Zum Inhalt der Seite

Apfelernte

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Hier in der neuen Welt sind die Menschen anders. Sie halten nicht mehr so zusammen.

Und sie glauben nicht mehr.
 

Natürlich behaupten sie, zu glauben, aber ihr Glaube an diesen Christengott ist aufgesetzt, der Glaube an etwas fernes, an einen König, von dem man weiß, dass er in seinem fernen Palast bleiben wird und niemals die Höfe der einfachen Menschen betreten wird.

Ein ganz angenehmer Glaube.

Der Glaube an mich und meinesgleichen ist anders.

Ich bin wie der Steuereintreiber, von dem man weiß, dass er jederzeit vor der Tür stehen kann und den letzten Groschen mitnehmen kann. Man kann nichts vor ihm verbergen, weil er greifbar ist, existiert und nicht in der Ferne wohnt, sondern in der eigenen Stadt.

Da ist der Glaube an den fernen Gott bequemer.
 

Und die Menschen wollen sich nicht mehr unterwerfen.

In der ersten Zeit, als mein Reiser eingepflanzt worden war und zu einem Baume wuchs, so prachtvoll und schön wie im alten Lande und als ich hier, in dieser neuen Welt zu wirken begann, ja, in dieser Anfangszeit wollten die Menschen erst wieder mit den Schafen und der Ziegenmilch und dem Honig um meine Gunst angehen.

Nun, sie merkten bald, dass das Leben hier in dieser rauen Natur schwer ist, wenn man es allein bewerkstelligen muss.

Und so dauerte es nicht lange, und es gab wieder für mich das Opfer, das ich wollte.

Einen Mann und eine Frau. Jedes Jahr zum Ende der Apfelernte.

Sie versuchten, mich mit Alten und Siechen abzuspeisen. Nun, auch wenn ich sicher nicht kiesättig bin und keine allzu hohen Ansprüche stelle. Aber das ging zu weit.

Apfelfäule und Maul- und Klauenseuche brachten sie zur Vernunft.
 

In dieser Anfangszeit waren es weiterhin jeweils zwei aus der Gemeinde meiner Anhänger. Doch auch das änderte sich.

Die Menschen haben heute Autos und Flugzeuge und fahren in kurzer Zeit durch das ganze Land. Kennen andere Gegenden, andere Menschen und – die Freiheit.

Sie haben Fernsehen, Radio, Internet, und auch hier sehen sie – die Freiheit.

Und sie sind nicht mehr so einfach bereit, ihre Leben zu opfern für das Wohl aller. Sie sind Individuen geworden, denen das eigene Glück an erster Stelle steht.

Und daher ist niemand mehr bereit, sich zu opfern.
 

Es ist auch nicht mehr so, dass sie alle um mich wissen.

Die jungen Leute glauben nicht mehr an mich. Sie ziehen in die Welt hinaus, studieren an anderen Orten, heiraten nach wer weiß wohin.

Aber manche von ihnen haben es schwer. Diejenigen, denen das Kind am Fieber gestorben ist. Die Frau davongelaufen, weil sie Geld an der Börse verloren haben. Die Zeiten der Arbeitslosigkeit durchgemacht haben. Die die Hoffnung auf ein Leben in Wohlstand und Ruhe aufgegeben haben. Denen das Glück, was sie suchten, nicht zugefallen ist. Oder die es hatten und wieder verloren haben.

Die kehren zurück und sehen, dass hier das Leben und das Glück und der Wohlstand blühen. Sie bleiben und fühlen sich zu Hause.

Und solche sind es, die dann von den Älteren eingeweiht werden und den Glauben an mich wiederfinden. Und erkennen, was sie zu tun haben.
 

Nein, sie opfern sich nicht selbst. Dazu sind sie alle zu selbstsüchtig geworden. Aber sie helfen, Opfer zu finden.
 

Ein Mann und eine Frau.

Zwei Fremde auf der Durchreise.

Sie werden mit offenen Armen aufgenommen, mit Freundlichkeit empfangen. Man hilft ihnen, man „repariert“ das Auto, das wie durch Zufall ausgerechnet hier, in der Kleinstadt nahe des Apfelhains, liegengeblieben ist.

Mann serviert ihnen ein liebevoll gekochtes Essen.

Ein letztes Opfermahl.
 

Man packt ihnen noch von dem köstlichen Apfelkuchen ein.

Man weist ihnen den Weg. Und man weist sie auf die alte Straße, die hier am Obsthain vorbeiführt.

Dort, wo der Hauptweg zwischen den Apfelbäumen beginnt, der geradewegs auf mich zu führt, bleibt das Auto erneut liegen.

Sie steigen aus, verärgert, verzweifelt. Es ist schon dunkel, es ist kühl, denn es ist ja schon Herbst.

Sie gehen den Weg entlang, denn am Ende des Weges gaukle ich ihnen ein Licht vor, so dass sie hoffen, ein Farmhaus zu finden, in dem sie Unterschlupf suchen können.
 

Doch anstelle eines Farmhauses finden sie mich. Meinen Baum, in dem ich wohne.
 

Jedes Jahr wieder ist es das gleiche Spiel. Sie stehen vor mir, schauen mich an, beeindruckt, verängstigt.

Die Frau zeigt meist Angst, der Mann, der sich genau so fürchtet, spielt den starken Beschützer. Das ist ärgerlich für mich, denn auch wenn es das Blut der Opfer ist, von dem ich mich ernähre, ist doch ihre Angst die Würze, und ich mag es nicht, wenn ich mich zu sehr anstrengen muss.
 

Ein paar Meter neben mir auf einem hölzernen Kreuz hängt die Krähenscheuche. Auch sie ist alt. Sie ist geschaffen worden aus den Bestandteilen der Opfer: Haut, zu Leder geworden. Haare, einst geflochten, jetzt struppig und ausgebleicht. Kleidungsstücke, vom Wetter gebleicht. Schmuck, grau und angelaufen.

Sie ist tot, so tot wie meine Opfer sind, wenn ich mit ihnen fertig bin.

Doch ... der Mann und die Frau sind in meinem Bann und ihre Psyche, ihr Geist spiegelt ihnen vor, was ich möchte.

Sie sehen die Vogelscheuche von ihrem Holzgerüst steigen.

Sie sehen, wie sie die silberne Sichel schwingt.

Sie glauben sich von ihr verfolgt.
 

Sie haben Angst.

Angst!

ANGST!!!!!
 

Ich trinke die Angst, sie schmeckt so gut. Ich berausche mich daran, bin trunken davon.
 

Sie versuchen zu fliehen, doch sie kommen nicht vom Fleck.

Sie glauben zu rennen, doch sie sitzen im nassen Laub. Um sie herum der Geruch von vermodernden Blättern und Äpfeln.

Fauligen Äpfeln.

Gärigen Äpfeln.

Der Geruch, der sie überwältigt und ihren Ekel, ihre Angst noch schürt.

Die Sichel liegt zu ihren Füßen.

Sie glauben sie in den Händen der Scheuche.

Doch nicht die Scheuche ist es, die ihnen die Kehle durchtrennt.
 

Nein.

Das machen sie selber.
 

Meist war es der Mann, der zuerst der Frau und dann sich selber den Hals durchschnitt.

Über viele Jahrhunderte waren die Männer stark und die Frauen schön ... jedenfalls war das ihre Art, die Welt zu sehen.

Heute ist das ausgeglichener, die Frauen sind nicht mehr die hilflosen Wesen, die beschützt werden müssen und die Männer trauen sich, Angst zu haben.

Also ist es heute manchmal auch die Frau, die den ersten Schnitt vollführt.
 

Und wenn sie dann ausbluten, dann schwelge ich in meinem Opfer.
 

Ihr Blut!

Mmmmmhhh!

Oh und ihre Angst! Die ist köstlich, delikat!
 

Jedes Jahr wieder, zur Zeit, wenn die Nebel kommen und die kalten Nächte ...
 

* * *
 

Nun, es ist wieder so weit.

Die kalten Nebel ziehen schon seit Tagen durch den Hain.

Der Geruch nach Äpfeln liegt schwer und süß über dem Land.

Die Nächte sind kalt.
 

Gestern haben die Menschen den letzten Apfel gepflückt.
 

Heute werden sie mir opfern.

Sie haben Apfelsoße gekocht.

Sie haben Braten gemacht.

Sei haben Apfelkuchen gebacken.

Sie haben das Opferpaar auserkoren.
 

Heute Abend werde ich schlemmen.
 

Der Nebel zieht auf.
 

Ich warte.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück