Zum Inhalt der Seite

Noise Break

[Demonic Reverie]
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Kapitel 18: Du kennst mich doch gar nicht


 

Der erste Tag nach Sabias Warnung verlief noch harmlos. Man beachtete sie wieder, tuschelte hinter ihrem Rücken über sie, aber niemand tat etwas, worüber sie erleichtert war. Zumindest ein wenig, denn sie wollte sich nicht freuen, bevor sie sich nicht sicher sein konnte, dass sie auch zukünftig in Ruhe gelassen wurde.

Einen weiteren Tag später schien ihr Glück nämlich auch schon zu enden.

Nach einem ereignislosen Vormittag in der Schule begab sie sich auf den Weg nach Hause. Nach wie vor von Sabias Worten verunsichert, sah Nerida sich immer wieder um, damit sie nicht von hinten überfallen werden konnte. Niemand verfolgte sie, doch ihre Furcht wollte sie nicht in Ruhe lassen, bevor sie nicht wieder zu Hause wäre, in Athamos, wo sie in Sicherheit war, weil niemand, der ihr etwas Böses wollte, sich dort befand.

Bist du dir da so sicher?, fragte eine innere Stimme.

Nerida verscheuchte diesen Zweifler in ihrem Kopf, damit sie sich nicht auch noch damit herumschlagen musste. War es nicht schon genug, dass sie Angst hatte?

Die meisten Straßen, auf denen Nerida in Richtung Athamos lief, waren auch an diesem Nachmittag bevölkert. Aufgrund der Kälte liefen die Menschen in dicke Mäntel gehüllt mit schnellen Schritten umher, um sich der Wärme schnellstmöglich zu nähern. Keiner von ihnen achtete auf sie, die lediglich deswegen warm gekleidet war, um kein Aufsehen zu erregen. Ihr wurde nicht kalt, doch selbst wenn, so war ihr das wesentlich lieber als die Hitze, die in manchem Sommer diese Stadt in Beschlag nahm und der sie erst in Athamos wieder entgehen konnte, sobald sie bei ihrer Mutter war. Vielleicht lag es deswegen also an ihrer hohen Toleranz für diese niedrigen Temperaturen oder ihre fehlende Fitness, dass sie wesentlich langsamer lief als alle anderen – und dass sie kaum reagieren konnte, als jemand sie plötzlich am Arm packte und in eine Seitengasse hineinzog.

Ihr entfuhr lediglich ein leiser Schrei, jemand drückte sie gegen die Hauswand.

»Hallo, Belfond~«, säuselte eine Stimme.

Neridas Inneres schien sofort zu gefrieren, aber auf eine äußerst unangenehme Art. Es war Orabela, die sie mit einer Mischung aus Spott und Verachtung musterte. »Hast du uns vermisst? Ich weiß nicht, was die letzte Zeit mit uns los war, dass wir dich komplett vergessen haben, aber das war doch ziemlich unhöflich, oder?«

Charity, die Nerida gegen die Wand drückte, nickte. Statt etwas zu sagen, kaute sie provokant auf ihrem Kaugummi, der einen leichten Duft von Erdbeeren verströmte.

Nerida wollte mit dem Kopf schütteln, doch schon die Andeutung einer Bewegung führte dazu, dass Charitys Griff sich wie ein Schraubstock enger um ihr Handgelenk legte. Sie presste die Zähne zusammen, um keinen weiteren Laut von sich zu geben.

»Natürlich haben wir dich nicht vergessen«, sagte Orabela. »Auch nicht, was du mit Bernice angestellt hast. Wie auch immer jemand wie du sie ins Krankenhaus befördern konnte.«

War sie noch dort? Nerida hatte nie nachgeforscht, nie auch nur daran gedacht, danach zu fragen. Hätte sie das doch nur getan – obwohl sie bezweifelte, dass dann etwas an dieser Situation anders wäre. Vielleicht wäre sie sogar nur früher darin gelandet.

Orabela seufzte gekünstelt. »Selbst jetzt kannst du nichts dazu sagen, was?«

»Es ist doch ohnehin egal«, erwiderte Nerida leise.

Darauf leuchteten Orabelas Augen förmlich auf. »Oh, wie gut du uns durchschaut hast, Belfond. Es ist mir nämlich tatsächlich egal, was du denkst. Und Charity auch. Bist du jetzt stolz auf dich?«

Nerida schwieg. Wenn sie wollte, so viel war ihr klar, könnte sie sich einfach befreien. Sie müsste die beiden Mädchen nur einfrieren und dann ihrer Wege gehen. Mit Sicherheit bekäme sie in diesem Fall Probleme mit Abteracht, aber solange sie aufpasste, dass keine der beiden direkt erfror, dürfte sie mit einem blauen Auge davonkommen. Doch was dann? Die beiden würden nicht vergessen, was sie getan hatte, stattdessen wäre es nur ein weiterer Grund, sie auszugrenzen und ihr vielleicht noch schlimmere Dinge anzutun. Und selbst wenn sie ihre Fähigkeiten vergaßen, weil Abteracht nachhalf, änderte das nichts an ihrer täglichen Situation. Vielleicht würde sie dann nur dazu gezwungen werden, auch Dämonenjäger zu werden, um zu lernen, wie sie verantwortungsvoll mit ihren Fähigkeiten umging.

Natürlich könnte sie auch die Störbrecher-Kräfte einsetzen, so wie Sabia es getan hatte – aber genau dieser Gedanke hielt sie davon ab. Sie wollte nicht wie Sabia sein, nicht ihr Können dafür einsetzen, um Menschen zu ändern, nur weil sie ihr so besser gefielen.

Orabela tippte ihr hart gegen die Stirn. »Nicht träumen, Belfond. Wir haben dir noch gar nicht gesagt, was wir eigentlich von dir wollen. Du hast aber auch noch gar nicht gefragt, wie unhöflich!«

»Ja, richtig unhöflich!«, betonte Charity. »So behandelt man keine alten Freunde!«

Nerida drückte sich von der Mauer weg, kämpfte gegen Charitys Kraft, die ihr viel zu groß für einen Menschen vorkam. »Können wir das nicht in der Schule bereden?«

»Nein, können wir nicht!« Charity presste sie fester gegen die Wand, als wolle sie Nerida damit verschmelzen lassen, egal, was es kostete.

Ihr Blick huschte zur Seite, an Orabela vorbei. Auf der Straße liefen immer noch Menschen umher, keiner von ihnen sah in die Gasse oder verlangsamte auch nur mal seine Schritte, weil er etwas Eigenartiges wahrnahm. Als wären sie losgelöst von der wirklichen Welt. Jemanden von ihnen anzusprechen war mit Sicherheit unnütz, Erwachsene kümmerten sich nicht um die Streitigkeiten von Kindern oder Jugendlichen.

Orabela sah sie aufmerksam an. Um weiteren Schmerzen zu entgehen fragte Nerida: »Was wollt ihr von mir?«

»Von dir gar nichts«, erwiderte Orabela. »Wir müssen uns immerhin dafür entschuldigen, dass wir so lange brauchten, uns wieder Zeit für dich zu nehmen.«

»Und dafür«, sagte Charity, »haben wir sogar Freunde mitgebracht.«

Alarmiert sah Nerida in die andere Richtung. Sie war so sehr von den beiden Mädchen abgelenkt gewesen, dass ihr nicht die beiden Kerle aufgefallen waren, die nun näherkamen. Sie waren ebenfalls auf ihrer Schule, sie hatte sie schon oft in den Gängen gesehen, aber sie waren älter als sie, deswegen kannte Nerida ihre Namen nicht; im Moment trugen sie Jogginganzüge, als kämen sie gerade von irgendeinem Training.

»Das ist sie also?«, fragte einer von ihnen, der größere mit rasiertem Kopf. »Kann mich nicht erinnern, die mal gesehen zu haben.«

»Umso besser.« Der andere, kleiner, dafür stämmiger, dem sogar die ersten Bartstoppeln wuchsen, zuckte mit den Schultern. »Wenn nicht mal wir uns an sie erinnern, tun das auch alle anderen nicht, also wird ihr keiner zuhören, wenn sie petzen geht.«

»Das wird sie schon nicht«, sagte Orabela. »Sie sollte eher froh sein, so viel Aufmerksamkeit zu bekommen – und das als Entschuldigung~.«

Die Gedanken in Neridas Inneren wirbelten einem Sturm gleich durcheinander, immer wieder unterbrochen von der Aufforderung, dass sie endlich ihre Kräfte freisetzen sollte, um sich aus dieser Situation zu befreien, die sie noch nicht verstand – nein, die sie nicht verstehen wollte. Was auch immer diese Kerle mit ihr vorhaben könnten, sie wollte nicht einmal im Ansatz darüber nachdenken, denn sobald es ihr erst einmal bewusst wurde, käme sie nicht umhin, ihre Kräfte einzusetzen, um jemanden umzubringen. Jedenfalls war das die Meinung ihres rationalen Verstandes, der sie vor der emotionalen Seite bewahren wollte. Einfach nicht darüber nachdenken, nur so kommt es zu keinem Mord.

Charity zog sie von der Wand weg, verdrehte ihre Arme so schmerzhaft, dass Nerida leise keuchte. Ihr Puls schoss in die Höhe, als sie auf die Knie gezwungen wurde, ihre Atmung beschleunigte sich. Sie sollte etwas sagen, sich wehren, ohne dabei jemanden zu töten. Aber die Worte steckten in ihrem Hals, ihr bewegungsloser Körper glich einem Reh im Scheinwerferlicht. Nicht einmal die Stimme in ihrem Kopf brachte irgendeinen Einwand oder Vorschlag, der über Nicht nachdenken hinausging.

Der Große lachte. »Die Kleine wehrt sich nicht mal. Sieht eher aus, als könne sie es gar nicht erwarten, dass wir anfangen.«

Mit ausgebreiteten Armen trat Orabela zurück in Richtung Straße. »Dann lasst sie nicht länger warten, Jungs. Wir haben sie viel zu lange ignoriert, das müssen wir wiedergutmachen.«

Der Blonde trat einen Schritt vor, gleichzeitig sammelte sich Kälte an Neridas Händen. Sie müsste die Energie nur loslassen, nicht einmal zielen oder sonst etwas, einfach nur … loslassen. Und das müsste schnell geschehen, bevor sie darüber nachdenken könnte und noch ehe die Jungs ihre scheußlichen Pläne in die Tat umsetzen könnten.

Sie schloss die Augen, sie wollte nicht mitansehen müssen, was sie gleich täte – als plötzlich eine neue Stimme hinter ihr erklang: »Hey! Was tut ihr da?!«

Die Jungs vor ihr fluchten, Orabela ließ sich dagegen nicht aus der Ruhe bringen: »Das ist eine private Angelegenheit, Sir.«

Innerlich flehte sie die Person an, nicht einfach weiterzugehen, sondern ihr zu helfen. Bei seinen folgenden Worten atmete sie erleichtert auf: »Willst du mich verarschen?! Lasst das Mädchen in Ruhe und haut gefälligst ab!«

Für einen Moment schwiegen alle, was dem Mann nicht zu gefallen schien: »Wird's bald?!«

Schlurfende Schritte entfernten sich widerwillig von Nerida. Jemand beugte sich zu ihr herunter, direkt neben ihr Gesicht. »Noch mal Glück gehabt, Belfond.« Ein Hauch von Erdbeere. »Aber es wird nicht immer irgendein Ritter für dich da sein.«

Dann ließ sie Nerida los, weitere Schritte entfernten sich von ihr. Dennoch traute sie sich noch nicht, die Augen wieder zu öffnen oder gar aufzustehen. Stattdessen sank sie noch tiefer in sich zusammen und legte die taub gewordenen Hände auf ihre Ohren. Wenn sie nichts mehr wahrnahm, nie wieder, könnte sie vielleicht selbst verschwinden. Alles wäre so schnell zu Ende, wenn sie ihre Kräfte einfach auf sich selbst anwandte. Was hielt sie eigentlich davon ab?

Nun, im Moment war das tatsächlich ihr Retter, der sich zu ihr beugte. »Hey, alles okay?«

Als er mit ihr sprach, klang seine Stimme anders, besorgt, sanft, keine Spur von der Aggressivität, die er den anderen entgegengebracht hatte. »Die Idioten sind weg, du bist wieder sicher.«

Sie konnte sich nichts antun, wenn jemand da war, der sich solche Gedanken um sie zu machen schien, besonders wenn sie sich nicht zuvor für seine Hilfe bedankt hatte. Also öffnete sie ihre Augen wieder und sah den Mann an. Er wirkte noch recht jung, trotz des bitteren Zugs um seine dunklen Augen, der durch seine zusammengezogenen Brauen noch mehr hervorstach.

Sie bedankte sich murmelnd, versicherte ihm, dass es ihr gutging und ließ sich von ihm aufhelfen. Sein musternder Blick lag selbst dann noch auf ihr, als sie sich den Schmutz von ihrem Rock klopfte. Ihr Herz schlug immer noch viel zu schnell, aber sie war dem schlimmsten entkommen – vorerst. Wie Charity gesagt hatte, nichts würde sie an anderen Tagen von ihrem Vorhaben abhalten, außer vielleicht das Einsetzen ihrer Kräfte. Aber sollte sie das an ihnen tun oder an ihr selbst? Letzteres würde ihr sicher weniger Ärger einbringen.

»Hey, Kleine«, sagte der Mann, um sie wieder auf sich aufmerksam zu machen.

»Ich bin wirklich okay«, sagte sie, mit etwas mehr Nachdruck diesmal.

Dennoch wandte er sich nicht von ihr ab. Als sie ihn irritiert ansah, schnippte er mit den Fingern. »Jetzt weiß ich es!«

Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück. Er imitierte ihre Bewegung in die andere Richtung und hob die Hände. »Woah, tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich habe nur die ganze Zeit überlegt, woher ich dich kenne – und jetzt ist es mir eingefallen.«

Nerida ballte eine Hand zur Faust und hielt diese hinter ihren Rücken. Ihr Arm zitterte, ihr Blut rauschte in ihren Ohren. Falls das ein Anmachspruch – wie Darien es nennen würde – sein sollte, so konnte sie damit nichts anfangen, besonders nicht nach dem, was gerade fast geschehen wäre, worüber sie immer noch nicht nachdenken wollte. Diesen Mann, diesen Fremden, würde sie einfrieren, sofern er ihr auch nur zu nahe kam. Das hatte er glücklicherweise aber auch nicht vor, stattdessen stellte er ihr eine Frage: »Du bist die kleine Belfond, nicht wahr? Konias Tochter?«

Sie stutzte, betrachtete ihn nun selbst mit gerunzelter Stirn. Ihren Nachnamen hätte er noch von den anderen aufschnappen können, aber nicht den ihrer Mutter. »Woher wissen Sie das?«

»Na ja, ich hab auf den Familienfeiern manchmal Bilder von dir gesehen.« Er legte eine gespreizte Hand auf sein Herz. »Ich bin der Cousin von Amy und Mya, Farran Lane.«

 

Lanes waren vertrauenswürdig, das wusste jeder, der irgendetwas mit einer der drei Schulen zu tun hatte. Deswegen legte Nerida jegliches Misstrauen (oder zumindest das meiste) ihm gegenüber ab und ließ sich von ihm in einem nahegelegenen kleinen Park zu einem Getränk einladen. Sie wusste nur wenig über Farran, weil er mit kaum einem Familienmitglied wirklich Kontakt hielt; er war derjenige, der mit einem gequälten Lächeln irgendwo im Hintergrund saß, wenn auf den Feiern Fotos gemacht wurden, er redete kaum, kam als letzter und ging als erster; Amy oder Mya sprachen quasi nie über ihn. Aus verschiedenen Geschichten, die ihr erzählt worden waren, wusste Nerida lediglich, dass Farran vor vielen Jahren etwas Schlimmes getan hatte, weswegen er nicht nur eine Haftstrafe in Abteracht verbüßt (als erster Gefangener der Schule überhaupt), sondern sich auch von der Familie abgekapselt hatte. Außerdem wusste sie, dass er zu den Fängern gehörte, jener elitären Gruppe Abterachts, die Dämonen lebendig einfingen, damit sie erforscht werden konnten.

Bislang hatte sie nie wirklich über diesen Mann nachgedacht, aber wäre sie danach gefragt worden, hätte sie angegeben, dass sie sich eine Person mit einem solchen Lebenslauf als arroganten Draufgänger vorstellte, der keinen Blick für jemanden wie sie übrig hatte.

Aber nun saß sie neben dem leibhaftigen Farran auf einer Bank, in der Hand eine kleine Flasche Mineralwasser, die er ihr an einem Kiosk gekauft hatte. Er nippte an einer Coladose, sein Blick ging in die Ferne, verlor sich zwischen den Bäumen und den Arbeitern, die deren abgefallenes Laub zu kleinen Haufen harkten. Selbst dabei war der bittere Zug auf seinem Gesicht deutlich. Würde sie irgendwann auch einen solchen haben? Oder war es schon zu spät und ihr fiel es nur nicht mehr auf, weil sie sich jeden Tag im Spiegel sah?

Plötzlich nahm er einen großen Schluck, ehe er sich ihr zuwandte. »Okay, Nerida, also … diese Personen vorhin, kanntest du die?«

»Flüchtig.«

»Machen die so was öfter mit dir?«

Sie nickte schweigend, erwartete, dieselben hilfreichen Ratschläge zu hören, die sie bereits in verschiedenen Medien gelesen hatte. Ignorier sie einfach oder Melde sie einem Lehrer mochten sich nett anhören, aber in der Realität waren sie nutzlos. Sie zu ignorieren führte dazu, dass sie immer krassere Methoden anwandten, wie sie nun festgestellt hatte, sie dem Lehrer zu melden war mit viel Glück lediglich nutzlos, mit viel Pech sorgte es ebenfalls für eine Verschlimmerung.

Aber Farran überraschte sie mit seiner Reaktion: »Als ich jung war, wurde ich auch gemobbt. Ich hätte den Abstellraum meiner Schule als neuen Wohnsitz anmelden können, so oft wie ich dort eingesperrt wurde. Und meistens wurde ich davor noch übel verprügelt – oder danach, wenn ich mich zu schnell befreien konnte.«

Es fiel ihr schwer, sich das vorzustellen. Sie kannte nicht viele Dämonenjäger – und Fänger schon gar nicht – aber Darien, Amy und Mya hatten zumindest keine Probleme mit anderen. Bislang war sie deswegen davon ausgegangen, dass es nicht nur an ihrer anderen Ausstrahlung lag, sondern auch an ihrem introvertierten Verhalten – und der Tatsache, dass sie ein perfektes Opfer abgab. Aber Farran konnte sie sich nicht als solches vorstellen. Natürlich wusste sie nichts darüber, wie er als Kind gewesen war, aber es erschien ihr unmöglich, dass er damals so anders gewesen war.

»Warum haben die das getan?«

Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht war ihnen einfach langweilig und sie glaubten, wenn sie den einen Kerl verprügeln, der nicht zu ihrem Freundeskreis gehört, wäre das eine sinnvolle Beschäftigung.«

In seiner Stimme war keinerlei Verbitterung wahrzunehmen. Dieser Teil seiner Vergangenheit war also nicht das, was ihn so sehr leiden ließ, es schien ihn nicht einmal mehr zu stören, sie fragte sich, warum. Geschah das, wenn man älter wurde? Oder waren ihm in der Zwischenzeit noch schlimmere Dinge geschehen? Und waren das dann jene Dinge, die ihn bitter werden ließen?

»Du warst doch ein Junge«, erinnerte sie ihn. »Warum hast du dich nie gegen sie gewehrt?«

Bislang war sie der Meinung gewesen, dass es für Jungs einfacher sein musste, sich gegen Mobbing zu wehren. Stimmte das etwa nicht?

Er griff sich mit einer Hand an den Hinterkopf, fuhr sich dort durch das schulterlange schwarze Haar, das nur zu einem Teil in einem unordentlichen Knoten festgebunden war. »Na ja, ehrlich gesagt war mir das zu viel Stress. Natürlich hätte ich sie einfach fertigmachen können, aber was das alles nach sich gezogen hätte …«

Also waren es ähnliche Überlegungen wie ihre gewesen. Selbst Farran wäre von Abteracht zur Rechenschaft gezogen worden.

»Außerdem«, fuhr er fort, »hatte ich Jahre davor schon etwas getan, was mich befürchten ließ, dass ich die Kontrolle verlieren könnte, wenn ich meine Kräfte gegen Menschen einsetzte.«

Erleichterung durchströmte Nerida, sie atmete überrascht ein. »Die Befürchtung habe ich bei mir auch. D-deswegen wehre ich mich ebenfalls nicht.«

Er lächelte sie an. »Das ist irgendwie viel beruhigender, oder? Als ich in deinem Alter war, hatte ich eine Freundin, die einfach nicht verstehen konnte, warum ich mir das gefallen ließ, egal, wie oft ich es ihr erklärte.«

So ähnlich wie Sabia, sie konnte das auch nicht verstehen. Aber es war wirklich angenehm, jemanden zu treffen, der dieselbe Befürchtung hegte wie sie, nachdem sie sich so lange unverstanden gefühlt hatte.

»Wie hat das schließlich geendet?«, fragte Nerida.

»Ich bin nach Abteracht gegangen.«

Sie verzog ihr Gesicht bei dem Gedanken. Parthalan hatte sie gefragt, ob sie mit Darien ihre Ausbildung beginnen wollte, aber nach Abteracht zu gehen war für sie keine Option. Sie hegte kein Interesse daran, Dämonenjägerin zu sein – und für ihre Ausbildung in Athamos musste sie erst die normale Schule beenden, das war Jiis Regel.

Er interpretierte ihren Gesichtsausdruck richtig: »Ich wollte ursprünglich auch nicht nach Abteracht. Aber die Umstände führten dann dazu, dass ich es doch tat.«

»Ein Lane, der nicht nach Abteracht wollte?«

Ihr Unglauben entlockte ihm ein bitteres Lachen. »Unvorstellbar, was? Ursprünglich wollte ich gern viele andere Dinge tun, aber ich nahm dann doch keinen anderen Weg. Und jetzt bin ich eben ein Fänger.«

Sie hatte ihn wirklich komplett falsch eingeschätzt. Er schien nicht im Mindesten stolz auf seine Position, sogar nun hingen seine Schultern kraftlos nach unten, während er auf den Boden blickte. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie sogar, den blauen Umriss einer Frau neben ihm sitzen zu sehen, aber nach einem Blinzeln war die Erscheinung wieder fort.

Sollte sie ihn nach den Umständen fragen, die dazu geführt hatten? Oder hätte er diese bereits genannt, wenn er das wollte? Im Grunde war sie ja eine Fremde für ihn, warum sollte er ihr das also erzählen? Nein, es war mit Sicherheit nicht angebracht, ihn zu fragen, obwohl sie neugierig geworden war.

»Hast du deinen Eltern eigentlich mal von diesen Mobbern berichtet?«, fragte er.

»Nein.« Sie seufzte schwer. »Sie haben genug Probleme mit ihren Sorgen um Darien und ihrer Arbeit, da will ich ihnen nicht noch das aufbürden.«

Außerdem könnten sie auch nichts tun – außer dass Vane vielleicht seine Schall-Prägung einsetzen könnte, aber das wäre dasselbe Prinzip wie bei Sabias Vorschlag. Nerida wollte nicht, dass irgendwer seine Kräfte einsetzte, um jemanden zu ändern, sie wollte, dass Orabela und die anderen von selbst damit aufhörten, nur dann wäre sie wirklich frei von ihnen. Das war aber natürlich eine unsinnige Hoffnung.

Farran nickte verstehend. Offenbar war es bei ihm ähnlich gewesen. Außerdem kannte Nerida seinen Vater, Lowe, ein wenig. Er war stets ausgelassen, fröhlich und wirkte nie wirklich bedrückt, als wären alle Probleme der Welt fern von ihm. Jemandem wie ihm konnte man keine weltlichen Schwierigkeiten darlegen und dann hoffen, dass er sie löste oder auch nur verstand.

Farran nahm wieder einen großen Schluck aus der Coladose, danach wirkte er sofort ein wenig besser gelaunt, als er sich ihr zuwandte: »Ich nehme mal an, du wirst diese Gruppe vorhin morgen wieder in der Schule treffen.«

Daran hatte sie noch nicht einmal im Entferntesten denken wollen. Ihre Augen brannten ein wenig, deswegen senkte sie nun selbst den Blick. Sie drehte die inzwischen warm gewordene Flasche in ihren Händen, konzentrierte ihre Kräfte, um sie wieder etwas zu kühlen. Er zog daraus seinen eigenen Schluss: »Du musst dir keine Sorgen machen. Ich bin überzeugt, dass sie dich in Ruhe lassen werden.«

Sie drehte den Kopf ein wenig. »Was macht dich da so sicher?«

Statt zu antworten zwinkerte er ihr nur zu. Sie hoffte, dass er nichts Dummes tun würde, nicht wegen ihr. Sie wollte nicht, dass er Ärger bekam, nur weil er meinte, ihr helfen zu müssen. Doch als sie ihm das mitteilte, schüttelte er mit dem Kopf. »Wie gesagt, mach dir keine Sorgen. Ich weiß schon, worauf ich mich einlasse.«

Er griff in seine Tasche und zog eine Karte heraus, die er Nerida in die Hand drückte. Darauf stand sein Name und seine Handynummer. Auf ihren fragenden Blick lächelte er ein wenig. »Falls du nochmal Probleme hast, ruf mich einfach an.«

»Warum tust du das? Du kennst mich doch gar nicht.«

Er hatte sie einmal gerettet, weil er zufällig in der Gegend gewesen war, das verpflichtete ihn aber zu nichts, auch nicht, dass ihre Familien befreundet waren.

»Warum nicht?« Er zuckte mit den Schultern. »Wie gesagt, ich hab Ähnliches durchgemacht. Mir hat damals niemand geholfen, aber das bedeutet nicht, dass es dir genauso ergehen muss. Wenn du also reden willst, ruf mich einfach an. Gerade weil wir uns quasi gar nicht kennen, musst du keine Rücksicht auf mich nehmen und kannst mir einfach erzählen, wenn du Stress hast.«

Sie setzte zu einer Erwiderung an, doch er schnitt ihr das Wort ab: »Ich garantiere dir, dass du nie stören wirst. Wenn ich arbeite, gehe ich nicht ran, aber dann sprich mir einfach auf die Mailbox und ich rufe so schnell wie möglich zurück. Und hey, vielleicht hilft es dir ja schon, dir das einfach nur von der Seele zu reden. Mir hätte es damals jedenfalls manchmal echt den Tag gerettet.«

Mit heißen Wangen senkte sie den Blick auf die Karte. Möglicherweise hatte er ja recht, sie benötigte jemanden, der ihr zuhörte, der ihre Situation nachvollziehen konnte. Gerade wegen letzterem konnte sie nicht den Therapeuten besuchen, der mit ihrer Familie befreundet war; als Geißel hatte er nie eine Kindheit oder Jugend durchlebt, er war in der Schule nicht gemobbt worden, nicht fast …

Übelkeit stieg in ihr auf, als sie wieder daran dachte, was geschehen wäre, wenn Farran die anderen nicht weggejagt hätte. Das Mindeste, was sie als Dank dafür tun konnte, war, die Karte einzustecken und ihm zu versichern, dass sie anrufen würde, selbst wenn sie es nie täte. Aber vielleicht wäre sie doch irgendwann dazu bereit und dann könnte sie ihm sogar von Sabia erzählen.

»Danke, Farran.«

Als er diesmal lächelte, wirkte es wesentlich ehrlicher als zuvor, sogar der bittere Zug um seine Augen ließ dafür nach. »Dann ist es abgemacht.«

Er warf einen Blick auf seine Uhr und seufzte. »Okay, ich muss dann mal los. Ein paar Papageien warten schon auf mich.«

Sie blinzelte irritiert, er ignorierte das und stand auf. In derselben Bewegung nahm er einen besonders langen Schluck seiner Cola, dann warf er die Dose kommentarlos in die Mülltonne neben der Bank. Er wandte sich ihr noch einmal zu. »Mach's gut, Nerida. Und denk daran, mich anzurufen, falls irgendwas ist.«

Mit erhobener Hand drehte er sich weg und ging schließlich mit großen Schritten davon. Im Gegensatz zu zuvor war sein Rücken nun durchgestreckt, seine Schultern gerade. Es sah fast so aus, als ob er einen neuen Plan gefasst hätte, den er nun unbedingt durchführen wollte. Ihr blieb nur zu hoffen, dass es kein Unsinn war, der mit ihr zusammenhing.

Wieder sah sie auf die Karte hinab, neben der Flasche das einzige, was sie nun noch an diese Begegnung erinnern konnte. Bei jeder anderen Person wäre sie misstrauisch geworden – aber er war ein Lane, der Ähnliches durchgemacht hatte wie sie, der sie deswegen verstand. Sie wollte glauben, dass sie ihm trauen konnte, nur damit sie nicht mehr allein in dieser Situation war. Deswegen steckte sie die Karte ein, damit sie ihn irgendwann zumindest anschreiben könnte, falls ihr danach sein sollte.

Zuerst müsste sie aber endlich nach Hause und versuchen zu vergessen, was geschehen war. Dafür stand sie selbst auf, wählte einen der Wege und folgte diesem. Dabei behielt sie stets die Wasserflasche in der Hand, aus der sie noch nicht einmal einen Schluck genommen hatte, in der nun aber ein wenig Eis glitzerte.
 



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück