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Noise Break

[Demonic Reverie]
von

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Kapitel 5: Warum beschützt du mich?


 

Nerida blinzelte mehrmals. Aber das Mädchen – Sabia Agron – stand immer noch da, lächelnd sah sie auf sie herab. Ihr schwarzes Kleid schien nicht aus dieser Zeit zu stammen. Das Korsett war aus menschlichen Knochen gefertigt, was zu den skelettierten Händen, die ihren Hals umschlossen, passten. Der ausladende Rock, der eher an ein Ballkleid denken ließ, wirkte auf Nerida nicht wie eine angemessene Kampfgarderobe, genauso wenig wie die schwarzen kniehohen Stiefel mit den deutlichen Absätzen, die nur darauf warteten, dass man damit umknickte. Abgesehen von der Waffe passte nichts an Sabias Aussehen auf ein Kampffeld.

Die Situation war schlagartig noch verwirrender und surrealer geworden. Nerida wusste nicht, was sie sagen sollte. Kälte umspielte nach wie vor ihre Finger, zog sich nicht zurück. Zuvor hatte sie klar und deutlich denken können, aber nun kam es ihr vor als hätte ihr Gehirn aufgrund der Überbelastung ausgesetzt.

Mit einem Sprung begab sich Sabia an ihre Seite, dann reichte sie ihr die Hand. Ihr Lächeln löste in diesem Moment ein angenehm warmes Gefühl von Sicherheit in Nerida aus. Sie verstand weiterhin nicht, was vor sich ging, aber sie ließ sich von Sabia aufhelfen. Als sie wieder auf ihren Füßen stand, klopfte sie sich den Staub von ihrem Faltenrock, während sie ihre Fragen nach Wichtigkeit zu sortieren versuchte. Da ihr Gehirn aber immer noch aussetzte, gelang ihr das nicht so recht. Deswegen stieß sie ein Seufzen aus, als sie schließlich fertig war. »Was ist hier los?«

Sabia wischte ihr lächelnd ein wenig Dreck von der Schulter. »Ich sagte es bereits, du befindest dich in der Welt der Störungen

Unwillkürlich sah Nerida sich wieder um. Die Umgebung war immer noch verzerrt, die weinenden Gestalten waren überall zu sehen und Bernice lag auf dem Boden. Sterne kreisten um das Gebilde, das ihren Kopf darstellte, es war zu surreal als dass Nerida es glauben konnte. »Das ist doch alles nicht wahr.«

»Doch, ist es.« Sabia lächelte ihr zuversichtlich entgegen. »Aber mach dir keine Sorgen, ich bin hier, um dich zu beschützen.«

Sie hielt ihre Waffe nach oben, damit Nerida sie besser sehen konnte. Der kurze Lauf war mit efeuartigen Ornamenten verziert, der Griff aus Perlmutt in Gold eingefasst. Es war die schönste Schusswaffe, die sie jemals gesehen hatte, ob in der Realität oder in allen Medien.

»Warum tust du das?«, fragte Nerida. Sie kannten sich so gut wie gar nicht. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie jemals von Störungsbrechern gehört hatte. Also waren sie auf jeden Fall keine große Gruppe mit einem Moralkodex. »Warum beschützt du mich?«

Sabia lachte. »Zum einen bist du in Not, warum sollte ich es da nicht?«

Bernice regte sich wieder, die Sterne um ihren Kopf waren inzwischen verschwunden. Sabia sah ebenfalls hinüber, ihr Lächeln wurde von einem entschlossenen Ausdruck ersetzt. »Tja, ich fürchte, das werde ich dir später erklären müssen. Jetzt sollte ich mich erst einmal um diese Störung kümmern.«

Mit einem Sprung näherte sie sich dem Wesen. Die Pistole verschwand in einem hellen Licht, das sich verformte und sich dann als Reitgerte entpuppte. Damit versetzte sie Bernice einen heftigen Schlag, der diese zurückweichen ließ. Sabia drehte die Gerte in ihrer Hand und setzte dem Wesen nach. Das Lederband am oberen Ende der Waffe streifte Bernice, als diese auswich. Wütend stürzte sie sich gleich danach auf Sabia. Ein wabenförmiges Netz aus Licht erstrahlte zwischen den beiden. Bernice zuckte zurück, sie stieß einen wilden Schrei aus, der die gesamte Welt erbeben ließ.

Auch die anderen Wesen wurden nun auf diese Auseinandersetzung aufmerksam. Sie bewegten sich mit überraschender Geschwindigkeit auf Sabia zu. Sie zeigte sich davon aber nicht beeindruckt, stattdessen zog sie mit dem rechten Fuß einen Halbkreis auf dem Boden. Eine schillernde Linie entstand, aus der zahlreiche farbige Bänder erwuchsen. Sie schlangen sich um die anderen Gestalten, deren schwarze Formen geradewegs erdrückt zu werden schienen, dann wurden sie in die Luft gehoben, um dort wie überreife Früchte zu hängen.

Bernice knurrte. Ihr Körper wuchs wieder zu einer abnormalen Länge an, die mehr einer Riesenschlange glich. Sie stürzte sich auf Sabia, um diese zu verschlingen, so wie die Wesen vorhin. Diesmal erschien das Netz aus Licht nicht, dafür schwang Sabia wieder ihre Gerte – und verursachte eine lange Wunde quer über dem, was wohl das Gesicht sein sollte. Statt Blut quoll weißer Rauch hervor, der ebenfalls verzerrt und eckig aussah.

Obwohl alles derart echt wirkte, hoffte Nerida immer noch, dass es sich nur um einen Albtraum handelte. Eine für sie ungewöhnliche Form eines solchen – die ihr auf jeden Fall lieber wäre als die bisherige –, aber das änderte nichts an ihrer Hoffnung.

Bernice wand sich schmerzerfüllt, während der Rauch weiter ihre Wunde verließ und langsam die Welt erfüllte. Sabia trat an sie heran, sie packte die Ränder der Verletzung mit je einer Hand nachdem die Gerte verschwunden war – und zog sie kraftvoll auseinander.

Nerida keuchte, sie taumelte zurück. »W-warum tust du das?«

Von ihrer Reaktion aufgeschreckt, begannen die hängenden Formen zu zappeln, doch die Bänder entließen sie nicht aus ihrem Griff. Ein Chor von klagendem Stöhnen und Seufzen folgte.

Sabia warf einen Blick über die Schulter und zwinkerte ihr zu. »Ich sagte doch, ich erkläre dir alles, wenn ich mich hierum gekümmert habe. Keine Sorge.«

Sie widmete sich wieder dem Wesen, das Bernice sein sollte. Inzwischen wand es sich unter ihrem Griff, es litt eindeutig unter den ihm zugefügten Schmerzen. Sabia vergrub einen ihrer Arme bis zum Ellenbogen in dem Ding, das Zappeln wurde darauf stärker, ein leises Wimmern erklang dazu.

Nerida wich bis zur Wand zurück. Sie war unfähig, ihre Augen von dem Geschehen abzuwenden, obwohl sie glaubte, dieses eigenartige Grauen bald nicht mehr zu ertragen. Ihre Brust schmerzte bereits, eisiger Stahl zog sich quer hindurch.

Dann gab Sabia plötzlich ein triumphierendes Lachen von sich. Als sie den Arm wieder herauszog, hielt sie eine rot leuchtende Scherbe in der Hand. »Da ist sie ja~. Das war einfach.«

Nerida wusste nicht, worum es sich dabei handelte, warum es so wichtig war und weswegen es sich in dieser Verzerrung von Bernice befunden hatte. Aber der Anblick dieses einzelnen Splitters, dessen Kanten keinerlei Form folgten, genügte, um die Kälte in ihrer Brust zu vertreiben und stattdessen eine angenehme Wärme einfließen zu lassen. Sie wollte mehr davon, viel mehr.

Das Wesen lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich, unterbrach ihre Faszination für die Scherbe. Es sackte in sich zusammen und zerschmolz zu einer schwarzen Pfütze. Je mehr von ihr verschwand, desto deutlicher und reeller wurde die Welt wieder. Nerida erkannte nun auch, dass sie sich in einer Seitenstraße befanden, in der nicht viel Leben herrschte.

Der Splitter in Sabias Händen verschwand, genau wie die Pfütze unter Bernice. Sie sah friedlich aus, wie sie so auf dem Boden lag und zu schlafen schien.

»Wir sind wieder zurück in der Realität«, sagte Sabia. Sie sah nun genau so aus wie in der Schule zuvor, sogar ihr Haar war erneut zu zwei Zöpfen geflochten. »Jetzt hast du selbst erlebt, wie ich arbeite.«

Unzählige Fragen formten sich in Nerida, wollten besprochen und beantwortet werden. Aber dafür war noch nicht die Zeit, zügelte sie sich selbst. Es gab Wichtigeres. Sie deutete auf Bernice hinab. »Was machen wir jetzt wegen ihr? Wir müssen einen Krankenwagen rufen.«

»Das tun wir«, beruhigte Sabia sie, während sie in ihre Tasche griff und ein Handy hervorholte. »Aber wir sollten besser nicht hier auf die Ambulanz warten. Das würde nur zu viel zu vielen neugierigen Fragen führen.«

Das verstand Nerida. Sie kannte es von manchen Traumbrechern und Dämonenjägern, dass die geretteten Opfer neugierig waren und zu viel wissen wollten. Im Moment nahm sie genau diese Rolle ein – und sie hatte wirklich viele Fragen.

Sabia sah ihr das offensichtlich an. »Sobald ich den Notruf verständigt habe, sollten wir uns in einem Café zusammensetzen. Dann erkläre ich dir so viel, wie ich kann.«

Das klang danach als wüsste auch Sabia nicht sehr viel über dieses Thema. Aber immerhin mehr als Nerida es tat. Deswegen wartete diese geduldig darauf, dass Sabia ihren Anruf abschloss und sie sich ein Café suchen könnten. Doch in ihrem Inneren rumorte die Aufregung in Verbindung mit viel zu vielen Fragen.

 

Sabia hatte sie nur wenige Straßen weitergeführt, als sie durch eine Glastür schließlich ein Café betraten. Nerida kannte dieses Etablissement. Vor einigen Monaten war sie mit ihrem Großvater hier gewesen, nachdem sie geglaubt hatte, er würde sie verlassen. Nun behielt er sie nicht mehr ständig im Auge, aber sie standen in regelmäßigem Kontakt miteinander und sahen sich auch öfter.

Eine Glocke kündigte ihre Ankunft an. Die Luft roch nach Zucker und Kuchen, angenehm, wie eine schöne Erinnerung an die Kindheit. Ohne Umschweife strebte Sabia zu einem Tisch an der Wand, weit entfernt von der verglasten Fassade. Dort gab es keine Stühle, sondern mit Leder überzogene Sitzbänke. Die marmornen Tischplatten waren so sauber, dass sich das warme orange-farbene Licht darin spiegelte.

Sabia und Nerida setzten sich gegenüber, sie bestellten beide Schwarztee. Kaum war die Bedienung wieder weg, stieß Sabia ein Seufzen aus. Es klang gespielt, aber daran störte sie sich nicht.

»Also, wo soll ich anfangen?«

Da hatte Nerida schon eine gute Idee: »Was sind Störungen?«

»Du kommst direkt zum Punkt, das ist schön.« Sabia legte die Arme auf den Tisch. Ihr Blick schien durch das Licht noch intensiver zu werden. »Sie sind genau das, wonach sie klingen: Störungen in der Realität, in einer Person, wie du es eben erlebt hast. Es hängt meist mit traumatischen Ereignissen zusammen, die dafür sorgen, dass sich die Störungsenergie derart ansammelt, bis daraus dieser eigene kleine Mikrokosmos entsteht.«

»Davon habe ich noch nie gehört«, entfuhr es Nerida. »Seit wann ist das so?«

Wenn Sabia davon irritiert war, so zeigte sie es nicht. »Noch nicht sehr lange. Erinnerst du dich an diesen roten Splitter? Ich weiß nicht, woher genau diese stammen, aber sie scheinen etwas damit zu tun zu haben. Irgendetwas ist zersprungen und seitdem gibt es diese Störungen.«

Was mochte so etwas auslösen, nur weil es auseinanderbrach? Diese Frage beschäftigte Nerida, aber sie bemerkte, dass Sabia selbst keine Ahnung hatte, also lohnte es sich nicht, weiter nachzufragen. Ihr blieben aber noch andere Fragen. »Kümmerst du dich ganz allein darum?«

Sabia schnitt ihr eine amüsierte Grimasse. »Erwischt. Außer mir gibt es keinen anderen. Den Namen habe ich auch nur von den Chaosbrechern geklaut.«

Nerida war noch ein Kleinkind gewesen, als diese Gruppe für kurze Zeit existiert hatte. Das einzige, woran sie sich noch erinnerte, war die Entführung ihres Vaters. Ihre Mutter war tagelang so traurig, dass die gesamte Wohnung vereist gewesen war. Sie und ihre Brüder hatten Spaß daran gehabt, weil sie nichts von der Ernsthaftigkeit ahnten. Inzwischen waren von der Gruppe nur noch die Kinder des Anführers, Armas, geblieben. Aber Nerida kannte nur das jüngere Kind wirklich: Eri, die ebenfalls in Athamos lebte.

»Wie kommst du gerade auf diese Gruppe?«

Sabia zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Meine Eltern haben mir von ihnen erzählt, ich mochte den Namen.«

Sie lachte ein wenig verlegen. Nerida wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Einen derart vorbelasteten Namen – wenn auch nur einen Teil davon – zu wählen, obwohl man die Geschichte kannte, kam ihr nicht richtig vor.

Zu ihrem Glück brachte ihnen die Bedienung gerade den Tee, so dass sie eine Pause machen konnten. Die Tassen standen auf zwei kleinen silbernen Tabletts, auf denen sich auch je eine Zitronenscheibe und Kandiszucker an einer Stange befanden. Sabia legte ihre Zitronenscheibe in die Tasse, sie schwamm auf dem Tee, fast wie eine Seerose. Nerida tauchte lieber den Kandiszucker ein. Während sie darauf wartete, dass er sich auflöste und der Tee die richtige Trinktemperatur bekam, setzte sie das Gespräch fort: »Wenn du die einzige Person bist, wie kamst du dann dazu?«

Bislang kannte Nerida nur das Konzept, dass man auf eine Gruppe stieß oder von dieser angeworben wurde. Ihr war wegen dieser Selbstverständlichkeit nie die Frage in den Sinn gekommen, wie diese irgendwann einmal angefangen hatten. War es zu Beginn auch irgendwann mal nur eine Person gewesen?

Sabia drückte derweil mit ihrem kleinen Löffel die Zitrone nach unten. Sie benötigte dafür nicht sonderlich viel Kraft. »Sagen wir, ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Aber eigentlich war es nur ein Zufall.«

Mehr sagte sie nicht. Nerida wartete, aber Sabia konzentrierte sich nur auf ihre Zitronenscheibe.

Vielleicht ist es etwas, worüber sie nicht reden will. Ich sollte sie nicht zu sehr drängen.

»Dann hast du dir auch den Namen ausgesucht? Kam dir dabei nicht in den Sinn, dass Störbrecher vielleicht einfacher ausgesprochen werden kann?« Nerida biss sich auf die Zunge, aber da war es bereits zu spät. Darien sagte ihr oft, dass ihre ungefragten Verbesserungen nervten, warum hielt sie sich nicht daran, einfach still zu sein? Nervös wartete sie auf Sabias Erwiderung.

Diese neigte den Kopf. »Huh, darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Aber du hast recht, ich sollte es echt lieber Störbrecher nennen.«

Sie nickte sich selbst zufrieden zu. Nerida atmete erleichtert auf. Noch verstand sie sich gut mit Sabia, das wollte sie nicht mit ihren unbedacht ausgesprochenen Verbesserungsvorschlag gefährden. Die Schulzeit könnte wesentlich erträglicher werden, wenn sie jemanden dort besser kannte.

Als sie daran dachte, fiel ihr eine weitere Frage ein: »Was wird jetzt aus Bernice?«

»Ich bin erstaunt, dass dich das so sehr kümmert.« Sabia ließ die Zitrone endlich an die Oberfläche zurückkommen, sie war nun dunkel verfärbt. »Aber keine Sorge, sie wird nichts mehr von den Ereignissen wissen, sobald sie aufwacht. Es wird ihr aber besser gehen. Oh, schau nicht so fragend. Du hast doch bestimmt mitbekommen, dass sie wegen ihres Vaters ein Trauma erlitten hat. Das war ja wohl sehr offensichtlich. Aber sobald die Störung beseitigt ist, verschwindet auch das Trauma.« Unschuldig hob sie die Schultern. »Ich weiß aber auch nicht, weswegen das so ist.«

Es gab so viele ungeklärte Fragen, besonders ob das schädlich für die Opfer sein mochte. Aber da Sabia allein daran arbeitete und wohl nicht viel Interesse an den Hintergründen hatte, gab es darauf vorerst keine Antwort. Deswegen musste Nerida sich nun den persönlicheren Fragen widmen: »Woher kennst du mich eigentlich?«

Ihr Gegenüber prustete kurz. »Sag bloß, dir ist noch nie aufgefallen, wie berühmt du in der Schule bist. Jeder dort kennt dich. Also, sie kennen dein Aussehen und deinen Namen, aber mehr weiß man nicht so wirklich über dich.« Sie schenkte Nerida ein strahlendes Lächeln. »Vielleicht kann ich das zumindest ändern.«

Im Moment war Nerida sich noch nicht sicher, ob sie das gut finden sollte, nachdem sie nun wusste, dass man wohl über sie sprach. Einerseits wünschte sie sich einen Freund in der Schule, andererseits machte sie sich damit auch für noch mehr Mobbing verwundbar. Es war eine schwierige Gratwanderung, die notwendig wäre. Reichten ihre Nerven dafür aus?

»Oh ja.« Sabia erinnerte sich noch an etwas, während sie die Zitronenscheibe vorsichtig aus dem Tee entfernte. »Dort drüben hast du mich gefragt, warum ich dich beschütze. Weißt du, das hat neben persönlichen auch professionelle Gründe.«

Also gab es auch einen Haken bei dieser Gratwanderung. Nerida konnte sich bereits denken, worin er bestand: »Du meinst, die Störungen werden in meiner Gegenwart aktiv?«

Sabia hielt in ihrer Bewegung, den Tee umzurühren, inne, ihre Augen waren vor Überraschung geweitet. »Du konntest das bereits schlussfolgern?«

»Etwas anderes wäre mir nicht logisch erschienen.« Obwohl sie es nicht nach außen zeigte, war Nerida stolz auf sich. Sie rückte ihre Brille zurecht. »Ist dieses Gespräch ein Angebot dir beizutreten?«

»Ganz genau! Aber nicht nur, weil du diese Störungen anziehst.« Sabia lehnte sich zurück, sie atmete tief ein, als wäre sie nun an dem Punkt angekommen, der schwer werden könnte. »Ich habe dich auch abgesehen davon schon eine Weile im Auge. Du bist immer so allein, das finde ich schade. Natürlich können wir auch Freunde sein, wenn du keine Störbrecherin wirst.«

Es freute Nerida, dass sie sogar direkt dieses neue Wort benutzte, sie hob die Mundwinkel ein wenig.

»Aber wenn du auch eine wirst, könnten wir so viel mehr Zeit miteinander verbringen und Abenteuer erleben. Wir könnten allerbeste Freunde werden.« Sabias Stimme schien ein wenig unsicher zu werden, während sie das sagte. »Denkst du nicht auch, dass das wundervoll wäre?«

Es klang auf jeden Fall verlockend. Sie könnte Leuten helfen, so wie sie es sich immer wünschte, und dabei noch ein weiteres Merkmal der Einzigartigkeit tragen. Außerdem könnte sie Darien wieder ähnlich werden. Er war auf dem Weg, ein Dämonenjäger zu werden, sie würde Störungen jagen. Das wäre perfekt.

Gleichzeitig wusste sie aber auch, dass es das Vernünftigste wäre, den Anführern der anderen Gruppen von dieser Gefahr zu erzählen, damit sie sich darum kümmern könnten. Aber wäre ihnen das überhaupt möglich? Das könnte sie nur erfahren, wenn sie es ihnen erzählte. Doch das bedeutete auch, sie würde weiter diese unbedeutende kleine Figur bleiben, die nur darauf wartete, die Krankenstation ihres Vaters zu übernehmen – und niemals aus dem Schatten anderer trat. Sie war sich aber auch nicht sicher, ob sie das wirklich wollte. Ein ruhiges Leben war schön. Aber anderen zu helfen, besonders wenn es sonst quasi keiner machen konnte, war sicher erfüllend.

Warum muss das so schwer sein?, fragte sie sich.

Sabia ließ sie nachdenken, nahm derweil einen Schluck ihres Tees. Nerida sah auf ihren eigenen hinab. Der Zucker hatte sich inzwischen aufgelöst, das Stäbchen war nur noch eine Erinnerung an das, was zuvor dagewesen war. Sie entfernte es, um selbst einen Schluck zu nehmen. Der Tee war einen Tick zu süß, aber gerade an einem solchen Tag konnte sie das gut gebrauchen. Sie fühlte auch wieder Wärme in ihrem Inneren.

Das Schweigen zwischen ihnen hielt so lange an, dass Sabia wieder das Wort ergriff: »Hör mal, du musst dich nicht sofort entscheiden. Ich weiß, dass das nicht geht, deswegen solltest du dir Zeit nehmen. So viel du auch immer brauchst.«

Kaum hatte sie das gesagt, wusste Nerida ihre Antwort: »Nein, ich brauche keine Zeit mehr. Ich werde dir helfen. Sag mir nur, wie ich ebenfalls eine Störbrecherin werden kann.«

Sabias Gesicht hellte sich auf. Erleichtert lächelte sie. »Ich bin so froh. Mit dir an meiner Seite wird das alles viel einfacher und großartiger werden.« Sie nahm noch einen Schluck, vor Aufregung zitterten ihre Hände. »Dann lass uns gleich morgen dorthin gehen, wo du auch zu einer Störbrecherin werden kannst. Vielleicht verstehst du dann ja auch etwas, das ich nicht verstehe, wenn du den Ursprung siehst.«

Nerida wusste nicht, was sie damit meinte, aber sie hakte auch nicht weiter nach. Sie würde sich am nächsten Tag einfach ansehen, wovon Sabia genau sprach.

»Wir gehen nach der Schule«, fuhr diese fort. »Das passt dir auch, oder?«

»Ja, natürlich. Ich habe nichts vor.«

Sabia lächelte glücklich. »Yay~. Dann freue ich mich schon auf morgen.«

Für Nerida war es überraschend angenehm, dass sich eine quasi Fremde wegen ihr derart freute. Sie glaubte, verstehen zu können, warum die Jäger und die Traumbrecher ihre Arbeit so sehr mochten, selbst wenn kaum jemand von ihnen wusste. Wenn sie damit Menschen, die sie nicht kannten, auch ähnlich glücklich machen konnten – oder ihr Glück zumindest aufrecht hielten – musste das die beste Bezahlung von allen sein.

»Da das jetzt geklärt ist«, begann Sabia plötzlich, »lass uns mal über die Schule reden. Vielleicht kannst du mir ein paar Dinge erklären, die ich im Unterricht noch nicht ganz verstanden habe.«

Nerida beugte sich direkt ein wenig vor, um zu zeigen, dass sie aufmerksam zuhörte, was die restliche Zeit, die sie gemeinsam im Café verbrachten, auch notwendig war.

Zum ersten Mal in ihrem Leben saß Nerida mit einer Mitschülerin zusammen und unterhielt sich unbefangen mit ihr über die Schule und den Unterricht.

Es war der schönste Nachmittag ihres bisherigen Lebens.
 



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