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Raupe im Neonlicht

von

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Kapitel 26

Was zuletzt geschah:

Jonas und Erik verbringen ihre erste Nacht miteinander und einen beträchtlichen Teil des Folgetags. In ihrer letzten gemeinsamen Minute, stellt Erik eine Frage, die Jonas nur freudestrahlend mit ‚Ja!‘ beantworten kann. Aber natürlich kein sein Tag nicht so positiv enden, wie er begonnen hat.

Den Streit mit Larissa hätte Jonas vielleicht nach ein paar ruhigen Stunden weggesteckt, dummerweise beweisen seine Nachbarn exorbitant schlechtes Timing und treiben den Splitter ein gehöriges Stück tiefer in die Wunde.

 

Kapitel 26

Erik, 15:26 Uhr

Hey :)

Ich weiß, dass das schlechter Stil ist, aber wäre es sehr schlimm, wenn ich mich diese Woche bei dir zum Abendessen einlade?

 

Du, 16:04 Uhr

sorry. bin jetzt doch schon früher zu meinen eltern gefahren

 

Du, 16:04 Uhr

gesternabend angekommen

 

Du, 16:04 Uhr

sorry

 

Erik, 16:07 Uhr

Hoffentlich kein Notfall?

 

Du, 16:08 Uhr

nee

 

Du, 16:09 Uhr

nur heimweh

 

Erik, 16:09 Uhr

Ah, das verstehe ich :)

 

Du, 16:10 Uhr

nochmal sorry, dass ichs dir nich eher gesagt hab.

 

Du, 16:10 Uhr

war ne ziemlich spontane aktion.

 

Erik, 16:11 Uhr

Kein Problem :)

Du fehlst mir, aber das werde ich schon überstehen. Tank ein bisschen Kraft, bevor du dich wieder ins Stadt- und Unileben stürzt!

 

Du, 16:12 Uhr

werd ich machen.

 

Du, 16:12 Uhr

du fehlst mir auch

 

Du, 16:14 Uhr

vielleicht können wir mal telefonieren?

 

Erik, 16:14 Uhr

Gern :)

 

„Jonas!“ Die Stimme seiner Mutter schallte vom Hauptraum durch den Gang zu den Toiletten, in den er sich zurückgezogen hatte. „Die Grubers warten auf ihr Bier!“

„‘Tschuldige, Mama.“ Resolut schob Jonas sein schlechtes Gewissen beiseite. Sobald er etwas Luft zum Atmen hatte, würde er Erik anrufen und ihm den Grund für seine überstürzte Flucht nach Bayern erklären. Oder es zumindest versuchen. Eigentlich wäre es ihm lieber, nicht darüber zu sprechen. Nicht daran zu denken. Vielleicht konnte die Erklärung auch warten, bis er zurück in Berlin war? Ja, das musste definitiv reichen.

„Jonas!“

„Sorry!“ Eilig zapfte Jonas zwei Helle, brachte sie an den Vierertisch im hinteren Bereich der Gaststätte und beantwortete pflichtschuldig die Fragen, die er bereits den ganzen Tag aus verschiedenen Mündern gehört hatte. Ja, Berlin war ganz schön anders als das Leben hier. Ja, manchmal war es ihm zu laut und zu hektisch. Nein, er bereute den Umzug trotzdem nicht. Ja, das Studium gefiel ihm gut. Nein, einen Taxischein hatte er noch nicht gemacht. Genau, er konnte ja immer noch die Wirtschaft übernehmen, wenn das mit seinem Kunstkrempel nicht klappte.

Eine vertraute Hand legte sich auf Jonas‘ Schulter und ließ ihn herumwirbeln. Seine Schwester Christine musterte ihn mit einem wissenden Lächeln. „Na? Bedauerst du es schon, hier früher aufgetaucht zu sein?“ Sie zog sich ihre warme Wollmütze vom Kopf, die Wangen noch vom Fahrtwind gerötet.

„Bitte sag mir, dass du mich ablöst!“

„Nope, sorry. Hab noch Hausaufgaben, die gemacht werden wollen. Aber danach helfe ich dir, versprochen.“

„Ich hatte vergessen, wie scheißanstrengend es hier werden kann. Da is‘ mein Job in Berlin echt ‘n Dreck dagegen.“

„Tja, willkommen zuhause.“ Christine hockte sich auf einen der Barhocker und breitete ihre Unterlagen auf dem Tresen aus. „Bringst du mir eine Cola, Bruderherz?“

„Zahlst du dafür?“

„Haha. So lustig.“

Demonstrativ langsam füllte Jonas ein Glas mit der klebrigen Flüssigkeit und stellte es gerade so weit von Christine entfernt ab, damit sie sich strecken musste, um es zu erreichen. „Wie geht’s Nick?“

„Ganz gut. Wir–“ Die Tür öffnete sich und eine lärmende Meute junger Männer stürmte das Apfelbäumchen. „Uff, sieht aus, als sollte ich die Hausaufgaben auf später verschieben und dir lieber gleich unter die Arme greifen. Konzentrieren kann ich mich jetzt eh nicht mehr.“

„Nee, bleib sitzen. Ich hol dich dann schon, wenn’s zu hektisch werden sollt.“ Mit einem breiten Lächeln auf den Lippen, machte sich Jonas auf, die Neuankömmlinge zu begrüßen. Die meisten von ihnen kannte er aus der Schule oder hatte Fußball mit ihnen gespielt und zu seiner Überraschung, freute er sich darüber, sie wiederzusehen. Nur als er Clemens in der Gruppe entdeckte, flackerte sein Lächeln. Allerdings nur kurz, dann gewann die über lange Jahre trainierte Professionalität die Oberhand. „Servus! Was darf ich euch bringen?“

Die bunt gemischte Runde begrüßte ihn einstimmig und brav arbeitete sich Jonas durch dieselben Fragen, die ihm kurz zuvor die Grubers gestellt hatten, bevor er endlich die Bestellungen aufnehmen konnte. Beladen mit zwei vollen Tabletts, bei denen er sich fragte, ob sie schwerer geworden waren oder die Monate in Berlin ihn verweichlicht hatten, wankte er zum Tisch und servierte die jeweiligen Getränke.

„Setz dich doch ein paar Minuten zu uns“, bat Clemens und hielt Jonas‘ Ärmel fest. „Du hast doch sicher eine Menge zu erzählen.“

„Sorry, ich, ähm, hab grad viel zu tun. Wenn’s ‘n bissl ruhiger wird, schau ich mal vorbei, ja?“ Jonas entzog sich der Berührung und versuchte, Clemens kritischen Blick zu ignorieren.

Nachdem er sich vergewissert hatte, dass alle Gäste vorerst zufrieden waren, floh er in die Küche. „Brauchst du Hilfe, Papa?“

„Ähm, lass mal sehen. Hast du neue Essensbestellungen?“

„Im Moment nich‘.“

„Dann gibt es gerade nicht so viel zu tun. Die nächste große Welle kommt wahrscheinlich erst gegen sechs. Solange kannst du gerne wieder nach vorne gehen.“

„… okay …“ Jonas musste sich zwingen, einen Schritt Richtung Tür zu machen.

„Oder …“ Sein Vater drehte sich in der engen, aber gut ausgestatteten Küche um die eigene Achse und deutete schließlich auf die bereits blitzenden Arbeitsflächen gegenüber des Gasherds. „Die Oberflächen könnten mal wieder ordentlich gereinigt werden. Danach die Regale, falls du noch Zeit hast.“

„Wird erledigt!“ Dankbar für die Aufgabe fernab der Kundschaft, schnappte sich Jonas einen Schwamm. Er hatte die Putzaktion eben in Angriff genommen, als seine Mutter den Kopf in die Küche steckte.

„Jonas? Was machst du denn hier hinten? Clemens und seine Freunde sind da und ihre Gläser fast leer. Christine sagt, sie braucht noch eine halbe Stunde für ihr Schulzeug.“

„Ich habe ihn gebeten, hier ein wenig Klarschiff zu machen“, sprang ihm sein Vater zur Seite, bevor Jonas eine Ausrede stammeln konnte. „Müssen wir doch ausnutzen, wenn mal wieder ein paar Hände mehr da sind, die problemlos an die oberen Regale rankommen.“

Jonas‘ Mutter runzelte die Stirn, musterte ihre beiden Männer und verschwand mit einem resignierten Schulterzucken zurück in den Schankraum.

„Wie läuft’s in der Uni?“, fragte sein Vater nach einer Weile beiläufig.

„Ganz gut. Wir haben zum Glück kaum Klausuren, sondern eher Projektarbeiten und sowas. Da sind die Abgaben erst gegen Ende der vorlesungsfreien Zeit.“

„Schön, schön. Und sonst so?“

„Sonst … Läuft‘s auch ganz gut.“ Seit dreißig Sekunden rieb Jonas über dieselbe Stelle. „Ähm, Papa?“

„Was ist?“

„Als du damals hierher gezogen bist … Hast du dich da erstmal fremd gefühlt? Irgendwie … nich‘ zugehörig?“

„Ich verstehe nicht ganz, was du meinst?“ Das Stirnrunzeln seines Vaters war quasi hörbar. „Ich bin zugezogen, natürlich war man da mir gegenüber erst mal kritisch.“

„Ja, aber … Wie bist du damit umgegangen?“

„Na, ich habe mich eben an die hiesigen Gepflogenheiten angepasst.“

„Auch an die, mit denen du so gar nichts anfangen konntest?“, hakte Jonas nach.

„Manchmal muss man eben über seinen Schatten springen“, antwortete sein Vater achselzuckend. „Und wenn man immer nur aneckt, mal hinterfragen, ob das wirklich die Schuld der anderen ist. Oder, ob man an diesen Ort gehört.“

„Verstehe.“ Das war nicht unbedingt die Antwort, die Jonas hatte hören wollen.

„Du weißt, dass du hier immer willkommen bist, oder?“, fragte sein Vater.

„Jaah. Ja, weiß ich doch.“ Solange er sich ihren Werten und Ansichten beugte. „Ich guck mal wieder nach vorne, ob Mama Hilfe braucht. Die Regale wisch ich morgen ab, okay?“

„Dann aber wirklich!“

„Ja, Papa!“

Die Schultern kein bisschen leichter, aber dafür mit einer Menge neuer Gedanken im Kopf, stieß Jonas die Schwingtür auf und rempelte beinahe mit seiner Schwester zusammen. „Sorry.“

„Ich wollte dir gerade sagen, dass ich dich erst mal ablöse.“

„Musst du nich‘“, versicherte Jonas. „Gönn dir doch ‘ne Pause. Hast du überhaupt schon was gegessen?“

„Das passt schon. Du kannst dann ja die Nachtschicht übernehmen. Ich wette darauf, dass die da“, Christine nickte zu Clemens und seinen Freunden, „bis zum Schluss bleiben.“ Vertrauensvoll beugte sie sich vor. „Außerdem siehst du aus, als könntest du ein bisschen Zeit für dich gebrauchen.“

„Oh. Okay, danke. Kann ich dein Rad nehmen? Ich bring’s dann abends wieder mit.“

„Klar.“ Christine sah sich nach neugierigen Zuhörern um, bevor sie fortfuhr. „Es ist doch alles in Ordnung, oder?“

„Ja, klar, alles super.“

„Ich bohr nicht weiter nach“, versprach sie, „aber du siehst nicht besonders gut aus–“

„Danke.“

„Du weißt, wie ich das meine. Und, dass du so spontan hier aufgetaucht bist … Bitte sag mir, wenn ich etwas tun kann, ja?“

„Mach ich.“

„Versprochen?“

„Versprochen.“ Jonas warf einen Blick aus dem Fenster. „Etwas könntest du tatsächlich für mich tun.“

„Was denn?“

„Mir deine Mütze leihen. Bin’s nich‘ mehr gewohnt, bei dem Wetter mit dem Rad zu fahren.“

„Pah, du verweichlichtes Stadtkind.“ Lachend warf Christine ihm ihre Wollmütze ins Gesicht. „Wehe, die klaust du mir auch noch! Ich weiß genau, dass du meine andere mit nach Berlin genommen hast.“

„Hab ich nich‘!“ Hatte er doch. Aber Jonas war nicht gewillt, zu warten, bis Christine ihn zwang, das zuzugeben und schlüpfte an ihr vorbei in den Schankraum. Sein Plan, sich heimlich an Clemens und dessen Gruppe vorbei zu schleichen, ging allerdings nicht auf.

„Warte mal!“ Vertrauensvoll beugte sich Clemens über den Tisch. „Kommst du später noch mal wieder?“

Jonas zögerte, war sich letztlich aber im Klaren darüber, dass ihm eine Lüge nichts nutzen würde. „Japp, so ab neun, denk ich.“

„Klasse!“ Clemens zeigte sein unbedarftes Sunny-Boy-Grinsen, dessen Anblick jedes Mal geradewegs über Jonas‘ Netzhäute durch seinen Magen bis zu seinen Lenden schoss. „Ich wollte dich nämlich noch fragen, ob du Bock hättest, am Wochenende mit uns Skifahren zu gehen.“

„Oh, ähm, ich … Weiß nich‘?“

„Check einfach deinen Kalender und sag’s mir, wenn du wieder da bist, okay?“

Jonas nickte. „Okay … bis … später.“

 

Jonas lag auf einem Bett, das nicht länger sein Bett war, in einem Zimmer, das nicht mehr ihm gehörte. Als er seinen Vater angerufen und ihn gebeten hatte, früher nach Hause kommen zu dürfen, war ihm nicht klar gewesen, dass dieses ‚Zuhause‘ für ihn nicht mehr existierte. Das Dorf, in dem er sich nie wirklich wohl gefühlt hatte, war ihm ferner denn je und sogar seine eigene Familie schien kein vollständiger Teil mehr von ihm zu sein. Sie lebten ohne ihn weiter, er ohne sie.

Unfähig, länger still zu liegen, sprang Jonas vom Bett und lief ruhelos in seinem ehemaligen Zimmer auf und ab. Er hatte gehofft, hier ein wenig zu Atem zu kommen, sich in das vertraute Nest kuscheln zu können, stattdessen wusste er nun wieder, weshalb er ursprünglich unbedingt hatte ausziehen wollen. Zu viele Einschränkungen, zu viele Erwartungen, zu wenig Bedingungslosigkeit.

Frustriert griff er nach seinem Handy, suchte nach Ablenkung. Die Nachrichten, die er erhalten hatte, entpuppten sich dabei jedoch nicht als übermäßig hilfreich.

 

Esther, 17:04 Uhr

Ich kann verstehen, dass du sauer wegen der Sache am Montag bist und erst mal deine Ruhe willst, aber kannst du dich wenigstens kurz melden? Wir machen uns echt Sorgen.

 

Dazu zwei verpasste Anrufe von Kemal. Lediglich Larissa hüllte sich in Schweigen. Jonas seufzte. Ihm war klar, dass er mit seinem Rückzug die Falschen bestrafte und es nicht fair war, Esther und Kemal zu ignorieren. Sie hatten noch am selben Abend versucht, ihn zu erreichen, aber er hatte es nicht über sich gebracht, mit ihnen zu sprechen. Kein Wunder, dass sie sich Sorgen machten. Wenigstens das sollte er klären, wenn er im Moment auch sonst nichts auf die Reihe brachte.

 

Du, 17:58 Uhr

hey. alles gut! Denkt euch nix wegen neulich. war nich so schlimm. sorry für das lange schweigen. bin zu meinen eltern gefahren und komme erst in ein paar wochen wieder. dann melde ich mich bei euch.

 

Kaum hatte Jonas die Nachricht abgeschickt, klopfte jemand an seine Tür. „Ja?“

Das runzlige Gesicht seiner Großmutter erschien im Türspalt. Wann war sie so alt geworden? „I hob dir a hoaße Schokoladn g‘mocht. Kimmst owe?“

„Ähm …“ Bei genauerem Überlegen gab es bestimmt schlechtere Wege, sich auf andere Gedanken zu bringen. „Ich komm gleich.“

Die Schokolade war süß, heiß und so dickflüssig, dass Jonas sie fast kauen konnte. Eine dezente Zimtnote gab ihr etwas herrlich Weihnachtliches. „Danke, Oma.“

„Gern g‘scheh‘n, Bua.“

Das Küchenradio dudelte bayerische Volksmusik, vor der Jonas früher so bald wie möglich Reißaus genommen hatte, deren gewöhnungsbedürftige Töne in diesem Moment jedoch etwas Heimeliges an sich hatten. Die Welt drehte sich auch ohne ihn weiter, aber dieser Raum blieb unverändert.

„Sag mal, Oma, hast du ‘ne Ahnung, wo mein Snowboard abgeblieben is‘? Im Keller?“

„Dei wos?“

„Mein Snowb– Meine Skier.“

„Die san sicha im Kella. Soi i se suachn?“

„Mach dich nich‘ lächerlich!“, schimpfte Jonas. „Die such ich dann schon selbst.“ Er stand auf und schlurfte zum Herd. „Aber erst hol ich mir noch ‘ne Tasse. Deine heiße Schokolade is‘ klasse. Wie immer.“

„Die host scho ois kloana Bua g‘mocht“, erwiderte seine Oma. „A boh Sachn bleim oiwei glei.“

„Da hast du wohl recht.“ Die warme Tasse in der Hand, drehte sich Jonas um und betrachtete die alte Frau, die sich konzentriert über ihr Strickwerk beugte, um das vermutlich hundertste Paar Socken dieses noch jungen Jahres zu fabrizieren. „Ich hab dich lieb, Oma.“

„I di a, Bua.“

Schweigend trank Jonas seinen Kakao, spülte die leere Tasse ab und bereitete sich innerlich darauf vor, den Keller zu durchwühlen. Solange er denken konnte, war darin alles Mögliche verstaut, aber niemals etwas aussortiert worden. Vielleicht sollte er seiner Oma ein Wollknäuel abschwatzen, dessen Ende er an die Tür befestigen konnte. Brotkrümel schienen ihm wegen der Mäuse zu riskant.

Zu Jonas‘ Überraschung, fand er sein Snowboard zusammen mit all seinen Sachen, die er nicht mit nach Berlin genommen hatte, ohne wirklich danach suchen zu müssen. Seine Eltern hatten sie feinsäuberlich an der Wand gleich neben dem Eingang gestapelt und jeder einzelne Karton war mit der schnörkeligen Handschrift seiner Mutter versehen. Basteleien, Comics, Kuscheltiere, Schuhe, Wintersport. Aus letzterem zog Jonas seine Skihose hervor und entschied, dass sie einem weiteren Tag im Schnee standhalten konnte, sollte er sich entscheiden, Clemens‘ Einladung anzunehmen.

Sein Blick fiel auf seine alten Laufschuhe, die zusammen mit der winterfesten Kleidung verstaut waren und er erinnerte sich an die angenehme Schwere, die ihn nach einer ausgiebigen Runde durch den Wald zuverlässig überkommen hatte. Keine Grübelei, keine Zweifel. Nur Ruhe und das gelegentliche Zucken seiner erschöpften Muskulatur.

Ohne lange darüber nachzudenken, schlüpfte Jonas noch im Keller in seine Sportsachen, nahm lediglich eine Stirnleuchte und sein Handy mit und trabte durch den Garten bis zu dem schmalen Feldweg, der sich hinter dem Haus seiner Eltern entlangschlängelte. Ab dort begann er zu laufen.

 

Weiße Wölkchen schwebten vor Jonas‘ Gesicht und er gestand sich zähneknirschend ein, dass er, seit er nicht mehr regelmäßig Fußball spielte, ziemlich nachgelassen hatte. Vor seinem Umzug nach Berlin hatte er den Waldrand ohne sichtliche Anstrengung erreicht, jetzt ging sein Atem bereits merklich schneller und er musste sein Tempo drosseln.

Die Luft war kalt und erdig, der gefrorene Boden ließ seine Schritte federn. Er setzte Fuß vor Fuß und obwohl es ein wenig länger dauerte als früher, verfiel er letztlich in diesen tranceartigen Zustand, in dem nur noch sein Körper, sein Atem, sein nächster Schritt zählte.

Immer tiefer lief Jonas in den Wald, nahm kaum erkennbare Abzweigungen, wich niedrigen Ästen aus. Endlich, zum ersten Mal seit Wochen, war sein Kopf leer, war niemand um ihn herum, niemand in seinen Gedanken. Niemand, der an ihm zerrte, forderte, erwartete, hinterfragte. Zum ersten Mal seit Wochen war er nur er selbst und glücklich damit. Jonas‘ Handy klingelte. Er wies den Anrufer ab, ohne auf den Namen zu achten.

 

Atemlos und trotz des kalten Wetters völlig verschwitzt, schleppte sich Jonas die Stufen zu seinem Zimmer nach oben. Er hätte die kleinere Runde nehmen sollen. Wie seine Beine ihn jetzt noch durch die Spätschicht im Apfelbäumchen tragen sollten, war ihm ein Rätsel. Ein heißes Bad schien eine gute Erste-Hilfe-Maßnahme zu sein, um wenigstens den gröbsten Schaden abzuwenden.

Während das Wasser blubbernd in die Badewanne sprudelte und sich der Duft nach Tannengrün im Raum ausbreitete, entsorgte Jonas seine durchgeschwitzten Klamotten im Wäschekorb. Gerade noch rechtzeitig erinnerte er sich an sein Handy und rettete es aus der Innentasche der Funktionsjacke, die dank der Lagerung im Keller weniger verschwitzt als modrig war. Ohne auch nur einen Zeh ins Badewasser gestreckt zu haben, breitete sich ein warmes Gefühl in seinem Körper aus. Erik war der unbekannte Anrufer gewesen und Jonas hoffte, ihn zu erreichen, bevor er zur Arbeit aufbrach.

Nach nur drei Klingelzeichen nahm ihm Eriks weiche Stimme die Befürchtung, zu spät dran zu sein. „Hey.“ Diese kleine Silbe reichte, um Jonas‘ Sehnsucht zu wecken. Sehnsucht nach Eriks Händen, die zärtlich über seinen Körper strichen und nach seinen Lippen, die sich bei seinem Anblick zu einem Lächeln kräuselten. Sehnsucht nach Eriks Art, Jonas zu zeigen, dass er ihn glücklich machte.

Vermutlich sollte er ihm all das sagen. Stattdessen brachte er lediglich ein schwaches ‚Hi‘ hervor.

„Wie geht’s dir?“, fragte Erik. „Zuhause alles gut?“

„Jaah. Ja, schon. Nochmal sorry, dass ich so plötzlich weg bin. Ich … hab mal ‘ne Pause von Berlin gebraucht.“ Jonas drehte den Hahn zu, bevor er Gefahr lief, seine Eltern mit einem Wasserschaden zu erfreuen.

„Dafür musst du dich bei mir nicht entschuldigen“ sagte Erik. „Ich weiß noch, wie es mir ging, als ich hierhergezogen bin. Am Anfang dachte ich, der Unterschied zu Stuttgart würde schon nicht so groß sein. Ein bisschen mehr Verkehr, ein bisschen mehr Hektik. Nichts Besonderes. Was es bedeutet, sein komplettes soziales Umfeld zurückzulassen, ist mir erst nach dem Umzug klargeworden.“

Das heiße Badewasser umspülte Jonas‘ Füße, als er sich auf den Wannenrand setzte. „Is‘ echt scheißschwer.“

„Mhm.“ Ein kurzes Schweigen entstand. „Ah, kann ich dich … Ist zwischen uns alles in Ordnung?“

Jonas seufzte, rutschte vom Wannenrand vollständig ins heiße Wasser. „Meine Flucht hierher hat dir ‘nen ziemlichen Schrecken eingejagt, was?“ Und dass er seinen Anruf weggedrückt hatte, hatte sicher nicht zu Eriks Beruhigung beigetragen.

Erik zögerte einen Moment, bevor er antwortete. „Am Wochenende ist einiges passiert und ich kann schon verstehen, wenn das zu viel auf einmal gewesen sein sollte.“

„Nee, das …“ Jonas rieb sich übers Gesicht und bekam prompt Badeschaum ins Auge. „Fuck. Fuck!“

„Jonas?“, fragte Erik alarmiert. „Ist alles in Ordnung?“

„Ja–ah! Shit! Ich hab bloß Seife im Aug. Dachte, Telefonieren und Baden gleichzeitig wär ‘ne gute Idee. Mein Fehler.“ Wild blinzelnd ließ er die Tränen, die aus seinem gereizten Auge flossen ihre Arbeit machen. „Okay. Wird besser.“

Am anderen Ende der Leitung atmete Erik hörbar auf.

„Und Erik?“

„Ja?“

„Es hatte nix mit dir zu tun. Mit uns. Höchstens indirekt, aber auch das eigentlich nich‘. Es war … Der Abend mit meinen Freunden is‘ echt scheiße gelaufen und als ich nach Hause kam …“ Jonas hielt inne. Er hatte keine Lust über die Schmiererei an seiner Tür zu sprechen. Nicht jetzt. Damit musste er sich noch früh genug auseinandersetzen. „Ich fühl mich in Berlin einfach fehl am Platz. Hier im Dorf war ich der Sonderling. Der Rebell. Und ich dachte, Berlin würd mir endlich die Möglichkeit geben, mich voll auszuleben, aber … Dort bin ich kein Rebell. Ich bin belangloser Scheißdurchschnitt. Wenn überhaupt. Ich bin nich’ halb so kreativ wie ich dachte. Du solltest mal sehen, was meine Kommilitonen schon so alles auf die Beine gestellt haben. Fuck, so gut werd ich mein Leben nich‘. Und … eigentlich dacht ich, ich würd immer zu meiner Meinung stehen, aber Überraschung, offenbar tu ich das bloß, wenn ich entweder davon ausgehen kann, dass andere ohnehin derselben Meinung sind, oder sie für so abseitig halten, dass sie mich sowieso nich‘ wirklich ernst nehmen und alles auf meine ‚rebellisch Phase‘ schieben, um mal die Worte meiner Mum zu verwenden. Ich fühl mich klein und unbedeutend und dumm und feige. Also wollte ich zurück hierher. Zu meinem Zuhause. Aber …“ Jonas atmete einmal tief durch. „Wie sich herausgestellt hat, fühl ich mich hier genauso falsch wie in Berlin. Irgendwie sin‘ die Probleme dieselben und irgendwie auch nich‘ und … Naja … Nur, falls du dich gefragt haben solltest, was grad so alles schief bei mir läuft.“

„Ich wünschte, ich könnte dir etwas Sinnvolles sagen“, gestand Erik nach einigen Sekunden. „Irgendetwas, das dir wirklich weiterhilft. Aber ich fürchte, ich kann dir nicht viel mehr anbieten als dir zuzuhören.“

„Das reicht mir“, flüsterte Jonas. „Alles andere muss ich mit mir selbst ausmachen. Mir is‘ nur wichtig, dass du weißt, dass ich nich‘ wegen dir abgehauen bin.“ Gedankenverloren beobachtete er die kleinen Schaumbläschen auf der Wasseroberfläche, die mit jeder Bewegung durch die Wanne gewirbelt wurden. „Ich war vorhin Joggen. Deshalb ich bin ich auch nich‘ rangegangen, als du mich angerufen hast. Nich‘, weil ich nich‘ mit dir reden wollt oder so. Und … Es hat sich sooo verfickt gut angefühlt. Mal wieder allein sein. Also … werd ich das wohl wieder öfter machen. Und, ähm, mir vielleicht doch ‘nen Sportverein suchen. Weiß noch nich‘, ob’s Fußball wird oder ich mal was Andres versuchen will, aber … mir fehlt dieses Mannschaftsgefühl.“

„Das klingt doch aber, als hätte deine Fahrt nach Hause schon einiges in Bewegung gesetzt“, sagte Erik. „Dabei bist du gerade mal einen Tag dort.“

„Vielleicht.“ Jonas wünschte, er könnte sich so sicher sein wie Erik. „Halt ich dich eigentlich grad von der Arbeit ab?“

„Nein, keine Sorge. Heute fange ich nicht vor neun an. Wir haben also noch genug Zeit zum Reden, wenn du magst.“

„Erzähl mir was Peinliches von dir“, forderte Jonas unvermittelt.

„Ah … Okay?“ Erik klang nicht überzeugt.

„Irgendwas, völlig egal. Hauptsache, wir können beide drüber lachen. Ich mag nich‘ immer nur so Krisengespräch mit dir führen. Danach erzähl ich dir auch was von mir. Versprochen.“

„Lass mich überlegen. Hmm … Ah, ja. Seit dich dreizehn bin, versuche ich, jeden Tag nach dem Aufstehen wenigstens eine halbe Stunde lang Yoga zu machen.“

„Das … is‘ echt scheißenttäuschend. Ich mein, okay, Yoga is‘ vielleicht nich‘ der männlichste Sport der Welt, aber … Komm schon? Versuchst du gerade wirklich, mir deine Disziplin als etwas Peinliches zu verkaufen?“

„Ich war noch nicht fertig“, erwiderte Erik gelassen. „Damit angefangen habe ich ursprünglich, weil ich unbedingt gelenkig genug werden wollte, um mir selbst einen zu blasen.“

Um ein Haar wäre Jonas‘ Handy im Wasser gelandet, als dieser in Gelächter ausbrach. „Und?“, japste er atemlos. „Kannst du?“

„Ah, sagen wir, in der Praxis ist das Ganze recht unbequem und wirklich sehr, sehr entwürdigend. Du bist übrigens der Erste, dem ich das erzähle.“

„Ich fühle mich geehrt, dass du so scheißviel Vertrauen in mich setzt.“

„Du bist dran.“

„Ach so. Nee, da hab ich gelogen. Ich erzähl doch nix von mir.“

„Ich werde dich nicht dazu zwingen“, versprach Erik. Plötzlich wurde seine Stimme rauer. „Aber du darfst mir glauben, dass ich dich das büßen lasse, sobald du wieder in Berlin bist.“

„Eeeeriiiiik“, jammerte Jonas. „Sowas darfst du mir doch nich‘ sagen, wenn ich nackt und allein in der Wanne liege.“

„Nackt und allein, hm? Vielleicht überlege ich mir das mit der Strafe noch mal, wenn du mir ein paar zusätzliche Details lieferst.“

„Zum Beispiel, dass mein Badezusatz meine Haut ganz glitschig macht? Was ich deswegen so genau weiß, weil ich gerade mit meiner freien Hand über meinen nackten Bauch streiche?“

„Mhm. Ungefähr sowas hatte ich mir vorgestellt.“

„Oder, dass mich die Wassertropfen, die über meinen Hals rinnen, an deine Fingerspitzen erinnern?“

„Mhm.“

„Dass ich …“ Mit jedem Satz ließ Jonas ein Stück seiner Hemmungen hinter sich und erfreute Erik schon bald mit einer ausgesprochen expliziten Beschreibung seines derzeitigen körperlichen Zustands.

Als er das Gespräch beendete, war das Wasser kalt, aber alles andere an ihm warm.

 

„Da bin ich wieder!“ Zielgerichtet steuerte Jonas auf den Tisch zu, an dem Clemens und seine Freunde noch immer versumpften. Die Fahrt zum Apfelbäumchen hatte er dafür genutzt, seinen Mut zusammenzukratzen.

„Hast dir gan‘schön Sseit gelass’n“, nuschelte Clemens und hob sein halbleeres Bier zum Gruß. „Bringssst du mir noch‘ns?“

„Klar, mach ich gleich“, versprach Jonas. „Und sag mir Bescheid, wann ihr in die Berge fahrt. Ich will mit!“

 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Jonas ist also wieder zurück in Bayern und diejenigen von euch, die befürchtet haben, er könnte das durchziehen, ohne vorher Erik Bescheid zu geben, hatten natürlich völlig recht ;)
Zum Glück haben die beiden in den letzten Wochen an ihrer Kommunikation gefeilt und konnten die große Katastrophe abwenden. Zumindest sieht es derzeit danach aus.

Fun Fact: Ich glaube, ich habe für die paar bayerischen Zeilen von Jonas‘ Oma länger gebraucht als für das restliche Kapitel. (Wer Fehler findet, darf sie– ach, na schön, sagt es mir, wenn etwas nicht stimmt …) Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von: abgemeldet
2018-07-27T22:37:19+00:00 28.07.2018 00:37
Haha, ich schließe mich an, Jonas' Oma ist einfach nur herrlich! :D ich komm zwar nicht aus Bayern, hab aber ein Faible für Dialekte und finde, man kann's auch ohne große Vorkenntnisse verstehen ;)
Irgendwie hab ich aber doch Mitleid mit Jonas. Er macht es sich zwar übermäßig schwer, doch es muss echt hart sein, nicht mehr zu wissen, wo man zuhause ist. Vielleicht eines Tages in einem dritten Raum - sprich, irgendwo anders mit Erik? Wäre so der absolute Happy End-Hoffnungsschimmer :")
Antwort von:  Noxxyde
28.07.2018 12:04
Oh, das beruhigt mich. Ich war mir wirklich nicht sicher, wie gut man sie versteht - aber nachdem sie auch nur kleinere Sprechrollen hat, wollte ich es auch nicht ändern ^^;

Hmm, dein Hoffnungsschimmer gefällt mir. Mal sehen, wie nah er der Wahrheit kommt ;)
Von:  Usaria
2018-02-24T12:49:52+00:00 24.02.2018 13:49
Tolles Kapitel, hast du den Übersetzer genutzt den ich dir Verlinkt habe?
Ach ja für alle die kein bayrisch können solltest du hinter den Sätzen ein * machen und sie am Ende des Kapitels auf Hochdeutsch hin schreiben. Aba ich fand richtig geil! In einer FF mal bayrisch zu lesen. Mein Grinsen wurde immer breiter! :))
I stei ma an Jonas sei Oma vor wie so a richtig oide Baierin (Bäuerin) mit Bemdirche (Kopftuch), a bissal mobbellig, und rent an ganz Dag mit na Schirzn rum! So a richtig oids Mirdal (Mütterchen). Einfach nur kunuffig!

Ich: Jonas kann ich mal mit dir reden
Jonas: "Nicht jetzt hab zu tun!"
Ich: befehlend: "Christl du springst jetzt für an Jonas ei!", und zerrre Jonas hinter der Theke vor und verschwinde mit ihm ihm Lagerraum.
Jonas: "Was gibts, denn so wichtiges!"
Ich: "Erstens: du solltest deine Kommunikationsfähigkeit mit Erik verbessern! Erkik wird sich bestimmt gefragt haben, was er falsch gemacht hat. Woher ich´s weiß, hab ne ähnliche Geschichte. Zweitens: Leg da wega sechane Ideoten wie deina Mitstudentin und den Schmierfinken, a leck me am Arschg´fuhi zur! I woars dass des schwa is, geht aba!"
Jonas, sieht mich skeptisch an und verschwindet wieder in Gaststum.
Antwort von:  Noxxyde
24.02.2018 18:00
Danke :)
Ja, teilweise habe ich den Übersetzer genutzt. Ich komme ja auch aus Bayern, kann es aber besser verstehen als selbst sprechen und beim Schreiben setzt es dann ziemlich aus. Deshalb war der Übersetzer recht nützlich.
Ich hatte schon überlegt, ob ich eine "Übersetzung" für nicht-Bayern anbieten soll, aber Jonas' Oma hat so wenig Text und der, den sie hat ist für die Handlung nicht wirklich entscheidend, da dachte ich, dass sich einfach diejenigen, die es verstehen darüber freuen sollen und der Rest kommt auch so klar ^^;

Deine Vorstellung von Jonas' Oma ist übrigens absolut zutreffend!

Dein Dialog hat mich gerade echt zum Lachen gebracht :D
Da steckt viel Wahres drin!
Antwort von:  Usaria
25.02.2018 14:38
Woher genau aus Bayern?
Antwort von:  Noxxyde
25.02.2018 21:46
München, tatsächlich :D
Von:  Onlyknow3
2018-02-23T17:54:49+00:00 23.02.2018 18:54
Super Kapitel, hat mir sehr gut gefallen. Jonas sollte sich mit Clemens aussprechen damit diese Stimmung nicht den Ausflug verdirbt. Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Antwort von:  Noxxyde
23.02.2018 21:52
Freut mich :)
Jonas fürchtet, dass eine Aussprache die Situation noch viel unangenehmer für beide Parteien machen würde. Allein, mal wieder so viel Zeit mit Clemens zu verbringen ist ein ziemlich großer Schritt für ihn, der ordentlich Überwindung gekostet hat. Aber ja, früher oder später wird er da trotzdem klar Schiff machen müssen.

Danke für dein Review!
LG Noxxy


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