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Believe without limits

von

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Der Karabiner

Lilly wirft einen prüfenden Blick aus dem Fenster. Jessy sitzt mit geschlossenen Augen auf der Anhöhe. Es sieht aus, als würde er meditieren. Sie bildet sich das Ganze also nicht ein. Fast so als spüre er ihren Blick, öffnet er die Augen und schaut zu ihr hoch. Sofort tritt sie in den Schatten zurück. Zögernd geht sie zur Anhöhe zurück. Wieder versucht sie das Humpeln zu unterdrücken, doch der Schmerz ist stärker geworden und sie kommt die Anhöhe nicht ohne einen leisen Schmerzenslaut hinauf.

„Sind wohl doch nicht nur Schrammen…“

Mit ihrem Schlafsack auf einem Arm greift Jessy ihr mit dem anderen stützend unter die Arme. So bringt er sie zur Terrasse der Hütte zurück, wo sich Lilly auf die Holzbank setzt. Jessy rückt sich einen Stuhl zurecht und legt sich den verletzten Fuß aufs Knie.

„Du hattest Besuch!“

Lilly nickt nur.

„Der Engel meinte, du hättest Antworten für mich…“

„Auf welche Fragen?“

Jessys Aufmerksamkeit bleibt auf den Fuß gerichtet. Er streicht mit langsamen Bewegungen über den Spann und am Sprunggelenk entlang. Lilly blickt zu den Lichtern ins Tal. Ihre Miene verfinstert sich zusehends.

„Ich werde morgen absteigen und wieder in der Realität ankommen…“

„Diese Nacht hast du ja noch.“

„Was soll diese Nacht zu den anderen Nächten ändern, Jessy?“

Jessy fährt ruhig mit den Bewegungen fort und die Schmerzen sind verschwunden. Lilly entzieht Jessy vorsichtig den Fuß. Im Schneidersitz wickelt sie den Schlafsack um sich. Ein Gähnen folgt.

„Lass mir bitte diese eine ruhige Nacht hier oben! Alleine! Bitte…“

Der Angesprochene nickt. Er erhebt sich mit einem nachdenklichen Blick.

„Du entscheidest, ob du mit mir sprichst oder nicht, Lilly! Doch ich lasse dich hier heute nicht alleine. Du findest mich in Rufweite, falls du Gesellschaft möchtest. Ich bin da.“

Bevor er aus ihrem Blickfeld verschwindet, bleibt er noch einmal stehen.

„Zweifle nicht an dieser Nacht oder an diesem Ort. Dich zieht es nicht ohne Grund hier hoch. Hier spürst du uns.“

Lilly bleibt eine Antwort schuldig. Sie wickelt sich in die Decke ein und legt sich müde auf die Bank. Trotzdem ist an Schlaf nicht zu denken, doch ihre Gedanken veranstalten eine wilde Achterbahnfahrt. Irgendwann ruft sie leise nach ihm. Sofort geht Jessy vor ihr in die Hocke und greift nach den in die Decke verkrampften Händen.

„Lilly … Ich versichere dir, dass alles in Ordnung ist. Du musst dir keine Sorgen machen, noch vor irgendetwas Angst haben.“

Lilly schluckt. Langsam steht sie auf und lehnt sich mit Blick zum Gletscher an das Geländer. Eine kühle Brise weht vom die Gipfel herunter.

„Was geht dir gerade durch den Kopf?“

Lilly schlingt die Arme um sich, schließt die Augen und atmet die frische Luft tief ein. Ein entspannter Ausdruck huscht über ihr Gesicht, bevor sich ihre Miene wieder verdunkelt.

„Was soll ich noch in der Kirche, Jessy? Warum kann ich nicht einfach hier oben bleiben? Hier seid ihr mir so nah.“

In Gedanken hat sie bereits die Fassung verloren. Prompt dreht sie sich von Jessy weg. Ihre Hände sind zu Fäusten geballt. Gezwungen langsam legt sie die Fäuste über das Geländer und öffnet sie nur unter großer Willensanstrengung. Jessy stellt sich neben sie.

„Lass es raus, es ist okay! Du musst die Wut nicht verstecken, zumindest nicht vor mir. Ich kann dich sogar gut verstehen.“

Überrascht schaut Lilly ihn an.

„Ich bin selbst ein Mensch mit den menschlichen Schwächen.“

„Das wird nur anders verkauft… Ich will nicht zurück zu den Heuchlern! Diese Vollidioten, Arschlöcher, Kinderschänder… Hurensöhne… Warum kann ich nicht einfach austreten und Schluss?“

„Du kannst nicht austreten, weil du glaubst. Der Glaube ist dir wichtig.“

Lilly schüttelt abwehrend den Kopf.

„Ich glaube nicht….

Jessy lacht laut.

„Oh doch, Lilly, du glaubst und er ist tief verwurzelt in dir.“

„Das fängt doch schon bei Gott an. Ich kann ihn nicht als Vater sehen. Du hast uns das Vater Unser gegeben und ich… ich kann es nicht beten… schon länger nicht! Dann beschreite ich regelmäßig verschiedene Abwege. Der Morgenstern ist mir näher als Gott.“

„Na und? Wer sagt denn, dass der Morgenstern der Gegenspieler zu Elohim ist? Du betest mit dem Herzen und auch einen Gottesdienst feierst du mit dem Herzen. Wenn es sich nicht richtig anfühlt, dann lass es. Doch fehlender Mut sollten kein Beweggrund sein.“

Jessy setzt sich auf eine Bank am Haus und bedeutet Lilly, sich zu ihm zu setzen. Sie wendet sich lediglich zu ihm um.

„So einfach soll es sein?“

Jessy lächelt nur.

„Eigentlich schon! Erinnerst du dich an das Gleichnis vom verlorenen Schaf?“

„Der Hirte fängt es ein und bringt es zur Gemeinschaft zurück. Und da hätten wir auch schon den Unterschied zwischen mir und diesem Schaf: Ich will gar nicht zur Gemeinschaft zurück! Nie wieder zu diesen … Heuchlern!“

Lilly schluckt mühsam die eigentlichen Namen herunter. Der Sitzende schaut entspannt in die Sterne.

„Der Hirte merkt schnell, dass ihm ein Schaf fehlt und geht es sofort suchen. Das Schaf wird also nicht alleine gelassen. Es lässt sich finden und entscheidet sich zur Herde zurückzukehren. Sehe jetzt keinen Mann der Kirche an Stelle des Hirten. Ich bin dieser Hirte und du kannst dir sicher sein, dass ich dich nicht alleine lassen werde. Ganz egal, wo du dich gerade rumtreibst.“

Er lächelt kurz.

„Ich weiß von deinen Begegnungen mit dem Morgenstern… Die Kirchen und der Glaube sind nicht zwangsläufig identisch.“

Lilly wickelt sich wieder in ihren Schlafsack ein. Nachdenklich begegnet sie seinem Blick.

„Ist das hier gerade die Zusicherung, dass du mich sowieso nicht mehr alleine lässt?“

„Sozusagen.“

Jessy holt einen roten Karabiner aus seiner Tasche und legt ihn Lilly in die Hand.

„Vielleicht verdeutlicht das hier das Ganze nochmal. Du bist an mir gesichert. Wenn du fällst, kannst du nicht tiefer fallen als ins Seil. Allerdings achtet der ein oder andere am Wegesrand durchaus auch auf dich. Wie lange du das Seil zwischen uns werden lässt, ist meine Verantwortung. Aus Irrwegen hole ich dich raus. Ein ungebremster Absturz ist nicht möglich.“

Während der Beschreibung betrachtet sie den Karabiner und wiegt ihn in der Hand. Danach schmunzelt sie.

„Das Bild ist durchaus interessant…“

Jessy lächelt zufrieden.

„Vielleicht erlaubst du irgendwann, dass mein Vater dich ebenfalls sichern darf. Als Freund, Vertrauter, Begleiter, … ganz egal. Mach den Karabiner als Erinnerungsstück irgendwo fest.“

Lilly mustert Jessy nachdenklich.

„Und was deine Zweifel betrifft: Bete so, wie du es gerade kannst. Niemand setzt dich unter Druck. Es gibt kein richtig oder falsch. Dann ist es eben nicht das von der Kirche aufgestellte Glaubensbekenntnis oder das Vater Unser. Na und? Ich kann mein Samenkorn bei dir wachsen sehen. Das genügt mir.“

Lilly lacht bei der Vorstellung im Gottesdienst nicht die Worte mitzusprechen.

„Wenn es überhaupt jemandem auffällt, kommt ihr miteinander ins Gespräch.“

„Es wird nicht leicht sein, mich zu zeigen…“

„Ich freue mich jedenfalls, wenn du dich zeigst. Egal ob vorne oder neuerdings in der letzten Reihe. Erinnerst du dich noch an das Dorf, wo dein Geist Zuflucht fand, während du schliefst?“

Lilly nickt.

„Dein Haus war rot angestrichen, nicht?“

„Ist es sogar noch… Du warst oft und gerne bei mir zu Gast. Die Tür steht dir zu jeder Zeit offen. Auch erwachsene Geister finden dort einen sicheren Platz zum Auftanken. Nicht nur für Kinder geeignet!“

Jessy grinst verschmitzt. Ein Grinsen, dass das Gegenüber ansteckt.

„Der alte Weg durch den Wald?“

„Natürlich, oder du nimmst den Weg von hier. Die gelbe Tanne auf dem Stein! Berühre sie und du kommst zum Tor.“

Ihr Blick wandert zum besagten Gewächs, dann zum Karabiner in ihrer Hand. Vorsichtig steht sie auf und belastet zaghaft den zumindest zu Beginn des Gespräches noch verletzten Fuß. Er ist voll belastbar und Lilly seufzt.

„Du konntest es wohl nicht lassen.“

Jessy hebt unschuldig die Hände.

„Du musst den ganzen Weg zurücklaufen können und ich war für die Verletzung verantwortlich. Verzeih, ich konnte nicht anders. Lass mich den Karabiner noch festmachen. Dann überlasse ich dich deiner wohlverdienten Nachtruhe.“

Sie reicht ihm den Gegenstand, den Jessy an einer Gürtelschnalle festmacht.

„Erinnere dich an mein Versprechen heute Abend. Selbst wenn alles reißt, bist du an mir festgemacht. Ich fange dich auf.“

„Danke! …Für alles!“

„Immer gerne! Bis zum nächsten Mal! Ich erwarte dich im Dorf. Bis dahin schau dich um, stelle deine Fragen und höre ihre Antworten an. Nimm die hilfreichen, verwerfe die anderen.“

Lilly salutiert. Sie geht in ihr Lager zurück. Als sie noch einen Blick durch das Fenster auf die Terrasse wirft, ist Jessy verschwunden. Lediglich der Karabiner bleibt als Erinnerungsstück.



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