschine auch, zwei Möbelpacker schoben ihn aus dem Weg, als sie seinen Schreibtisch nach draußen schleppten.

»Uchiha-sama!«, rief Shirogane, als sie ihn bemerkte. »Die räumen Ihr gesamtes Büro aus!«

»Das sehe ich.« Dass seine brillante Assistentin den Drang zum Aufzeigen offensichtlicher Dinge verspürte, verdeutlichte die Skurrilität der Situation. »Haben Sie eine Ahnung, was das soll?«

»Nein. Das geht schon seit einer halben Stunde so. Ich bin heute extra früher gekommen, falls Sie doch noch Hilfe mit dem Papierkram brauchen – und die sind einfach so reingestürmt. Das hier haben Sie mir in die Hand gedrückt.«

Sie reichte ihm einen zerknitterten Durchschlag. Es war ein Auftragszettel, unterzeichnet von Uchiha Fugaku, der die komplette Räumung von Itachis Büroraum samt Vorzimmer bestätigte. Vorkasse. Itachi zerknüllte das Papier in seiner Hand. »Wie viel wurde bereits mitgenommen?«

Shirogane warf einen Blick zurück auf die beiden leeren Aktenschränke an der Wand. »Sie haben mit den Finanzunterlagen angefangen, die ich Ihnen neulich gebracht habe. Dann haben sie mit den Projektordnern weitergemacht. Sie wollten auch Ihre privaten Bücher mitnehmen, Uchiha-sama. Ich habe nur die paar da in der Ecke retten können und dieses hier.« Verzweifelt reichte sie ihm das Buch, um das sie vorhin so erbittert gekämpft hatte. Humankapital in der freien Marktwirtschaft. Ein schwer zu lesender Schinken, der ihm aktuell wenig brachte. Dennoch nahm er es an.

»Danke, Shirogane-san. Jetzt gehen Sie nach Hause. Sie haben sowieso viel zu viele Überstunden. Ich kläre das.«

»Wann soll ich … kann ich …« Sie biss sich auf die Lippen. »Muss ich mich nach einem neuen Job umsehen?«

Itachi nahm das sich leerende Chaos auf. Er saß nicht mehr am längeren Hebel, alle Versprechungen waren bedeutungslos. »Bleiben Sie erreichbar. Ich rufe Sie an, wenn ich mehr Informationen habe.«

Sie ging. Nicht, ohne ihm noch ein Dutzend Mal ihre Hilfe anzubieten, fast aufzudrängen, nun, da ihre Anstellung auf dem Spiel stand, aber schlussendlich wussten sie beide, dass sie nichts tun konnte.

Itachi versuchte nicht, mit den Räumungskräften zu verhandeln. Ein Auftrag war ein Auftrag, und nachdem sie seinen Computer längst weggebracht hatten, war der Rest auch egal. Er würde nicht um die verbleibenden Bände von Ueharas Wirtschaftsenzyklopädie der Tigerstaaten streiten. Stattdessen trat er zurück in den Gang, durchquerte ihn, und erwischte seinen Vater gerade, als dieser sein Büro aufsperrte.

»Guten Morgen, Vater.«

Fugaku zuckte nicht zusammen. Wie sein älterer Sohn hatte er schon lange gelernt, seinen Körper und dessen Reaktionen perfekt zu beherrschen. Ungewollte Körpersprache war Schwäche, und Uchihas waren alles außer schwach.

»Itachi.« Er stieß die Tür auf und trat zur Seite, um den Weg freizugeben. »Ich nehme an, du möchtest mit mir sprechen.«

»Würdest du mir erklären, wieso du mein Büro räumen lässt?«

»Komm erst einmal rein, dann können wir in Ruhe –«

»Die Zeit für Ruhe ist vorbei, Vater«, schnitt Itachi ihm das Wort ab. Sachlich. Beherrscht. Nur die Spur einer Drohung in seiner Stimme. Vorerst. »Nachdem die Räumungsfirma meine Einrichtung quer durch das Firmengebäude schleift, ist Geheimhaltung wohl ebenfalls überflüssig. Ich will eine Erklärung.«

Fugaku hielt seinem Blick stand, die Mundwinkel nach unten gezogen. Früher hatte er diesen Gesichtsausdruck oft gehabt, vorwiegend Sasuke gegenüber, wenn er all seine Strenge sichtbar machen wollte. Keine Schwäche zeigen. Auch nicht, wenn er Unrecht hatte oder in Wahrheit nur enttäuscht, ratlos oder frustriert war. Keine Schwäche. Nicht damals, nicht jetzt. Niemals.

»Der Aufsichtsrat hat beschlossen, dass dein Zugang zu Firmeninterna ein Sicherheitsrisiko ist, solange Misstrauen gegen dich im Raum steht.« Fugaku seufzte enttäuscht. »Ich habe dich gewarnt, Itachi.«

Hatte er. Aber, »Glaub nicht, dass ihr dadurch gewonnen habt.«

Fast schon empathisch schüttelte Fugaku den Kopf. »Hier geht es nicht um gewinnen oder verlieren, Itachi, wann begreifst du das endlich? Du bist nicht unbesiegbar. Wir alle müssen unsere Grenzen akzeptieren.«

Itachi verengte die Augen. Legte sein Vater ihm etwa nach Allem ernsthaft nahe, beim Aufsichtsrat zu Kreuze zu kriechen und diese Farce kommentarlos ziehen zu lassen? Dass er so wenig von ihm hielt, war fast schlimmer als die Tatsache, dass er ihn wortlos aus der Firma geworfen hatte.

»Wir werden sehen«, sagte Itachi. Und ging.

 
 

 

»Yamanaka-san, wie hat Ihnen das Drehbuch gefallen?«

Ein strukturloses Trauerspiel von Klischees. »Schon beim ersten Lesen habe ich gemerkt, wie vielschichtig und tiefgründig es ist. Als erfahrene Schauspielerin spürt man sowas einfach!«

»Und Ihre Kollegen? Hiro schwärmt von Ihrer Professionalität und Kreativität bei allen gemeinsamen Szenen. Wie sieht das bei Ihnen aus?«

Schönes Gesicht mit mittelmäßiger Stimme, wahrscheinlich in einem ähnlichen Knebelvertrag wie ich. »Durch unsere unterschiedlichen Vorgeschichten interpretieren wir Szenen oft ganz anders, was eine ganz neue Erfahrung für mich war. Ich würde mich freuen, wieder mit ihm zu arbeiten.«

»In der Öffentlichkeit sind Sie immer sehr bunt. Hat es Sie gestört, mit Nanri einen derart zurückgezogenen Charakter darzustellen?«

Als wäre genau das ihr Problem. »Keine Minute! Dieser Stil gehört zu meiner Figur. Ohne die tollen Kostümdesigner hätte ich Nanri nicht so überzeugend spielen können.«

So ging es weiter, Frage um Frage, vorgeschriebene Lüge um vorgeschriebene Lüge. Ino hatte das Skript gestern überflogen, ihren brutalen Wutschrei in einer Doppellage Kissen erstickt, und trug seit heute Morgen ihre professionellste Miene. Keine dummen Kommentare, keine Abweichungen vom Skript. Dafür sorgte Mabuchi. Seit Inos Ausbruch ließ sie ihre Klientin nicht mehr aus den Augen, überwachte jeden Schritt, jede Silbe.

Die letzte Frage beantwortete Ino ebenso höflich wie die erste, danach rutschte sie vom Stuhl und flüchtete über das Set zu ihrer Handtasche, die Mabuchi als Geisel genommen hatte.

»Gut gemacht, Yamanaka«, sagte sie, den Blick durch die runde Brille auf einen Zeitungsartikel gerichtet. »Du kannst ja, wenn du willst.«

»Wollen ist eine Übertreibung. War’s das für heute?«

»Ja. Soll ich dich in die Stadt mitnehmen? Ich muss in einer Stunde in Chūō sein.«

»Nicht nötig, ich laufe.«

Mabuchi sah auf, ein leichtes Augenrollen unter ihren gezupften Augenbrauen. »Du kannst mir das alles gerne übelnehmen, Yamanaka, aber ich mache das nicht, um dich zu sabotieren.«

»Nein? Fühlt sich verdammt so an.« Ino schüttelte den Kopf. »Schon gut, schon gut. Showbiz ist Showbiz. Verlangen Sie nur nicht, dass ich das gut finde. Bis zum nächsten schmerzhaft dämlichen Interview.«

Beim Weggehen warf Ino die Arme über den Kopf, um ihrem Unmut Luft zu machen. Sie kannte Mabuchis Standpunkt, verstand ihn sogar und konnte nicht bestreiten, dass er rational gesehen Sinn machte. Die Schauspielindustrie war hart, in den USA wie in Japan, nur, dass sie in Japan noch Rollen bekam, Geld verdienen konnte.

Die Heimfahrt verbrachte Ino auf Google. Wie überlebt man die japanische Schauspielindustrie? Sie war nicht überrascht, dass keine hilfreichen Suchergebnisse kamen. Offenbar hatte sie keine Wahl, also wählte sie die Telefonnummer, die Sakura ihr neulich gegeben hatte. Zwei Freizeichen ertönten.

 »Ino. Was willst du?«

»Sasuke. Immer wieder eine Freude, deinen Enthusiasmus zu hören.«

»Sakura hat mir gesagt, dass du meine Hilfe brauchst. Kannst du vergessen. Ich bin im Urlaub.«

Ino schnaubte. »Du bist arbeitslos. Was bedeutet, dass du sowieso nichts Besseres zu tun hast. Komm schon, das wird lustig. Wie unsere gemeinsamen Referate früher.«

»Ich hab zu tun. Nur, weil ich gerade keiner geregelten Arbeit nachgehe, bedeutet das nicht, dass ich den ganzen Tag nur darauf warte, dir zu helfen.«

»Ja? Was machst du gerade?«

Kurze Stille. »Ich sehe Cinnabun dabei zu, wie er eine Karotte frisst – fein, fein, vielleicht habe ich gerade nicht allzu viel zu tun. Hör auf zu lachen.«

»Leichter gesagt«, kicherte Ino, obwohl ihr nicht nach Lachen zumute war. »Zieh dir lieber Hosen an, ich komm in einer Stunde vorbei.«

»Wie denkst du, verbringe ich meine Freizeit?«, raunte Sasuke.

Als sie ankam, hatte er tatsächlich Hosen an, dennoch sah er nicht vollständig bekleidet aus. Seit ihrer Rückkehr nach Japan, hatte Ino ihn immer nur in Anzug und Krawatte gesehen. Wie er jetzt vor ihr stand, in Jeans und Poloshirt, wirkte er viel mehr wie ihr alter Klassenkamerad aus der Mittelschule.

»Was?«, fragte er missmutig.

Ino grinste und schob sich an ihm vorbei in die Wohnung. »Bin nur nostalgisch.«

Sasuke zuckte resignierend die Schultern. »Also schön. Da du schon hier bist, kann ich dir etwas anbieten?«

»Kaffee wäre toll.«

Es musste ihn etliche Überwindung kosten, Ino mit einem Espresso zu bewirten, während sie über die Theke gebeugt seine Handgriffe beobachtete. Immerhin wusste er mittlerweile, wie seine Küche funktionierte. Die Arbeitslosigkeit schien wenigstens seinen häuslichen Fähigkeiten gut zu tun. Nach kurzer Zubereitungszeit platzierte er zwei Kaffeetassen zwischen ihnen.

»Dann schieß los. Womit soll ich dir helfen?«, wollte er skeptisch wissen.

»Wenn ich das nur wüsste.«

»Kannst du mich nicht einfach gleich erschießen? Das wäre weniger schmerzvoll.« Er zog eine Grimasse über ihren schmollenden Blick. »Dann erzähl einfach mal dein Problem. In der Kurzversion, wenn’s geht.«

Ino seufzte. Davon gab es keine Kurzversion, nicht einmal annähernd. Aber sie hatte ihn angerufen. Sie musste es ihm erklären. »Ich … ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«

Sasukes Augenrollen musste förmlich wehtun. »Ich kann nicht fassen, dass ich das tue. Warte hier.«

»Sasuke?«, rief sie ihm nach. Anstatt zu antworten, verschwand er hinter einer Tür. Eine Minute später kam er mit einem Koffer zurück, ein zweiter Gang förderte ein Flipchart zutage. Argwöhnisch beobachtete sie ihn dabei, wie er einen Bogen Papier aufhing und Flipchartmarker gemeinsam mit farbigen Kartonförmchen aus dem Koffer räumte. »Was soll das denn jetzt werden?«

»Eine Bedarfsanalyse natürlich«, erklärte Sasuke, ohne ihre Frage zu beantworten. Mit einem letzten Blick überprüfte er seinen Aufbau. »Wir machen das in der UCHIHA Corp. – ich meine, wir haben das oft gemacht, um eine Idee von aktuellen Kundenbedarfen in unserem Marktsegment zu bekommen.«

»Aha.«

Als hätte er ihren Argwohn nicht bemerkt, fuhr er fort. »Normalerweise machen wir das mit einer Fokusgruppe von Experten oder Kunden und ich hab hier auch nur Moderationskarten in zwei unterschiedlichen Farben, aber es wird schon gehen. Hier.« Während er gesprochen hatte, hatte er mit einem roten Stift Problem, Bedarf und Ressourcen auf das Flipchart geschrieben. »Das ist, was wir machen. Zuerst identifizieren wir dein Problem. Danach ermitteln wir den Lösungsbedarf und zuletzt schauen wir, welche Ressourcen uns zur Verfügung stehen. Ganz einfach.«

Es war nicht einfach. Alles andere als das.

Sasuke war ein guter Moderator, ließ sie Dinge auf das Flipchart und auf die Moderationskärtchen schreiben, und am Ende hatte sie ihm ihr Problem tatsächlich erklärt. Sie hatte ihr Leben der Schauspielerei gewidmet, hatte Familie und Freunde geopfert, und nun war sie unglücklich. Sie hatte immer noch keine Antwort auf die Frage, ob es das wert gewesen war, aber Sasuke verstand wenigstens, was sie von ihm erwartete.

»Starke Nerven, viel Gute-Laune-Tee und Atemübungen«, war seine Lösung. Ein entschuldigendes Lächeln folgte. »Tut mir leid, aber du verlangst etwas Unmögliches von mir, Ino. Ich kann dir dabei helfen, ein Projekt auf die Beine zu stellen, aber ich bin kein Lebensberater.«

»Ich brauche doch keine Lebensberatung.« Ino schürzte die Lippen. »Nur einen Plan, wie ich mich nicht umbringe. Sowas wie … keine Ahnung, Kontakt zu guten Regisseuren knüpfen. Du kennst doch viele wichtige Leute, da wird doch wohl jemand dabei sein, der ernstzunehmende Filme dreht.«

Sasuke ließ sich zurück neben sie in die Couch fallen. »Du misinterpretierst mein Netzwerk. Außerdem, wenn du jemanden brauchst, der Leute kennt, ist Itachi sicherlich der bessere Ansprechpartner.« Er zischte abfällig. »Wäre ja auch zu viel verlangt, dass mal etwas ohne meinen verfluchten Bruder geht. Die Welt ist ungerecht.«

Das ließ Ino aufhorchen. Seine Vorschläge waren Mist, aber sie hatte irgendwie damit gerechnet. In Wahrheit war das hier eine Ablenkung wie alles andere auch. »Darf ich dich was fragen, Sasuke?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort. »Was ist eigentlich so schlimm daran, dass Itachi besser ist als du? Sakura, Itachi und du seid alle schlauer als ich, aber ich mache keinen Aufstand.«

»Man braucht ja auch eine gewisse Mindestintelligenz –«

»Sprich diesen Satz zu Ende, und deine ganze schöne Charakterentwicklung der letzten Wochen wird umsonst gewesen sein, Sasuke.«

»Tut mir leid«, schob er schnell nach, eine abwehrende Geste von der Hand schüttelnd. »Alte Gewohnheit. Es nervt einfach, wenn ständig jemand … vergiss es. Nimm’s mir nicht übel, aber du bist die Letzte, mit der ich darüber reden will.«

»Fair.«

Sie sahen sich für einen Moment an, dann seufzten sie synchron und ließen die Köpfe hängen. Für eine Weile hingen sie ihren Gedanken nach. Itachis Name allein hatte neuen Ärger in ihnen beiden heraufbeschworen, wenn auch aus komplett unterschiedlichen Gründen.

»Weißt du, Sasuke, ihr Uchihabrüder seid echt anstrengend. Alle beide.«

»Steck mich nicht mit Itachi in eine Schublade«, murmelte er. Er hatte den Kopf nach hinten auf die Sofalehnte gelegt und starrte zur kahlen Decke hinauf. »Ich weiß, dass ich die Frage bereuen werde, aber was genau läuft da zwischen dir und ihm?«

»Aaaah.« Sie ließ ihren Kopf ebenfalls nach hinten fallen. Die Lehne war weich wie eine Wolke, wie von einer Designercouch zu erwarten gewesen war. Verdammte reiche Leute. »Nur ein paar harmlose Flirts, bevor er entschieden hat, dass die Arbeit wichtiger ist.«

»Ernüchternd, nicht wahr?«, fragte Sasuke und traf damit direkt ins Schwarze. »Ich kenn das Gefühl. Erst macht er dich glauben, dass du seine Zeit wert bist, nur um dir mit Leichtigkeit zu beweisen, wie viel höher er über die steht. Ist doch scheiße.« Er seufzte. »Mich wundert nur, dass ausgerechnet du dir das gefallen lässt.«

Ino blinzelte. Da war was dran, nicht wahr? Sie war so in Selbstmitleid versunken, dass sie ihre Hartnäckigkeit vergessen hatte. »Hey, Sasuke«, sagte sie. »Weißt du noch, als ich dich in der Mittelschule mit Fotos deiner Tigerunterhose zu einem Date erpresst hab?«

»Wie oft soll ich dir noch sagen, dass das nicht meine war? Außerdem hab ich mir den Arsch vorm Kino abgefroren, weil du mich versetzt hast. Danke dafür übrigens.«

»Ich hatte vergessen, dass ich ein Vorsprechen hab – und das ist nicht der Punkt«, unterbrach sie sich selbst.

»Sondern?«

Sie sprang auf, eine Faust motiviert in die Luft gestreckt. »Ich bin verdammt gut im Prokrastinieren. Und ich bin tausendmal sturer als Itachi jemals sein kann.«

»Ist es in Ordnung, wenn ich das weder verstehe noch nachfrage?«

»Wart’s einfach ab!«
 

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Wie ein Schlaghammer


 

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Tokio, Japan; 10 Jahre zuvor

 

Izumi sah von dem Boulevardmagazin auf, ihr Blick so fragend wie besorgt. »Du kommst spät«, sagte sie. Als Doktorandin an ihrer Alma Mater begann sie ihre Laborzeiten meist erst mittags, sodass von ihrer Frühaufstehernatur der Studienzeit nicht viel übriggeblieben war. Dass sie dennoch bereits im Pyjama war, verriet eine späte Stunde, auch ohne dass Itachi auf seine Armbanduhr sehen musste.

»Tut mir leid.« Im Vorbeigehen küsste er sie auf den Mund. Während er sein Sakko abstreifte, zog er die Vorhänge zu. Izumis Wohnung war mitten in der Stadt, was gerade an langen Arbeitstagen praktisch war, und die hatte er sechs Tage die Woche, solange er sein Praktikum in der UCHIHA Corp. machte. Nur deshalb behielt sie ihr kleines Loch, wie sie es liebevoll nannte, obwohl sie die Wochenenden fast ausschließlich in Itachis wesentlich größerem Appartement am Stadtrand verbrachten. Der Preis der zentralen Lage war die dichte Bebauung, dank der etliche Nachbarn direkt in das kleine Wohnzimmer sehen konnten. Für heute reichte es Itachi mit Menschen. So viele Diskussionen um budgetäre Feinheiten wie heute hatte er noch nie mit seinem Vater ausfechten müssen.

»Ist etwas in der Firma passiert?«, fragte Izumi. Von ihrem Platz auf dem Sofa aus beobachtete sie, wie Itachi seine Sachen verstaute und sein Hemd aufknöpfte.

»Ich habe alles im Griff.«

Zweifelnd legte sie den Kopf schief. Ihr Job an der Universität verlangte ihr einiges ab, dennoch hatte sie noch nie eine Gala oder ein Event verpasst, wenn er sie um ihre Begleitung gebeten hatte. Zu jedem Geburtstag seiner entfernten Verwandtschaft schrieb sie eine Karte und erinnerte ihn mit einem Lächeln auf den Lippen daran, selbst auch zu unterschreiben. Sie war hübsch und verständnisvoll und ehrgeizig und großartig. Darum konnte er sie nicht mit seinen Sorgen belasten. Dass sein Praktikumsprojekt nicht gut lief, war nicht ihr Problem.

»Bist du dir sicher, Itachi?«

»Natürlich«, beharrte er. Er würde Izumi nicht in diesen Sumpf hineinziehen. Stattdessen sagte, »Mach dir keine Sorgen.«

Erst Jahre später, wenn sie nach der Trennung ihre vermischten Haushalte sortierten, würde Izumi voller Selbstzweifel fragen, ob es etwas gebracht hätte, wenn sie einmal mehr nachgefragt hätte. Ob er sie dann eingeweiht und in sein Leben gelassen hätte.

Er hatte keine Antwort darauf.

 
 

 

—Tokio, Japan; Gegenwart

 

Er hatte nicht mit ihr gerechnet. Wenn Itachi ehrlich war, war sie die Letzte, mit der er gerechnet hatte. Heute und überhaupt. Yamanaka Ino war nicht irgendjemand. Sie war schön, lebensfroh und charismatisch. Wenn sie wollte, konnte sie wahrscheinlich die Hälfte aller Männer in Japan mit einem einzigen Lächeln um ihren Finger wickeln. Insofern hatte er sich nicht weiter mit ihr beschäftigt, nachdem er ihre Anrufe ignoriert hatte.

Nun stand sie hier, legere in Jeansshorts und Flipflops vor seiner Wohnung, als hätte er sie nicht wochenlang eiskalt ignoriert. Und musterte ihn überrascht. »Habt ihr heute Uchiha-Freizeittag?«

Er folgte ihrem Blick auf sein graues Shirt und die Laufshorts, die das Bequemste waren, das er besaß. Die Frage war so Ino. »Was?«

Mit einer unwirschen Handbewegung schüttelte sie den Kopf. »Egal. Ich weiß, du ignorierst mich und du wirst schon deine Gründe dafür haben. Aber ich habe entschieden, dass ich das nicht auf mir sitzen lasse. Darf ich reinkommen?«

»Ich habe keine Zeit«, wehrte er ab, weil es die Wahrheit war. In seiner Wohnung lagen zerknüllte Zeitungsartikel, halb ausgeräumte Boxen mit alten Unterlagen, die über die knappen hundertfünfzig Quadratmeter Boden verstreut waren in der Hoffnung, irgendetwas darin zu finden, das ihm helfen konnte. Es gab so viel Wichtigeres als diese Schauspielerin, die sich rücksichtslos aufdrängte. An diesem Punkt hätte er sogar Sasuke abgewimmelt.

Itachi schloss die Tür – versuchte es, aber Ino schob ihren Fuß dazwischen. Mit einer Hand stemmte sie sich gegen den Türrahmen, die andere legte sie gegen seine Schulter. Es war keine bedrohliche Geste, wie auch mit manikürten, schmalen Fingern? Dafür war ihr Blick umso vorwurfsvoller.

»Tut mir leid.« Sie klang absolut nicht danach. »Ich kann ja verstehen, dass du viel zu tun hast. Aber ich habe auch das Gefühl, dass man dich manchmal zu deinem Glück zwingen muss. Zufälligerweise geht mir gerade die Geduld aus. Ich mag dich, du magst mich, also reden wir wie zwei normale Erwachsene darüber, ja?«

Itachi sah sie an. Ratlos. Noch nie hatte jemand so mit ihm gesprochen. Wenn er wollte, konnte er sie mühelos abschütteln, ihr die Tür endlich vor der Nase zuschlagen und zurück in seine heilloses Chaos verschwinden, um weiterhin festzustecken. Das konnte er tun, wollte es tun, weil er immer schon so gewesen war. Weil er allein da oben kämpfte, an der Spitze eines erbarmungslosen Wettbewerbs, in dem selbst die Sieger nur verlieren konnten. Und doch … »Sie haben mich rausgeworfen.«

Die Worte waren ohne sein Zutun seinem Mund entwischt. Vielleicht, weil er ratlos war, nicht mehr weiterwusste, und es keinen Unterschied mehr machte, wer davon erfuhr. Oder weil Inos Direktheit schon seit ihrer ersten Begegnung mehr Informationen aus ihm herausgepresst hatte als er preisgeben wollte. Was es auch war, es ließ sie stocken. Ihre Hand fiel von seiner Schulter, sie trat einen Schritt zurück.

»Wer?«, wollte sie wissen. Tausend mögliche Fragen und sie stellte die einzige, auf die er eine Antwort hatte. Er war ihr unendlich dankbar.

»Mein Vater. Der Aufsichtsrat.«

Mehr brauchte sie nicht, um sich selbst hineinzulassen. Itachi leistete kaum Widerstand, bereitete ihr sogar einigermaßen freiwillig den Weg hinein in das Chaos seiner ersten Jahre bei der UCHIHA Corp., die in Papier und Druckertinte seine Wohnung füllten. Er beobachtete sie dabei, wie sie sich ein Bild machte, den Kopf schüttelte und sich schließlich zu ihm wandte.

»Scheiße. Das sieht aus, als wärst du in ernsthaften Schwierigkeiten.«

War er. Er blieb vor ihr stehen, matt und müde und verloren in seiner eigenen Ausweglosigkeit. Sie hatte sich Zutritt verschafft, aber noch war nichts verloren. Wenn er sie lang genug abwies, ging sie vielleicht wieder. Dann wäre sie wenigstens weg, so wie sein Bruder. Aus seinem Leben, größtenteils, aber immerhin auch aus der Schusslinie. Wenn sein Vater ihn rauswarf, wusste Itachi nicht, über welche moralischen Leichen er noch gehen würde. Sicher war sicher.

»Itachi. Was genau ist passiert?«

»Das würdest du nicht verstehen.«

Ino sah ihn an. Auch wenn ihre Augen strahlendblau und Sasukes nachtschwarz waren, sahen sie sich gerade unheimlich ähnlich. Jedes Mal, wenn Itachi ihm eine Information verwehrte, focht Sasuke einen inneren Kampf aus, nur um am Ende eine beleidigte Niederlage einzuräumen. Gleich würde sie gehen, würde seine flüchtigen, irrationalen positiven Gefühle mitnehmen, und aus seinem Leben verschwinden.

»Was zum –« Sie stieß sich von der Theke ab, um sich mit verschränkten Armen vor ihn zu stellen. Ihr Gesicht war so dicht an seinem, dass er eine kleine, wütende Falte zwischen ihren Augen sehen konnte. »Ich bin ja kein Genie, aber sehe ich etwa aus wie ein Idiot? Du hast mich reingelassen, also rede, Uchiha. Jetzt.«

Er sah sie verdutzt an. Niemand widerstand seiner kalkulierten Abweisung. Und doch stand sie hier, verärgert, aber hier. Und er konnte nicht anders, als zu reden.

Itachi erzählte. Nicht alles, aber genug, um ihr begreiflich zu machen, in welcher Misere er steckte. Vorsichtig beschrieb er seine Entdeckungen in Singapur, die unstimmigen Zahlen und gefälschten Geldflüsse und, als Ino mit unfassbarem Verständnis ihre Hand in seine nahm, von den Drohungen seiner Familie. Von der bitteren Wahrheit, dass er verloren hatte, keinen Plan B mehr hatte.

Wo Ino sonst bei jeder Gelegenheit unterbrach, hörte sie heute nur zu, während sich ihr Gesicht von verärgerter Ungeduld zu purer Fassungslosigkeit wandelte. Ihre Berührung war so beruhigend wie sinnlos. Am Ende verengte sie die Augen.

»Du verarschst mich doch.«

»Ich wünschte, das täte ich.«

»Was hast du jetzt vor?«, fragte sie. Sie befreite ihre Hand aus seiner und stand vom Sofa auf, damit sie sich gegen die Küchentheke lehnen konnte. Über ihren verschränkten Armen sah sie fast schon auffordernd aus. Sie erwartete eine Antwort, die er ihr nicht geben konnte.

Er war machtlos. Zum ersten Mal seit Jahren. Oder sogar noch länger.

»Du gibst doch nicht ernsthaft auf, oder?«

»Ich habe keine Wahl«, erwiderte er. Das hatte nichts mit Aufgeben zu tun. Er war besiegt worden. »Mir sind die Hände gebunden. Die Dokumente, die hier rumliegen, sind das einzige, zu dem ich noch Zugang habe. Die jüngsten davon sind von vor drei Jahren. Das hilft mir nicht weiter.«

»Und der Rest?«

»Weggesperrt. Die physischen Dokumente wahrscheinlich wieder in der Buchhaltung oder im Büro meines Vaters, die elektronischen am Firmenserver.«

»Und du kommst nicht ran?«

»Meine Zugänge wurden gesperrt, den Firmenschlüssel haben sie mir abgenommen. In der UCHIHA Corp. komme ich nicht einmal mehr ins WLAN. Es ist zwecklos.«

»Nicht, wenn wir dein Problem lösen.«

»Mein Problem lösen? Wir?«, wiederholte er ungläubig. »Das war keine einfache Kündigung, Ino. Ich habe weder rechtliche Mittel, noch werde ich dich in diese Sache mit hineinziehen.«

Für einen Moment dachte er, Ino würde nicken; verstehen. Doch sie stieß einen lauten Schwall Luft aus und machte eine ausschweifende Geste mit ihren Armen. »Also ehrlich. Zum einen bin ich erwachsen und kann für mich selbst entscheiden. Wenn ich dir helfen will, tue ich das. Und das nicht nur, weil ich mich von meinem eigenen Schlamassel ablenken will. Zum anderen ist es doch wohl logisch, was du tun musst, oder? Komm schon, du bist doch schlau.«

Ihr herausfordernder Blick bohrte sich durch seinen. Sie meinte es ernst, mit allen Konsequenzen. Aber er konnte ihre Einmischung nicht riskieren, oder? Sie hatte nichts damit zu tun, konnte nichts dafür. Es war seine Verantwortung. Trotzdem. »Was schlägst du vor?«

Zufrieden lächelte Ino. »Ruf Sasuke an.«

 
 

 

»Das war doch gut, oder?«, sagte Sasuke.

Sakura lachte leise und kuschelte sich enger an ihn. Früher war sie selten lang genug nackt geblieben, um ihre Figur zu beobachten. Seine Mutter hatte in den ersten Jahren nach Saradas Geburt die Angewohnheit gehabt, unangekündigt vor der Tür zu stehen, und Sakura hatte sich noch nie besonders wohl dabei gefühlt, nackt vor ihm zu stehen. Auch jetzt küsste sie ihn langsam und innig, ehe sie ihre Unterwäsche einsammelte, um wenigstens irgendetwas an zu haben. Es war in Ordnung. Sie waren in Ordnung. Vielleicht würde sie irgendwann verstehen, dass ihn ihre kleinen Brüste keineswegs störten, oder dass ihre muskulösen Schultern ihn sehr viel mehr antörnten als sie ihm glaubte.

»Warum haben wir eigentlich jemals damit aufgehört, Sakura?«

Sie runzelte die Stirn, während sie ihre Unterhose überstreifte. »Weil du irgendwann eine offene Affäre mit deiner Arbeit begonnen hast.«

»Ach ja, da war was.« Er konnte sie die Augen rollen sehen, ehe sie unter einem privaten Gedanken errötete. »Was?«

Ertappt ließ sie den Blick fallen. »Ich hatte nur ganz vergessen, wie laut du bist … beim Sex. Liegt wohl in der Familie.«

»In der – was?« Verwirrt richtete Sasuke sich auf. »Sakura …?«

Erst jetzt schien sie zu bemerken, dass er ein paar Dinge nicht wusste. Sie war so sehr um einen gemeinsamen Alltag bemüht gewesen, dass sie wenig über die Zeit der Trennung gesprochen hatten.

»Ino«, erklärte sie schließlich. »Als ich bei ihr gewohnt habe, haben sie und Itachi-san … du weißt schon. Jetzt schau nicht so! Du musstest das Ganze nicht durch dünne Wände mit anhören! Dass ich das weiß, ist genau genommen deine Schuld, Sasuke. Außerdem, Itachi-san ist gut mit der Zunge. Da. Leb damit, so wie ich damit zu leben habe und –«

»Nein!«, stieß Sasuke aus. Zu spät war er aufgesprungen, um seine Hand auf ihren Mund zu pressen und sie zurück ins Bett zu werfen. Sie strampelte unter seinem Körpergewicht in dem Versuch, ihm eine weitere intime Information über seinen Bruder mitzuteilen. Um nichts in der Welt würde er es dazu kommen lassen. Ein Detail reichte auf ewig. Sasuke wusste sehr gut, wo Sakuras empfindlichen Stellen waren. Mit treffsicherer Präzision visierte er ihre Hals an und kitzelte sie, bis ihre erstickten Worte in haltloses Lachen übergingen. Dass sie krampfhaft versuchte, dennoch etwas zu sagen, resultierte in gegrunzten Halbsilben, die so bizarr und unbeschwert und Familie waren, dass Sasuke nicht anders konnte, als ebenfalls loszulachen.

Sie würden schon wieder werden. Nicht heute oder morgen, aber irgendwann, wenn sie ausreichend über die Trennung geredet hatten und Sakura ihre verbalen Spitzen nicht mehr mit seinen eigenen Verfehlungen rechtfertigen würde. Diese Aussicht war genug, um sein Herz um eine Sorge zu erleichtern.

Die Kitzelattacke uferte bald zu einem Krieg aus, sodass sie erst spät aus dem Bett kamen. Sarada war wie jeden zweiten Samstag bei ihren Großeltern, wo Mikoto sie vermutlich ausgiebig verhätschelte, also holten sie die fettigsten Cheeseburger, die sie im Umkreis finden konnten und kauften auf dem Heimweg eine neue Flasche Raumspray, um den olfaktorischen Beweis nach der Tat zu beseitigen. Beide predigten sie ihrer Tochter konsequent den Wert gesunder Ernährung und zogen damit jedes Mal den geballten Zorn einer Vierjährigen auf sich. Diese Diskussion wollten sie sich beide gerne ersparen.

Sie waren gerade beim Wegräumen, als Sasuke Smartphone klingelte und er über den Ton erschrak. Seit seiner Kündigung hatte er kaum Anrufe bekommen, was ein Armutszeugnis seines Soziallebens war. Nun, da er keinen Einfluss mehr hatte, war er unwichtig geworden und frühere Freunde, mit denen er im Fitnessstudio oder beim Essen über Geschäfte gesprochen hatte, waren von der Bildfläche verschwunden. Es störte ihn keineswegs. Sie alle waren nur eine weitere Bürde gewesen, die er dankenswert einfach losgeworden war. Insofern überraschte es ihn wenig, als er Itachis Namen auf dem Display sah. Natürlich. Wer hätte ihn sonst schon anrufen sollen?

»Hallo, Itachi«, hob er ab, während er die letzte Pommesschachtel in den Papiermistkübel warf. »Was willst du?«

»Sasuke. Ich weiß, die Frage mag gleich merkwürdig klingen, aber hast du noch einen Firmenschlüssel?«

»Einen –« Das war so typisch Itachi. Funkstille bis zu dem Punkt, an dem er etwas brauchte. So etwas Unnötiges wie den Firmenschlüssel noch dazu. »Das ist echt unglaublich. Ich werde schon nicht nachts heimlich in deinen Projektunterlagen wühlen. Für wen hältst du mich?«

»Sasuke, ich wollte nicht –«

»Nein, schon gut. Es interessiert mich nicht. Hol dir den Schlüssel, ich hab keine Verwendung dafür. Es ist echt nicht zu fassen, womit du deine Freizeit verbringst. Hast du nicht eine Firma zu leiten?«

»Darum geht es nicht.«

»Wirklich? Ist mir ehrlich gesagt auch egal, ich hab keine Motivation –«

»O bitte!«, ertönte plötzlich eine unerwartete Stimme aus Itachis Hintergrund. Sasuke konnte kurzes Gerangel hören, einen Fluch, dann brüllte eine Frau ins Telefon, die er unschwer als Ino identifizieren konnte, »Ich hab ja so die Schnauze voll von eurer pathologischen Unfähigkeit, normal zu kommunizieren! Benehmt euch jetzt gefälligst wie zwei erwachsene Menschen anstatt wie zwei Blattschwanzgeckos am Abschlussball! Itachi wurde gefeuert, sitzt in der Klemme und wenn du dich blöd anstellst, sitzt du auch bald drin! War. Das. Verständlich?!«

Mit jeder Silbe hatte Sasuke das Smartphone ein wenig weiter von seinem Ohr weggehalten, um einem Tinnitus zu entgehen. Das Resultat war, dass er nichts verstanden hatte. Allerdings nicht wegen der Distanz. Ein paar Sekunden lang versuchte er, die Situation zu begreifen, dann gab er auf. »Bitte was?«

Er konnte Ino frustriert raunen hören. »Hast du den verdammten Schlüssel noch? Ja oder nein, sonst –«

»Ist ja gut!«, unterbrach er ihre Drohung. »Kein Grund, mich anzuschreien. Ja, ich habe ihn noch.«

»Sehr gut. Bist du zu Hause? Ja oder nein, Sasuke.«

»Ja«, antwortete er, unsicher, ob es eine gute Idee war. »Jetzt hör auf, mich anzuschreien –«

»Dann bleib wo du bist. Wir kommen in einer Stunde. Und zieh Hosen an.«

»Ehrlich, Ino, wie denkst du, verbringe ich meine Freizeit?«

Doch sie hatte bereits aufgelegt.
 

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Schattenspiele


 

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Tokio, Japan; 17 Jahre zuvor

 

»Verdammt, Itachi, könntest du bitte nicht auf mich schießen!«, rief Sasuke aufgebracht, während er angespannt nach vorne gelehnt die Daumen rasant gegen diverse Tasten seines Playstation-Controllers hämmerte. Es war spät und sie hatten die Lautstärke des Fernsehers auf ein hörbares Minimum gestellt, um ihre Eltern nicht zu wecken. Morgen war der große Tag. Der Umzug nach Tokio. Seit einer Woche schon gingen Möbelpacker ein und aus und mit jedem Mal wurde das Anwesen leerer, rückte die Zukunft ein Stückchen näher.

Aber heute waren sie noch hier, in Sasukes Zimmer, und Itachi war überfordert mit der Szene am hochauflösenden Bildschirm. Mit Müh und Not hatte er seinen Avatar hinter einen Stapel Holzkisten manövriert, um ihn vor dem Kugelhagel der Gegner zu schützen. Späne flogen in seiner Bildschirmhälfte herum, Schüsse sausten in alle Richtungen, und dann – Game over.

»O Mann!« Raunend ließ Sasuke sich nach hinten fallen, jedwede vorhin noch so präsente Spannung aus seinem Körper gewichen. »Die haben uns planiert. Du bist echt der einzige, mit dem ich sogar gegen NPCs verliere.«

»Ich habe dir gleich gesagt, dass ich dir keine große Hilfe sein werde«, erinnerte Itachi ihn. Seine bevorzugten Spiele waren Schach und Shogi. Er hatte nichts gegen Computerspiele per se, aber dieses stetige Herumgehüpfe bewaffneter Personen in beengten Räumen, die so unrealistisch wie sinnlos eingerichtet waren, überforderte ihn. »Warum spielst du nicht mit Naruto oder Kiba?«

Sasuke zuckte die Schultern.

»Hast du dich wenigstens schon verabschiedet?«

Erneutes Schulterzucken. Dann, »Ich lass das Team vor der Saison hängen. Wir alle können froh sein, dass sie mich nicht gehäutet haben, als ich’s ihnen gesagt hab.« Er ließ einen langgezogenen Seufzer hören. »Fußball wird mir fehlen. Naja. Noch eine Runde? Eine schaffen wir noch vor Mitternacht.«

Itachi nickte, bestätigte seinen Avatar für das neue Level, dann erschien ein Ladebildschirm. So schnell das eigentliche Spiel funktionierte, so mühsam waren die Ladesequenzen zwischen den Levels. Immerhin gaben sie ihm Zeit, zu fragen, »Wieso spielst du nicht in deiner neuen Schule? Ich bin mir sicher, dass sie eine Schulmannschaft haben.«

»Haben sie.« Sein kleiner Bruder nahm erneut seine Kampfposition ein, die Schultern aufrecht, die Finger an den Tasten des Controllers. »Eine verdammt gute sogar. So gut, dass das Training den meisten Teil meiner Freizeit beanspruchen würde. Vater meint, dass ich dann nicht ausreichend zum Lernen komme. Die verlangen in so einer Privatschule wohl ziemlich viel. Ein Jammer, dass ich nicht so schlau bin wie du.«

Sasukes Tonfall war so nonchalant, doch Itachi hatte das breite Grinsen bei Siegen und die bitteren Tränen bei Niederlagen erlebt. Pokale vergangener Turniere, Fußballschuhe, Bälle und Trikots alter Mannschaften machten einen substanziellen Teil von Sasukes Besitz aus. Dieses Thema war alles andere als trivial.

»Ich werde mit Vater reden«, sagte Itachi schließlich. Nicht nur das, er würde dessen Meinung ändern. Opfer für die Familie und die Firma würden noch früh genug kommen.

Sasuke blickte kurz vom Bildschirm zu Itachi, dann wandte er sich wieder ab. »Wenn du dir den Stress unbedingt antun willst.«

»Dafür sind große Brüder da. Ich halte dir den Rücken frei, Sasuke. Immer.«

 
 

 

Tokio, Japan; Gegenwart

 

Niemand war begeistert, und Itachi sah Ino genervt schnauben. Sie stemmte die Hände auf den Küchentisch, um den er, Sasuke und Sakura Platz genommen hatten, während sie Sasuke erklärte, warum sie den Firmenschlüssel haben wollten.

»Also, gibst du ihn uns?«, fragte sie schließlich. Ihr eindringlicher Blick schweifte von einem Uchiha zum nächsten, bis sie alle drei durchhatte und sich wieder aufrichtete. Dass sie nur eine Minute gebraucht hatte, um ihren gesamten Masterplan zu erklären, weckte nicht gerade viel Vertrauen. In ihrer Welt musste das alles einfach sein. »Es ist ja nicht so, als würden wir einbrechen

Sasuke verschränkte die Arme vor der Brust. »Doch. Unerlaubt in die Buchhaltung einzudringen und Akten zu klauen ist die exakte Definition von Einbruch. Einbruch ist eine Straftat.«

»Ihr habt doch bestimmt Aktien oder sowas.«

»Natürlich haben wir Anteile vom Firmenunternehmen«, entgegnete er fast schon grimmig. »Mir gehören vier Prozent. Itachi hat, wie was nochmal? Achtzehn?«

 »Also gehört euch die Firma faktisch!«, rief Ino. »Ihr könnt doch wohl kaum in euer Eigentum einbrechen.«

»So funktionieren Aktien nicht, Ino. Ich arbeite nicht mehr dort und Itachi offenbar auch nicht. Damit ist es Einbruch, egal wie viele Anteile wir haben. Vergiss es. Am Ende kreiden sie das nur wieder mir an.«

Weiterhin entschlossen wandte Ino sich ab, um tief durchzuatmen. Sie kannten einander weniger als ein Jahr, dennoch konnte Itachi deutlich sehen, wie viel Selbstbeherrschung es ihr abverlangte, seinen kleinen Bruder nicht auf der Stelle zu erwürgen. Ihm gegenüber sah er Sakura zwischen ihm und Sasuke hin und her sehen. Kurz öffnete sie den Mund, nur um ihn tonlos zu schließen. Sasuke hingegen weigerte sich weiterhin, Itachis Anwesenheit anzuerkennen. So konnten sie nicht weiterkommen. Ino mochte eine einnehmende, manchmal auch erpresserische Persönlichkeit besitzen, aber gegen Sasuke kam sie damit nicht an. Nicht, wenn Itachi involviert war. Wieso stand sie überhaupt da vorne und machte Werbung für diesen absurden Plan?

»Sasuke.«

Es war das erste Wort, das Itachi seit der knappen Begrüßung gesagt hatte. Nun wartete er geduldig, bis Sasuke sich widerwillig zu ihm wandte, und neigte den Kopf, als der vorwurfsvolle Blick seines Bruders ihn traf.

»Ich weiß, ich habe dir versprochen, dir immer den Rücken freizuhalten. Diesmal habe ich es vermasselt und es gibt nichts, mit dem ich es wiedergutmachen kann. Darum brauche ich deine Hilfe.«

Skeptisch zog Sasuke die Augenbrauen zusammen. Sekundenlang passierte nichts. Itachi erwartete auch nichts. Jahrelang hatte er seinen kleinen Bruder auf Abstand gehalten, zu dessen eigenem Schutz und – wenn er ehrlich war – weil es bequemer gewesen war, den einsamen Wolf zu spielen. Er rechnete fest damit, dass Sasuke aufstehen und einfach gehen würde.

»Was hast du vermasselt?« Der Tonfall war scharf, aber weniger feindselig als erwartet. »Ich will alles wissen. Alles, verstanden? Wenn du ein Detail auslässt, schwöre ich, spül ich den Schlüssel im Klo runter. Ist das klar?«

»Ich –« Unwillkürlich fiel sein Blick auf Ino, die ihn mit weit aufgerissenen Augen und angehaltenem Atem auffordernd anstarrte. Bau jetzt bloß keinen Scheiß. Die nächsten Worte kosteten ihn all seinen Mut, viel mehr als vor zwei Stunden Ino gegenüber. Sie hatte sich genommen, was sie gewollt hatte – eine Wahrheit, die für sie weit weniger bedeutete als sie für Sasuke würde.

»Das war so klar«, sagte Sasuke schließlich. »Du kannst echt nicht aus deiner Haut.«

In seiner Stimme lagen weder Enttäuschung noch Ärger, nur Fassung und Ruhe, weil Sasuke nichts anderes als Schweigen erwartet hatte. Er erhob sich; ein klares Signal, dass das Thema für ihn beendet war, und Itachi hasste sich, hasste sich so sehr für seine verdammte Unfähigkeit, Schwäche einzugestehen. Er hatte es Ino gegenüber geschafft, wie schwer zum Teufel konnte es bei seinem eigenen Bruder sein?

Aber nichts an seiner Beziehung zu Sasuke war so unkompliziert wie das, was er mit Ino hatte. Er war das Wunderkind, das Genie, die Hoffnung der Familie. Jeder hatte immer Perfektion von ihm erwartet, auch Sasuke – vor allem Sasuke, der ihn gemeinsam mit seiner gesamten Familie auf ein groteskes Podest gestellt hatte.

Hilfesuchend sah er zu Ino, die eine nette Bekanntschaft hätte werden sollen und plötzlich seine Verbündete war. Vorhin noch war sie für ihn eingetreten, hatte ihm den Weg geebnet, den er nicht einmal gesehen hatte. Doch sie hob entsetzt die Arme, sprachlos über sein Schweigen, für das nicht einmal sie Worte fand.

Es lag an ihm. Nur an ihm.

»Sasuke, warte«, quälte er aus seiner Kehle. »Du hast recht. Du verdienst die Wahrheit.«

Sasuke sah ihn an, ungläubig abwartend, jede Faser seines Körpers zur Flucht bereit. Doch er ging nicht, sondern setzte sich erneut hin und verschränkte die Arme. »Okay. Ich warte.«

Und Itachi erzählte. Ließ er nichts aus. Je weiter er kam, desto mehr veränderte sich Sasukes Miene, bis eine Welle der Erleichterung über ihn hinwegschwappte, als Itachi bei der Räumung seines Büros angekommen war.

»Das war gestern«, schloss Itachi schließlich, seine Kehle trocken vom vielen Reden und von fehlender Flüssigkeit. Normalerweise bewirtete Sakura etwaige Gäste, doch er konnte ihr nicht verdenken, zu geschockt für eine Kanne Tee zu sein.

Nach einigen Sekunden des Schweigens entließ Sasuke all seine Anspannung aus den Schultern und ließ sich in seinem Sessel nach hinten fallen. »Scheiße.«

»So in etwa.«

»Ist ja klar, dass sie dir alles abnehmen und mich mit dem Kram rumlaufen lassen. Was kann der zweite Sohn schon ausrichten, hm?«

Ino schnaubte. »Ist das jetzt wirklich der richtige Zeitpunkt für deine Komplexe –«

»Ino«, unterbrach Itachi sie. »Also, Sasuke. Gibst du uns den Schlüssel?«

Immer noch halb überfordert schüttelte Sasuke den Kopf, den Blick auf den Boden gerichtet. »Nein.« Er sah auf, entschlossen. »Ich muss das mit eigenen Augen sehen. Außerdem, wer sagt, dass du es diesmal nicht auch vermasselst? Soll vorkommen – au! Verdammt, Ino!«

Sie schnitt eine finstere Grimasse. »Wenn du frech wirst, trete ich das nächste Mal härter zu. Und jetzt hol den verdammten Schlüssel, ich will das hinter mich bringen.«

Sasuke lachte hohl. »Du denkst doch nicht etwa, dass du mitkommst? Ich meine, danke für deinen Einsatz bis hierhin, aber der Rest hat nichts mit dir zu tun.«

»Und wer entscheidet das?«, fragte Sakura. Herausfordernd bohrte sie ihren Finger in seine Brust. »Du etwa? Seit wann bist du unser aller Anführer? Itachi-san würde wahrscheinlich schmollend in einem Aktenberg ertrinken, wenn Ino sich nicht eingemischt hätte, und du würdest immer noch in stummer Agonie für deinen Vater arbeiten, wenn ich dich nicht verlassen hätte. Keiner von euch beiden wäre heute hier und würde dieses Gespräch ohne uns führen. Wir kommen mit, darüber gibt es keine Diskussion.«

»Wir wie in – wir alle?«

»Ja, wir alle. Itachi-san, Ino, du und ich. Gibt es damit ein Problem?«

»… Nein.«

»Dachte ich mir.«

 
 

 

Ino war schon oft an der UCHIHA Corp. vorbeigegangen. Die Straße runter war ihre Stammschneiderei, gleich daneben war der einzige Coffee Shop in ganz Shinjuku, der passablen Kaffee verkaufte. Sie war auch schon mehrfach im Inneren des hohen Gebäudes gewesen, das inmitten seiner gläsernen Nachbarn weniger beeindruckend wirkte als es ein paar Kilometer stadtauswärts getan hätte.

Es war ein Firmengebäude wie jedes andere, mit Büroauslegeware, Wasserspendern, Glastrennwänden und einem dunkelbraunen Empfangstisch, neben dem Itachi sie vor einer gefühlten Ewigkeit mit einer Empfangsdame verwechselt hatte. Nun war es totenstill, dunkel, und sie fuhr erschrocken zusammen, als ihr Smartphone ein sanftes Pling in ihrer Hosentasche vernehmen ließ.

Sasuke machte eine vorwurfsvolle Geste gegen sie, sein Gesicht in düstere Schatten gehüllt vom schrägen Lichteinfall seiner Smartphone-Taschenlampe. Mach das aus, formten seine Lippen lautlos.

Es kostete sie einiges an Selbstbeherrschung, ihren Fluch zu schlucken. Wann immer jemand fragte, wieso sie die gut bezahlte Hauptrolle in Devil‘s Gap: Rematch abgelehnt hatte, behauptete sie, dass sich ein mittelmäßiger Splatterstreifen nicht gut in ihrem filmischen Portfolio gemacht hätte. In Wahrheit war sie einfach schreckhaft. Niemand wusste das von ihr, außer Sakura, die ihr aufmunternd zunickte.

Der halbe Einbruch hatte erstaunlich gut funktioniert; oder eher wenig erstaunlich, wenn man bedachte, dass an Sasukes Schlüsselbund auch der Chip zum Deaktivieren der Alarmanlage befestigt war. Sie hatten keine zwanzig Sekunden gebraucht, um über den Personaleingang in der Nebenstraße ins Foyer zu gelangen, in dem sie seit einer gefühlten Ewigkeit auf den Aufzug warteten. Vielleicht war Ino auch nur nervöser als sie zugeben wollte. Im Gegensatz dazu schienen Itachi und Sasuke in ihrer glatten Uchiha-Manier völlig unberührt. Frechheit. Der Aufzug ließ weiterhin auf sich warten.

»Kommt das Ding aus der Hölle oder wieso dauert das so lange?«, fragte sie mit einem Blick über die Schulter.

»Wohl eher vom obersten Stock«, korrigierte Itachi, als hätte sie keine rhetorische Frage gestellt. »Mein Vater hat die irrationale Angst, mit dem Fahrstuhl nach unten zu fahren, also fährt er jeden Abend nach seinem letzten Meeting ganz nach oben, holt seine Tasche und steigt zehn Minuten lang vom einundzwanzigsten Stockwerk in die Tiefparkgarage hinab.«

»Hn«, machte Sasuke abseits. »Das erklärt den Witz über Hades’ Abstieg in die Unterwelt, den die Leute vom Empfang immer machen. Wer hätte gedacht, dass Vater Schrullen hat.«

Itachi ließ ein leises Seufzen hören, das von den aufgehenden Aufzugtüren verschluckt wurde. »Jeder hat Schrullen. Vater war einfach sehr gut darin, sie zu verstecken.«

»Das haben Uchihas so an sich«, murmelte Sakura, während sie zu viert in den Aufzug traten.

Die Fahrt nach oben war schweigsam. Sasuke und Itachi schienen in ihre eigenen Gedanken vertieft zu sein, und Ino konnte es ihnen nicht verdenken. Sie kannte Männer wie Uchiha Fugaku – die überehrgeizige Sorte, die keine Kinder hatten, sondern Erben. Vielleicht hätte sie Sympathien für Sasuke aufgebracht, wenn der Aufzug nicht endlich im vierzehnten Stock angekommen wäre.

Der graue Teppichboden dämpfte ihre Schritte, als sie den Gang entlanggingen, gefühlt zwanzig gleich aussehende Türen passierten, einmal abbogen und vor einer weiteren gleichaussehenden Tür stehenblieben. Das daneben angebrachte Schild wies den Raum dahinter als Finanzbuchhaltung aus. Ino runzelte die Stirn. »Gibt es denn noch eine andere Buchhaltung als die für Finanzen?«

»Natürlich.« Itachi, erneut in vollem Ernst, deutete eine Tür weiter. »Die Debitorenbuchhaltung ist da hinten, die Anlagebuchhaltung daneben. In der Produktion gibt es auch eine Mengenbuchhaltung, aber seit Miname-san gekündigt hat, ist die Stelle nicht –«

»Vergiss, dass ich gefragt hab«, unterbrach Ino ihn. »Ehrlich, wenn wir den Scheiß hier erledigt haben, gehst du in einen Sarkasmuskurs.«

Er zuckte nonchalant die Schultern. »Deine Frage war durchaus legitim.«

»Und in einen Witzekurs.«

Ein Klicken signalisierte, dass Sasuke die Tür aufgeschlossen hatte. Mit einem missbilligenden Blick stieß er sie nach innen hin auf. »Könnt ihr bitte aufhören zu flirten. Das ist sowas von unangebracht.«

»Jetzt sei nicht so prüde, Sasuke – Scheiße!«

Das schrille Zetern einer Alarmanlage übertönte sie. Ino wich zurück, fast synchron mit Sakura, die beinahe den vorsorglich mitgebrachten Rucksack fallen ließ. Das war’s, schoss ihr durch den Kopf. Sie würde die restliche Nacht auf einer Polizeiwache verbringen und einem müden Streifenpolizisten unglaubwürdige Ausreden auftischen, warum vier Erwachsene um zwei Uhr nachts in einer Firma, für die keiner von ihnen mehr arbeitete, und einer Abteilung, für die keiner von ihnen jemals gearbeitet hatte, herumschlichen.

Sie war gerade beim Ausdenken von unglaubwürdiger Ausrede Nummer acht angelangt, als die Alarmanlage erstarb. »Oh«, ließ Sasuke beiläufig fallen. Sein Schlüsselbund samt Alarmanlagenchip klimperte, als er ihn zurück in die Hosentasche schob.

Kraftlos schlug Sakura ihm gegen den Oberarm. »War das notwendig?«

»Sorry. Ganz vergessen, dass unsere Techniker die letzten Dezember endlich repariert haben.«

»Ich vergess mich gleich ...«, murmelte Ino, während sie den Raum betrat und sich umsah. Es war ein Büro wie jedes andere, mit Regalen, Schreibtischen, Kästen und Topfpflanzen.

Sasuke schob ihr sein Smartphone in die Hand. »Hier. Wenn du nur rumstehen kannst, sei wenigstens eine Lampe.«

Sie schnitt eine Grimasse. »Ich versteh echt nicht, wie du den heiraten konntest, Sakura.«

»Weniger labern, mehr leuchten«, forderte Sasuke.

Augenrollend tat Ino, wie ihr geheißen, und trat hinter ihm an den Aktenschrank. Itachi hatte sich indes an einen der beiden Computer gesetzt. Der plötzlich aufflackernde LED-Monitor erhellte den Raum brutaler als jedes Flutlicht.

»Wonach suchen wir genau?«, fragte Sakura in die Runde. Itachi tippte bereits auf der Tastatur herum, Sasuke hatte die Schiebetür des Aktenschranks geöffnet und einen Ordner herausgezogen.

»Abrechnungen des laufenden Geschäftsjahres würde ich vermuten«, antwortete Sasuke. »Wenn der Aufsichtsrat Gelder hinterzieht, muss sich das irgendwie in falschen Abrechnungen wiederfinden.«

»Genau«, stimmte Itachi hinter dem Monitor zu. Er hatte aufgehört zu tippen. »Bevor sie mich rausgeworfen haben, bin ich auf externe Zahlungen an Firmen gestoßen, die nie einen offiziellen Beauftragungsprozess durchlaufen haben.«

»Einen was?« Diesmal klang Ino wenigstens nicht sarkastisch.

Das Monitorlicht erstarb und er stand auf. »Firmen kaufen nicht einfach so Güter oder Dienstleistungen, schon gar keine großen. Wir haben eine eigene Beschaffungsabteilung für sowas. Wenn eine Abteilung etwas kauft, muss ein Formular mit entsprechenden Genehmigungen an den Einkauf übermittelt werden. Nur der darf Firmengelder über einer gewissen Summe an externe Firmen überweisen.« Itachi deutete gegen den Computer. »Ich komme nicht in den Account. Sasuke, wusstest du, dass die Finanzbuchhaltung andere Passwortlogik hat als der Rest der Firma?«

Sasuke zuckte die Schultern. Er hatte einen weiteren Aktenschrank geöffnet und scheinbar wahllos ausgeräumt, sodass mehrere ungeöffnete Boxen um ihn herum standen. Itachi trat an das aufkommende Chaos heran und schob eine nach der anderen beiseite. Offenbar deutete die Beschriftung aus Zahlen und Buchstaben darauf hin, dass der Inhalt nicht relevant war.

Ein paar Minuten zogen ins Land, gelegentlich erfüllt von Papierrascheln. Etwas abseits sah Ino zu, wie Itachi, Sasuke und Sakura gemeinsam Box um Box durchwühlten. Deckel wurden geöffnet, Akten herausgenommen und fein säuberlich wieder einsortiert, nachdenkliche Silben rollten aus dem einen oder anderen Mund, wann immer sie dachten, etwas gefunden zu haben und nach genauerem Hinsehen doch wieder enttäuscht wurden. Obwohl Sakura sich wesentlich weniger mit den Firmeninterna auskannte, schien sie zumindest eine grobe Ahnung zu haben, wonach sie suchen musste. Was das war, blieb Ino ein Rätsel – bis ihre Freundin mit einem Japsen einen Aktenordner hochhob.

»Das muss es sein!«, rief sie. Leiser las sie die Aufschrift am Etikett vor, »Q14FIN-EXT. Itachi-san?«

Er nahm ihr den Ordner ab und schlug ihn auf, Sasukes ungeduldiger Blick über seinen Schultern. Elendig lange Sekunden der Anspannung zogen ins Land, in denen auch Ino an ihn herantrat. Mit der einen Hand richtete sie den Lichtkegel von Sasukes Smartphone auf den Ordner, mit ihrer anderen ergriff sie Itachis Schulter. Sie war nervös. Auch wenn es sie nicht betraf, auch wenn es für sie keine Konsequenzen hatte. Die Heimlichtuerei, die Dunkelheit und die Stille ließen ihr Herz bis in den Hals klopfen.

Dann, endlich, sagte Itachi, »Scheiße.«

Es war der erste Fluch, den sie von ihm gehört hatte. Sie drückte seine Schultern. »Was ist?«

Ehe er antworten konnte, nahm Sasuke ihm den Ordner ab. Kurzes Durchblättern ließ ihn die Augen aufreißen. »Das soll wohl ein Witz sein.«

»Ich fürchte nicht.«

Sakura verschränkte die Arme. »Würdet ihr uns aufklären?«

Kopfschüttelnd sah Sasuke zwischen ihr und Itachi hin und her. Sein Mund klappte auf und wieder zu, ohne einen Wortlaut herausgebracht zu haben. Hilfesuchend sah er erneut in den Ordner. »Da drin«, quälte er schließlich heraus, »sind eingehende Zahlungen von über einhundert Millionen Yen verbucht. Alle davon – alle – laufen auf die Kostenstelle 367.«

»Das ist jetzt was genau?«, hakte Ino nach. Langsam verlor sie die Geduld. In den Augenwinkeln dachte sie, den Einsatz der Morgendämmerung zu sehen. »Sasuke, Klartext.«

»Die Kostenstelle 367 ist synCOM«, antwortete Sasuke fassungslos. Er blätterte weiter durch den Ordner. »Aber das ergibt keinen Sinn. Das Produkt hat noch nicht einmal eine Artikelnummer. Wie kann uns jemand Geld dafür zahlen? Und was sind das für Firmen? TechniConsult in Sri Lanka? Dashpart in Singapur? Das ist alles vom letzten Frühjahr, da war synCOM längst aus der Konzeptphase – du.« Fassungslos deutete er auf Itachi. »Du warst zu dem Zeitpunkt in Malaysien! Was für ein krankes Psychospiel spielst du hier bitte?«

»Keines«, sagte Itachi. Geradeheraus, ehrlich. Es ließ Sasuke innehalten. »Mir sind die Ungereimtheiten schon damals aufgefallen, aber ich dachte nicht, dass es sich um diese Summen handelt. Wenigstens passt das mit den anderen Unterlagen zusammen. Jemand pumpt über synCOM Geld in die Firma. Die Frage ist, wieso. Sakura-san, Ino, macht Fotos von den Formularen und Belegen. Sasuke und ich suchen den Rest des Quartals.«

Genau das taten sie. Es gab noch zwei weitere Ordner mit einer ähnlichen Fülle von Informationen. Erst kurz nach vier Uhr morgens nahmen sie die Treppen nach unten und schlichen über die Seitentür hinaus. Kollektives Seufzen erfüllte Itachis Wagen, sobald sie saßen und alle Türen geschlossen waren.

»So«, stellte Ino fest. »Und was jetzt?«

Niemand antwortete. Sie waren müde, schockiert, gerädert, von der Uhrzeit, der Anspannung und den Erkenntnissen gleichermaßen. Im Rückspiegel konnte sie sehen, wie Sasuke Sakuras Hand nahm und für einen Moment die Augen schloss. Als er sie wieder öffnete, was er entschlossen.

»Jetzt finden wir raus, was zur Hölle hier los ist.«
 

.

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Momentum


 

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New York City, New York; 8 Jahre zuvor

 

»Eine letzte Frage noch, Ino«, hielt der Moderator sie zurück. Es war ihr gefühlt tausendster Auftritt in einer Talkshow. Das Filmstudio bewarb Barrel for a thought stark und sie war vertraglich dazu verpflichtet, in mindestens vier Shows aufzutreten, um über ihre Erfahrungen am Set zu berichten.

»Alles, was du willst, Stephen.«

»Irgendwer hat mir mal erzählt – war es Cameron Diaz oder Hugh Laurie? Die beiden verwechsle ich immer, gleichen sich wie ein Ei dem anderen – jedenfalls gibt es das Gerücht, dass jeder Filmschauspieler das Recht hat, nach seinem letzten Film das widerlichste Essen am Set zu nehmen und dem nervigsten Crewmitglied ins Gesicht zu klatschen.«

»Das ist wahr. Absolut wahr, Stephen.«

Gelächter, Applaus, Danke für’s Zuschauen und schalten Sie nächstes Mal wieder ein!

Es war ein Scherz gewesen. Letzter Film? Was wusste sie schon davon. Sie hatte gerade ihren ersten Blockbuster gedreht, ihr Name wurde in der Branche herumgereicht wie der von A-Promis. Sie hatte gerade erst begonnen.

Das Ende war noch sehr weit weg.

 

 
 

 

Tokio, Japan; Gegenwart

 

Ino hatte nicht gut ausgesehen, als sie sich gegen Mittag zu ihrem offiziell letzten Fotoshooting verabschiedet hatte. Obwohl sie privat meist eher leger unterwegs war, trug sie fast immer Make-up. Itachi hatte sie nur einmal ungeschminkt gesehen; damals als sie sich für eine gemeinsame Laufrunde aufgedrängt und er es nicht über sich gebracht hatte, sie abzuweisen. Selbst nach mehreren Kilometern bergauf und einem vernichtenden Sprint am Ende war sie fitter gewesen als jetzt.

Er hatte darauf bestanden, sie zum Set zu fahren. Mit dem Auto war es nicht weit und der Verkehr hielt sich in Grenzen, aber sie hatte ihn lediglich vor Sasukes Tür gezerrt, ihn leidenschaftlich geküsst und gemeint, »Das retuschieren sie nachher sowieso alles weg, mach dir keine Sorgen. Du hast hier Wichtigeres zu tun«, und, »Sei nett zu Sasuke, ja?«

Dann hatte er sie zum Aufzug begleitet, der Tür beim Schließen zugesehen und sich gefragt, seit wann sie ihm Befehle gab. Seit wann sie ihn einfach so küssen durfte. Seit wann es ihn nicht störte. Doch das waren alles Fragen für später.

Jetzt ging Itachi zurück in Sasukes Appartement, wo ungeordnete Papierhaufen auf dem freigeräumten Küchentisch lagen. Es hatte mehrere tausend Yen und über eine Stunde gekostet, die ganzen Fotos in einem Copyshop um die Ecke auszudrucken, noch dazu hatten sie die einzige Mitarbeiterin des Ladens verängstigt. Vier übernächtigte Erwachsene, die leise wisperten und mit ihren Rücken einen Sichtschutz um die Ausdrucke bauten, waren offensichtlich nicht die übliche Klientel.

Zu dritt machten sie damit weiter, die Stapel zu sortieren. Niemand wusste, wonach sie suchen sollten. Sasukes Vorschlag, erstmal nach Datum und Referenznummer abzulegen, wurde einstimmig angenommen. So arbeiteten sie dahin, Blatt um Blatt, lediglich unterbrochen vom gelegentlichen Zischen des Teekessels, wenn Sakura auf eine kurze Pause bestand. Die Uhrzeit schien weder stillzustehen noch zu vergehen, sondern wahllos herumzuspringen, sodass Itachi gegen Nachmittag jedwedes Zeitgefühl verloren hatte. Er war so fokussiert auf die monotone Aufgabe, dass er innerlich erschrak, als Sakura plötzlich aufsprang und ihr Sessel unter dem Schwung hörbar über den Boden schrammte.

»Mist!«, rief sie und sah entsetzt auf die Uhr über der Tür. »Ich muss Sarada abholen. Verdammt, das wird Mikoto-san mir wieder ewig vorhalten, so ein Scheiß.«

Was folgte, war schnelles und hektisches Treiben. Der Kindersitz war nicht montiert, Saradas Kuscheldecke war verschollen und noch hundert andere Dinge mussten vorbereitet werden, um ein Kleinkind abzuholen. Itachi versuchte das aufkommende Chaos um ihn herum auszublenden. Sakuras Meinung über seine Mutter und Sasukes panische Suche nach irgendeinem Rucksack gingen ihn nichts an. Also beugte er sich tiefer über den Zettelhaufen, fokussierte seine Sinne darauf.

Und dann war es plötzlich wieder still.

Wann war er zuletzt mit seinem Bruder allein gewesen? Es musste Monate her sein. Die Anspannung war förmlich spürbar, zumindest für Itachi. Sasuke ignorierte sie. Stattdessen ließ er sich stöhnend zurück in seinen Sessel fallen und streckte die Beine aus. »Dieses Kind schafft mich, ehrlich.«

Die Aussage verhallte unkommentiert. Erwartete sein Bruder eine Rückmeldung? Zustimmung? Rat? An das letzte Mal, dass Sasuke ihm gegenüber etwas Privates erwähnt hatte, konnte er sich lange nicht mehr erinnern. Bevor er etwas Sinnloses sagte, widmete er sich wieder den Dokumenten.

Sie arbeiteten schweigend weiter, doch wo bis zu Sakuras Abgang die Stille konzentriert gewesen war, war sie nun erdrückend. Itachi wollte etwas sagen, wollte versichern, dass sie das alles schon hinbekommen würden, aber wie konnte er, wenn er selbst keine Ahnung hatte? Üblicherweise plante er Monate voraus. Nun konnte er nicht einmal die nächsten fünf Minuten abschätzen.

»Ich brauche Kaffee«, sagte er, was so irrelevant wie wahr war.

Das belanglose Geständnis entlockte Sasuke ein schmales Grinsen, ehe er aufstand und die Kaffeemaschine anwarf. Eine Minute später stellte er zwei Tassen zwischen ihnen ab und wartete darauf, dass Itachi den ersten Schluck machte. »Und?«

»Genießbar. Seit wann kannst du das? Das letzte Mal hast du es nicht einmal geschafft, Wasser zu kochen.«

Sasuke zuckte die Schultern. »Online Baristakurs. Ich kann jetzt Herzen mit Milch malen.«

Wieder war Itachi sich nicht sicher, was er darauf sagen sollte. Jede Konversation mit Sasuke war ein Minenfeld, auf dem er trotz sorgfältigen Manövern in der Vergangenheit viel zu viele Explosionen verursacht hatte.

»Jetzt sei nicht so verklemmt, das ist ja nicht auszuhalten«, fuhr Sasuke fort. »Sakura behauptet zwar immer, dass ich nicht lustig bin, aber so schlimm was das auch wieder nicht. Wie auch immer, ich habe Hunger. Du auch?«

Sie bestellten Pizza. Zwei große Exemplare, die fettig und lauwarm zwanzig Minuten später bei ihnen ankamen. Sakura war noch nicht zurück, laut Sasuke lud Mikoto sie jedes Mal zu einem unangenehmen Abendessen ein, um ihr ungefragt Ratschläge in Sachen Ehe und Kindererziehung zu geben. »Das ist mir früher nie aufgefallen, aber unsere Mutter ist genauso kritisch wie alle anderen in dieser verdammten Familie.«

»Kann sein«, sagte Itachi. »Wir sind ein dysfunktionaler Haufen ungesunder Ideale und sinnloser Ansprüche. Wieso sollte sie die Ausnahme sein?«

»Schließ mich da nicht mit ein. Ich habe Jahre gebraucht, um mir einen Weg aus diesem Loch zu graben. Und jetzt bin ich schon wieder mittendrin. Diese Familie …«

Nachdenklich fuhr Itachi mit seinem Finger über den Pizzakarton. Es stimmte. Er hatte Sasuke auf Inos Drängen hin involviert, und nun war er wieder im Kreuzfeuer, noch dazu für eine Firma, die er eben erst verlassen hatte. Hatte er eine schlechte Entscheidung getroffen?

»Hör auf zu grübeln«, unterbrach Sasuke seine Gedanken. »Weißt du, ich bin nicht halb so sauer auf dich wie auf mich selbst.«

»Du bist erwachsen geworden, Sasuke.«

»Einer von uns musste ja.«

»… Ja. Das ist wahr.«

Sie machten weiter, wo sie aufgehört hatten. Wenig später waren die Stapel sortiert und sie begannen, alle Daten in eine Excel-Liste einzutragen. Sasuke konnte schneller tippen, also übernahm Itachi das Vorlesen. Betrag um Rechnungsnummer und Verwendungszweck um Kontoinhaber nahmen sie in ihre Datenbank auf, bis das Lesen durch die untergehende Sonne schwierig wurde und Sasuke während einer kurzen Pause das Licht anmachte. Es war spät geworden, Sakura war immer noch nicht zurück und von Ino war auch nichts zu hören.

»Was?«, fragte Sasuke plötzlich, den Blick über seinen Laptop gehoben. »Du hast aufgehört zu diktieren.«

»Tut mir leid.« Itachi fuhr fort, sah jedoch auf, als er keine Tippgeräusche hörte. »Was?«

Sie sahen sich an, warteten ab, bis die Sekunden nicht mehr nur still waren, sondern angespannt und schmerzhaft und warum zum Teufel begann Sasuke zu lachen? Es wirkte so unnatürlich, so skurril. Erst jetzt realisierte Itachi, dass er seinen Bruder seit Jahren nicht mehr hatte lachen sehen.

»Mann, du bist immer so stocksteif«, sagte Sasuke schließlich. »Wir sind auf derselben Seite. Selbst wenn das schiefgeht, was sollen sie schon groß machen?«

»Uns enterben und in der gesamten Branche diskreditieren. Das Unternehmen zu Grunde richten. Für mich sind das gute Gründe, angespannt zu sein.«

»Na und?«

»Was meinst du – na und?« Itachi ließ den Zettel sinken, den er eben aufgenommen hatte. »Das ist das Lebenswerk unserer Familie, und unsere Zukunft. Ich habe nicht mein halbes Leben so hart gearbeitet, um zuzusehen, wie der Aufsichtsrat alles zerstören. Und du auch nicht. Oder?«

Sasuke antwortete nicht, nicht sofort. Er lehnte sich zurück, ließ den Blick durch das teure Appartement streifen, über die Designerküche und die kostbaren Gemälde und den teuren.

»Du kapierst es nicht, oder? Meine letzten Monate waren keine Phase. Meine Frau hat mich verlassen, meine Tochter erkennt mich kaum, und das alles für bedeutungslose Anerkennung irrelevanter Menschen«

Er stand auf, breitete die Arme aus, und erst jetzt verstand Itachi. Der Blick seines Bruders hatte nicht dem teuren Mobiliar gegolten, sondern den kleinen Details um ihn herum – die Fotos von Sakura und Sarada, die krakeligen Malereien am Kühlschrank und schiefe Basteleien auf den Regalen.

»Versteh mich nicht falsch«, setzte er nach und deutete auf den Papierhaufen, »die Firma bedeutet mir etwas, aber nicht die Geschäftsführung, nicht der Aufsichtsrat. Ich helfe dir, diese Sache zu klären, weil ich nicht mitansehen will, wie diese Familie tausende Jobs ruiniert. Aber ich komm nicht zurück.«

Itachi sah ihn an, geduldig abwartend, doch Sasuke wich seinem Blick aus und rieb sich den Nacken, als hätte er etwas Peinliches gesagt. Was konnte er darauf antworten? In den Worten war dermaßen viel rohe Emotion gelegen, dass es unmöglich war, adäquat darauf einzugehen. Jede Antwort, egal ob Ablehnung oder Zustimmung, wäre angeeckt, hätte nicht ausgedrückt, was sich in Itachi aufbaute und so dringend raus musste. Also stand er auf, umrundete den Tisch.

Und umarmte seinen kleinen Bruder zum ersten Mal seit zwei Jahrzehnten.

 
 

 

Als Sakura ihr Auto in die Parklücke ihrer Hausgarage manövrierte, wollte sie am liebsten schreien. So sehr sie auch versuchte, Mikotos Standpunkt und Umstände zu verstehen, diese Frau ging ihr so sehr auf die Nerven. Jeder Ratschlag triefte nur so von Besserwissen, jeder Gefallen hatte zwanzig Haken. Es war zum Verrücktwerden. Doch Sarada schien jedes Mal sehr viel Spaß zu haben, nur deswegen hielt Sakura sich zurück.

»Klar. Als ob«, schalt sie sich selbst im Rückspiegel. Als hätte sie den Mut, es mit ihrer übermächtigen Schwiegermutter aufzunehmen. Wenigstens hatte sie es vorerst überstanden. Montag war Sakuras erster Arbeitstag in der Klinik, dann durfte Sasuke sich darum kümmern. Wie sehr sie sich freute auf Desinfektionsmittel, steif gewaschene Kittel und das Quietschen von Gesundheitsschuhen.

Sachte hob sie Sarada aus dem Kindersitz und fuhr mit dem Fahrstuhl nach oben. Ihre Tochter schlummerte friedlich in ihren Armen, ihr Plüschsushi fest umklammert. Ob sie jemals aus der Kuscheltier-Phase entwachsen würde? Zumindest heute nicht.

Im Inneren der Wohnung herrschte Ruhe. Itachi und Sasuke saßen fast genauso da, wie sie die beiden zu Mittag verlassen hatte, nur mit mehreren dreckigen Kaffeetassen und zwei verwaisten Pizzakartons um sie herum. Die beiden grüßten sie stumm. Ein paar Minuten später war das kleine Mädchen zu Bett gebracht und Sakura wollte nichts lieber als in das kleine Bettchen zu kriechen und sich dort bis übermorgen zusammenzurollen. Aber Neugierde und Sorge waren stärker als jede Müdigkeit.

Erbarmungslos stemmte sie sich zurück auf die Beine und ging zurück in die Wohnküche, wo sie sich hörbar auf den Sessel fallen ließ. »Also? Wie schlimm ist es?«

Sasuke machte eine Geste über die Dokumente. »Wenn wir das wüssten. Der Aufsichtsrat scheint mindestens zwei Milliarden Yen in die Firma gepumpt zu haben. Ohne Gegenleistung.«

»Und die sind auch wirklich angekommen?«

»Lässt sich von hier aus nicht überprüfen«, antwortete er. »Aber warum überhaupt den Umweg über Briefkastenfirmen? Das ist so sinnlos. Wenn sie die Finanzen der UCHIHA Corp. aufpolieren wollen, warum kein Investment oder Aktien? Dann könnten sie das wenigstens steuerlich absetzen und steigern ihre anteilige Gewinnausschüttung zu Jahresende. Das ist so sinnlos.«

»Vielleicht gibt’s ein Gasleck in der Chefetage und eure werten Verwandten büßen seit einem Jahr IQ-Punkte ein?«

Itachi schüttelte den Kopf, seine dunklen Augen von noch dunkleren Augenringen untermalt. »Unwahrscheinlich. Das Firmengebäude wird mit Fernwärme beheizt und die Leitungen werden alle fünf Jahre überprüft.«

»Ino hat recht. Ein Sarkasmuskurs würde dir echt nicht schaden, Itachi-san. Ehrlich …« Sakura seufzte. Sie hatte nicht erwartet, heute auf die Lösung zu stoßen, aber sie hatte es gehofft. »Und was jetzt?«

»Jetzt überlegen wir weiter.«

Binnen einer halben Stunde hatten sie zehn Hypothesen aufgestellt, eine unglaubwürdiger als die andere. Es gab keine logische Erklärung dafür, heimlich Eigenkapital in die Firma fließen zu lassen, das erkannte sogar Sakura. Damit standen sie an. Die nächsten Stunden drehten sie sich mit Argumenten und Widersprüchen im Kreis, bis Sakura frustriert und am Ende ihrer Kräfte die Arme halb über den Kopf warf.

»Vielleicht wollten sie einfach vor ihren Freunden auf der nächsten Party mit coolen Umsatzzahlen protzen. Ihr Uchihas seid doch alle so stolz und eitel.« Itachi und Sasuke sahen sich abschätzig an, als würden sie für einen Augenblick ernst nehmen. Sie winkte ab. »Das war ein Scherz.«

»Nein …«, überlegte Sasuke langsam.

Itachi nickte, »Aber unser Umsatz ist seit Monaten im Keller, weil synCOM sich verzögert hat.«

»Du glaubst doch nicht …«

»Doch.«

Sasukes Augen weiteten sich. »Das wagen sie nicht.«

»Leute?«, warf Sakura ein. Sie war dem vagen Austausch gefolgt, ohne ein Wort zu verstehen. »Vielleicht bin ich gerade zu müden, aber – was?«

Plötzlich sprang Sasuke auf, zog sie mit sich in den Stand und küsste sie so schwungvoll auf den Mund, dass sie fast vornüberkippte. All die Müdigkeit war weggefegt, zurück blieb entschlossenes Funkeln in seinen schwarzen Augen.

»Du bist genial, Sakura! Einfach genial!«

 
 

 

»Gute Arbeit, Yamanaka.«

»Ach, das sagst du nur so.« Ino machte eine kokette Geste gegen Mabuchi. Ihre Agentin hatte darauf bestanden, bis zur letzten Minute des letzten Shootings zu bleiben, damit ihre aufmüpfigste Klientin auch ja keine Faxen machte. Ino war ihr nicht böse, konnte es nicht sein. Nicht, wenn sie sich seit Monaten aufführte wie ein trotziges Kind.

Es war ein Schlag in die Magengrube, unfair und unerwartet schmerzhaft.

»Ich hoffe, wir drehen bald wieder miteinander!«, hatte Moegi zum Abschied gesagt, und Ino hatte geantwortet, »Ja, absolut!« Denn, welche Wahl hatte sie schon? Sie hatte versucht, einen Ausweg zu finden. Eine Lösung. Aber Itachis Misere war ihr so gelegen gekommen, eine perfekte Ablenkung, und nun lagen drei weitere Rollenangebote auf ihrem Küchentisch und sie musste eines davon annehmen, wenn sie weiterhin Rechnungen bezahlen wollte.

Ihr Smartphone klingelte und lenkte sie einmal mehr ab. Wunderbar. »Hallo, Itachi.«

»Ino, du musst herkommen. Sasuke und ich haben eine Theorie und ich brauche ein paar frische Augen, die sie auf Logik überprüfen.«

»Welch Ehre. Wo bist du? Und wichtiger, hast du dort was zu essen? Ich hab tierischen Hunger.«

Eine dreiviertel Stunde und eine horrend teure Taxifahrt später kam sie in Itachis Appartement an. Er schien die Dokumente bei Sasuke gelassen zu haben, saß jedoch vor einem aufgeklappten Laptop, auf dem die komplizierteste Excel-Liste geöffnet war, die Ino jemals gesehen hatte. Nicht, dass das etwas hieß. Er bat sie mit einer seltenen Ungeduld herein, gab seinen Kühlschrank für sie frei und versuchte ihr zu erklären, was Sasuke und er herausgefunden hatten, während sie zwischen Mineralwasser, isotonischen Getränken und Tofu etwas suchte, das ihren Hunger nach Fett befriedigen konnte. Sie fand tiefgekühlte Chicken Nuggets, die vor vier Jahren abgelaufen waren.

»So etwas wird nicht schlecht, oder?«, unterbrach sie Itachi in seinen detailreichen Ausführungen. Ohne eine Antwort abzuwarten, riss sie die Packung auf und kippte den Inhalt zur Gänze auf ein Backblech. »Also, mehr Geld rein als Geld raus sagst du?«

»Ja«, bestätigte er, eindeutig fasziniert von ihrer Gabe, seine elendig langen Vorträge in einen einzigen Satz zu komprimieren. »Diese Briefkastenfirmen haben nicht nur Geld bekommen, sie haben auch für Prototypen und Kundentermine gezahlt, die niemals stattgefunden haben. Es gibt zwar einen Prototyp, aber den haben wir niemals rausgegeben, weil er enorme technische Mängel und Performanceprobleme hatte wegen der Datenbankverschlüsselung und –«

»Versteh schon, viel Geld für keine Leistung. Weiter?«

»Das hat unsere Aktien fallen lassen. Die Ankündigung neuer Produkte steigert den Marktwert einer Firma üblicherweise. Investoren werden aufmerksam, spekulieren auf baldige Umsätze. Aber durch die immensen Verzögerungen der Produktveröffentlichung haben wir nicht nur an Umsatz eingebüßt, sondern auch an Marktwert. Das bedeutet – Ino?«

»Hm?« Den letzten Teil hatte sie nicht gehört. Sie verstand nichts von Investition oder Marktwert, in ihrem Leben hatte sie noch nie auch nur eine Aktie besessen. Was Itachi ihr erzählte war wichtig. Es betraf sein Erbe, seinen Job, sein Leben, und sie verstand das, Himmel ja, sie wusste, wie wichtig es für ihn war und wie außergewöhnlich es war, dass er ihr diese intimen Details verriet.

Aber sie war müde, erschöpft, ausgelaugt. Nicht nur von dem gestrigen Einbruch und dem heutigen Shooting. Sie wollte lächeln, dumme Witze reißen. Das war, was sie konnte. Augen zu und durch, Kopf durch die Wand, einmal mehr ablenken von diesem Gefängnis, das sie sich selbst geschaffen hatte.

Und doch spürte sie, wie bittere Tränen ihre Augen hinaufquollen und ihr Hals sich zusammenzog, um ein armseliges Schluchzen zu produzieren. Sie wollte helfen, wollte sich für Itachis Firma und den dahinterstehenden Wirtschaftsthriller interessieren, aber gerade eben – hier und jetzt – konnte sie nur daran denken, dass zu Hause diese Rollenangebote auf sie warteten, die sie nicht annehmen wollte, aber musste, und es im Kontext irrelevant war, nicht wahr? Was war eine gescheiterte kleine Schauspielerin gegen ein milliardenschweres Unternehmen?

Nichts.

Und doch konnte sie sich nicht darauf konzentrieren, was Itachi zu ihr sagte, sah ihn nur durch einen immer dichter werdenden Tränenschleier zur ihr kommen. Er hatte aufgehört zu erzählen, fragte sie stattdessen etwas, worauf sie keine Antwort wusste.

»Was ist los?«

Alles. Alles war los, und sie konnte nicht mehr. Sie hatte diesen Moment der Schwäche verdient, nicht wahr?

Nicht, dass sie eine Wahl gehabt hätte. Die Tränen waren längst da, kullerten in dicken Tropfen und unter heftigem Schluchzen ihre Wangen hinab, während ihre Schultern bebten und ihr Beine nachzugeben drohten. Sie wartete nicht auf Trost oder Zuspruch. Ino nahm sich, was sie brauchte, warf sich gegen Itachi, klammerte sich in sein Poloshirt, weil die Erkenntnis so unfassbar wehtat.

»Ich bin gescheitert!«, heulte sie, schrie sie, während bittere Tränen ihr die Luft zum Atmen nahmen.

Denn das war sie, schon damals in den USA, als sie keine ernstzunehmenden Rollen mehr bekommen hatte. Als sie sich eingeredet hatte, dass sie sich eine neue Karriere in Japan aufbauen konnte. Doch das würde sie nicht, konnte sie nicht.

Weil sie gescheitert war.

Und sie musste es endlich akzeptieren.

 
 

.

.
 

Ein neuer Tag


 

.

.

 

—Tokio, Japan; 2 Jahre zuvor

 

»Wenn du in ein paar Jahren die Firma übernimmst, Itachi, wirst du harte Entscheidungen treffen müssen. Denkst du, dass du dazu bereit bist?«

»Ja, Vater. Ich bin bereit für jede einzelne harte Entscheidung. Verlass dich drauf.«

 
 

 
 

—Tokio, Japan; Gegenwart—

 

»Was wirst du jetzt tun?«

»Duschen. Ich steh extrem auf deinen Regenduschkopf.«

»Ino.«

Sie zuckte die Schultern. Itachis Höllenwecker hatte sie aus dem Schlaf gebrüllt, die gemeinsame Joggingrunde hatte sie zerstört. Müde, ausgelaugt und in eine Kaffeetasse versenkt, hatte sie keine Lust, sich über ihre Zukunft Gedanken zu machen. Vielleicht morgen. Oder nächsten Monat. Sie würde sich einen Job suchen müssen, vermutlich? Für den Moment reichte es ihr, Itachi dabei zu beobachten, wie er frisch geduscht mit noch feuchten Haaren sein Frühstück zusammenstellte.

»Was?«, fragte er, als er ihren Blick bemerkte.

»Ich seh dich einfach gerne an. Offene Haare stehen dir. Als Protagonist eines Jōsei-Mangas wärst du ein Hit.«

»Das ist ein eigenartiges Kompliment.« Er überlegte kurz, während er seinen Teller auf der Anrichte platzierte. »Oder eine ziemlich gute versteckte Beleidigung. Wie wäre es mit einer Karriere als Politikerin?«

Ein Seufzen schälte sich aus Inos Kehle. Hatte sie nicht eben versucht, von ihrer Zukunft abzulenken? »Dazu bin ich nicht schlau genug. Außerdem viel zu hübsch. So einen Körper kannst du doch nicht in einen prüden Hosenanzug stecken. Was ist mit dir? Holt ihr euch die Firma zurück?«

»Wir werden es zumindest versuchen.«

»Soll heißen? Stopp«, unterbrach sie ihn, bevor er eine Antwort geben konnte. Sie rutschte von ihrem Stuhl und nahm sein Gesicht in ihre Hände. Er wäre eine liebevolle Geste gewesen, hätte sie ihn nicht kurz in die Wangen gekniffen. Seinen verwunderten Blick ignorierte sie. »Bevor du gleich sagst, dass du mich mit deinen Problemen nicht belasten möchtest, weil ich meine eigenen Sorgen habe, darf ich dich freundlich daran erinnern, dass du erst vorgestern einen ergreifenden emotionalen Durchbruch hattest, bei dem erkannt hast, dass du dich deinen Mitmenschen anvertrauen sollst? Außerdem hast du mich gestern angerufen.«

Sie ließ ihn los und stemmte auffordernd die Hände in die Hüften. Erst sah es aus, als wollte Itachi protestieren. Es war so typisch für ihn. Aber Ino würde die letzten Monate nicht umsonst an seiner Defensive genagt haben. Wenn er nicht redete, würde sie ihn zu einer Antwort zwingen. Glücklicherweise schien er gelernt zu haben.

»Ja. Wir holen uns die Firma zurück. Der Vorstand bekommt kein Gehalt, sondern Dividenden in Abhängigkeit des Gewinns. Letztes Geschäftsjahr gab es wegen der Releaseverzögerung von synCOM und der allgemein schlechten Wirtschaftslage keine Gewinne, also auch kein Geld für den Vorstand.«

»Und das ist natürlich schlecht.«

Er nickte und schob die Zeitung beiseite. »Katastrophal. Sie haben fest mit den Großkundenumsätzen von synCOM gerechnet und einer Universität ein Vermögen gespendet, das sie eigentlich noch gar nicht hatten. Das hätte sie in den finanziellen Ruin getrieben. Also haben sie die Finanzen auf dem Papier aufpoliert, um die fehlenden Umsätze als Gewinne aus dem Unternehmen zu waschen.«

»Das klingt, als wäre es illegal. Also erhebt ihr Anklage?«

»Schwierig«, sagte Itachi. Er war aufgestanden, um seine Geldbörse und die Autoschlüssel vom Beistelltisch zu nehmen. »Eine behördliche Untersuchung würde Jahre dauern und wahrscheinlich nichts Handfestes zutage fördern. Wir werden das auf die altmodische Art lösen.«

 
 

 

Noch Stunden später hatte Itachi Inos grüblerischen Blick vor Augen. Obwohl er ihr den gesamten Plan erklärt hatte, schien sie zu zweifeln. Er teilte ihre Vorbehalte. Was er und Sasuke vorhatten, war so einfach wie riskant. Doch es war der einzige Weg, wenn er die UCHIHA Corp. aus diesem Sumpf ziehen wollte.

Darum navigierte er seinen Wagen in eine Parklücke vor dem Hauptgebäude des größten Finanzdienstleiters der Welt und zögerte nur einen Sekundenbruchteil, bevor er aufstand und Richtung Haupteingang schritt. Sasuke war bereits hier. Es gab kein Zurück, und doch war er nervös. Fast schon wünschte er sich einen von Inos dummen Scherzen herbei, der die angespannte Atmosphäre schlagartig und unaufgefordert aufbrechen würde.

Er war überrascht gewesen, dass sie nicht darauf bestanden hatte, mitzukommen. Offenbar hatten ihre Neugierde und Aufdringlichkeit doch Grenzen. Stattdessen war sie in seinem Appartement zurückgeblieben. Nachdenken, hatte sie gesagt, und mit deinem Kühlschrank spielen. Wie kann etwas so Banales so viele Knöpfe haben? Dann hatte sie ihn rausgeworfen, und nun war er hier. Neben Sasuke vor ihrem gemeinsamen Finanzberater. Tamashima war kein Freund der Familie. Itachi hatte sichergestellt, dass seine und Sasukes privaten Finanzen weit weg von der restlichen Familie verwaltet wurden.

»Uchiha-sama, ich …«, begann Tamashina fassungslos. Seine Brille war verrutscht, ebenso sein Blick. Unwirsch schüttelte er den Kopf. »Natürlich können Sie alle Firmenanteile verkaufen und Ihr gesamtes Vermögen auf sechs Scheck schreiben, aber als Ihr Finanzberater rate ich Ihnen dringend ab, das zu tun.«

»Wir haben Ihren Hinweis zur Kenntnis genommen«, meinte Itachi. »Brauchen Sie noch etwas von uns? Die Zeit drängt, wir benötigen den gesamten Erlös nach Steuern nächsten Samstag.«

»Nächsten – Uchiha-sama!« Hilfesuchend wandte Tamashima sich an Sasuke, der lediglich entschlossen nickte. Er senkte die Stimme. »Stecken Sie in Schwierigkeiten? Erpresst man Sie? Ich kann die Polizei für Sie rufen.«

»Nichts dergleichen«, unterbrach Sasuke. »Hören Sie, wir haben diese Entscheidung gut überlegt. Jetzt geben Sie uns die Haftungsausschüsse zum Unterzeichnen und verkaufen Sie die blöden Anteile.«

Itachi fügte hinzu, »Wenn Sie so freundlich wären.«

Und er tat es. Widerwillig und mit deutlichen Zweifeln, aber gewissenhaft und akkurat. Es war eine Sache von einer halben Stunde; dreißig Minuten für viereinhalb Milliarden Yen. Und doch fühlte es sich so an, als würde Itachi etwas aufgeben. Die Aktien hatte er zu seiner Geburt bekommen. Sie waren sein Erbe, sein Leben. Er hatte sie niemals nicht besessen. Und wenn der nächste Samstag schiefging, würde er sie nie wieder besitzen.

»Kommst du klar?«, fragte Sasuke beim Rausgehen.

Tat er das? »Diese Firmenanteile waren immer dazu gedacht, das Erbe der Familie weiterzuführen. Genau das tun wir. Oder wir gehen unter. Daher … keine Ahnung.«

Überrascht hob Sasuke eine Augenbraue. »Du kannst ja ehrlich sein. Hoffentlich werde ich jetzt nicht vom Blitz getroffen, wenn unmögliche Dinge anfangen zu passieren.«

»Wie lange darf ich mir das jetzt noch anhören?«

»Lange, großer Bruder. Ganz, ganz lange.«

Itachi seufzte, mehr aus Reflex als irgendetwas anderes. Sasuke hatte lange nicht mehr so frei mit ihm gesprochen. Es war gut. In Tagen der Unsicherheit und Angst ein Lichtblick. Wer hätte gedacht, dass sie ein so gutes Team sein konnten? Wer hätte gedacht, dass Itachis Entscheidung, ihn zu beschützen, die falsche Richtung war? Am Ende war er – das Genie der Familie, die Hoffnung des Klans – ein Idiot gewesen.

Es hatte viel gebraucht, um ihn an diesen Punkt zu bringen – sie alle an diesen Punkt zu bringen. Nun würden sie ein für alle Mal beweisen, dass es all der Frust und die Tränen wertgewesen waren. Warum Sasuke sein gesamtes Vermögen riskierte, konnte Itachi nur halb nachvollziehen. Etwas über Verantwortung und ich wollte Vaters ganzes Geld sowieso nie. Es schien etwas Katharisches für ihn zu sein. Ein letzter Befreiungsschlag, der längst überfällig war.

Die restliche Woche lang übten sie. Was sie sagen sollten, welche Notfallpläne sie hatten, wie weit sie gehen würden. Mit Sakura und Ino dachten sie sich die absurdesten Szenarien aus, nur für den Fall, dass eines davon tatsächlich eintrat.

Und dennoch fühlte Itachi sich unvorbereitet, als er seinen Anzug anlegte und die Manschettenknöpfe mit dem Familienwappen darauf fixierte. Willst du die Dinger wirklich gerade heute tragen?, hatte Ino gefragt und er hatte genickt. Heute war genau der Tag, um sie zu tragen. Fast wäre sie mitgekommen. Aus Neugierde und Anspannung, aber auch, weil sie sich nicht mit ihren eigenen Problemen beschäftigen wollte. Die ganze Woche lang hatte sie es aufgeschoben, nach Jobs oder Weiterbildungsprogrammen zu suchen. Heute ließ er ihre Ausreden nicht mehr gelten und hatte ihr das Ziel gesetzt, bis morgen früh drei Vorschläge für ihre weitere berufliche Laufbahn zu skizzieren. Konkrete und realistische Vorschläge, hatte er präzisiert und sie hatte ihm die Zunge rausgestreckt, bevor sie ihn aufs Bett geworfen hatte. Manchmal war sie wirklich wie ein verzogenes Kleinkind.

Doch es beruhigte Itachi, beschäftigte seine Gedanken, bis er mit Sasuke zusammen in der UCHIHA Corp. ankam, wo heute in der obersten Etage synCOMs Release gefeiert wurde. Sie beide hatten so viel Herzblut in das Projekt gesteckt, dass es wehtun hätte müssen. Das tat es nicht. synCOM war ein kleiner Fisch, ein winziger Teil des großen Ganzen, wegen dem sie hier waren.

Es war eine geschlossene Gesellschaft und sie konnten keine Einladung vorweisen, dennoch ließen die Empfangsdamen sie ohne nachzufragen durch. Wahrscheinlich hatten auch die strengen Blicke aus Itachis dunklen Augen geholfen, jeden Protest im Keim zu ersticken und ihnen sogar noch zwei Begrüßungsgläser Champagner mit Erdbeeren und Blattgold zu organisieren, obwohl der Empfang längst vorbei war.

Und sobald sie den großen Veranstaltungssaal betraten, waren sie zurück in ihrer Welt. Als wären sie nie fortgewesen, als hätte es keine Kündigungen gegeben. Hände wurden geschüttelt, Anekdoten erzählt, zum Erfolg gratuliert. Offenbar hatte ihr Vater niemandem von den personellen Veränderungen in Management und Projektteam erzählt. Es überraschte Itachi nicht im Geringsten. Ein Führungswechsel um den Release herum war fatal schlechte Publicity, also blieb er höflich und vage, und lenkte ab, wann immer jemand Details wissen wollte, die er nicht beantworten konnte, ohne den Aufsichtsrat schlecht dastehen zu lassen. Wenn sein Plan funktionierte, brauchte er die UCHIHA Corp. in bestem Zustand.

Es dauerte fast eine dreiviertel Stunde, bis ihr Vater sie entdeckte. Sein Glas glitt ihm fast aus der Hand, sein Hals spannte sich an, als er sich so schnell er konnte aus einer Konversation mit dem Bürgermeister verabschiedete und auf sie zu stapfte.

»Was wollt ihr hier?«, fragte er. Keine Begrüßung, keine Entschuldigung. Itachi hatte nichts anderes erwartet. Sicherheitshalber sah er zu Sasuke, doch dieser schien wenig beeindruckt vom feindseligen Tonfall. Gut.

»Wir wissen alles.« Demonstrativ hob Itachi seine Aktentasche. Ein Ordner war darin, und Fugaku musste ahnen, was sich darin befand. »Und wir wollen euch ein Angebot machen. Dir und dem Aufsichtsrat.«

»Das kann nicht dein Ernst sein, Itachi.«

»Ist es«, sagte Sasuke. »Und meiner auch. Jetzt ruf die Leute zusammen. Vater.«

Noch nie hatte Itachi seinen kleinen Bruder so kompromisslos erlebt. Es war keine Bitte, kein Vorschlag, sondern ein Befehl, und Fugaku gehorchte. Mit geballten Händen und leisen Worten bewegte er sich durch den Raum hin zu den Mitgliedern des Aufsichtsrates, als wäre er der allerwichtigste Mensch auf dieser Veranstaltung. War er. Noch.

Itachi ignorierte sein schlechtes Gewissen, als er den Gang entlangging und sich selbst in einen der Seminarräume ließ. Normalerweise fanden hier Workshops mit externen Dienstleistern oder größere Gesprächsrunden mit Kunden statt. Heute lag er in vollkommener Ruhe, aufgeräumt und nüchtern, und dominiert von einem großen Besprechungstisch, an dessen Kopf Itachi sich niederließ. Er zog den Ordner aus seiner Aktentasche, platzierte ihn vor sich, perfekt parallel zur Tischkante, und wartete, bis Sasuke Fugaku und den Vorstand hergebracht hatte.

 
 

 

»Du und Itachi-san also, hm?«, fragte Sakura. Von allen Themen hatte sie ausgerechnet dieses ausgesucht, um ihre Nervosität in Zaum zu halten. Ino konnte es ihr nicht verdenken. Sie hatte nur die Hälfte von Itachis und Sasukes Plan verstanden, aber es klang riskant.

Sie leerte ihr Weinglas in einem Zug und schwang die Füße auf Sakuras Couchtisch. Sogar sie, deren Kapital und Einfluss nicht auf dem Spiel standen, war unruhig. »Ich und Itachi also.«

Gemeinsam verfielen sie in Schweigen, während Sakuras Webserie im Hintergrund weiterlief. Es war das Serienfinale, sehr dramatisch und emotional.

»Vielleicht könnte ich sowas machen«, meinte Ino. »Die Produktion sieht zwar nicht sonderlich professionell aus, aber wenigstens hat diese Serien eine Aussage. Denkst du, die verdienen Geld damit?«

»Unwahrscheinlich. Die haben nicht mal Patreon.« Sakura schenkte ihnen beiden großzügig nach. »Willst du wirklich aussteigen, Ino? Das kommt alles so plötzlich.«

»Ist es nicht. Ich war nur zu stur, das einzusehen.«

Erneut breitete sich Schweigen zwischen ihnen aus. Die Webserie ging mit einer überraschenden Tanzeinlage der gesamten Besetzung zu Ende, die gesamte Handlung war ein Traum gewesen. Ino rollte mit den Augen über den Twist.

Warum konnte sie nicht aufwachen? Ach ja, weil das hier das wahre Leben war und sie sich endlich Gedanken machen musste, wie es weitergehen sollte. Vielleicht war YouTube doch keine schlechte Idee. Eine Webserie konnte sie nicht auf die Beine stellen, aber sie hatte immer noch eine Plattform. Ob die Sponsoringdeals in Japan ähnlich liefen wie in den USA?

Es würde sich schon was finden lassen. Sie war eine Kämpfernatur, immer schon gewesen, und nun, da sie den Kampf angenommen hatte, würde sie sich durchbeißen. So wie früher auch.

»Ich halte das nicht mehr aus!«, rief Sakura plötzlich und sprang auf. Vor Nervosität hatte sie sich mittlerweile einen Nagel abgekaut. Mit der anderen Hand zog sie Ino auf. »Komm mit, wir fahren da jetzt hin.«

 
 

 

Sobald die Tür aufging, entließ Itachi die Anspannung aus seinem Körper, lehnte sich zurück, als wäre das alles nichts. Als könnte es nicht schiefgehen. Sie hatten diesen Auftritt geprobt, und er zeigte Wirkung.

Der Aufsichtsrat war angespannt. Inabi richtete nervös seine Fliegen, Kaede spielte mit ihrem Smaragdring. Der Rest hielt sich im Hintergrund, vertraute wahrscheinlich darauf, dass Fugaku wie immer die Drecksarbeit machte. Diesmal würde er ihnen nicht helfen können.

»Vielen Dank, dass ihr gekommen seid.« Itachi machte eine Geste über den Tisch, als wäre er der Hausherr, beobachtete geduldig und unbeeindruckt, wie sie sich langsam setzten. Sasuke blieb bei der Tür, die Arme verschränkt. Niemand würde versuchen zu fliehen, die Symbolik allein war genug. Sie sollten nicht denken, dass sie dieses Zimmer einfach so verlassen konnten.

»Was soll das werden?« Inabi. Natürlich war er es, der zuerst die Geduld und die Nerven verlor.

Itachi schlug den Ordner auf und schob ihn in die Tischmitte, ehe er sich wieder in seinen Sessel zurücksinken ließ. »Wir Uchihas reden nicht gerne um den heißen Brei, nicht wahr? Darum fasse ich mich kurz. In diesen Dokumenten befinden sich belastende Beweise für die Veruntreuung von Firmengeldern in der Höhe von etwa einer Milliarde Yen, verschuldet durch die anwesenden Mitglieder des Aufsichtsrates der UCHIHA Corp. sowie durch den CEO.«

Die Silben verklangen, die Stille zerriss. Kaede stürzte sich über den Tisch, riss den Ordner an sich. Die zweite, die ihre Nerven verlor.

»Das sind natürlich nur Kopien«, fuhr Itachi gelassen fort. »Aber vielen Dank für die Bestätigung, Kaede-san. Nachdem Sasuke und ich all das zusammengetragen haben, sehen wir uns in der moralischen Verpflichtung, diesen Verstoß gegen das Finanzrecht behördlich zu melden.«

Der Ordner fiel zu Boden, jemand atmete scharf ein. Wahrscheinlich Fumi. Sie war schon seit Jahren Lungenkrank. Itachi konnte keine Rücksicht darauf nehmen. Sie alle waren selbst schuld. Vielleicht hätte er ihnen eine Chance gegeben, sich zu bessern, ihren Betrug heimlich wiedergutzumachen, ihre Funktionen zu behalten, wenn er daran glauben hätte können, dass sie dazu fähig waren. Das tat er nicht.

»Damit ruinierst du den Ruf unserer Familie – den Ruf der Firma!«, sagte Naka. Er musste seine Fliege lockern, um atmen zu können. »Das würdest du nicht tun.«

»Wieso nicht? Sasuke hat gekündigt, ich wurde entlassen. Es gibt niemanden mehr, der die UCHIHA Corp. in das nächste Zeitalter führen kann. Ich habe kein Vertrauen in euch. Warum also sollte es mich kümmern, ob diese Firma jetzt schon zugrunde geht oder in dreißig Jahren?«

Inabi sprang auf, rammte seine Faust auf den Tisch. »Du bist wahnsinnig! Wir haben ein Dutzend Zweigstellen, tausende Mitarbeiter, hunderte Zulieferer! Die UCHIHA Corp. ist ein verdammtes Ökosystem! Wenn du es zerstörst, zerstörst du tausende Familien mit!«

Von allen Szenarien hatten sie dieses am häufigsten geprobt, und ein Teil in Itachi war fast schon enttäuscht, dass das Gespräch in diese vorhersehbare Richtung verlaufen war. Natürlich war es das Einfachste, ihm ein schlechtes Gewissen zu machen. An die soziale Verantwortung zu appellieren, die ein Arbeitgeber hatte und die Itachi so oft gepredigt hatte. Gespielt nachdenklich legte er einen Finger ans Kinn.

»Du hast recht, Inabi-san. Darum habe ich einen Gegenvorschlag«, sagte er langsam, während er einen sorgsam präparierten Umschlag aus der Innentasche seines Jacketts zog.

Ein paar Sekunden lang hielt er ihn hoch. Ließ seine Zuhörer realisieren, dass man ihn nicht so einfach austricksen konnte. Es war fast schon beleidigend, dass sie darüber überrascht waren. Wer von ihnen hatte ihn nicht sein Leben lang als Genie gefeiert?

»In diesem Umschlag befinden sich sechs Schecks, die zusammen über vier Milliarden Yen ausmachen. Das ist mein und Sasukes gesamtes Vermögen und etwa doppelt so viel wie ihr über die nächsten fünf Jahre in dieser Firma verdienen könnt.«

Die aufkommende Pause war still, nur gestört durch Fumis Husten.

»Legt all eure aktiven Funktionen in der UCHIAH Corp. zurück, verkauft die Hälfte eurer Anteile, dann gehört es euch. Ihr dürft weiterhin stille Teilhaber sein und bezieht gekürzte Dividenden, aber ihr werdet keinen Einfluss mehr auf die Unternehmensführung haben. Keiner von euch. Das Angebot gilt nur, wenn ihr euch einheitlich dafür entscheidet. Klingt das annehmbar?«

Es war mehr als das. Ein Geschenk, viel zu großzügig für Itachis Geschmack. Dass sie dennoch zögerten, sich hilflose Blicke zuwarfen, bestätigte nur, was längst klargewesen war. Diese Familie war verloren. Zumindest so, wie sie jetzt war. Es war schade, aber wenigstens befreite es ihm von dem schlechten Gewissen, das er ansonsten vielleicht empfunden hätte. Er nickte leicht, als niemand hinsah, und Sasuke rammte seine Faust gegen die Tür.

»So eine schwere Entscheidung ist das ja wohl nicht«, brummte er.

Fumi japste. »Wir wollen uns zur Beratung zurückziehen.«

»Was genau lässt euch denken, dass das hier eine Verhandlung ist?« Sasuke verengte die Augen. »Entscheidet euch. Jetzt.«

»Das ist Wahnsinn!«, rief Inabi. Erneut fuhr er auf, stapfte durch den Raum auf Itachi zu. Bevor er ihn am Kragen packen konnte, durchschnitt Fugakus Stimme den Raum.

»Inabi. Setz dich wieder hin.«

Er hatte noch nie viel Autorität im Aufsichtsrat gehabt, hatte jahrelang nach ihrer Pfeife getanzt, weil er zu feige war, sich gegen sie aufzulehnen. Weil er Angst hatte vor den Veränderungen, der Unsicherheit, die aufkommen würde, wenn er nicht mehr auf ihren Rückhalt vertrauen konnte. Jahrelang hatte er gefürchtet, dass sie ihn stürzen und ersetzen würden durch jemanden, der noch leichter zu manipulieren war, ihnen noch mehr Gewinne ausschütten würde. Vielleicht würde er irgendwann einsehen, dass es der falsche Weg gewesen war. Dass in der UCHIHA Corp. schon lange nicht mehr von den Uchihas getragen wurde. Vielleicht sah er es auch jetzt gerade ein. Itachi wusste es nicht, es interessierte ihn auch nicht.

Fugaku seufzte.

»Wir nehmen euer Angebot an.«

 
 

♦ ♠ ♥ ♣

 

»Und, was jetzt?«, fragte Sakura.

Weder Sasuke noch Itachi waren sonderlich überrascht, sie und Ino vor der UCHIHA Corp. vorzufinden. Dennoch hatten sie keine Antwort darauf. Was jetzt kam, war ungewiss. Für sie alle.

»Ist doch egal!«, rief Ino in die stille Nacht hinein und quittierte Sasukes vorwurfsvollen Gesichtsausdruck mit einer Grimasse. »Ich meine ja nur für heute. Ab morgen könnt ihr beiden euch gerne wieder den Kopf über eure Firma zerbrechen. Aber jetzt sollten wir feiern!«

Itachi legte einen Arm um sie. »Du willst nur von deinen Hausaufgaben ablenken.«

»Nein?«

»Hast du sie denn gemacht?«

»Natürlich«, behauptete sie. »Zirkusclown, Rauchfangkehrer, Golfballtaucher. Drei Karrierewege, wie gefordert.«

Sasukes Augenrollen war fast hörbar. »Ich hab ja lange gezweifelt, aber nun beweist es sich vor meinen Augen. Ino, du bist wirklich die dümmste Person auf Erden.«

»Du bist nur neidisch.«

»Schluss, alle beide!«, ging Sakura dazwischen. »Ihr weckt die Nachbarn.«

»Dein Mann beleidigt deine beste Freundin und das stört dich daran? Mein Herz ist gebrochen!«

»Bitte, hör endlich auf zu reden. Mein Abend war lang genug.«

»Jetzt sei keine Trantüte, Sasuke! Ihr habt eben eine verdammte Firma übernommen, wenn jemand kein Recht auf schlechte Laune hat, dann ja wohl du!«

»Brüll das nicht so rum!«

»Schrei mich nicht an!«

Sie blieben stehen, sahen einander an. Vier Menschen im Aufbruch, vier Leben im Umbruch. War es das wert gewesen?

Vielleicht.

Morgen war jedenfalls ein neuer Tag, und es fühlte sich ziemlich gut an.

 
 

.:: E N D E ::.
 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Nachwort-Umfrage: Welche Perspektive ist euch am sympathischsten bzw. mit wem der vier Protagonisten fiebert ihr am ehesten mit? Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Damit ist Sasukes Sicht offiziell meine Lieblingsperspektive geworden. Obwohl er in dieser Geschichte bereits 30 ist und eigentlich mit einer Ehefrau, einer Tochter und einem geregelten Job fest im Leben stehen sollte, fühlt sich seine Geschichte an wie ein Coming-of-Age Arc - und das ist sie im Grunde auch. Denn Erwachsensein ist keine Checkliste, es ist Verantwortung für sich selbst zu übernehmen und seinen Platz in der Gesellschaft zu finden. Und das muss Sasuke gerade auf die harte Tour lernen.
Und ja, ich bin mir bewusst, dass ich gerade meine eigene Geschichte arg hype, aber ich nehme mir diese Freiheit für dieses eine Kapitel. :D Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Let's. Wrap. This. Shit. Up! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Da wären wir also, am Ende meiner allerletzten Naruto Fanfic. Über zehn Jahre lang habe ich in diesem Fandom geschrieben, mich mit meinen Charakteren entwickelt und mit der wundervollen Community mitgefiebert. Naruto wird immer einen besonderen Platz in meiner Historie und in meinem Herzen haben.

Darum - danke an alle User, die Teil meines Weges waren, meine Zeit hier unvergesslich gemacht und mir so viel Freude bereitet haben. Meine neueren Fanfics aus anderen Fandoms findet ihr auf fanfiktion.de.

Cheers und macht's gut,
eure 4FIVE Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (96)
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Von:  endoftherainbow
2021-05-16T12:28:03+00:00 16.05.2021 14:28
Ich war ein reger Verfolger deiner naruto ff's. Hat Spaß gemacht sie zu lesen.
Danke dafür 😀
Von:  phie
2021-05-13T08:27:35+00:00 13.05.2021 10:27
Schade, dass es deine letzte Naruto FF ist. Ich liebe total, wie du Sakura dargestellt hast.

Von:  endoftherainbow
2021-05-09T12:20:17+00:00 09.05.2021 14:20
Freue mich darauf wie es weiter geht. Bin durch deine Aktualisierungen wieder darauf gestoßen und hab nochmal alles von vorne gelesen.
Würde mich auf nächste Kapitel freuen!
Antwort von:  4FIVE
09.05.2021 21:00
Hey endoftherainbow!

Danke, dass du ein Kommentar dagelassen hat - freut mich sehr, dass diese fanfic noch jemanden interessiert. Ich hab sie ja leider sehr schleifen lassen. Ich bin gerade dabei, alle Kapitel einmal Korrektur zu lesen, bisschen zu adaptieren und dann am Ende das letzte Kapitel hochzuladen. Es hat ja tatsächlich nur mehr eines gefehlt. Ich bin manchmal echt unfähig. -.-
Das wird jetzt jedenfalls in den nächsten paar Tagen abgeschlossen sein. ;) Vielen Dank für's Dabeibleiben!

Cheers,
4FIVE
Von:  Waffle-
2020-06-11T16:16:55+00:00 11.06.2020 18:16
Was für eine super tolle Fanfiction! Ich habe sie vor kurzem entdeckt und bin total begeistert. Dein Schreibstil, dein Konzept und die Idee, die in dieser Fanfiction drin steckt, stechen wirklich aus der Masse heraus und hinterlassen einen bleibenden Eindruck! Ich bin gespannt, wie es weitergeht und lasse dir liebe Grüße da :)
Von:  Scorbion1984
2020-06-07T11:02:44+00:00 07.06.2020 13:02
Ganz schöne Schlitzohren ,diese alten ,Säcke,von Aufsichtsrat!
Hoffentlich können Sasuke und Itachi ihnen kräftig in die Suppe spucken !
Von:  Kleines-Engelschen
2020-06-01T18:46:47+00:00 01.06.2020 20:46
wow was für ein kapitel. ich bin gespannt wie es weitergeht!

greetz
Von:  Kleines-Engelschen
2020-05-18T15:37:44+00:00 18.05.2020 17:37
ein tolles kapitel. es hat sich wahnsinnig gut gelesen. weiter so

greetz
Von:  phie
2020-05-17T08:58:37+00:00 17.05.2020 10:58
Ich freu mich so, dass ein neues Kapitel hoch kam und dann war das auch noch sooooo gut.
Go SasuSaku

Freue mich schon aufs nächste Kapitel
Von:  phie
2020-04-05T17:11:07+00:00 05.04.2020 19:11
Ich hoffe es geht bald weiter. Endlich Mal eine Geschichte, die Beziehungen nicht romantisiert.
Von:  Zyankaly
2020-04-02T21:12:12+00:00 02.04.2020 23:12
Ich bin wirklich traurig, dass es hier nicht weiter geht :-( ich wüsste so gern wie die Geschichte endet.


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