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Welt ohne Grenzen

von

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Wo ein Wille ist (Prompto Argentum)

Es ist vorbei.
 

Ziemlich vorbei jedenfalls, denn irgendwie ist doch immer noch Raum für noch einen Atemzug. Nur noch einen. Ein letztes Mal… es tut weh, aber ich kann auch nicht einfach aufhören zu atmen, noch nicht. Ich weiß, dass mein Tod unvermeidlich ist, und ich habe keine Angst, aber es geht nicht schneller, nur weil ich es akzeptiere.
 

Noch einmal atmen.
 

Bald ist es vorbei.
 

So schlimm ist es auch gar nicht, zu sterben. Ich weiß nicht genau, was mich auf der anderen Seite erwartet, aber Noct hat gesagt, wir sehen uns dort wieder.
 

Blut sammelt sich in meinen Lungen, zwingt mich zu Husten, obwohl ich kaum noch die Kraft dazu habe. Meine Rippen fühlen sich gebrochen an, mein Hals ist rau, und ich kann das Blut in meiner Luftröhre gurgeln hören, wenn ich atme.
 

Einmal noch.
 

Einmal geht noch.
 

Ein weiterer Versuch zu Husten. Sicher ginge es leichter, würde ich nicht auf dem Rücken liegen, aber ich habe nicht die Kraft, mich umzudrehen. Es gibt sicher schönere Arten zu sterben, als hier in diesem elenden Loch an meinem eigenen Blut zu ersticken. Wie oft habe ich in feindliche Waffen geblickt, oder in das Maul wilder Tiere? So viele Gelegenheiten, schnell und schmerzlos zu sterben, und jetzt liege ich hier.
 

Seit Stunden… oder Tagen.
 

Schwer zu sagen, weil hier unten kein Licht hereinkommt. Das alte Radio neben mir hat auch kaum Empfang, aber es spielt immerhin ein paar Fetzen Musik, damit ich mich nicht so einsam fühle.
 

Ich will nicht allein sein.
 

Wieder der Hustenreiz, ein letztes Aufbäumen meines Körpers.
 

Noch ein Atemzug, und diesmal kommt wirklich keine Luft mehr durch.
 

Das Radio knackt wieder, ein Sprecher unterbricht das Lied. Eilige Meldung… Lucis… Verhandlungen des niflheimer Kaisers mit den Gesandten… Länderein… König… Noct… zurückgekehrt und…
 

Der Name lässt mich aufhorchen.
 

Ich hole noch einmal Luft, bewusst dieses Mal, bekomme keine und bäume mich auf, um meinen Hals frei zu husten. Irgendwie schaffe ich es, mich auf den Bauch zu drehen und tatsächlich meine Luftröhre soweit frei zu husten, dass wieder etwas durchgeht.
 

Es tut weh.
 

Es tut verdammt weh.
 

Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich den Mann im Radio richtig verstanden habe, aber solange auch nur die geringste Chance besteht, dass Noctis auf dieser Seite des großen Flusses ist, kann, darf und werde ich noch nicht sterben.
 

Noch einmal kräftig husten.
 

Mein Hals fühlt sich an als hätte ein Coeurl seine Pfote hineingesteckt und mit ausgefahrenen Krallen wieder herausgezogen. Meine Rippen tun weh, meine Arme zittern unter der Last meines Körpers. Aber mein Kopf klart auf, mit jedem Atemzug, den ich in meine Lungen zwinge.
 

Noct.
 

Noct ist zurück.
 

Ich weiß nicht, ob es wahr ist. Aber solange die Chance besteht, werde ich mich an diesen Gedanken klammern. Ich darf nicht sterben. Nicht jetzt. Nicht hier. Nicht, ohne ihn noch einmal gesehen zu haben.
 

Schmutziges Wasser tropft von der niedrigen Decke auf mich herunter. Es stinkt erbärmlich und ist sicher alles andere als gesund, aber es fühlt sich kühl an auf meinem überhitzten Körper.
 

Ein letztes Husten, und meine Atemwege sind fürs Erste frei. Ich muss hier raus.
 

Mit aller Kraft, die ich noch irgendwie aufbringen kann, stemme ich mich hoch. Meine Arme zittern und drohen nachzugeben, aber zum Sitzen reicht es. Das Radio stottert und versinkt vollends im Rauschen, keine Chance, noch einmal zu hören, was der Mann erzählt. Warum er Nocts Namen erwähnt hat. Es ist… unwahrscheinlich, dass er wirklich zurück ist, und mir fallen tausend andere Dinge ein, die der Mann wirklich gesagt haben könnte, aber ich habe mich für die Hoffnung entschieden. Ein Grund zu kämpfen, zu überleben.
 

Für Noct.

Für den König, nein…

Für meinen allerbesten Freund.
 

Selbst, wenn es nur ein wilder Fiebertraum ist, der Sensenmann muss noch eine Weile warten.
 

Noch kann ich nicht sterben.
 

Ich ziehe meine treue alte Kamera zu mir. Das Display ist zerbrochen und blutverschmiert, das Objektiv in Trümmern und der Deckel schließt auch nicht mehr richtig. Ich unternehme einen letzten Versuch, das Gerät wiederzubeleben, aber erfolglos. Seufzend nehme ich die Speicherkarte heraus und stecke sie in meine Geldbörse. Die Kamera selbst muss ich wohl liegen lassen. In meinem jetzigen Zustand ist sie zu schwer zum Tragen.
 

Schade, dass ich auch mein Handy verloren habe, so kann ich gar keine Fotos mehr machen. Aber gut, was will ich in diesem Drecksloch auch fotografieren? Die Ratten? Die sind immerhin ganz süß, wenn sie nicht gerade mutiert sind.
 

Noch ein paar Mal konzentriert durchatmen, nochmal die Lunge frei Husten und dann der nächste Versuch aufzustehen. Und der nächste. Auf den dritten Anlauf klappt es, ich stehe, wenn auch auf zitternden Beinen.
 

Wenn ich jetzt noch soweit das Gleichgewicht halten könnte, einen Schritt zu wagen, könnte ich fast laufen. Ich versuche es, strauchle, und falle ins schlammige Wasser. Wieder hochstemmen auf protestierenden Armen, nächster Versuch. Es wird leichter, rede ich mir ein. Schritt für Schritt, wie damals beim Joggen. Immer das Ziel vor Augen…
 

Ich werde Noct wiedersehen.

Ich werde ihn wiedersehen und mit ihm reden, und er wird sich freuen, mich zu sehen.
 

Nur noch ein Schritt… und dann noch einer. Nur noch einer… und dann der nächste. Zwischendurch atmen, nochmal husten, weiteratmen. Und wenn ich auf dem Zahnfleisch hier rauskriechen muss. Ich gebe nicht auf.
 

Aber vielleicht… bleibe ich einen Moment lang hier sitzen, um wieder Kraft zu tanken. Immerhin zwei Meter hab ich schon geschafft. Wie weit ist es wohl bis zum Ausgang? Und von da bis Insomnia? Vielleicht kommen die anderen mich auch suchen. Das wäre schön. Aber zumindest ein Stück weit muss ich ihnen entgegen kommen, damit sie mich auch finden. Nur ein kleines Stück, einen Schritt noch, und dann noch einen.
 

Bis nach Hause…

Bis zurück zu Noct.
 

Noch ein Schritt, noch ein Atemzug. Meine Lunge brennt wie Feuer, meine Arme und Beine zittern, aber langsam spüre ich den Schmerz nicht mehr. Noch ein Schritt bis zur Wand, da kann ich mich festhalten. Die Rohre sind schleimig und glatt, aber ein paar davon sind so dünn, dass ich sie mit der Hand umfassen und mich daran halten kann.
 

Ich fühle mich gerade wie der erste Mensch, der den aufrechten Gang erlernt. Wackelig, unsicher, aber irgendwie größer als vorher, aufrecht und ein wenig stolz. So ist es leichter zu sehen, wo der Tunnel hinführt. Ich blinzle Blut und Tränen aus meinen Augen, fasse das Rohr fest mit beiden Händen und schiebe mich vorwärts. Zwei Schritte, drei, vier bis zum Ende der Wand. Rechts oder geradeaus? Rechts kann ich an der Wand bleiben, das ist leichter. War das nicht auch ein Trick, sich im Labyrinth zurechtzufinden, immer der Wand zu folgen? Vielleicht finde ich so einen Ausgang.
 

Eine Ratte quietscht erschrocken und mir rutscht der linke Fuß weg, beinahe wäre ich wieder umgefallen. Aber ich kann mich halten, und mit dem Erfolg kommt auch ein wenig Stolz. Jetzt, wo ich stehe, bleibe ich auch aufrecht. Ich finde hier raus. Ich gehe nach Hause.
 

Noch ein Schritt, dann noch einer. Meine Beine haben aufgehört zu zittern, jetzt fühlen sie sich nur noch taub an, und kalt. An der nächsten Kreuzung fällt ein schwall Wasser herunter, es sieht verhältnismäßig sauber aus. Einen Moment halte ich inne, genieße die kalte Dusche. Es ist schön, sich den Dreck aus dem Gesicht waschen zu lassen, und es wird leichter, zu sehen. Nur ein bisschen.
 

Ich atme tief durch in der feuchten Luft, ignoriere den brennenden Schmerz in meiner Lunge und den stechenden Schmerz meiner Rippen und werfe mein Gewicht wieder vorwärts. Immer ein Schritt mehr, einen Schritt weiter als vorhin. Immer rechts lang.
 

Das Wasser um meine Füße steigt höher. Es ist kein sauberes Wasser, eher braun und schlammig, ab und zu treibt eine tote Ratte darin oder etwas anderes, will gar nicht genau wissen, was. Lebendige Ratten huschen über die Röhren, eine springt über meine Hände, eine andere beobachtet mich aufmerksam, ob ich nicht doch sterben und zu Futter werden will.
 

Sorry kleiner Freund, heute nicht. Da wartet noch jemand auf mich.
 

Und nicht nur Noct, Ignis und Gladio machen sich bestimmt auch Sorgen. Ich muss mich noch für das kaputte Zelt entschuldigen… und für das Geld, dass die beiden mir geschickt haben, damit ich Essen und Heiltränke kaufen kann, wenn sie mir nicht selbst welche geschickt haben.
 

Meine Freunde…
 

Ja, ich habe Freunde. Gute Freunde, die sich um mich sorgen und die wollen, dass es mir gut geht. Also geht es mir auch gut, und ich komme nach Hause, egal, wie oft meine Beine noch unter mir wegbrechen. Wieder ziehe ich mich hoch, suche nach Halt an den schleimigen Rohren an der Wand, falle doch wieder auf die Knie und gebe mich einem heftigen Hustenanfall hin.
 

Dreckiges Wasser spritzt mir entgegen als ich wieder eine Ladung Blut auswerfe, dann geht es wieder. Meine Arme und Beine zittern, aber es gelingt mir, mich wieder aufzustemmen. Erschöpft lehne ich mich an die kalte Wand, nutze den kurzen Moment, in dem ich frei atmen kann, bis sich neues Blut in meiner Lunge sammelt, dann ziehe ich mich wieder hoch und gehe weiter. Schritt für Schritt, Tritt um Tritt. Das Wasser reicht mir bald bis zu den Knien, aber vorne sehe ich eine Treppe, die mich wieder über Wasser führt. Ein paar Schritte muss ich bis dahin frei schaffen, ohne den Halt der Wand und gegen die Strömung des dreckigen Wassers. Ich fasse mir ein Herz, huste ein wenig Blut aus, atme tief durch und lasse die schützende Wand los. Ein Schritt, zwei, drei, noch ein halber und meine Hände erreichen die Stufen. Erschöpft, aber triumphierend ziehe ich mich an Land, lehne mich gegen die neue Wand und gönne mir einen Moment des Sieges, bevor ich wieder aufstehen muss.
 

Mein Körper ist längst über die letzten Reserven hinaus, ich sollte seit Stunden tot sein. Aber ich bin hier, und ich gehe nach Hause. Lebendig oder nicht, Noct wartet auf mich. Falls er wirklich immer noch tot ist, kann ich später immer noch sterben. Wird er schon verstehen, Noct war immer schon ein geduldiger Kerl.
 

Damals hat er auch auf mich gewartet… jahrelang, bis ich endlich den Mut hatte, wieder auf ihn zuzugehen. Bis ich mich würdig gefühlt habe, sein Freund zu sein. Heute weiß ich, dass es Noct egal gewesen wäre. Dass er mich auch als kleinen Pummel gemocht hätte. Dass ihm sogar egal ist, dass ich aus Niflheim komme, nein, sogar ein im Labor gezogener MI bin. Noct ist trotzdem mein Freund. Gladio und Ignis genauso.
 

Wieder stemme ich mich hoch, und auf dem mäßig trockenen Beton ist es leichter, die Füße zu heben, als unten im Wasser. Meine Kraft ist längst verbraucht, aber mein Wille drängt vorwärts, Schritt für Schritt, ein Fuß vor den anderen, bis mein Körper sich an die alte Routine gewöhnt und einfach funktioniert. Gewicht nach vorne, den Fall abwechselnd mit den Füßen abfangen und weiter nach vorne fallen lassen. Fünf Schritte. Zehn Schritte. Wieder muss ich anhalten, um zu husten. Wenn das so weiter geht, habe ich bald keinen Tropfen Blut mehr im Körper. Ein Elixier täte jetzt gut.
 

Noch sechs Schritte bis zur nächsten Abzweigung. Wieder bleibe ich stehen, wäge meine Optionen ab. Rechts ist am einfachsten und bleibt bei meinem System, aber die Wand dort ist glatt, nur eine Stütze ohne echten Halt. Geradeaus wären wieder Rohre zum Festhalten. Ich lasse mich kurz zu Boden gleiten um nochmal auszuruhen. Langsam macht sich Erschöpfung breit... ich habe viel Blut verloren, wenn ich mich nicht ab und zu hinsetze, kommt nichts mehr in meinem Kopf an. Mir ist schwindelig. Ich bin müde. Am liebsten würde ich mich hinlegen, nur fünf Minuten, damit mein Kreislauf sich beruhigt, aber dann komme ich vielleicht nicht mehr hoch.
 

Aus dem linken Gang dringen Geräusche an mein Ohr. Es klingt wie ein Kampf, ein Mann schreit. Schmerz oder Wut? Stolpern, Straucheln, ein Körper, der ins Wasser fällt. Ein tenebrischer Fluch. Irgendwer wirft etwas, vielleicht einen Stein. Dann Gluckern, Fauchen, noch ein Schrei, diesmal eindeutig verzweifelt.
 

Der Mann braucht Hilfe.
 

Ich fasse an mein Brustholster, stelle erleichtert fest, dass mein Revolver darin hängt und stemme mich wieder hoch. Laden. Entsichern. Ich gehe nach links.
 

Auch hier ist die Wand glatt und noch dazu schleimig vom herunterfließenden Wasser, aber die Schreie und Kampfgeräusche stärken meinen Willen. Zehn Schritte, zwanzig, beide Hände an die Waffe. Dreißig Schritte und ich stehe auf einer Plattform. Ein Mann liegt unten im Wasser und über ihm so ziemlich das Letzte, was ich jetzt brauchen kann: Ein Morbol. Der Gestank hätte mich eigentlich warnen können… Noch wäre Zeit umzudrehen oder zu fliehen, aber als das Monster seinen Tentakel nach dem Mann hebt, tue ich, was ich tun muss: Ich schieße.
 

Feuerzauber wären jetzt echt nett. Überhaupt wären Zauber mal wieder ganz nett. Meine Schüsse treffen, nicht unbedingt in die Schwachstelle, aber gut genug, die Aufmerksamkeit des Monsters auf mich zu lenken. Der Gestank aus seinem offenen Maul raubt mir beinahe den Atem, aber mein Wille ist stärker und ich trage noch immer die Schleife, die mir Cidney als Talisman mitgegeben hat. Erstaunlich, wie einen allein der Gedanke an so eine nette Geste aufrecht halten kann im Angesicht des giftigen Atems. Auch für Cidney muss ich lebend zurück.
 

Ich lade nach und finde in meiner Tasche tatsächlich noch einen alten Magieflakon. Keine Ahnung, warum ich ihn all die Jahre aufbewahrt habe, immerhin war es nur noch eine leere Flasche. Jetzt allerdings fühlt sie sich warm an in meiner Hand. Mächtig. Ich weiß, was das bedeutet.
 

„Danke, Noct“, murmle ich, und schleudere den Zauber in den Rachen der Bestie.
 

Die Hitze ist überwältigend. Ich hatte vergessen, welcher Zauber eigentlich in dem Fläschchen gesteckt hatte, aber er entlädt sich in nicht weniger als fünf kraftvollen Explosionen lodernden Feuers. Das Licht blendet, die Hitze brennt auf meiner Haut und in meiner Kleidung. Als ich die Augen wieder öffnen kann, ist von dem Morbol nur noch ein Häufchen Asche übrig. Der Boden, die Wände, meine Kleidung, alles hier ist plötzlich trocken und warm. Ein gutes Gefühl. Fast meine ich, Noct’s Anwesenheit in der ausklingenden Magie spüren zu können. Ich stecke den nur mehr halbvollen Flakon zurück in meine Jacke und mache ein paar Schritte auf den Mann zu, der unten am Boden liegt.
 

Es ist Ravus. Noch so jemand, der eigentlich tot sein sollte.
 

Ich halte ihm meine Hand hin und er ergreift sie. Seltsamerweise reicht meine Kraft, ihm auf die Beine zu helfen, als hätte der Feuerzauber auch eine heilende Wirkung gehabt. Ich bin nicht gut in Magie, ich nehme einfach nur, was Noct mir gibt, und mache das Beste daraus.
 

Ravus sieht fast so mies aus wie ich, trotzdem zerbricht er das Elixier, das er aus seiner Tasche fischt, über mir anstatt es für sich selbst zu nutzen. Ich beschwere mich nicht, das Heilmittel tut gut. Es ist jetzt leichter, zu atmen und zu stehen.
 

„Danke für deine Hilfe.“
 

„Bedank dich bei Noct für den Zauber.“
 

„Er ist auch zurück, nicht wahr?“
 

In Ravus Gesicht sehe ich keine Spur mehr von seinem früheren Zorn. Er sieht besiegt aus, und seine Züge wirken beinahe sanft.
 

„Muss wohl. Ich will zu ihm, aber ich bin noch nicht weit gekommen. Ist viel passiert in den letzten zehn Jahren.“
 

„Kann ich mir vorstellen“, erwidert Ravus, „Du siehst fertig aus. Haben sie dich hier unten verhungern lassen?“
 

Ich schüttle den Kopf. Nein, solange meine Freunde wussten, wo ich war, hatte ich immer genug zu Essen. Oft sogar von Ignis selbst für mich zubereitet… Was täte ich jetzt nicht alles für eine seiner gegrillten Kükatrice-Keulen. Oder Iris‘ selbstgemachte Hühnersuppe.
 

„Ist ne lange Geschichte“, sage ich stattdessen.
 

„Ich schätze, wir haben Zeit“, meint Ravus, „Zumindest, wenn wir ein Stück weit gemeinsam gehen.“
 

„Ja… weißt du, wo wir hier sind? Ich nämlich nicht so richtig.“
 

Ravus seufzt. „Ich würde auf die Zegnautus-Festung tippen, wenn mich niemand von dort weggebracht hat. Vielleicht die Kanalisation darunter… ja, ziemlich sicher die Kanalisation unter Zegnautus.“
 

„Wie lange bist du schon hier?“, frage ich. Ravus scheint zu wissen, wie er sich hier orientieren kann, also laufe ich ihm einfach nach.
 

„Wach? Seit gestern Vormittag, wenn meine Uhr richtig geht. Tot? Keine Ahnung. Hab kein Datum auf der Uhr, nur die Zeit.“
 

„Zehn Jahre“, wiederhole ich, „für dich wohl zwanzig.“
 

„Viel passiert in der Zeit, was? Wie geht’s deinen Freunden?“
 

„Besser als mir, schätze ich.“
 

Und während wir so durch die Gänge der Kanalisation laufen erzähle ich Ravus, was ich kann. Von der Politik verstehe ich leider nicht viel, das wird er sich selbst zusammen reimen müssen, aber die Maschine macht ihm Sorgen.
 

„Das erklärt dann wohl die Kopfschmerzen“, murmelt er.
 

„Ja, dabei geht es hier unten sogar halbwegs“, überlege ich, „Generell war es, zumindest außerhalb von Lucis, unter der Erde meist etwas erträglicher. Und Zegnautus ist weit weg von Insomnia, das hilft wohl auch.“
 

Trotzdem brummt mir noch immer der Schädel, und ich muss schon wieder blinzeln, um das Blut aus den Augen zu bekommen. Auch der Husten meldet sich langsam zurück… Elixiere wirken leider nur für bereits angerichteten Schaden. Ein richtiger Schutz wäre schön…
 

Aber ich brauche nicht jammern, im Gegensatz zu Ravus habe ich immer noch beide Arme. Und bei der Menge an Monstern, die uns inzwischen auf den Fersen sind, ist das ein ziemlicher Vorteil – Ravus kann kaum kämpfen, er tut sich schwer mit der Balance, und ein Schwert hat er auch nicht. Mein Notfall-Säbel ist auch eher windig und für einen richtigen Schwertkämpfer wie ihn eigentlich bloß ein großes Messer. Schade, dass ich die Motorsäge nicht mehr habe. Mein Maschinengewehr und der Raketenwerfer sind auch weg. Hab ich noch Leuchtgranaten? Hilft nicht viel, aber im schlimmsten Fall können wir so mal abhauen, wenn es brenzlig wird.
 

Auf der anderen Seite sind wir hier fast sicher unter der Zegnautus Festung. Da wird sich doch wohl ein wenig alte Maschinerie finden lassen. Und tatsächlich, hinter der nächsten Ecke haben wir Glück, ein alter Mech ist durch die Decke der Kanalisation gebrochen und hat einen Teil der Waffenkammer mit runter gebracht. Ich nehme mir, was ich an Waffen und Munition tragen kann, und winke Ravus zu mir.
 

„Zeig mal deine Prothese, vielleicht kann ich da was machen.“
 

Ravus wirkt etwas befremdet, als ich ihn so einfach anpacke, aber er setzt sich brav hin und lässt mich machen. Der künstliche Arm ist glatt abgeschnitten wie von einem sehr scharfen Schwert, vermutlich Ardyns Werk. Sollte nicht allzu schwer sein, da alle wichtigen Kabel zu finden. Einfach die Enden abisolieren, mit den Kabeln des Magitek-Greifarms verbinden, mit dem Feuerzeug zusammenlöten und ein wenig Isolierband drum. Dann nur noch die äußeren Teile mit Panzertape befestigen – viel Panzertape, dann hält es auch – und ein kurzer Powercheck. Läuft.
 

„Schau mal, ob du ihn bewegen kannst.“
 

Ravus versucht es, und der Arm funktioniert.
 

„Bisschen ungewohnt, aber der Enterhaken wird sicher noch nützlich. Du bist ganz schön geschickt.“
 

„Hehe, danke. Hab in Insomnia in der Autoherstellung gearbeitet und zuletzt als Mechaniker in Hammerhead. Da nimmt man schon mal den ein oder anderen Trick mit.“
 

Vor allem, wenn niflheimer Fabrikate durch fahren. So fortschrittlich die Kriegstechnologie des Landes auch sein mag, seine Autos sind rollender Schrott. Lassen sich dafür aber, im Gegensatz zu den insomnischen Modellen, meist ganz gut mir ein bisschen Panzertape flicken.
 

Ravus testet seinen neuen Arm beim Wühlen in der Waffenkammer und findet dabei tatsächlich ein Schwert, das er nutzen kann. Sieht irgendwie mehr nach Maschinerie als nach Schwert aus, aber es lässt sich schwingen und hat eine große Klinge.
 

„Eine Gunblade“, meint Ravus, „Nicht übel, aber die Handhabung ist gewöhnungsbedürftig.“
 

„Kannst du damit kämpfen?“
 

„Ich weiß wie es geht. Werde mich wohl an das Ding gewöhnen.“
 

„Na dann, weiter geht’s.“
 

„Kleinen Moment noch, ich will den Greifhaken noch schnell testen.“
 

Ich zucke mit den Schultern, als Ravus auf den Raum über uns zielt. Der Haken funktioniert gut, er kann sich problemlos ins obere Stockwerkt schwingen und kommt gleich darauf wieder.
 

„Hier, nimm das“, meint er und drückt mir eine große Ladung Tränke und Elixiere in die Arme. Einen Heiltrank gönne ich mir gleich, den Rest verstauen wir in unseren Taschen.
 

„Woher…?“
 

„In den Waffenkammern sind meistens auch Automaten mit Vorräten“, erklärt Ravus, „Der oben war aufgebrochen, ich hab mitgenommen, was noch drin war. Haltbarkeitsdatum ist eventuell etwas veraltet, aber wenn’s noch gut riecht, wird’s noch gut sein, schätze ich.“
 

„Keine schlechte Idee. Ich bin froh, dass du diesmal auf meiner Seite bist.“
 

„Tut mir Leid, dass ich vorher nicht auf eurer Seite war. Ich habe mich blenden lassen…“
 

„Wer nicht?“, seufze ich, „Wir sind Ardyn alle mindestens einmal auf den Leim gegangen.“
 

Eine Weile laufen wir schweigend durch die Kanalisation, nur unterbrochen von den gelegentlichen Monstern, die hier aus jeder Ecke kriechen und sich von uns eine Portion Fleisch erhoffen. Nicht, dass an mir noch viel dran wäre, aber Ravus sieht immerhin aus, als könnte man von seinen Muskeln halbwegs satt werden. Ich bin eher so der Knochen zum Abnagen für danach. Inzwischen glaube ich, dick zu sein wäre gar nicht mal die schlechtere Alternative… dann hätte ich zumindest ein paar Reserven, von denen ich jetzt zehren könnte.
 

Wenn ich hier rauskomme geht’s jedenfalls gleich ins erste Krähennest. Und dann mal schauen, ob ich mich Richtung Insomnia wagen kann… Mir läuft schon wieder Blut aus den Augen. An die Kopfschmerzen habe ich mich inzwischen fast gewöhnt, auch wenn mir schon wieder schlecht wird davon. Trotzdem möchte ich nicht gleich wieder einen Heiltrank einsetzen. Zu viele davon können einen auch krank machen, außerdem würde der Vorrat dann viel zu schnell zur Neige gehen. Ein bisschen halte ich noch durch.
 

„Sag mal“, frage ich, um mich abzulenken, „Kannst du als Lunafreyas Bruder eigentlich auch Umbra rufen?“
 

„Die Emissäre gehorchen nur der Kannagi“, erwidert Ravus, und ich seufze enttäuscht. Ravus blickt mich nachdenklich an, dann lächelt er freundlich. „Aber sie hat Pyrna benutzt, um mit mir im Kontakt zu bleiben. Sie kommt vielleicht, wenn ich sie rufe.“
 

„Echt jetzt?“
 

„Ja. Komm hier rein, wir sollten uns die Nacht über etwas ausruhen.“
 

Der Raum hinter Ravus ist im besten Fall ein feuchtes Kabuff, das dem armen Kerl, der die Kläranlage säubert, als Ruheraum dient. Auf dem Boden liegt eine fleckige Matratze und in einer Kiste ein Sammelsurium an Wertsachen, die aus Versehen hier gelandet sind und die vielleicht jemand vermisst. Es ist trostlos, aber es ist besser als nichts.
 

Ich setze mich erschöpft auf die Matratze, die schon unter meinem geringen Gewicht bis zum Boden durchsackt. Ravus setzt sich neben mich und blickt das Bett abschätzig an.
 

„Nicht sehr groß, aber es wird wohl für uns beide reichen.“
 

Dann schließt er kurz die Augen. Ein lautes Bellen ertönt, und bevor ich nur die Richtung ausmachen kann, falle ich schon rückwärts auf die Matratze, mein Gesicht komplett unter weißem Fell begraben.
 

„Pyrna!“
 

„Wuff!“
 

Eine lange, feuchte Zunge schleckt mir begeistert das Gesicht ab, die beste Dusche, die ich heute bekommen habe. Pyrnas Pfoten drücken schmerzhaft in meine geschundenen Rippen, aber das ist mir egal. Ich bin einfach nur so froh, meine alte Freundin wieder zu sehen.
 

„Hey, das kitzelt…“
 

„Wuff!“
 

Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, wie Ravus uns ungläubig ansieht.
 

„So hat sie sich noch nie benommen…“
 

„Haha, ist schon gut Kleines, ich hab dich auch vermisst. Und ich hab dich lieb.“
 

„Wuff!“
 

„Tust du mir einen Gefallen, Pyrna?“
 

„Wuff?“
 

Ich rapple mich auf, soweit es mit Pyrna auf meinem Schoß geht, und ziehe meine Geldbörse heraus. „Das hier ist die Speicherkarte aus meiner Kamera“, erkläre ich und halte ihr den Chip hin, „Ich hätte gerne, dass Noct sie bekommt. Ich weiß nicht, wie ich ihn erreichen kann, und selbst komme ich vielleicht so schnell nicht zu ihm. Kannst du mir da vielleicht helfen?“
 

Pyrna blickt mich einen Moment lang aus ihren hellen Augen an und legt niedlich den Kopf schief.
 

„Wuff!“
 

„Ruff.“
 

Neben Pyrna hat sich ein neues Portal geöffnet. Umbra tritt heraus und beschnuppert seine Schwester, als würden sie heimlich etwas besprechen. Dann wendet sich der schwarze Hund zu mir um.
 

„Hallo Umbra“, begrüße ich meinen alten Freund und halte ihm die Hand hin, damit er seine Pfote hineinlegen kann, „Wie geht es dir? Hat Pyrna dich geholt, damit du mir hilfst?“
 

„Ruff.“
 

Umbra gibt brav Pfötchen und reckt den Kopf, wie um seine Umhängetasche zu präsentieren. Ich lege die Speicherkarte vorsichtig hinein, dabei stößt meine Hand auf einen Umschlag. Ein einzelnes Foto liegt darin – Noctis, Gladio und Ignis, wie sie gemeinsam in die Kamera lächeln. Auf der Rückseite sind ein paar handgeschriebene Zeilen zu lesen.
 

Noct ist zurück.

Machen uns alle Sorgen um dich.

Pass auf dich auf, Prompto, und komm nach Hause.
 

Drei verschiedene Handschriften, alle sind mir gut bekannt. Diesmal sind es Tränen, die mir aus den Augen quellen. „Danke…“
 

„Ruff.“
 

Umbra leckt mir zärtlich das Gesicht und ich vergrabe meine Hände in seinem dichten Fell, um mich zu beruhigen. Das Foto verstaue ich sicher in meiner Jacke.
 

„Danke, Umbra. Und dir auch, Pyrna. Sagt Noct, dass ich ihn lieb hab, ja?“
 

„Wuff.“
 

„Ruff!“
 

Pyrna leckt mir noch ein letztes Mal das Gesicht, dann sind beide Hunde verschwunden. Ich lege die Hand über das Foto in meiner Brusttasche, kauere mich zusammen und weine mir endlich den ganzen Schmerz von der Seele, den ich so lange einfach ertragen musste.
 

Noct ist endlich zurück, und alle sind bei ihm. Ich will auch… ich will nach Hause zu meinen Freunden.
 

Ravus legt seine gesunde Hand auf meine Schulter, die Berührung tut gut. Zumindest bin ich nicht allein. Es wird schon alles wieder werden.
 

„Tut mir Leid, dass ich hier so rumheule“, entschuldige ich mich, „Es war einfach echt viel in letzter Zeit und… normal hab ich mich besser unter Kontrolle. Tut mir Leid.“
 

„Schon in Ordnung“, beschwichtigt mich Ravus, „Versuch ein wenig zu schlafen.“
 

„Ja, mach ich. Morgen haben wir wieder ordentlich was vor, was? Willst du die Matratze haben? Ich kann zur Not auch auf dem Boden schlafen.“
 

„Red keinen Blödsinn, das Ding reicht schon für und beide“, meint Ravus und zieht mich zu sich, „Ich hab beim Militär schon mit mehr Leuten auf engerem Raum gepennt.“
 

Ich weiß nicht, was ich darauf noch sagen soll. Selbst in Gladios Zelt hatten wir immer genug Platz, dass jeder seine eigene Matratze ausrollen konnte. Wenn wir doch mal eng nebeneinander geschlafen haben dann nur, weil wir es so wollten. Hier ist es… eng.
 

Die Matratze ist hart wie der Boden darunter, und der einzige Grund, warum ich in der zugig feuchten Luft hier drin nicht friere ist, dass Ravus direkt neben mir liegt und mich wie einen Teddy an seinen warmen Körper drückt. Sonderlich bequem ist auch das nicht, immerhin ist er mir halb fremd und ich weiß so schon kaum, wie ich mit ihm umgehen soll.
 

Aber es wird gehen… es muss. Immerhin kann ich mich so im Schlaf halbwegs sicher fühlen, dass ich morgen auch wieder lebend aufwache. Und wenn ich nur ganz fest die Augen schließe könnte ich mir auch vorstellen, dass es Gladio ist, der hinter mir liegt und mich schützend im Arm hält. Bei dem Gedanken fühle ich mich gleich sicherer.
 

Ich bin nicht mehr allein.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Sargeras
2018-11-21T20:30:26+00:00 21.11.2018 21:30
"Ah endlich Prompto"
dachte ich und erwartete ein lockeres, fröhliches Kapitel, vielleicht hier und da auch etwas spitzer oder tragischer. Was ich bekam war.... boah!!!
Der ärmste Blondie! Du hast zu oft seinen DLC gespielt!
Aber super geschrieben, DAS nennt man Lebenswillen.
Meine Lieblingsszene ist übrigens, wo Ravus das Elixier lieber über Prompto schüttet, statt sich selbst zu heilen. Das Ende ist auch schön, an Umbra habe ich schon gar nicht mehr gedacht. Ich hoffe dass die Gang bald wieder vereint ist.
Antwort von:  SoraNoRyu
01.12.2018 08:52
Ich hab den DLC genau ein mal gespielt bisher. Abgesehen von dem letzten Bosskampf, das waren, dank PS4 Steuerung, gefühlte milliarden Mal. Kann aber gut sein, dass es mich dennoch sehr beeinflusst hat, weil es deutlich weniger lang her ist als die Hauptstory.

Und dass das Kapitel nicht so fröhlich werden würde hättest du in Anbetracht der Umstände (die Maschine und alles) eventuell ahnen können :P
Von:  ChailaMing
2018-11-14T09:16:04+00:00 14.11.2018 10:16
Was für ein schönes Kapitel!
Als Prompto anfängt zu weinen, hätte ich glatt mitmachen können.
Ich freu mich schon so auf das Wiedersehen!! <3

LG Chaila


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