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Noch einmal mit Gefühl

[Itachi x Ino | Sasuke x Sakura | modern AU]
von

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Was wir gaben


 

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Tokio, Japan; 4 Jahre zuvor

 

Sakura fuhr hoch, kalter Schweiß auf ihrer Stirn, einsam in den glatten Satinlaken. Ein Alptraum hatte sie aus dem Schlaf gerissen – Schüsse, Schreie, Fratzen. Keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Heiße Schmerzen, ein alles umfassender Krampf in ihrem Unterleib.

»O Gott…«, stieß sie aus, krümmte sich über ihren Bauch. In den letzten drei Wochen hatte sie trotz des regnerischen Frühlings nackt geschlafen, weil sie in keinen Pyjama mehr passte.

Eine Wehe ließ sie aufschreien, laut. Diese verdammten Schmerzen. Schweiß stand auf ihrer Stirn, heißes Brennen zog sich durch ihren Körper. Aber sie musste durchhalten. Der Geburtstermin war erst in einem Monat, Sasuke war in China, würde erst in drei Wochen wiederkommen. Schon gut, hatte sie am Telefon gesagt, als er ihr von seinem Dilemma erzählt hatte. Die Firma in Shanghai wollte sein Praktikum um einen Monat verlängern. Ich komm schon klar.

Doch das tat sie nicht. Nicht mit diesen unsäglichen Schmerzen. Heiß, kalt, laut, leise, ein Chaos von Nervenimpulsen. Blind und taub tastete sie im Dunkeln nach ihrem Telefon, beugte sich einer neuen Wehe und wählte die Nummer ihrer Schwiegermutter. Vor der Hochzeit hatten sie kaum fünf Worte gewechselt, seit der Schwangerschaft war Mikoto unaufhörlich um sie herumgewuselt. Nicht ihretwegen, nicht direkt. Sarada war jetzt schon mehr Teil der Familie als Sakura es jemals sein würde.

Mikoto hob nach dem dritten Klingeln ab, erst verschlafen, dann plötzlich hellwach und kontrolliert hektisch. Sie gab Sakura Anweisungen – ungefragt, aber trotzdem. Bis heute ignorierte sie, dass ihre Schwiegertochter einen Universitätsabschluss in Medizin hatte. Sie hatte zwei erfolgreiche Kinder zur Welt gebracht, sie wusste es besser als fünf Jahre Studium.

In fünfzehn Minuten hatte sie die halbe Stadt durchquert, verfrachtete Sakura samt vorgepackter Tasche ins Auto. Ab dann begann etwas, an das sich Sakura später nur mehr als Qualen, unglaubliche Qualen erinnern würde. Die Autofahrt über schwollen die Wehen bis zur Unerträglichkeit an. Als sie die Privatklinik erreichten und die Schwester am Aufnahmeschalter es wagte, den Grund ihres späten Besuchs zu erfragen, packte Sakura sie am Kragen, zog sie über das Pult zu sich und kreischte sie an, »Wolldecken häkeln, verdammt, wonach sieht‘s aus?!«

Die Schwester agierte professionell, löste die verkrampften Finger um ihre Kleidung nachsichtig, aber bestimmt, und verständigte das anwesende Personal der betreffenden Abteilung. Sakura wurde in das schickste Krankenzimmer Japans gebracht, was so unnötig wie egal war angesichts der höllischen Schmerzen, die ihr die Sicht vernebelten. Durch einen weißen Schleier sah sie Kittel um sich herumwuseln, hörte wie durch Watte Mikotos Stimme Anweisungen geben.

Ich komm klar.

Tat sie nicht. Ohne Sasuke kam sie nicht klar. Sie hatte Schmerzen, solche verdammten Schmerzen, und der einzige Mensch, der jetzt zählte, war nicht da. Sie schrie. Brüllte. Weinte. Sie brauchte Sasuke, hier und jetzt.

»Zu viel Blut«, hörte sie die Ärztin vor ihr sagen und für einen Moment blieb Sakuras Herz stehen. Blut? »Plazentaablösung, Vorbereitung zum Notkaiserschnitt.«

Was?, wollte Sakura fragen, doch nur Schreie kamen aus ihrem Mund. Während dem Studium hatte sie sich nie für Gynäkologie interessiert, schon gar nicht für Schwangerschaft. Gefäße waren ihre Welt. Dennoch wusste sie genug, um zu wissen, dass Blut und Plazentaablösung gemeinsam nicht gut war.

Wo war Sasuke? Wieso war er nicht hier? Warum hörte er sie nicht, obwohl sie sich die Seele aus dem Leib schrie?

Sie weinte weiter, brüllte rau und heiser vor Schmerz und Verzweiflung. Nach seinem Unfall war sie monatelang für ihn dagewesen, hatte ihn in der Reha begleitet, hatte so getan, als würde sie seine Tränen nicht bemerken, wenn er sein Knie überanstrengt hatte oder frustriert vom langsamen Fortschritt gewesen war. Und er ging nach China, ließ seine Frau und ungeborene Tochter zurück wie zu schweres Gepäck. Diese Schwangerschaft war von Anfang an schwierig und kompliziert gewesen. Emotional. Körperlich.

»Sasuke!«, heulte sie, als eine Schwester ihr ein Schmerzmittel verabreichen wollte. Sasuke, Sasuke, Sasuke, beschwor sie ihn in ihren brennenden Gedanken, immer und immer wieder, bis das Anästhetikum sie endlich einholte.

Als Sakura wieder aufwachte, fühlte sie sich wie tot. Helles Licht drang gegen ihre Lider, ein sanfter Windschwall stieß gegen ihre hypersensible Haut, ein Vogel zwitscherte in der Ferne. Sie war zu schwach, um die Augen zu öffnen. Eine Stimme flüsterte ihr von irgendwo her, dass es Sarada gutging, und sie schlief wieder ein.

Als sie zum zweiten Mal aufwachte, lag ein Arm um ihre Schultern, ein Kinn an ihrem Scheitel. Auch wenn sie ihn seit Monaten nicht mehr gesehen hatte, erkannte sie ihn sofort; den Geruch, die Form der Muskeln, den Rhythmus des Atems.

»Sasuke?«, fragte sie matt. Er drückte sie an sich, küsste ihre Stirn sanft, dann stand er auf und kam zurück mit etwas Kleinem, das in eine Decke gewickelt schmatzte.

»Möchtest du sie halten?«

Vorsichtig ließ Sakura ihren Blick über das Bild vor ihr schweifen, fürchtete, dass sie nach wie vor halluzinierte. Doch es blieb. Sasuke war zurückgekommen, fast rechtzetig. Seine Schuhe standen in der Ecke neben seiner Aktentasche, seine Hose war zerknittert, sein Hemd gelockert. Und in seinen Armen hielt er seine Tochter. Ihre gemeinsame Tochter.

In diesem Moment zählte nicht, wie er herzgekommen war, wie er seine Mutter rausgeworfen hatte oder wie lange er Sakura davor alleingelassen hatte. Sie waren hier. Zu dritt. Eine perfekte kleine Familie.

Nur das zählte.
 

 

Tokio, Japan; Gegenwart

 

Es hatte Ino einiges an Überwindung gekostet, Sakura nach Itachis Telefonnummer zu fragen. Es hatte Sakura noch mehr Überwindung gekostet, sie rauszurücken.

Ob das so eine gute Idee ist?, hatte Sakura gefragt. Itachi-san ist das Gegenteil von Heiratsmaterial.

Chill, hatte Ino erwidert. Ich will nur seine Empfehlungen für Laufrouten einfordern. Und jetzt gib endlich her!

Noch stundenlang hatte sie sich über Sakuras Formulierung lustiggemacht. Kein Heiratsmaterial, als würde sie an sowas denken. Ihre letzte ernsthafte Beziehung war sieben Jahre her, ihre letzte funktionierende Beziehung sogar schon elf. Beide hatte sie für ihre Karriere aufgegeben, und sie bereute es nicht. Nicht wirklich zumindest. Laufstrecken, darum ging es. Und darum, Itachi etwas besser kennenlernen. Warum auch nicht? Er war attraktiv, interessant und reich. Sie wäre eine Heuchlerin, wenn sie behauptete, dass sie das nicht anzog.

Seitdem waren drei Wochen vergangen und sie hatte ihm immer noch nicht geschrieben. Zuerst, weil sie keinen guten Anfang gefunden hatte, danach, weil der Dreh von Blue River angelaufen und Zeit damit Mangelware geworden war. Letzte Kostümproben, Werbeaufnahmen, erste Interviews mit Magazinen und Sneak Peaks für YouTube, alles professionell organisiert und nicht ganz so schlimm, wie Ino befürchtet hatte. Ihren ersten Drehtag begann sie zur Überraschung aller Beteiligten positiv gestimmt.

Ihr Wecker klingelte um vier Uhr morgens, eine unmenschliche Zeit eigentlich, aber Ino war weit Schlimmeres gewöhnt. Diese Woche war fast noch okay, gerade einmal zwei halbe und zwei volle Drehtage. Das waren zweimal acht und zweimal achtzehn Stunden, lächerlich. Die gesamte Serie würde in nur sechs Wochen abgedreht sein, drei davon musste sie nicht einmal am Set sein. Der Vorteil einer Nebenrolle. Ihre Gage war trotzdem nicht weniger als die der Hauptrollen. Der Vorteil eines bekannten Namens.

Mabuchi holte sie pünktlich um halb fünf ab, bewaffnet mit dem größten Mokkaccino der Welt, und lieferte ihre Klientin ebenfalls pünktlich um sechs Uhr am Drehort ab. Inos Ankunft wurde kaum bemerkt, die Crew arbeitete am Aufbau des Sets und adjustierte das künstliche Dämmerlicht, das durch die Fenster von Chiwas Elternhaus fallen sollte. Eine Visagistin warf ihr eine Ladung Make-up ins Gesicht, das sie müde und krank aussehen ließ, der Kostümassistent steckte sie in ein langweiliges graues Kleid und dann hieß es warten.

Ino kannte das. Üblicherweise tauschte sie sich mit den anderen herumstehenden Schauspielern aus oder unterhielt sich mit Licht- oder Tontechnikern, die gerade nichts zu tun hatten. Hier hatte niemand Zeit für Geplauder, alles war durchgetaktet. Ihre beiden anwesenden Kollegen, Moegi und der Sänger, der ihren späteren Ehemann spielte, übten in einer ruhigen Ecke. Auch Mabuchi verabschiedete sich, sobald sie sich einigermaßen sicher war, dass Ino nicht Amok laufen würde. Würde sie nicht, nicht jetzt, wo es sowieso schon zu spät war. Der Vertrag war bindend und Ino hatte sich mit ihrer Unterschrift dazu verpflichtet, die Produktion nicht zu sabotieren.

Und vielleicht wurde das hier doch nicht so schlimm. Vielleicht war sie einfach nur negativ gewesen, überkritisch und unfair. Alle hier gaben sich Mühe, jeder war motiviert. Und sie musste sowieso das Beste daraus machen.

Bis zu ihrer ersten Szene schlug sie die Zeit auf ihrem Smartphone tot, dann durfte sie endlich mit Moegi gemeinsam das arrangierte Wohnzimmer betreten. Die Szene war recht simpel, aber lang. Moegi kam als Chiwa von der Schule nach Hause, Ino lag als Nanri in eine Decke gewickelt auf der Couch und erwachte mit der zufallenden Tür, um ihre kleine Schwester in einen lockeren Dialog zu verwickeln, der langsam in einen Streit eskalierte.

»Du liegst den ganzen Tag nur rum, Nanri«, warf Moegi ihr vor. Die Zeile war gut rübergebracht, Ino fühlte sich tatsächlich ein wenig schuldig. »Wann hast du eigentlich vor, mal wieder arbeiten zu gehen?«

Ino zuckte zusammen und zog die Decke enger um sich. Ihr leerer Blick ging direkt an der Kamera vorbei, fixierte eines der herumliegenden Scheinwerferkabel, als sie die Schultern zuckte. Die Szene zog sich vier Minuten in die Länge, schaukelte sich durch Nanris Passivität und Chiwas Ärger über Ereignisse, die zuvor in der Schule geschehen waren und erst nächste Woche gedreht werden würden, zu einem Streit hoch, den nur Chiwa führte und beendete, indem sie in ihr Zimmer verschwand.

»Schnitt! Kameras umstellen, alles auf Anfang!«, rief der Regisseur. Ino nutzte die kurze Pause, um ihre Schultern zu lockern und ihre Kiefer zu bewegen. Dann wickelte sie sich wieder in die Decke und begann erneut.

Viermal drehten sie die Szene in verschiedenen Einstellungen. Die Schauspielleistung schien zu genügen, die Kameras wanderten zum nächsten Set. Während Moegi dort alleine weiterspielte, wurde Ino in ein weiteres langweiliges Kostüm gesteckt.

Der Tag zog sich. Ab und an gab es Kritik vom Regisseur oder anderen kreativen Köpfen, die etwas zu sagen haben durften, Schauspieler wurden nicht gefragt. Viele Aufnahmen wurden beim ersten Versuch angenommen, was Ino nervte, aber wenig überraschte. Sie hatte nicht erwartet, hier eine experimentelle Produktion vorzufinden, bei der sie eine Szene so lange wiederholen durfte, bis sie einen authentischen Nervenzusammenbruch bekam. Als sie hier versuchte, ihren Tränenausbruch etwas extremer zu gestalten, wurde sie gebeten, das Zittern und Zögern zu unterlassen, da es zu explizit für dieses Format war.

Fein. Also fiel sie einfach um.

Der Tag zog sich weiter. Zwischen jeder Szene gab es Pausen, in denen sich Ino fragte, was sie hier tat. Ihre positive Stimmung war von schlechtem Essen gedämpft worden, ihre Motivation vom langweiligen Regisseur zertreten. Nicht einmal improvisieren durfte sie.

Ihre letzte Szene für heute war eine der schnulzigeren Sorte. Aus einem oberflächlich dramatischen Grund war Nanri aus dem Krankenhaus geflohen und verschanzte sich in ihrem Pyjama in der Wohnung ihres Vaters. Natürlich hatte sie praktischerweise vergessen, die Haustür abzuschließen, sodass ihr angebeteter Arzt hineinstürmen und sie in den Arm nehmen konnte.

Der Sänger spielte annehmbar. Seine Arme waren kräftig, als er sie hin und her wog und wartete, bis ihr Strampeln sie erschöpfte und sie zu weinen begann.

Es nervte sie, aber sie musste da durch. Fuß fassen, einen Ruf aufbauen, dann würden die guten Rollen schon kommen. Sie war dreißig, das war noch nicht allzu alt. Mit der Geschwindigkeit japanischer Produktionen würde sie in nicht einmal zwei Jahren ein beachtliches heimisches Portfolio haben. Durchhalten, einfach durchhalten.

Am Ende des Drehtages verließ sie als erste das Set, floh nach draußen die Straße hinunter, wo sie niemand mehr sehen konnte. Erst dort presste sie beide Hände so fest es ging über ihre Lippen und entließ ihren anschwellenden Schrei endlich.

Gottverdammt. Wieso nur tat sie sich das an?

Weil sie einen Vertrag mit einer horrenden Pönale hatte. Und weil sie stur und unbeugsam war. Weil sie nicht lernte. Nicht aufgeben konnte. Frustriert senkte sie die Hände an ihre Seiten und atmete aus.

Sie brauchte Ablenkung. Am besten gleich.

 

 

Itachis Firmenhandy läutete in der Tasche seiner Anzughose, auf seinem Schreibtisch vibrierte sein privates Smartphone. Beide ignorierte er im Angesicht seiner Assistentin, die erwartungsvoll vor ihm saß.

Shirogane Reina war definitiv mehr Geld wert als diese Firma ihr monatlich zahlte. So akkurat und organisiert wie sie, konnte kein zweiter Mensch sein, außer er selbst vielleicht. All ihren Vorzügen zum Trotz, war sie kein gutes Publikum zum Üben einer Produktpräsentation. Er arbeitete seit Wochen daran, immer mal wieder für ein paar Minuten pro Tag, wenn er Zeit dazu fand. synCOM brauchte mehr Großkunden, also hatten Sasuke und er sich die Akquise aufgeteilt, nachdem ihre Verkäufer hatten aufgeben müssen. Seine beste Vertriebsmitarbeiterin konnte einem Kamel Sand verkaufen, doch bis nach oben zum Scheich kam sie nicht. Itachis Name allein verschaffte ihm ausreichend Zeit mit Vorständen und Geschäftsführern, um ihnen die Vorteile von synCOM erklären zu können.

»Was sagen Sie, Shirogane-san?«, fragte er, nachdem er seinen Vortrag gehalten hatte. Er war zusammengestöpselt aus Marketingunterlagen, Entwürfen und internen Präsentationsfolien. Umfangreich und vollgepackt mit Information.

Shirogane klatschte einmal in die Hände. »Sehr gut! Ich finde, Sie arbeiten den Vorteil von synCOM wunderbar heraus. Vor allem die letzten Minuten mit den Kostenersparnissen sind sehr gelungen. Soll ich die Unterlagen in die Übersetzung schicken?«

Itachi verschränkte die Arme und schickte einen nachdenklichen Blick aus dem Fenster. Sein Büro war hoch oben, trotzdem sah er keinen Kilometer weit. Es gab hunderte Firmen in Tokio, jede davon in einem schicken Wolkenkratzer aus Glas und Erfolg. Sehr gut reichte nicht, nicht im Ansatz. Er brauchte atemberaubend, großartig, überwältigend.

»Nein. Ich werde alles noch einmal überarbeiten. Wir brauchen die Unterlagen sowieso erst, wenn wir eine funktionierende Betaversion haben. Wie lange dauert die Übersetzung normalerweise?«

»Für den Umfang etwa zwei Wochen. Eine, wenn wir Druck machen.«

Das war kurz genug, um ihm noch ein paar Wochen Zeit für Verbesserungen zu verschaffen. Halbwegs beruhigt überprüfte Itachi sein Firmenhandy, wo eine unwichtige E-Mail über einen neuen Abteilungsleiter in der Beschaffungsabteilung aufblinkte. Sein privates Smartphone offenbarte eine interessantere Nachricht. »Danke, Shirogane-san. Machen Sie Feierabend, ja?«, schlug er vor und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch.

Ein paar E-Mails, Unterschriften und Excel-Tabellen später dämmerte es draußen und zum ersten Mal seit Monaten verließ er sein Büro vor acht Uhr abends.

Du schuldest mir eine Laufroute. Heute Abend?, hatte Ino geschrieben. Kurz und bündig, keine Signatur. Er fand ihr Selbstvertrauen amüsant. Offenbar setzte sie voraus, einen so bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen zu haben, um nicht einmal ihren Namen unter die Nachricht zu setzen. Hatte sie in der Tat. Woher sie seine Telefonnummer hatte, war unschwer zu erraten.

Halb acht beim Musashi-Yamato Bahnhof, antwortete er.

Um zehn nach halb stieg sie tatsächlich aus dem Zug, voll ausgerüstet in legerer, aber professioneller Laufkleidung; enge Leggins, neongelbe Sportschuhe, lockeres Tank Top, Pulsuhr und Sportarmband, jetzt schon ein motiviertes Grinsen auf den Lippen. Sie hob eine Hand zum Gruß. »Ahoi!«

»Guten Abend.«

»Schönes Fleckchen hast du hier.« Sie deutete mit ihrem Zeigefinger in ihr Gesicht, während sie sich umsah. »Siehst du den Ausdruck? Das ist Neid.«

War es nicht. Es war Frust und dieser Frust hatte rein gar nichts mit der schönen Umgebung zu tun. Da Itachi das nicht wusste, bemerkte er nur ihre unruhigen Füße. »Möglicherweise wirst du gleich noch neidischer werden. Von hier starten zwei Strecken. Nach Süden geht es etwa sieben Kilometer durch den Higashiyamato Park. Nach Nordwesten führen dreizehn Kilometer übers Gefälle durch den Toritsu Sayama Park am Tama Lake vorbei. Hast du Präferenzen?«

»Gefälle klingt doch nett. Nehmen wir die.«

Gesagt, getan. Itachi führte den Weg an, die ersten vier Kilometer leichtfüßig über die ebenen Schotterwege des Parks und um einen kleinen See herum. Ino hielt gut mit, machte ab und an Kommentare zur Schwierigkeit der Strecke. Ab Kilometer fünf wurde es mühsam. Das Gefälle war nicht allzu steil, aber stetig und zog sich zwei Kilometer in einer Geraden bis zum Gipfel eines kleinen Hügels. Die Bäume hinderten das Mondlicht daran, die Laufwege zu beleuchten, sodass nur künstliches Licht aus den regelmäßig platzierten Straßenlaternen schien. Es war eine ruhige, klare Spätfrühlingsnacht an der Kippe zum frühen Sommer.

Und Ino gab alles.

Itachi war größer und gut in Form, natürlich konnte sie ihn nicht abhängen, aber das schien auch nicht ihre Absicht zu sein. In jedem ihrer Schritte lag ein wenig mehr Kraft als nötig, jede Armbewegung zum Ausbalancieren war etwas stärker als ihr Lauf erforderte. Das würde sie bereuen.

Der letzte Kilometer war der brutalste. Noch stand nicht mehr als ein feiner Schweißfilm auf ihrer Stirn, ihre Atmung war regelmäßig, aber der Hügel vor ihnen stieg schneller an als sie erwartet hatte. Mit jedem Schritt wurde sie langsamer, quälte sie sich mehr.

Bis sie plötzlich an Itachi vorbeizog, keuchend und schwitzend, aber so schnell, dass er beeindruckt war. Das konnte er nicht auf sich sitzen lassen. Wenn sie bergauf sprintete, konnte er das schon lange.

Er holte auf, überholte sie, auch wenn sein Körper ihn fragte, ob er den Verstand verloren hatte. Auf halber Höhe brannten seine Muskeln, seine Gelenke, sein Atem, dennoch rannte er weiter, weil Ino weiterrannte, stöhnend und kompromisslos. Es war faszinierend.

Sie erreichte das Ziel nur einen halben Schritt hinter ihm, brach mit einem letzten Kraftschrei neben ihm im kühlen Gras zusammen. Ein paar Strähnen hatten sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst und klebten an ihren erhitzten Schläfen, als wäre sie ein Werbeplakat für isotonische Getränke. Absichtlich ungeschminkt und dennoch schön.

»Scheiße!«, fluchte sie rau und flach, eine verkrampfte Hand an der Brust, ein euphorisches Grinsen im hochroten Gesicht. Morgen würde sie den übelsten Muskelkater ihres Lebens haben, ebenso wie Itachi selbst. Es war gedankenlos gewesen, sich zu einem sinnlosen Wettrennen hinreißen zu lassen. Laufen war seine Entspannungstherapie geworden. Das hier war alles andere als entspannend – und es war so viel besser.

»Du bist ganz schön schnell«, sagte er, nachdem er wieder ausreichend Atem hatte. Er reichte ihr seine Hand, um ihr auf die wackeligen Beine zu helfen. Ausgehen war ein Muss, egal wie erledigt man war. »Läufst du oft?«

Ino brauchte ein paar Atemzüge, um genügend Luft für eine Antwort zu sammeln. »Dreimal die Woche.«

»War die Strecke die Zugfahrt wert?«

Sie streckte ihre Arme hoch in den dunklen Nachthimmel, schwang die Beine aus und verzog den Mund über den Schmerz, den ihr die Bewegung bereitete. »Auf jeden Fall – behaupte ich zumindest jetzt noch. Wie könnte man einen beschissenen Tag auch besser beenden als mit dem spirituellen Tod? Das wird eine verdammt üble Heimfahrt.«

»Ich fahr dich«, bot Itachi an. »Ich muss sowieso zurück in die Innenstadt.«

»Klar, gerne«, nutzte sie das Angebot schamlos aus. »Ihr Anzugtypen macht echt nie Feierabend, oder?«

»Selten.« Er deutete gegen den Appartementkomplex, vor dem sie angekommen waren. »Ich muss allerdings vorher duschen.«
 

 

Ino wusste nicht, ob sie enttäuscht oder erleichtert sein sollte, dass Itachi offenbar keine Hintergedanken gehabt hatte, als er sie mit nach oben in sein Appartement genommen hatte. Schande. Nicht, dass sie nach der körperlichen Anstrengung irgendendetwas zustandegebracht hätte. Ihr ganzer Körper schmerzte, aber wenigstens dachte sie endlich an etwas anderes als diesen verdammten Drehtag.

Itachis Küche war auch viel interessanter. Groß und hochwertig wie sie war, sah sie nicht aus, als hätte er schon jemals auch nur Wasser darin aufgekocht. Die Einrichtung im Wohnzimmer war ebensp luxuriös und langweilig wie in Sakuras und Sasukes Wohnung. Wahrscheinlich war Mikoto auch hier als Innenarchitektin tätig gewesen war. Wo Sakura jedoch ihren eigenen verspielten Stil mit Zierkissen und Vorhängen eingeschoben hatte, war von Itachis Geschmack nicht viel zu sehen, falls er überhaupt einen für Möbel hatte. Für Kleidung auf jeden Fall. Als er aus dem Bad zurückkam, trug er einen seiner Designeranzüge, diesmal verziert mit Manschettenknöpfen.

»Schick«, kommentierte sie. »Sag bloß, du gehst noch aus.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob eine Spendengala als Ausgehen zählt.«

»Klingt jedenfalls furchtbar öde.«

»Ist es leider auch.« Im Vorbeigehen nahm er die Autoschlüssel vom Vorzimmerkästchen und hielt ihr die Tür auf. Auf dem Weg nach unten in die Tiefparkgarage skizzierte er den typischen Ablauf solcher Veranstaltungen, die nur zum Netzwerken da waren und oft mehr nervten als sie etwas brachten.

»Reich sein ist ja so hart«, seufzte Ino sarkastisch und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. »Wie überlebst du das nur?«

»Der Lebensstil bringt zumindest andere Arten von Problemen mit sich«, korrigierte er, als hätte sie ihre Frage ernst gemeint.

»Jaja, ich weiß«, winkte sie ab. »Arm oder reich, ist unsere Existenz allein nicht schon Leid genug für unsere zerstreuten Seelen?«

»Das klingt wie ein furchtbares Zitat.«

»Eine meiner Zeilen aus dem Drama, in dem ich mitspiele«, schnaubte sie. »Irgendwie mussten sie die Folge auf fünfzig Minuten kriegen. So eine sinnlose Serie, wirklich.«

»Sind die meisten Filme nicht irgendwie sinnlos?«

Inos zuckte die Schultern. »Nur so sinnlos wie jede andere Form von Kunst oder Kultur. Was ich meine, ist, jeder sehenswerte Film hat etwas, das er besonders gut macht. Das muss nicht die Handlung sein, es können auch Lichttechnik, Filmmusik oder Spezialeffekte sein. Niemand sollte einen Film drehen, um Zeit totzuschlagen. Was ist das sonst für ein Anspruch?«

»Du bist mit deinem Urteil sehr streng«, sagte Itachi, während er auf die Autobahn auffuhr. »Ich nehme an, die Filme, die du in Amerika gedreht hast, waren anspruchsvoller?«

Um Längen!, wollte Ino rufen, doch das erste Beispiel, das ihr einfiel, war dieser pseudointellektuelle Versuch, die Beziehung zwischen einem alten Mann und einer jungen Frau abzubilden. Der Film war ein Desaster gewesen, Kritiker hatten ihn zurecht in der Luft zerfetzt. Auch das zweite Beispiel war nicht besser. Alle ihre letzten Filme waren erfolglose Indiestreifen gewesen, produziert von prätentiösen Leuten mit einem ach so empfindsamen künstlerischen Anspruch. Aber es hatte Spaß gemacht, zu experimentieren, über die Strenge zu schlagen.

Mit geschürzten Lippen rutschte sie im Autositz ein wenig nach unten. »Fein. Erwischt. Das entschuldigt aber nicht die japanische Filmindustrie.«

»Das würde ich niemals verlangen«, meinte Itachi, ein leichtes Lächeln auf den Lippen.

Ihre Ausfahrt kam viel zu schnell, ihr Häuserblock auch. Itachi hielt nur kurz an, um sie aussteigen zu lassen, und war schneller weg als sie einen anzüglichen Witz machen konnte. Dieser Mann machte sie fertig. Da saß ein verschwitztes Model neben ihm und er fuhr einfach weg, ohne auch nur irgendwas zu versuchen. Ein Rätsel.

Ihre Enttäuschung wusch sie unter der Dusche hinfort, zusammen mit dem trockenen Schweiß. Zurück blieb das angenehme Gefühl ausgelaugter Muskeln, die sich bei jedem Schritt meldeten. Mit wohligem Schmerz kollabierte sie auf ihr Bett, die nackten Beine von sich gestreckt, um ihren Körper ein übergroßes Shirt der L.A. Rams –

Und wurde von ihrer Türglocke aufgeschreckt.

Es dauerte eine Sekunde, bis Ino realisierte, dass es ihre Glocke war. Manchmal klingelte der Postbote, wenn sie mal wieder Kleidung oder Schnickschnack aus dem Internet bestellt hatte, aber für Paketlieferungen war es definitiv zu spät. Skeptisch robbte sie aus dem Bett und tapste auf müden Beinen zur Tür. Ein kurzer Blick durch den Spion offenbarte, »Sakura!«

Sie hatte Sarada auf dem Arm, eine Reisetasche in der Hand, und versuchte zu lächeln, obwohl ihre Lippen zitterten und ihre Augen feucht im Schein der Außenlampe glitzerten.

»Hey. Kann ich für ein paar Tage hierbleiben?«

Wortlos ließ Ino sie eintreten. Ein Plätzchen für Sarada und Sushi-chan im ungenutzten Gästezimmer war schnell gefunden, dann verschwand Sakura für einige Minuten ins Bad. Indes warf Ino den Wasserkocher an, schaltete ihn wieder aus und holte eine Flasche Rotwein aus dem Regal. Betrachtete sie argwöhnisch und tauschte sie gegen Whiskey. Sie hatte keine Whiskeygläser, Wassergläser würden reichen.

Sakura ließ sich Zeit im Bad. Das Wasser lief länger als eine ausführliche Gesichtsreinigung erforderte, trotzdem sah sie ermattet und erledigt aus, als sie im Pyjama wieder nach draußen trat, auf einem Abstecher ins Gästezimmer nach Sarada sah, und schließlich verloren im Wohnzimmer stehenblieb.

»Sexy«, meinte Ino und nickte gegen die grüne Flanellhose und das bedruckte Bandshirt, die beide wie Kartoffelsäcke um Sakuras athletische Figur hingen. Fragend hob sie die Whiskeyflasche hoch. »Sieht aus, als wäre mal wieder Zeit für die Sasuke Uchiha Diät, hm?«

»Daran kannst du dich noch erinnern?«

Und ob Ino das konnte. Nach ihrem Schulabschluss hatten sie zwar nur für ein Jahr zusammen in einer kleinen Wohngemeinschaft in Tokio gewohnt, aber selbst in der kurzen Zeit hatte Sakura viel zu häufig wegen Sasuke geweint. Ino reichte ihr das Glas. »Ich bin eher verwundert, dass du dich erinnern kannst.«

Sakura leerte den Whiskey in einem Zug, schüttelte wild den Kopf über den harten Alkohol und entließ einen kleinen Aufschrei. »Genauso scharf wie damals, Himmel! Schenk nach.«

»Sicher? Morgen ist ein Werktag.«

»Ist mir egal. Alles. Meine Arbeit, meine Schwiegereltern, mein Ehemann. Und jetzt heul ich auch noch wegen ihm.« Mit ihrem Ärmel versuchte sie die aufkommenden Tränen zu beseitigen. Es funktionierte nicht.

»Was ist passiert, Sakura?«

»Nichts Besonderes. Das ist es ja … tagein, tagaus jedes Mal dieselben Ausreden, jedes Mal dieselben Vorwürfe. Aber heute … ich weiß nicht.« Sie schüttelte den Kopf, seufzte resignierend. Die Tränen waren schneller versiegt als sie erwartet hatte. Zurück blieb herbe Enttäuschung. Resignation. »Ich hab mein Leben lang auf ihn gewartet und jetzt sind wir verheiratet, haben ein Kind zusammen, und ich warte immer noch. Ich kann einfach nicht mehr.«

»Kann ich verstehen«, murmelte Ino, ertränkte ihr aufkommendes Seufzen in einem großen Schluck Whiskey. »Weiß Sasuke, dass du hier bist?«

»Als würde ihn das interessieren.«

»Schreib ihm wenigstetens, dass du hier bist. Auch wenn du wütend bist, sollte er zumindest wissen, dass es euch gutgeht.«

Sakura schniefte und verzog widerwillig den Mund. »Verdammt, seit wann bist du so erwachsen?«

»Alles Fassade. Jetzt trink. Damit wird’s besser, ich versprech’s.«

Es war eine Lüge, die sie beide zu gerne annahmen.
 

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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Clarys
2019-06-11T10:46:41+00:00 11.06.2019 12:46
Hey :)
Mal wieder ein super schönes Kapitel!
Ich muss wirklich zugeben, dass mich deine FF stimmungsmäßig immer total mitreißt.
Ich fühle mich dabei immer etwas traurig, weil hier so die schlechten Seiten des Lebens aufgezeigt werden.
Ich hoffe sehr, dass das noch eine positivere Wendung nehmen wird.
Aber allein das du es schaffst mich so mitzunehmen ist schon grandios! :)
Lg Clarys
Von:  franny
2019-06-10T19:21:11+00:00 10.06.2019 21:21
Klasse Kapitel!!!
Endlich hat es sakura geschafft abzuhauen... Ich hoffe sie verzeiht ihm nicht so schnell und er kapiert es jetzt mal.

Freu mich auf das nächste Kapitel. Mach weiter so.
Lg Franny
Von:  Annasche
2019-06-10T12:17:27+00:00 10.06.2019 14:17
Wieder ein sehr gutes Kapitel!
Das tut mir wirklich leid für Ino, dass sie so absolut unzufrieden mit dem Job ist. Klar kann nicht alles glatt laufen... Aber dasa sie da so abgebremst wird... Mal sehen, ob sich die Joggingrunden mit Itachi auszahlen werden.
Ja... Sakura und Sasuke... Es wundert mich nicht, dass Sakura vor der Tür stand. Sie tut mir so leid!
Wie bereits gesagt, finde ich deine kleinen Zeitsprünge sehr schön! Gerade wieder der von Saradas Geburt! Wirklich wunderschön, auch wenn er etwas frustrierend begonnen hatte.


Von:  Kleines-Engelschen
2019-06-10T11:30:05+00:00 10.06.2019 13:30
ein tolles kapitel. ino hat also nicht ganz die wirkung auf itachi die sie sich wünscht.. und sakura hat einen strich gezogen. mal sehen wie sich das weiterentwickelt :D
weiter so

greetz


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