Zum Inhalt der Seite

Der Schatten in mir

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Aussichtslosigkeit

Seit Chandra in das Innere des Helikopters gestiegen war, hatte sie fast durchgehend aus dem Fenster zu ihrer Rechten gestarrt. Im Innenraum des Fluggefährts lagen sich zwei mit dunklem Leder überzogene Sitzreihen gegenüber, von denen sie sich diejenige in Flugrichtung ausgesucht hatte. Ihr Platz am Fenster war so weit wie möglich von der Tür entfernt, aber, viel wichtiger, auch so weit wie möglich von Ray, welcher am anderen Ende der gegenüberliegenden Reihe Platz genommen hatte.

Nach dem Einsteigen hatte sie nur halb vernommen – denn sie war zu sehr damit beschäftigt gewesen, nicht einfach zusammenzubrechen –, wie er zu ihr gesagt hatte, sie solle sich ruhig verhalten und ihm nicht auf die Nerven gehen, sonst sehe er sich gezwungen, sie ruhigzustellen, was auch immer das bedeutete. Sie wollte nicht riskieren, das herauszufinden, und fand, dass es klüger wäre, ihn nicht unnötig zu reizen, solange sie auf so engem Raum beieinander waren. Es fiel ihr nach wie vor schwer, ihn einzuschätzen. Sie hatte erwartet, dass er vor Wut toben würde, wenn er sie wiedersah, doch im Moment war das Gegenteil der Fall. Er war so ruhig, es war nahezu unheimlich.

Sie waren erst wenige Minuten in der Luft gewesen, als Ray sich ihr noch einmal zugewandt hatte. Er wollte, dass sie ihm ihre Pokémon gab, natürlich.

Kommentarlos hatte sie die verkleinerten Kapseln hervorgeholt und ebenfalls – da sie unnötige Konflikte vermeiden wollte – ihren PDA. Beim Blick auf die vier statt zwei Pokébälle war für eine Sekunde ein überraschter Ausdruck über sein Gesicht gehuscht, ehe er sie ebenso schweigsam eingesteckt und anschließend ihren PDA ausgeschaltet hatte. Damit war sie dann vollkommen auf sich allein gestellt.

Chandra wusste nicht, wie schnell ein Helikopter flog, aber die grünen Weiten und Ortschaften zogen unter ihnen nur so dahin, dass es auch egal war. Sie wusste, dass sie in wenigen Stunden wieder in Pyritus sein würde, und das allein zählte.

Neben Ray und ihr waren nur noch zwei weitere Personen anwesend. Der Pilot im Cockpit, dessen Stimme sie zu Beginn kurz vernommen hatte, war ihr nicht bekannt. Den Mann, der am anderen Ende ihrer Sitzreihe saß, kannte sie hingegen. Er war ungefähr im Alter ihres Vaters und hieß Samuel. Er fungierte als Rays rechte Hand, aber wenn sie sich nicht irrte, hatte er zuvor auch schon für ihren Vater gearbeitet – zumindest meinte sie, ihn das erste Mal als kleines Kind gesehen zu haben. Samuel übernahm die Aufgaben, für die Ray sich zu fein war oder auf die er keine Lust hatte, und sicherlich fiel noch viel mehr in seinen Aufgabenbereich, aber das wollte sie lieber gar nicht so genau wissen.

Das letzte Mal, das Chandra ihn gesehen hatte, musste ungefähr ein dreiviertel Jahr zurückliegen. Damals hatte sie ein wenig Stress mit zwei jungen Männern gehabt, die in einem der Clubs, in denen sie regelmäßig unterwegs gewesen war, auf sie aufmerksam geworden waren. Da Chandra eben nicht so leicht zu haben war und mit jedem mitging, wie die beiden dachten, waren deren Anmachen an ihr abgeprallt.

Vielleicht war sie tatsächlich leicht zu haben, aber was sprach schon dagegen, wenn beide Parteien Lust hatten? Zumal die meisten Männer ebenso leicht zu haben waren, wenn es nach ihr ging. Doch diese beiden Typen waren einfach nur widerlich und selbst Chandra hatte Ansprüche. Und ihr hatte damals nicht der Sinn danach gestanden, mit ihnen zusammen ‚Spaß zu haben‘.

Leider kamen sie mit ihrer Abfuhr nicht gut zurecht. Die nächsten beiden Abende bedrängten sie Chandra mehrmals und versuchten, sie umzustimmen. Zum Glück folgten sie ihr nicht nach Hause, doch abends hatte Chandra draußen sogar ihre Pokémon mit sich geführt, um sich sicherer zu fühlen. Niemand wurde gern von einem knurrenden Nachtara oder den telekinetischen Kräften eines Psiana angegriffen.

Am dritten Abend war Chandra dann der Kragen geplatzt – und ehrlich gesagt war ihr auch unwohl zumute gewesen.

Sie war ja nicht naiv. Sie wusste, dass ihre Aufmachung manche Männer nahezu provozierte und dass sie, im Falle eines Übergriffs, als Frau wohl eher den Kürzeren ziehen würde. Aber sie hatte nicht eingesehen, etwas an ihrem Verhalten zu ändern, schließlich war nicht sie das Problem – und da sie auch Devin nicht in die Sache mit hineinziehen hatte wollen, denn dieser hätte sowieso nicht wirklich etwas ausrichten können, war ihr Griff einmal mehr zu ihrem Handy und zu Rays Nummer gegangen.

Ray würde zwar nicht Bester Bruder des Jahres werden, aber eine Sache hatte sie damals sehr geschätzt: Es hatte nicht viel mehr als der Info bedurft, dass zwei Typen sie belästigten und nicht lockerließen, um seine Unterstützung zu bekommen. Natürlich wusste sie damals wie heute, dass er ihr nicht half, weil er seine brüderliche Nächstenliebe in einer Schublade wiedergefunden hatte. Sein Handeln war nur der Tatsache geschuldet, dass er sie brauchte. Gerade weil sie das wusste, fiel es ihr leicht, ihn ohne schlechtes Gewissen immer wieder in ähnlichen Situationen zu behelligen.

Jedenfalls hatte er an dem besagten Abend keine Zeit gehabt, selbst zu kommen – das tat er überhaupt nur sehr selten, wenn er sicher war, dass es sein Image nicht gefährdete –, aber dafür hatte er Samuel geschickt. Mit einer Selbstsicherheit, die nur die rechte Hand des mächtigsten Mannes der Stadt haben konnte, war er mit den zwei Störenfrieden in ein Hinterzimmer des Clubs verschwunden. Als sie zehn Minuten später wieder herausgekommen waren, sahen die Mistkerle aus, als hätten sie einen Geist gesehen – oder Schlimmeres. Sie verschwanden, ohne noch einen Blick auf Chandra zu werfen, aus dem Laden, ohne je zurückzukehren.

Sie wusste nicht, was Samuel zu ihnen gesagt hatte, aber sie vermutete, dass es nicht sonderlich nett gewesen war. Die meisten gewöhnlichen Leute, die nach Pyritus kamen, taten das nur, weil sie von der Gesetzlosigkeit profitieren wollten; man hatte in Pyritus einfach wenig zu befürchten, wenn man auf Regeln pfeifen wollte. Aber die meisten dieser Menschen knickten eben auch schnell ein, sobald sie die Unterwelt Pyritus‘ auch nur streiften.

Die beiden jungen Männer hatten Glück gehabt, dass Ray an dem Abend anderweitig beschäftigt gewesen war, sonst hätte er sich der Sache vielleicht mehr zugewandt. So waren sie mit dem Schrecken davongekommen.

Chandra hatten die Details nicht gekümmert, sie war nur froh gewesen, dass das erledigt war. Samuel hatte noch zu ihr gemeint „Sie werden dich nicht mehr belästigen“, dann war er gegangen. Sie wusste, dass ihre Hilfe vor kriminellen Menschen aus anderen schlimmeren Kriminellen bestand, aber sie war damit klargekommen, solange Ray ihr in diesem Rahmen weiterhin die Freiheiten ihres ‚Lebens‘ gelassen hatte.

Sie hatte einfach das Beste daraus gemacht.

Die Erinnerung an jenen Abend schien nun Jahre entfernt. Damals war ihr Leben zugleich sicherer und schrecklicher gewesen. Sie hatte nicht fürchten müssen, Ray außerordentlich sauer zu machen, und konnte sich kleine Scherze auf seine Kosten erlauben, die er toleriert hatte, weil er wusste, dass er am längeren Hebel saß. Nun waren die Karten neu gemischt, aber Chandra bereute es nicht, Zayn kennengelernt zu haben.

Zayn.

Danach hatte Chandra nur noch aus dem Fenster gestarrt, hatte die Landschaft unter sich vorbeiziehen sehen. Sie war so farbenfroh, wie sie das im Frühling sein konnte, und Chandra wusste, je mehr die Farbe verblasste, desto näher kämen sie Pyritus.

All die Anspannung, die sie draußen vor dem Labor so mühselig aufrechterhalten hatte, um nicht panisch zusammenzubrechen, fiel im Helikopter von ihr ab, und sie blieb wie ein nasser Sack zurück. Wie ein Häufchen Elend saß sie in ihrer Ecke und krallte die Hände in ihren Rock.

Sie machte sich für den Moment weniger Sorgen um sich als um Zayn. Ihre Kehle brannte, sie versuchte nach bestem Bestreben, ihre Tränen zurückzuhalten, aber es misslang ihr. Heiß rannen sie über ihre Haut und mit jedem Schluchzen fiel ihr das Atmen schwerer, weil ihre Nase verstopfte, doch wenn sie den Mund geöffnet und eingeatmet hätte, wäre das in einem Heulkrampf geendet und diese Blöße wollte sie sich nicht geben. Also weinte sie so still wie möglich vor sich hin, während sie sich tausend Schreckensszenarien ausmalte.

Ray hatte gemeint, Zayn sei nicht tot, und das glaubte sie ihm sogar, schließlich hatte sie noch mitbekommen, wie er sich erbarmt hatte, Vince vor dem Abflug zuzurufen, in welcher Richtung Zayn sich befand. Das konnte aber auch bedeuten, dass Zayn schlichtweg in so einem miserablen Zustand war, dass er lieber schnell gefunden werden sollte … Jeder Gedanke an ihn grub sich schmerzhaft tief in ihre Brust.

Er war bereit gewesen, sein Leben für sie zu riskieren. Sie hatte doch von Anfang an gewusst, dass er im Ernstfall keine Chance gegen ihren Bruder haben würde. Wieso also hatte sie das zugelassen?

„Chandra, hör auf zu weinen“, forderte Ray in seiner emotionslosesten Stimme.

Sie wagte nur einen kurzen Blick in sein Gesicht, dann sah sie wieder nach draußen.

Natürlich. Kein ‚Hey, was hast du?‘, ‚Alles in Ordnung?‘ oder ‚Kann ich dir helfen?‘ von ihm. Lediglich ein kühles ‚Hör auf zu weinen.‘ Er konnte ihr sowieso nicht helfen, er war ja die Ursache ihres Leids. Aber …

Nein. Es war doch wirklich naiv, von Ray eine brüderliche Zuwendung zu erwarten.

Diese Tatsache ließ sie ungewollt noch heftiger schluchzen. Sie war alleine. Niemand scherrte sich darum, wie es ihr ging. Ray war auch nichts weiter als genervt von ihren Schluchzern und dem Geräusch, wenn sie ihre Nase hochzog.

Sie igelte sich noch weiter in ihre Ecke und ignorierte alles um sich herum, bis etwas sie am Arm berührte. Sie drehte den Kopf nach links und sah Samuel, der ihr eine Packung Taschentücher und eine kleine Wasserflasche hinhielt. Er schwieg, und sie sah misstrauisch hinüber zu Ray, welcher jedoch desinteressiert an die Decke starrte.

Wortlos nahm sie die Sachen entgegen und besah sich der Flasche. Der Verschluss sah nicht aus, als wäre er zuvor schon einmal offen gewesen, vermutlich war der Inhalt sicher. Und Ray brauchte sie auch nicht zu linken, wenn er ihr ein Betäubungsmittel unterjubeln wollte, das vermochte er auch so – schließlich konnte sie nicht fliehen.

Sie putzte sich die Nase, trocknete ihr Gesicht und nahm anschließend einen großen Schluck des Wassers, bis ihr Tränenreiz nachgelassen hatte. Besser ging es ihr danach zwar nicht, aber sie riss sich zusammen, während sie sich an die Flasche und die Taschentücher klammerte.

So verging die Zeit, wobei sie nicht wusste, wie lange sie schon unterwegs waren. Der Blick aus dem Fenster gab auch keinen Aufschluss darüber, wo sie gerade waren. Mit der Zeit begann sie zu frieren und zog sich ihre dünne Jeansjacke enger um den Oberkörper. Es half nicht wirklich, stattdessen kauerte sie mit verschränkten Armen auf ihrem Platz.

„Hier“, kam es von Samuel neben ihr.

Er reichte ihr eine kleine Decke, von der sie nicht wusste, wo er sie hervorgeholt hatte. Doch sie nahm sie an sich, auch wenn sie hinter diesen vielen Nettigkeiten einen Haken vermutete. Nachdem sie sich zugedeckt hatte, blieb es jedoch ruhig, daher gestattete sie es sich, die Augen zu schließen und sich wieder gegen das Fenster zu lehnen.

 Der Flug und das Weinen hatten sie ausgelaugt und obwohl sie es nicht für möglich gehalten hätte, spürte sie, dass ihr Körper allmählich von Müdigkeit ergriffen wurde. Ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig und viel hätte nicht mehr gefehlt, doch Rays Stimme zerschnitt die Stille in dem Innenraum und ließ sie unauffällig aufhorchen.

„War das wirklich notwendig?“, fragte er monoton.

„Nein.“

Dachten sie etwa, dass sie schon schlafen würde?

„Aber Ihre Schwester sollte fit sein, wenn sie wieder in Pyritus ist, und nicht riskieren, sich eine Erkältung einzufangen, weil sie den Flug über gefroren hat“, erläuterte Samuel. Es klang entschlossen, aber sachlich.

„Nun, da ist wohl etwas dran. Immerhin haben wir ein bisschen was nachzuholen.“

„Eben.“

Es verstrich eine kurze Pause, in der Chandra sich bemühte, weiterhin so zu wirken, als würde sie schlafen. Es irritierte sie zwar, dass Ray zu denken schien, sie wäre wirklich eingeschlafen, aber sie wollte ihn auch nicht erzürnen, falls er merkte, dass dem nicht so war.

Samuel durchbrach diesmal die Stille. „Hatten Sie nicht eigentlich auch ein Interesse an diesem Jungen? Aber er ist nicht hier.“

Es klang, als würde Ray auf diese Worte ein Lachen unterdrücken. „Findest du das etwa schade? Keine Sorge, er wird früh genug zu uns kommen, und dann … nun ja, ich denke, einige Leute haben noch eine Rechnung mit ihm offen. Einschließlich mir, aber ich bin so großzügig, den anderen erst mal den Vortritt zu lassen.“ Abermals folgte eine kleine Pause. „Sicher, wir hätten ihn mitnehmen können. Er war bewusstlos. Niemand hätte es gemerkt, wenn ich ihn einfach zum Helikopter gebracht hätte. Früher oder später wäre es jedoch aufgefallen und mein Interesse, dass seine Familie mir die Polizei auf den Hals hetzt, hält sich in Grenzen.“

Chandra war bei seinen Worten zusammengezuckt und hoffte, dass er dies nicht bemerkt hatte.

„Meine Schwester ist das eine, aber jemanden aus dem Pokémon-Hauptlabor entführen? Schwierig. Die Lage hat sich verändert, seit ich weiß, wer er ist. Es gibt nicht nur zu viele Menschen, die ihn vermissen, wenn er plötzlich verschwinden würde, er ist für unsere Sache tatsächlich ein größerer Risikofaktor, als ich bislang dachte. Das Ganze sollte als besser wohl überlegt sein.“

„Und Sie sind sich sicher, dass er kommen wird?“

„Sehr sicher“, entgegnete Ray, in dessen Stimme Chandra sein selbstherrliches Grinsen erkannte, ohne hinsehen zu müssen. „Wenn er seine geliebten Pokémon wiederhaben will, wird er so bald wie möglich nach Pyritus kommen.“

Er stoppte erneut, und Chandra kostete es jegliche Selbstbeherrschung, nicht aufzuspringen. Er hatte Zayns Pokémon? Er hatte es wirklich gewagt, seine Pokémon zu stehlen? Zayn hatte das vermutlich nicht verhindern können, wenn er bewusstlos und verletzt war. Aber das ließ Ray kalt.

Seine Pokémon … sie waren doch sein Ein und Alles. Er liebte sie; das hatte sie gleich zu Beginn erkannt und auch danach jedes Mal anhand des Leuchtens, das in seine Augen trat, wenn er von ihnen sprach, sich um sie kümmerte. Der Pokémonkampf mochte seine Leidenschaft sein, er wollte der Beste sein, aber bei allem Bestreben stand das Wohl seiner Pokémon immer an oberster Stelle.

Sie ihm wegzunehmen, war … grausam. Unmenschlich.

Es passte so gut zu Ray, dass sie gleichzeitig heulen und schreien hätte können.

Chandra wollte sich nicht ausmalen, wie es Zayn ergehen musste, wenn er es bemerkte.

„Natürlich wäre das gar nicht nötig gewesen, ich weiß“, fuhr Ray fort. „Er wäre auch so nach Pyritus gekommen. Er ist verrückt nach meiner kleinen Schwester, was ich zwar beim besten Willen nicht verstehe, aber er ist ja nicht der erste Kerl, dem sie den Kopf verdreht hat. Ich helfe nur gerne dabei, dass er etwas schneller zu uns kommt, und außerdem hat er es verdient, von der Frage gequält zu werden, was mit seinen Pokémon geschieht, wenn er sich zu viel Zeit lässt. Werden sie leiden? Werden sie in ihren Bällen dahinsiechen? Werden sie zu Cryptopokémon? Letzteres wird ihn genug motivieren, sich zu beeilen, wenn er das nicht ohnehin tut. Und ich lehne mich zurück und überlege mir in der Zwischenzeit, was ich denn Hübsches mit seinen Pokémon anstellen könnte.“

Bei den Worten konnte Chandra nicht verhindern, dass ihr eine Träne aus dem Augenwinkel rann. Ray hatte kein Herz. Er konnte einfach keines besitzen, das war die einzig logische Erklärung. Ihr eigenes schlug schmerzhaft wie eine Faust gegen ihren Brustkorb bei dem Gedanken an Zayn.

„Die stärksten Cryptopokémon entstehen aus Pokémon, die einst eine Bindung zu einem Menschen hatten. Je mehr positive Emotionen verschluckt werden, umso stärker sind das Leid und die daraus resultierende dunkle Energie. Das ergibt das perfekte Cryptopokémon“, schlussfolgerte Samuel. Er klang so sachlich wie zu Beginn. Vermutlich war er über die lange Zeit, in der er bereits mit den Cryptopokémon zu tun hatte, einfach abgestumpft.

Grausam. Pokémon waren Lebewesen, doch sie behandelten sie wie Ware.

„Exakt, und seine Pokémon sind darüber hinaus sehr stark, davon konnte ich mich selbst überzeugen. Er hätte mich mit seinem Brutalanda besiegen können, hätte er es richtig kämpfen lassen. Stattdessen hatte er Skrupel, mich dabei versehentlich umzubringen.“ Ray klang, als wäre das das Absurdeste, was er seit Langem gesagt hatte. „Ist das nicht ironisch? Ich habe den Hass in seinen Augen gesehen, als er vor mir stand. Diese tiefe Verachtung … die ist nicht erst einige Wochen alt. Dieser Hass muss seit Jahren in ihm schwelen. Und als ich vor ihm stand, da fand dieser abgrundtiefe Hass endlich ein Ziel. Aber er hat das hintenangestellt, um seine Familie und Chandra zu schützen. Er war gewillt, Chandra mit allen Mitteln zu beschützen, doch als er die Chance hatte, das alles auf einen Schlag zu beenden, hat er sich dagegen entschieden. Und warum? Weil er lieber den ehrenvollen Helden spielt, dem Moral über alles geht. Aber damit wird er in Pyritus nicht weit kommen.“

Chandra konnte und wollte nicht länger zuhören. Ray hörte sich ihres Erachtens unglaublich gerne selbst reden und womöglich wusste er, dass sie wach war und fand es schlichtweg lustig, Zayn schlechtzureden und ihr zu verdeutlichen, dass er ihr nicht helfen konnte. Es war ihr gleich, ob es Ray erheiterte, dass er nun wieder die Kontrolle hatte, denn sie hatte sich ohnehin nie große Chancen auf ein freies Leben ausgemalt.

Es erfüllte sie allerdings mit tiefer Abscheu, wie sehr es ihn das Wissen freute, dass er Zayn in der Hand hatte, solange er im Besitz von dessen Pokémon war. Und was sollte Zayn auch tun? Er würde keine Sekunde zögern, nach Pyritus zu kommen, und während Ray wartete, genoss er das Wissen um Zayns Sorge, ob dieser seine Pokémon überhaupt noch wiedererkennen würde, wenn er sie wieder hatte.

Was sollte er ohne sie ausrichten? Es war ohnehin ausgeschlossen, dass Ray sie ihm wohlwollend zurückgeben würde. Sein Ziel war es, Zayn zu sich locken, um seine Rache an ihm zu bekommen, woraus auch immer diesen bestehen würde.

Chandra kannte ihren Bruder – er würde nicht locker lassen, bis er bekam, was er wollte.

Unter anderen Umständen, wenn er die Pokémon nicht mit hineingezogen hätte, hätte sie gehofft, dass Zayn nicht kam. Denn so wäre es besser. Er hatte ohnehin keine Chance gegen Rays Übermacht, niemand hatte die. Es erzeugte nichts als Leid, sich mit Ray anzulegen.

Und wenn es nur um sie gehen würde … Sie war es nicht wert, dass Zayn sein Leben und das anderer gefährdete. Er täte gut daran, sie zu vergessen und sein Leben weiterzuleben.

Sie war sich natürlich im Klaren darüber, dass er das nicht tun würde. Er war stur und entschlossen, wenn es um seine Pläne ging.

Also war sie dazu verdammt, zu warten und zu hoffen, dass Ray ein Fünkchen Gnade in sich fand, Zayn seine Pokémon gab und ihn gehen ließ. Sie würde es nicht ertragen, sollte ihm ein ernsthaftes Leid geschehen …

Statt Ray den Gefallen zu tun, eine Reaktion auf seine herablassenden Aussagen zu zeigen, verharrte sie weiterhin reglos unter ihrer Decke. Das Gespräch verlor sich irgendwann in einem anderen irrelevanten Thema und Chandra spürte, wie die Müdigkeit sie wieder übermannte. Sie hieß sie willkommen, denn Schlaf bedeutete, zumindest für den Moment befreit zu sein von Rays Wahnsinn. Sie wünschte sich, einfach für immer in diesem schwarzen Nichts zu schweben, bis alles Finstere aus ihrem Leben verschwunden sein würde.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück