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RUN

They never stop catching you
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
αм тαg zυνσя Komplett anzeigen

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Kapitel 8

Shimizu wurde von weichen Sonnenstrahlen geweckt, die sich durch die Baumkronen einen Weg in ihr Zimmer suchten. Die linke Betthälfte war frischgemacht und seit zwei Wochen nicht angerührt worden - so lange streifte ihr Freund Tanaka jetzt schon wieder durch die Gegend.

Sie seufzte und setzte sich im Bett auf. Die Wände der Holzhütte waren hell angestrichen und die Möbel alle aus Rattan. Alles knarrte und quietschte, sobald man es berührte. Ein bezauberndes Geräusch, wie sie fand. Und es beruhigte sie, wenn das Ächzen und Stöhnen der Beißer in ihre Ohren vordrang.

Sie streckte sich einen kurzen Moment ausgiebig und schwang dann die Beine aus dem Bett.

Gleichzeitig tauchte ein schwarzer Haarschopf im Türrahmen auf.

»Guten Morgen – hast du gut geschlafen?«, fragte Ennoshita lächelnd.

Shimizu nickte. »Und ihr?«

»Narita und Kinoshita konnten mal wieder die Finger nicht voneinander lassen, aber ansonsten ging es. Wir hatten uns überlegt, heute das Rezeptionsgebäude und das Restaurant zu säubern und danach wollten wir schauen ob wir die Solaranlage nicht vielleicht wieder in Gang kriegen. Hilfst du uns?«

Das einzige Mädchen der Gruppe lächelte und nickte. Dann scheuchte Sie Ennoshita aus dem Raum, damit sie sich anziehen konnte.

Die Überlebenden von Karasuno hatten sich in einem leer stehenden Schulgebäude, das als Flüchtlingslager gedient hatte, wiedergetroffen. Als dieses überrannt wurde, waren sie zu sechst geflüchtet und nach wenigen Tagen auf dieses gut erhaltene Baumhaushotel gestoßen. Es war klein und hatte nur sechs Zimmer, was Shimizu vermuten ließ das es zu einem Hotelkomplex gehörte. Das Hauptgebäude stand mit Sicherheit in einer der nahegelegenen Städte. Mit großer Vorsicht hatten sie die einzelnen Zimmer durchsucht und nur in einem ein altes Ehepaar gefunden, was vermutlich im Schlaf von den Beißern überrascht wurde. Zwei von ihnen hatten sich anscheinend bis zum Hirn durchgefressen, denn die beiden rührten sich nicht einen Millimeter.

Nishinoya und Tanaka plünderten das kleine Restaurant am Eingang des Geländes und wollten anschließend weiterziehen. Doch der Rest der Gruppe empfand es als sicher genug und wollte hier bleiben. Und da die beiden Raufbolde überstimmt wurden, blieben sie.

Sie zerstörten die Treppen, die auf die Podeste führten und bauten sich Strickleitern. Dann beerdigten sie das alte Ehepaar, weil Shimizu fand, dass sie es verdient hatten würdevoll bestattet zu werden. Während die anderen die Löcher ausgehoben, wickelte sie Mann und Frau in ein sauberes Leinentuch. Sie bauten Kreuze aus Ästen und steckten sie in die zugeschütteten Gräber. Ennoshita sagte ein paar Worte und anschließend ließen sie den beiden ihre letzte Ruhe. Shimizu bezog das Bett neu, aber einziehen tat in das Zimmer niemand von ihnen.

Und mittlerweile versteckten sich die sechs schon seit fast zwei Monaten hier. Nishinoya und Tanaka brachen in regelmäßigen Abständen zu Wandertouren auf – manchmal nahmen sie Ennoshita mit, wenn dieser es nicht mehr in der Nähe der anderen aushielt. Zum einem um die Umgebung zu erkunden und zum anderen, um Lebensmittel zu finden. Shimizu ging den lieben langen Tag haushälterischen Pflichten nach und der Rest kümmerte sich um die Instandhaltung und Tarnung des Baumhaushotels. So hatten sie die letzten Wochen, Tag für Tag relativ friedlich hinter sich gebracht.

Wenn sich Beißer in die Nähe des Baumhaushotels verirrten, dann sammelten sie sich alle zusammen in einem der Zimmer und zogen die Strickleitern hoch. Die meisten zogen von alleine weiter, nur ein paar mussten sie erledigen und verbrennen.

Doch heute war etwas anders. Das spürte Shimizu sofort, als sie ihr Zimmer verließ und die Jungs ansah, die auf dem Podest neben ihrem standen. Sie setzte ein unechtes Lächeln auf, weil sie nicht wollte, dass die anderen etwas von ihrer Anspannung bemerkten.

Sie hatte einmal erlebt, wie eine Menschenmasse in Panik ausgebrochen ist. Alles war hektisch und chaotisch und unkontrolliert. Kinder haben geschrien, Menschen habe andere Menschen ohne Rücksicht auf Verluste niedergetrampelt. Die Leute drückten sich gegenseitig gegen die Türen des Schulgebäudes und schubsten sich. Shimizu wurde in den Strom hineingezogen und hatte sich schon einen Erstickungstod sterben gesehen. Doch dann hatte Tanaka laut nach ihr geschrien und sich zu ihr zugekämpft. Er hatte sie gerettet und war mit ihr und den anderen aus dieser Hölle verschwunden.

Sie retteten sich auf eine Brücke ganz in der Nähe und mussten mit ansehen wie ihr Flüchtlingscamp in Flammen aufging – vermutlich, weil die verbleibenden Soldaten keine andere Möglichkeit gesehen hatten. Sie hörten die Schreie der sterbenden Menschen selbst über die große Entfernung laut und deutlich.

Noch heute verfolgten sie Shimizu bis in den Schlaf. In manchen Nächten wachte sie schweißgebadet auf und konnte danach nicht wieder einschlafen.

Sie ging zu ihren Freunden hinüber und bat sie schon einmal vorzugehen, denn sie hatte noch etwas zu erledigen. Die drei Jungen nickten und stiegen die Strickleiter an ihrem Podest hinab, während Shimizu sich zu der Hütte ganz am Ende aufmachte.

Die Tür knarrte, als sie sie leise öffnete. Die Rollläden waren hinabgelassen und ließen keinen einzigen Sonnenstrahl in den kleinen Raum eindringen. Eine Spur aus brennenden Kerzen führte sie zum Bett, auf dem kleine und größere Steine verstreut lagen. Auf jedem stand ein Name – Namen die zu Personen gehörten, von denen Shimizu glaubte sie nie wieder lebend zu sehen. Namen von Personen, die Shimizu für Tod hielt. Namen von Personen, die Shimizu dennoch schrecklich vermisste.

Sie kniete am Fußende des Bettes nieder, senkte den Blick und faltete die Hände.

Shimizu glaubte an keinen Gott und sie war auch nicht der Meinung, dass es so etwas wie eine höhere Macht gab. Aber sie wusste, dass ein paar ihrer vermissten Freunde daran glaubten und deswegen betete sie jeden Morgen nach dem Aufstehen für sie. Sie betete dafür, dass es ihnen gut ging und das sie einen sicheren Ort gefunden hatten, an dem sie überleben konnten. Danach zündete sie für jeden Stein auf dem Bett ein Teelicht an, stand auf und zog die Tür des Raumes leise hinter sich zu.

Als sie heute den Raum verließ, dachte sie auch an Tanaka und Nishinoya und hoffte, dass ihnen nichts geschehen war.

Sie ging zu den anderen, die sich bereits um die Cafeteria und das kleine Rezeptionsgebäude gekümmert hatten. Alle drei hatten ein Lächeln auf den Lippen, was bedeutete, dass sich kein Beißer dorthin verirrt hatte. Das zauberte auch Shimizu ein Lächeln auf die Lippen. Jeder Beißer war mal ein Mensch gewesen, hatte eine Familie die er beschützen wollte, hatte Freunde die er vermisste. Sie einfach als Monster abzutun käme Shimizu nie in den Sinn. Und deswegen fand sie nicht nur den Tod von Menschen grausam. Auch jeden Beißer den sie eigenhändig erledigen musste, bedauerte sie.

»Schau mal was ich neben dem Computer gefunden habe!«, sagte Ennoshita und hielt ein dickes Heft hoch. »Die Bedienungsanleitung für die Solaranlage – das sollte uns helfen sie zu reparieren!«

»Klasse», freute sich Shimizu ehrlich. Denn die reale Aussicht auf Storm und warmes Wasser, füllte sie mit derselben Freude, wie ein Kind an Weihnachten.

Gemeinsam stiegen die vier an der Rückseite des Rezeptionsgebäudes aufs Dach wo sich die Solarzellen befanden. Sie waren alle nach wie vor in einem tadellosen Zustand. Wind und Wetter hatten ihnen bisher nichts anhaben können.

Zusammen mit Narita fegte Shimizu ein paar heruntergekommene Äste und Blätter von den Paneelen, während Ennoshita und Kinoshita die Anleitung studierten.

»Oh«, vernahm Shimizu plötzlich einen der Jungs, »das wird nicht so einfach wie ich gedacht hatte. Dafür brauchen wir Zeit!«

»Dann nehmt sie euch – unbedingt darauf angewiesen sind wir ja nicht«, sagte Shimizu.

Narita nickte zustimmend.

»Und was wollt ihr währenddessen machen?«, fragte Ennoshita stirnrunzelnd.

»Ich überziehe die Betten. Ich habe schon letzte Woche in der Rezeption frische Bettwäsche gesehen und ich finde für einen Wechsel wird es langsam Mal Zeit!«, antwortete Shimizu.

»Und ich werde nach Beißern Ausschau halten – irgendeiner muss es ja machen!«

Kinoshita und Narita gaben sich einen Kuss, als würden sie sich jetzt wochenlang nicht mehr sehen. Dann stiegen Shimizu und Narita die Leiter wieder hinab und gingen ihren Aufgaben nach.
 

Als die Sonne schließlich unterging, schaltete Shimizu an der mittleren Hütte die Batteriebetriebene Lichterkette an, die sie gemeinsam aufgehängt hatten. Anschließend begann sie in der Hütte, dass Abendessen zuzubereiten. Es fiel – wie bereits die letzten Tage – ziemlich karg aus. Reis und Dosenfisch, der langsam anfing komisch zu schmecken. Shimizu wusste nicht ob das nun so war, weil sie das exakt selbe Gericht fünf Tage in Folge gegessen hatten oder weil der Fisch langsam schlecht wurde. Aber sie beschloss es darauf ankommen zu lassen und machte vier Schüsseln fertig.

In dem Moment, in dem sie den kleinen Gaskocher ausschalten tat, kamen auch die anderen zurück zu den Hütten.

»Ein verdammt kompliziertes Teil diese Anlage«, meckerte Ennoshita, als er sich im Schneidersitz auf der ausgelegten Picknickdecke fallen ließ.

»Ja, aber ich denke morgen schaffen wir es sie wieder zum Laufen zu bringen!«, entgegnete Kinoshita überzeugt.

Shimizu reichte ihnen zwei Schüsseln und ließ sich ihnen gegenüber nieder. »Was habt ihr denn herausgefunden?«, fragte sie interessiert.

Sie war nicht wirklich neugierig und auch nicht aufgeregt. Sie wollte einfach nur die einsamen Gedanken aus ihrem Kopf vertreiben.

»Wir wissen jetzt was alles an die Solaranlage angeschlossen ist und welche Kabel wir kappen können, weil wir die Dinge nicht benötigen. Der Computer in der Rezeption ist zum Beispiel nicht wichtig, genauso wie die Lampen dort und in der Cafeteria. Um so mehr unnötiger Stromverbrauch vermieden wird, umso mehr haben wir für die Hütten!«, antwortete Ennoshita altklug. Dann schwieg er, weil er damit beschäftigt war sein Essen zu verschlingen, als hätte er seit Tagen nichts mehr zu sich genommen.

Kinoshita nickte kurz zustimmend und tat es seinem Freund dann gleich.

Shimizu ging mit ihrem Mahl weniger rabiat zu. Statt es in sich hineinzuschlingen, genoss sie Bissen für Bissen. Auch wenn ihr der Geschmack langsam zum Hals heraushing.

Als die drei schon fast fertig waren, stieß Narita zu ihnen. Er berichtete kurz davon, dass heute Nacht vermutlich fünf Beißer das Hotel streifen würden, aber keine größere Menge zu sehen war. Dann ließ er sich von Shimizu seine Schüssel geben und schlang den Reis und den Fisch ebenfalls wie ein Irrer hinunter.

Nachdem sie alle ihre Mahlzeit beendet hatten, spülte Shimizu in der Hütte die Teller. Ennoshita und Kinoshita teilten auch Narita ihre Erfolge mit der Solaranlage mit und danach holten sie sich eine Flasche Sake aus ihren Vorräten. Es fiel ihnen nicht schwer das bittere Gebräu zu schlucken und zu genießen.

Shimizu beteiligte sich nie an diesen Runden. Sie fand es furchtbar was der Alkohol mit Menschen anstellte und sie fand auch, dass man den Missbrauch von diesem nicht mit den aktuellen Umständen argumentieren konnte. Aber wenigstens schliefen die drei wenigstens ruhig, wenn sie eine ganze Flasche von dem Zeug getrunken haben, dachte Shimizu beruhigt und verabschiedete sich lächelnd von ihren Freunden.

Diese reichten die Flasche bereits eifrig umher und nahmen keine Notiz von ihr. Dieses Verhalten bestätigte Shimizus Meinung nur und schnaufend zog sie sich in ihre Hütte zurück.

Als sie sich auszog und alleine unter die Decke kroch, wurde ihr wieder bewusst wie schmerzlich sie Tanaka vermisste. Und während das Lachen der anderen an ihre Ohren drang und sie an Tanaka dachte schlief sie schließlich ein.
 


 

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Als Shimizu am nächsten Morgen erwachte, lag sie immer noch alleine im Bett.

Wäre auch zu schön gewesen wenn er heute Nacht zurückgekehrt wäre, dachte sie bitter. Dann schwang sie die Decke bei Seite und die Beine aus dem Bett. Wie gestern zog sie sich an und ging dann in die mittlere Hütte, die so etwas wie der Gemeinschaftsraum war.

Sie bog um die Ecke und trat beinahe auf Narita, der es letzte Nacht nicht mehr in sein Bett geschafft hatte. Er hatte sich zusammengerollt und schlief tief und fest. Shimizu verdrehte verärgert die Augen und hob die leere Glasflasche auf. Mehr als einmal hatte sie schon mit dem Gedanken gespielt, dass abscheuliche Zeug einfach wegzuschütten. Doch immer wenn sie daran dachte, dann musste sie auch daran denken dass der Alkohol diese Welt erträglicher machte – zu mindestens für Narita, Ennoshita und Kinoshita. Auch wenn es nur für ein paar Stunden war und sie danach immer höllische Kopfschmerzen hatten, half es ihnen über die schweren Umstände hinweg.

Shimizu ging in die Hocke und schüttelte Narita sanft an der Schulter. Der grummelte nur.

»Geh ins Bett und schlaf deinen Rausch dort aus, hier liegst du nur im Weg«, flüsterte sie und rüttelte dann mit etwas mehr Druck an ihm.

Dieses Mal öffnete Narita die Augen, sah sie einen kurzen Moment so an, als wäre sie der Teufel in Person. Dann gähnte er, stand auf und schlürfte in Richtung seiner Hütte davon.

Shimizu seufzte schwer. Sie hoffte nur es würde bald kein Alkohol mehr übrig sein. Sie wollte mit niemandem durch die Weltgeschichte reisen der Tag und Nacht betrunken war.

Das einzige Mädchen der Truppe beseitigte das Chaos der Jungs. Dann ging sie in die Hütte am Ende des Konstrukts, betete und zündete neue Kerzen an.

Nachdem sie auch diesen Punkt auf ihrer Check-Liste abgehakt hatte, setzte sie sich an den Rand der Plattform, ließ die Beine baumeln und starrte den dunklen, weiten Wald an. Sie hoffte Tanaka und Nishinoya würden um die Ecke kommen und dieses Mal länger als zwei Tage bei ihnen bleiben.

Doch Shimizu wurde noch im selben Moment, in dem sie den Gedanken begonnen hatte, klar wie absurd er war. Denn so wie Narita, Ennoshita und Kinoshita diese Welt im Alkohol ertranken, taten es Nishinoya und Tanaka in ihren Wandertouren. Sie brauchten die Freiheit, das Adrenalin. Sie wollten sich selbst beweisen, dass sie es schaffen würden – dass sie in so einer Welt überleben können. Doch stattdessen brachten sie sich bei jeder ihrer Touren in Größere und noch Größere Gefahr. Die Dinge die Ennoshita darüber erzählt hatte, waren erschreckend und beängstigend. Deswegen ging er auch nur noch selten mit.

Shimizu wünschte sich, sie wäre nicht die einzige Vernünftige hier. Sie wäre froh über jemanden wie Sugawara oder Tsukishima. Denn die wüssten sicherlich was zu tun wäre. Oder Daichi – der hätte nicht lange gefackelt und den Alkohol wirklich weggeschüttet.

Ermutigt von diesem Gedanken stand Shimizu schließlich auf und ging zur mittleren Hütte zurück. Dort fiel ihr die Bedienungsanleitung der Solaranlage ins Auge. Sie nahm sich vor sie nicht zu beachten und stattdessen neues Wasser für den Abwasch holen zu gehen. Doch während sie das saubere Geschirr wegräumte, glitt ihr Blick immer wieder zu dem Heft und nach ein paar weiteren Minuten beherrschte es ihr Gehirn. Sie ließ Teller, Teller sein und schnappte sich die Anleitung. Dann holte sie ihre Katana und stieg kurz darauf das Rezeptionsgebäude hinauf.

Sie brauchte eine halbe Stunde um die Anleitung zu lesen und eine weitere Stunde um sie zu verstehen. Dann sah sie sich den Schaltkasten auf dem Dach an.

Anschließend stieg sie die Leiter wieder hinab und suchte nach dem Sicherungskasten. Sie musste Kabel kappen, Sicherungen austauschen, gefühlte tausend Mal auf das Dach klettern und wieder hinunter.

Doch es lohnte sich. Denn als Ennoshita, Narita und Kinoshita kurz nach Sonnenuntergang aus ihrem komatösen Zustand erwachten strahlten sämtliche Lichter auf dem gesamten Gelände. Von der längsten Lichterkette bis hin zum kleinsten Hinweisschild. Die drei Jungs staunten, als würden sie das zum ersten Mal sehen.

Shimizu kletterte die Strickleiter empor und blickte in drei strahlende Gesichter.

»Wie hast du das gemacht?«, fragte Ennoshita beeindruckt. Und vielleicht war er auch ein kleines bisschen neidisch auf Shimizu, weil er das gestern nicht hinbekommen hatte.

»Es war ganz schön kniffelig«, gestand sie. »Ich musste viele Kabel zerstören und ein wenig hin und her probieren – aber es hat geklappt, nur das zählt!«

Narita hielt grinsend eine Flasche Sake in der Hand. »Darauf sollten wir trinken!«

Und heute trank ausnahmsweise sogar Shimizu mit.

Denn sie hatte eingesehen, dass es sich nicht lohnte in dieser Welt vernünftig zu sein.
 

Als der Mond ganz hoch am Himmel stand, waren Narita und Kinoshita schon längst in ihre Betten verschwunden. Sie flüsterten sich gegenseitig Liebesschwüre ins Ohr. Und wegen der Stille die im Wald herrschte, verstanden Ennoshita und Shimizu jedes Wort. Sie lehnte sich an seiner Schulter an und dann lauschten sie gemeinsam den sanften Worten ihrer Freunde.

»Ich vermisse die anderen«, flüsterte Shimizu.

»Wen? Tanaka und Nishinoya?«

»Sie alle«, antwortete Shimizu.

Und Ennoshita musste nicht nachfragen, um zu wissen wer damit gemeint war.

Er richtete seinen Blick in die Ferne, legte Shimizu einen Arm um die Schulter und antwortete: »Ich auch.«

Während Narita Kinoshita zum einhundertsten Mal in den vergangenen Minuten sagte, dass er ihn liebte, schliefen sie schließlich ein.
 


 

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»Bei diesem Anblick möchte man ja fast eifersüchtig werden!«

Verschlafen blinzelte Shimizu. Diese Stimme war unverkennbar und gehörte zu jemandem, dessen Gesicht sie beinahe vergessen hätte, wenn er noch einen Tag länger fortgeblieben wäre.

Sie rieb sich die Augen und wagte einen vorsichtigen Blick über den Zaun des Podestes hinweg. Aber sie täuschte sich nicht. Am Fuß des Baumes standen sie tatsächlich. Tanaka und Nishinoya. Braungebrannt mit dreckigen T-Shirts am Oberkörper und Dreck im Gesicht.

»Hintergehst du mich jetzt etwa meine Schöne?«

Shimizu sollte sauer auf ihn sein, weil er ihr versprochen hatte nie wieder so lange weg zu bleiben. Doch sie konnte ihm nicht böse sein, dafür vermisste sie sein Lachen und seine Wärme viel zu sehr.

Hastig befreite sie sich von Ennoshitas Arm, krabbelte zur Strickleiter und kletterte diese hinab. Tanaka hatte bereits seinen Rucksack fallen gelassen und die Arme ausgebreitet, als sie auf dem Boden aufsprang.

Shimizu schmiss sich ihrem Freund geradezu in die Arme, atmete seinen Duft ein, fühlte seinen Körper, küsste seine Lippen. Am liebsten würde sie ihn nie wieder los lassen.

»Ich hab dich so vermisst«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Denn das waren Worte, die für niemand anderen bestimmt waren, außer für ihn.

»Ich dich auch meine Süße«, antwortete er ebenso leise.

Und während das Liebespärchen sich beinahe besinnungslos küsste, wurde auch Ennoshita wach und konnte kaum glauben was seine müden Augen erblickten.

»Die Verschollenen sind zurück«, rief er lachend. »Hey Narita, Kinoshita – Tim und Struppi sind wieder da!«

Auch Ennoshita kletterte von dem Podest und umarmte erst Nishinoya und anschließend Tanaka, den Shimizu mal für einen kurzen Moment los ließ.

»Wir würden euch ja zu gerne alles erzählen, aber vorher müssen wir zum Waldteich und ‘nee Runde baden – wir stinken wie eine Müllkippe!«, sagte Tanaka müde.

»Das wird nicht nötig sein!«, drängte sich Shimizu in den Vordergrund. »Wir haben hier fließend Wasser.«

»Seit wann denn das?«, fragte Tanaka, der kaum glauben konnte was seine Ohren da hörten.

»Deine Freundin hat die Solaranlage repariert und deshalb geht auch die Pumpe im Wasserturm wieder. Und warmes Wasser haben wir auch!«, erzählte Ennoshita stolz.

Die Augen von Nishinoya und Tanaka weiteten sich, wie die zweier kleinen Kinder an Weihnachten. Während Nishinoya schon an der Strickleiter war, drückte Tanaka seiner Freundin einen dankbaren Kuss auf die Lippen. »Habe ich dir schon mal gesagt wie sehr ich dich liebe?«

»In den letzten zwei Wochen kein einziges Mal«, murmelte Shimizu leise.

Tanaka küsste sie, sagte ihr, dass er sie liebt und wiederholte die Prozedur zweimal. Dann folgte er Nishinoya und ließ eine lachende Shimizu zurück.

Die beiden Jungen genossen die Dusche, als hätten sie gerade das Feuer entdeckt. Sie duschten lang und ausgiebig und sie duschten weiter, noch lange nachdem das warme Wasser aufgebraucht war. Denn Wasser aus einem Duschkopf war etwas anderes als lauwarmer Regen.

Als sie anschließend wieder zu den Anderen stießen, waren auch Kinoshita und Narita aus ihrem Koma erwacht und begrüßten ihre Freunde voller Erleichterung.

Shimizu sorgte dafür, dass sie alle etwas Reis und Dosengemüse bekamen, während Tanaka und Nishinoya erzählten was sie gesehen und was sie erlebt hatten.

Plötzlich senkten sie beide betrübt den Kopf.

»Was ist los? Habt ihr einen von Ihnen gefunden?«, fragte Ennoshita alarmiert.

»Nein, wir haben keinen von uns gefunden, aber andere Menschen«, antwortete Tanaka.

»Die wollen uns nicht Gutes. Sie töten andere Überlende. Einen von ihnen mussten wir erschießen!«, fuhr Nishinoya fort.

»Und jetzt? Was wollen wir jetzt tun?«, entgegnete Kinoshita besorgt. Er griff nach Naritas Hüfte und schlang beschützend einen Arm um seinen Freund, weil er Angst hatte, ihm könnte etwas geschehen wenn er das nicht tat.

»Eigentlich wollten wir euch holen und dann sofort von hier verschwinden, weil es das sicherste wäre. Doch dann haben wir ein Wohnmobil, einen Van und einen Transporter über den Highway fahren sehen«, erzählte Nishinoya.

»So weit ich das beurteilen kann gehört der Konvoi nicht dazu und dient als Ablenkung. Ich hatte zwar nie gedacht, dass wir andere Menschen so bereitwillig opfern, aber wir wussten insgeheim alle, dass dieser Tag kommen würde!«, sagte Tanaka.

Shimizu entglitt eine der Keramik-Schüsseln. Ihre Freunde sahen sie fragend an.

»Das können wir nicht tun! Wenn diese Menschen böse sind, dann müssen wir die anderen warnen! Wir können sie nicht einfach sterben lassen um uns selbst zu schützen!«, rief sie schockiert und entsetzt über die Idee ihres festen Freundes.

Dieser seufzte schwer. »Wir haben keine andere Wahl!«, sagte er.

»Man hat immer die Wahl! Und diese wäre die falsche!«, antwortete sie.

Dann schnappte sie sich ihr Katana, den Sack voller dreckiger Wäsche und verschwand aus der Hütte. Ganz in der Nähe war ein kleiner Waldsee, wo sie die Kleidung immer ausspülte. Eigentlich ging sie nicht gerne alleine dort hin, doch jetzt im Moment brauchte sie den Abstand zu den anderen. Das diese neue Welt Tanaka so verändern würde, hatte sie nie für möglich gehalten.

Während sie durch das Gestrüpp und das dichte Moos stapfte, wischte sie sich die Tränen von den Wangen.

Der Waldsee lag wie immer still und verlassen da. Kein Beißer, kein Tier, kein Mensch.

Shimizu legte ihre Katana neben sich und kniete sich anschließend in das feuchte Gras am Ufer. Sie fischte eins von Tanakas Shirts aus dem Sack. Doch bevor sie es ausspülte, starrte sie es an. Würde er das wirklich tun? Würde er wirklich unschuldige Menschen sterben lassen, um sein eigenes Leben zu retten?

Sie tunkte das Kleidungsstück ins Wasser und wusste gleichzeitig, dass sie das was ihr Freund vor hatte, niemals zu lassen würde.
 

Shimizu redete den Rest des Tages nicht mehr mit den anderen. Als sie vom See zurückkam, standen Nishinoya und Tanaka auf dem Dach des Rezeptionsgebäudes um sich von Ennoshita die Solaranlage erklären zu lassen. Narita und Kinoshita verstauten derweilen die neuen Vorräte. Sie lächelten Shimizu zu, als sie die Kleidung auf einer selbstaufgespannten Leine aufhängte und sich anschließend um das dreckige Geschirr vom heutigen Morgen kümmerte.

Als die Sonne unterging, fanden sich alle bei der Gemeinschaftshütte ein und Shimizu reichte ihnen heute Suppe. Sie schmeckte nicht, war aber immer noch besser als gar nichts zu essen. Tanaka schnitt das Thema vom vergangenen Morgen nicht noch einmal an.

Nach dem Essen holte Kinoshita zwei Flaschen Sake hervor. Heute stieß Shimizu nicht mit an. Sie nahm ihre Katana und wünschte allen eine gute Nacht bevor sie sich zurückzog. Den Jungs hatte sie gesagt, sie würde noch ein Buch lesen. Aber eigentlich zog sie sich dicke Kleidung an und packte ihren Rucksack.

»Was tust du da?«

Erschrocken wich sie vom Bett zurück und stieß am Kleiderschrank an. Sie warf einen bösen Blick in Richtung Zimmertür, wo Ennoshita stand und sie fragend und verwirrt ansah.

»Ich werde nicht zulassen, dass diesen Menschen irgendetwas passiert. Und wenn Tanaka sie nicht warnt, dann werde ich das eben tun!«

»Aber du weißt doch gar nicht wo du hinsollst! Wie willst du sie denn finden? Du würdest Tage im Wald herumirren und dabei vielleicht selbst umkommen!«

»Lieber sterbe ich bei dem Versuch Unschuldige zu retten, als untätig herumzusitzen und dabei zu zusehen wie sie abgeschlachtet werden!«, eschauffierte sich Shimizu und schulterte ihren Rucksack.

Als sie nach ihrer Katana griff, hob Ennoshita die Hand.

»Warte«, sagte er und seufzte dann. »Ich werde dich begleiten, ich weiß wo der Highway ist!«

Shimizu wich einen Schritt zurück. Sie hatte mit allem gerechnet, nur damit nicht. Lächelnd sah sie ihn an.

»Danke«, sagte sie zu frieden.

»Wir treffen uns in fünf Minuten am Rezeptionsgebäude, ich gehe nur schnell ein paar Sachen zusammenpacken!«

Shimizu nickte und Ennoshita verschwand.

Während sie über die wackeligen Hängebrücken ging, hoffte sie er würde den anderen nichts von ihrem Vorhaben erzählen. Denn die würden sie bestimmt nicht einfach gehen lassen. Wenn Shimizu Pech hatte, kettete Tanaka sie am Bett an, weil er sie für nicht mehr ganz dicht hielt.

Ennoshita brauchte etwas länger als fünf Minuten. Dafür kam er alleine und mit einem Lächeln auf den Lippen. Er hielt seine Armbrust fest umklammert und reichte Shimizu eine Taschenlampe.

»Dann lass uns aufbrechen, damit wir schnell wieder zurück sind – vielleicht fällt unser Fehlen ja gar nicht auf!«

Shimizu nickte entschieden. Dann machten sie sich auf den Weg.

Sie liefen die ganze Nacht und den ganzen nächsten Tage, machten keine nennenswerten Pausen.

Erst, als sie vor Müdigkeit beinahe zusammenbrachen und die Sonne schon wieder am untergehen war, erreichten sie den Highway und entdeckten auf Anhieb den Konvoi der mitten auf der Straße rastete. Sie sahen den Qualm eines Lagerfeuers aufsteigen und bildeten sich ein Gelächter zu hören.

»Das sind keine bösen Menschen – die würden uns niemals etwas tun«, sagte Shimizu.

Ennoshita nickte bekräftigend. »Der Meinung bin ich auch!«

Und dann setzten sie zu den letzten Metern an, ungewiss ob sie mit ihrer Gutgläubigkeit rechtbehalten sollten.


Nachwort zu diesem Kapitel:
➽ Erscheinungstermin für Kapitel 9 unbekannt


1. Entwurf von "RUN" by YukiKano || Das Ellie || © (2019)[/] Komplett anzeigen

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