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Kein Ausweg - Wenn dir nicht einmal mehr die Sterne leuchten

Winterwichteln 2018
von

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3

Melina hielt mit dem Beziehen ihres Bettes inne, als sie das Klimpern von Schlüsseln vernahm.

»Lina?« Everlys Stimme wehte in sanften Tönen durch die Wohnung. Ihre Schritte waren langsam, beinahe vorsichtig. Die Anspannung fiel von ihr ab, sobald Everlys Blick auf die Gesuchte fiel. »Hier steckst du. Ist alles in Ordnung? Deine – Nachricht ...«

Doch Melina wandte leicht den Kopf und ließ den duftenden Bettbezug sinken. »Entschuldige, dass ich dir erst so spät Bescheid gesagt habe.«

Everly wischte die gefallenen Worte mit einem Wink beiseite. Melina spürte, wie ihr die Mundwinkel leicht zuckten. Der stummen Aufforderung Everlys folgend, verließ sie ihr Schlafgemach.

Der Weg führte sie von der Küche ins warme und einladende Wohnzimmer. Doch noch immer behielt Melina ihre Gedanken bei sich. Sie würde Everly die Zeit einräumen, die es brauchte, sich zu ordnen und ein offenes Ohr für sie bereitzuhalten.

Bevor sich Everly in den alten Sessel fallen ließ, zog es sie nochmals in die Küche. Gläser klirrten leise. Melina spitzte die Ohren und bemerkte die typischen Laute einer sich öffnenden und wieder schließenden Kühlschranktür. Fast geräuschlos tapste Everly über das Laminat, kehrte in den Wohnbereich zurück und platzierte eine Flasche Weißwein, sowie zwei Gläser, auf den kleinen Couchtisch.

»Keine Schokolade?« Melinas helle Brauen hüpften gen Norden.

Everly zog die Unterlippe zwischen die Zähne, ehe sie den Kopf von links nach rechts wandte. »Nein, ich glaube, wir brauchen heute Abend etwas Stärkeres als das.«
 

»Also, erzähl' mir alles!«, wieder schraubte sie sich in den Sessel, winkelte die Beine an und nippte an dem Glas Wein, ehe Everly das Gesicht verzog. »Warum haben wir den eigentlich noch?«, verlangte sie mit Blick auf die Flasche gerichtet.

Beide waren den Genüssen alkoholischer Getränke nicht sehr zugeneigt und dass diese einsame Flasche ihr Dasein in den Tiefen des Kühlschranks fristete, war Everly selbst geschuldet. Der edle Tropfen war einem Präsentkorb der vorjährigen Weihnachtsfeier beigelegen und fortan kühl und dunkel gelagert.

Da Melina nichts dazu beizutragen hatte, wandte sich die junge Frau erneut an sie.

»Waren die zwei wenigstens heiß?« Das amüsierte Lächeln auf den Lippen, sollte Melina aus der Reserve locken, und zu Everlys Überraschung glückte es ihr.

»Everly!«, empört kräuselte Melina die Nase.

»Ich meine es ernst. So ein schicker Typ in Polizeiuniform ...« Everlys Gedanken drohten abzuschweifen.

»Nein, es waren nur zwei ordentlich gekleidete Herren, die in diesem Pfuhl der Sünde und des Boshaften für Recht und Ordnung sorgen.«, erklärte Melina entrüstet und belustigt zugleich.

Everlys erhobene Augenbraue ließ Melina leise kichern. »Offenbar hast du viel Zeit gehabt, deinen Kopf in irgendwelche zwielichtige Romane zu stecken. Oder hast du dir etwa, während meinerAbwesenheit, wieder einmal zu viel Criminal Intent angesehen?«

Aus dem Kichern ihrer Mitbewohnerin wurde ein befreites Auflachen, doch die Heiterkeit Melinas verebbte schnell. Everly bemerkte den Sinneswandel, da ihre Miene binnen weniger Sekunden von erheiternd auf betroffen umsprang. »Was ist passiert? Was wollte die Polizei von dir?«
 

Die Nachricht über den Tod einer Fremden löste bei allen, die diese Neuigkeit aufnahmen, ganz offenbar ein und dieselbe Reaktion aus.

Wie Mrs. Mountgomery nur wenige Stunden zuvor, hatte auch Everly sichtlich Mühe, Schock und Argwohn auseinanderzuhalten. Melina wich dem tadelnden, prüfenden Blick ihrer Freundin aus, dennoch wusste sie, dass Everly zu den letzten Personen gehörte, die ihr eine solche Tat zutraute.

Schwer waren ihr die Worte von den Lippen gewichen, doch Melina würde ihr jedes noch kleine Detail berichten, was das Gespräch mit den Beamten anbelangte.

Den grauenerregenden Anblick der Leiche versuchte Melina auszusparen. Einzig, dass man ihr Einblick in das Bildmaterial gewährt hatte, berichtete sie.

Schweigend hatte Everly den Vorkommnissen gelauscht, vermochte sich jedoch, ebenso wie Melina, keinen Reim auf Tat, Tathergang oder Täter machen.

»Ich bringe dir Morgen etwas Starkes mit, zur Beruhigung«, verkündete Everly und leerte das Glas Wein innerhalb eines Wimpernschlages. »Und mir auch!«

»Was soll ich jetzt tun?« Hilflos sah Melina, von ihren im Schoß ruhenden Händen, auf.

»Geh', wie von den Polizisten verlangt, aufs Revier und mach' deine Aussage. Du hast nichts verbrochen, dir nichts vorzuwerfen, Lina.« Everlys Aufmunterung quittierte Melina mit einem sparsamen Lächeln. Everly ließ knapp ihre verspannten Knochen knacken. »Okay, Lina, sieh' zu, dass du ins Bett kommst!«

Doch diese verharrte reglos.

»Ich habe Angst. Was wenn -«, begann sie und suchte Everlys Blick.

»Lina, deine Träume haben absolut nichts damit zu tun!«, fiel Everly in die beängstigenden Gedanken Melinas ein.

»Und wenn doch? Sie wurde in einer Gasse gefunden. Einer Gasse«, das letzte Wort drang hohl und spitz aus ihrer Kehle hervor.

»Lina, bitte, krieg' jetzt keinen hysterischen Anfall!«, beschwor Everly sie, um einen möglichen Ausbruch abzuwenden. Doch was vermochten Worte gegen eine Flut an Emotionen ausrichten?

»Gabriella Sumners wurde in einer Gasse entdeckt!« Melina presste jene Tatsache zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Lina, das war vor zwei Tagen« Everly hob abwehrend die Hände. »Dein Traum, von letzter Nacht, kann nicht -«

»Und was ist … mit den anderen?« Plötzlich wurde die Miene Melinas sanft, ergeben. »Sie hatte eine Tochter, verstehst du? Ein kleines Mädchen, einen Mann. Sie hatte eine Familie.«

Ihr Schluchzen durchbrach die aufgewühlte Atmosphäre, während stumme Tränen ihre geröteten Wangen hinabrollten. »Eine Familie«, wimmerte Melina und spürte ein jähes Zittern, das ihren gesamten Körper in Beschlag nahm. »Wie die anderen ...«

»Lina, bisher gab es keinerlei Anhaltspunkte, dass deine Träume etwas mit -«, hob Everly an. »Etwas mit dem möglichen Verschwinden von Frauen zu tun hätten.«

»Dann … dann war es nicht sie«, hauchend krochen ihr die Worte die Kehle empor. »Versteh' doch, Evie! Diese Träume, sie sind -«

»Was? Was sind sie? Vorahnungen? Warnungen? Hilferufe?« Die Stimme Everlys zierten weder Spott, noch Besorgnis, oder Schrecken. Unruhe traf es eher.

Melina sackte auf dem Sofa zusammen, fuhr sich mit bebenden Händen über das Gesicht und strich das strähnige, blonde Haar zurück.

Tief sog Everly die Luft ein. »Lina, Süße, hör' mal. Du weißt, dass ich bei allem, was du tust, hinter dir stehe«, sagte sie, bog ihre Lippen zu einem erzwungenen Lächeln hinauf. »Aber wie lang begleiten dich diese Träume bereits? Seit deinem siebten Geburtstag, richtig?«

Schweigend nickte Melina. »Begleiten? Wohl eher heimsuchen.« Ein abfälliges Schnauben unterstrich ihre wütenden Worte. »Ich bin es so leid.«

»Dann such' dir Hilfe.« Everlys Miene wurde ernst. »Und damit meine ich keinen Psychiater! Irgendwo, in dieser verdammten Stadt, muss es doch jemanden geben, wie -«

»Was?«, ein hohes, hohles Lachen entkam Melinas Lippen. »Einen Geistlichen? Einen Schamanen

Everly hob pikiert eine Augenbraue empor. »He, du bist die mit der verheißungsvollen und regen Fantasie.«
 

Auf Everlys Rat hin, genehmigte sie sich zwei Baldrian-Pillen, die sie noch in der Hausapotheke fand, und die ihr hoffentlich Ruhe und Schlaf versprachen. Ein sauberes, frisch bezogenes Bett, Tabletten und die Wohlfühlatmosphäre ihres Zimmers sollten ihr eine angenehme Nacht verschaffen. Und tatsächlich waren die Stunden von einer Traumlosigkeit erfüllt, die Melina so sehr herbeisehnte. Doch wie sollten die raren Minuten in Dunkel und Schweigen gegen ein Leben voller Angst ankämpfen?

Everlys Worte, gepaart mit den Erinnerungen ihrer Kindheit, lotsten sie in einen Nebel, der Alles und Nichts für sie bereithielt.

In der Nacht des einunddreißigsten Oktober, sieben Jahre nach ihrer Geburt, hatten sich ihr die Träume zum ersten Mal offenbart.

Kleine, versteckte Botschaften.

Illusionen, Fantasie, Hirngespinste, die mit dem Alter deutlicher, klarer wurden.

Sie hatte all das nicht gewollt. Wollte nicht sehen, nicht erkennen, was geschah, oder noch geschehen sollte.

Menschen wurden geboren, und wenn ihnen nur ein Wimpernschlag blieb, so lebten sie.

Doch zu leben war schwer, für die einen mehr, für andere weniger.

Leben bedeutete Kampf.

Ein Krieg um Tränen, Freude, Lachen, Wut, Missverständnisse ...

Und wenn der Augenblick des Abschieds gekommen war, ob erzwungen, selbst gewählt oder durch des Zufalls Hand, blieb immer etwas zurück. Liebende, Trauernde, Erinnerungen, gut wie schlecht.

Immer glitten ihr die glücklichen, positiven Versionen durch die Finger, waren nicht zu fassen und es blieb nur die Finsternis, die Zerrissenheit zurück.

Dennoch gab es Nächte, in denen sie nichts sah, nichts spürte. Sobald sich Melina der Hoffnung ergab, diesen Erscheinungen entkommen zu sein, brachen diese wieder über sie herein. Nicht brachial, nicht mit Wucht. Schleichend, sich fast schmeichelnd annähernd.

Stets aufs Neue befand sie sich mit Verlust, Angst und Tod auf Kollisionskurs, sah das Unaussprechliche und ihr blieb jegliche Rettung verwehrt.

Es gelang ihr nicht, sich jemandem anzuvertrauen, nicht einmal ihrer Familie und auch nicht einem Fremden, der irgendwo, irgendetwas studiert hatte und sich zu der Meinung herabließ, ihr helfen zu können. Die Angst vor Spott und Unverständnis wurzelte tief. So hatte Melina gelernt, ihre Lippen zu verschließen und ihr Schicksal anzunehmen.

Zu oft war sie auf dem Grat zum Wahnsinn balanciert.

Als die Träume an ihrem vierzehnten Geburtstag schwanden, erfasste Melina eine nie dagewesene Erleichterung. Es gelang ihr, sich wieder auf die Schule zu konzentrieren, gute Noten zu schreiben und einen passablen Abschluss ihr Eigen zu nennen. Sieben Jahre Stille, dann kehrten die Visionen zurück. Weitere Jahre waren von Qual und Leid erfüllt. Obschon ihre Träume schwächer und undurchsichtiger wurden, blieb die Angst bestehen, jederzeit vom Grauen erfasst zu werden.

Und nun, da sie bereits einunddreißig Lenzen zählte, waren ihre Nächte nicht immer aufgewühlt, doch wenn dies geschah, dann umso drastischer. Sie stand jenen Augenblicken haltlos, machtlos gegenüber. Die Betäubung mit pflanzlichen Mitteln half nur mäßig. Doch in den letzten Nächten war etwas geschehen, etwas, dass sich ihr nicht erklärte:

Sie folgte einer jungen Frau durch eine Gasse hindurch. Hörte das bebende Herz in den Ohren hämmern, fühlte das Brennen in der trockenen Kehle.

Wieder und immer wieder

Es gelang ihr nie, Kontrolle über den Verlauf der Ereignisse auszuüben.

Sie war kein Zuschauer.

Sie war das Opfer.

Starr blickte Melina zur Zimmerdecke hinauf, doch diese schwieg sich aus. Kein Hinweis, der ihr Erklärung bot. Erst, als der Morgen von Neuem graute, und die Wirkung der Pillen nachließ, ergab sie sich dem Unvermeidbaren.
 

Everlys Lippen waren zu einem zaghaften, aber aufrichtigen Lächeln gebogen, als ihr Melina auf dem Weg ins Bad begegnete. »Guten Morgen. Und, konntest du ein wenig schlafen?«

Schweigend nickte Melina die besorgten Worte Everlys ab. Sie rieb sich die restliche Nacht aus den Augen, und vernahm das raue Kratzen ihrer übernächtigten Stimme, als sie zusprechen begann: »Evie, ich – ich habe nachgedacht. Über das, was du gestern gesagt hast.«

Diese zog eine dunkle Augenbraue empor. Der Blick, den sie ihrer Mitbewohnerin schenkte, war vorsichtig und von leichtem Argwohn durchsetzt.

»Das, mit den Hilferufen«, erklärte Melina und die skeptische Miene Everlys hellte sich auf.

»Ich hoffe, dass du dir deswegen aber nicht die halbe Nacht um die Ohren geschlagen hast?« Der kleine Tadel entfloh ihren Lippen, noch ehe sich Everly dessen gewahr wurde.

»Keine Sorge, nicht nur deswegen.« Melinas Erwiderung stellte die einstige Chemie-Studentin jedoch nicht zufrieden.

Schwer und tief seufzte Everly auf.

»Es tut mir leid, dass ich dich ständig damit reinziehe«, betreten senkte Melina den Blick.

»Lina!«, warnend linste Everly zu ihr auf. »Lass' den Blödsinn! Wir finden eine Lösung.« Dann glitt ihr Blick in Richtung Badezimmer. »Wolltest du heute aufs Revier?«

Das zerknirschte Bejahen ihrer Frage genügte Everly, die sich an einem aufmunternden heben der Mundwinkel versuchte. Sie tat einen Schritt beiseite und ließ Melina die gefliesten Räumlichkeiten betreten.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: Futuhiro
2019-02-14T16:50:20+00:00 14.02.2019 17:50
> ich glaube, wir brauchen heute Abend etwas Stärkeres
--> Yo, Weißwein. Verflucht starkes Zeug. XDDD Haben die Mädels keinen Vodka im Haus, oder so?

Dieses Kapitel macht sehr viel Atmosphäre und klärt schonmal eine Menge Fragen, ohne zuviel zu verraten. Das finde ich super, auch wenn handlungstechnisch erstmal nicht viel passiert. Solche "Aufklärungs"-Kapitel haben etwas sehr Erholsames. Man kommt als Leser selber zum Luftholen und kriegt den ganzen Wirrwarr etwas entstrickt. ^^
Antwort von: irish_shamrock
17.02.2019 12:55
Die Mädels sind leicht beeindruckbar, und mir fällt gerade auf, dass ich im 9. Kapitel auf Tequila anspiele ... Nun ja, ein kleiner Schwips kann nicht schaden ^^° ... Und je nach Verfassung mag auch vielleicht ein Glas Wein genügen, um Informationen zu verarbeiten :')

Ein wenig Luftholen tut doch gut, nicht? Und irgendwo muss das Mysterium ja einen Anfang haben :) ...


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