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Raupe im Neonlicht

von

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Kapitel 23

Was zuletzt geschah:

Jonas‘ und Eriks zweites Date endet relativ erfolgreich, aus Zeitgründen muss ersterer allerdings auf sein Happy End verzichten. Dafür holt er sich vor der Tür eine Extraportion Umarmungen, die dummerweise nicht ganz unbeobachtet bleiben. Im Moment ist das Jonas aber egal – er freut sich auf eine baldige Wiederholung.

 

Kapitel 23

Du, 17:38

ha!

 

Erik, 17:46 Uhr

?

 

Du, 17:47 Uhr

daisy, mein gänseblümchen, hat ein neues blatt! sie lebt!

 

Erik, 17:48 Uhr

Gratuliere ;)

 

Erik, 17:50 Uhr

Hast du dir eigentlich schon überlegt, was du morgen machen willst?

 

Du, 17:52 Uhr

ich weiß, es is öde, aber können wir uns einfach bei einem von uns treffen?

 

Du, 17:53 Uhr

einfach n bissl ruhe und quatschen?

 

Erik, 17:53 Uhr

Klar :)

 

Du, 17:54 Uhr

bei dir?

 

Erik, 17:55 Uhr

Okay :)

Wollen wir zusammen kochen?

 

Du, 17:55 Uhr

klasse idee! pizza?

 

Erik, 17:56 Uhr

xD

Von mir aus. Ich besorge die Zutaten, für Getränke ist der Gast zuständig. (Belagwünsche werden aber entgegengenommen)

 

Zum gefühlt tausendsten Mal überflog Jonas seinen Nachrichtenaustausch mit Erik, während er darauf wartete, dass dieser die Eingangstür öffnete. Das Klirren der Flaschen in der Plastiktüte, die er bei sich trug, wurde nur vom Knurren seines Magens übertönt. Endlich erklang der Summer und Jonas musste sich zwingen, die Stufen hochzugehen satt zu rennen, drehte sich aber noch einmal um, als er etwas hinter sich rascheln hörte.

Eine ältere Dame – Eriks Nachbarin, der Jonas schon einmal begegnet war – hielt zwei Einkaufstüten und einen dicken Schlüsselbund in der Hand und versuchte, die Eingangstür zu erreichen, bevor sie sich schloss. Mit einem Satz sprang Jonas die Stufen wieder herunter und eilte zu ihr.

„Det is awa nett.“

„Kein Problem.“ Jonas hielt die Tür noch ein wenig weiter auf, damit die mit Tüten beladene Frau durchpasste. „Kann ich Ihnen beim Tragen helfen?“

„Ach, det is nich nötig. Nur keene Umstände.“

„Ich muss doch eh auch nach oben“, sagte Jonas. „Ob ich dabei zwei Tüten mehr oder weniger trage, macht keinen Unterschied. In welchen Stock müssen Sie denn?“

„Den Zweeten.“

„Sehen Sie, ich muss in den Dritten. Is‘ also wirklich kein Ding.“ Jonas nahm die Tüten entgegen, die die Frau ihm reichte.

„Hamwa uns schonma jesehen?“, fagte sie. „Ick meen, ick erinner mich. Sind‘se neu einjezogen?“

„Nee, ich bin nur zu Besuch.“

„Im dritten Stock … Ach, beem Kolb?“

„Ähm … ja.“ Jonas wusste nicht, was er noch dazu sagen sollte und die alte Dame schien keine weiteren Fragen zu haben. Schweigend legten sie die Stufen zum zweiten Stock zurück. „Ich stell die Taschen hier ab, ja?“

Die Frau sperrte ihre Tür auf, drehte sich aber noch einmal zu Jonas, um sich bei ihm zu bedanken.

„Gern geschehen.“ Jonas hob die Hand zum Abschied und spurtete das letzte Stockwerk nach oben.

Dort wartete bereits Erik, eine Braue fragend nach oben gezogen. „Schleimst du dich bei den Nachbarn ein?“

„Ich dacht bloß, es schadet vielleicht nich‘, auf guten Fuß mit ihnen zu sein, wenn ich ab jetzt öfter hier bin und mal wieder mitten in der Nacht ‘nen Stuhl umreiß, oder so.“

„Mhm, ich mag Männer, die vorausschauend denken.“

„Und ich mag Männer, die die Klappe halten und mir Essen kochen.“ Jonas drängte sich an Erik vorbei in die Wohnung, allerdings nicht, ohne ihm davor einen Kuss auf die Lippen zu hauchen. „Ich bin echt scheißhungrig!“

„Dann hast du dir ja das richtige Gericht ausgesucht. Wir müssen ja nur noch den Teig zubereiten, ihn gehen lassen, ausrollen, belegen und dann noch backen. Also essen wir in“, er warf einen Blick auf seine Uhr, „frühestens eineinhalb Stunden.“

„Japp. Und wenn du nich‘ willst, dass ich die komplette Zeit quengle, musst du mich ordentlich ablenken.“

„Mal sehen, wie ich das am besten anstelle.“ Erik streckte die Hand aus, um Jonas die Tüte mit den Getränken abzunehmen. „Ah, kühlstellen?“

„Glaub schon.“

„Du glaubst? Was hast du überhaupt mitgebracht?“ Neugierig spickte Erik in die Tüte.

„Ich hab keine Ahnung“, gestand Jonas. „Du trinkst ja keinen Alk, also fiel das schon mal raus, Cola is‘ lahm und sonst hatte ich keine Ideen. Also hab ich das Getränkeregal geplündert und alles eingepackt, was ich nich‘ kannte. Was übrigens echt viel is‘.“

„Ist mir aufgefallen.“ Erik musste ein paar Dinge in seinem Kühlschrank umsortieren, um Platz für die bunte Flaschensammlung zu machen. „Fangen wir gleich an?“

„Mit Kochen oder Trinken?“

„Beidem?“ Erik reichte Jonas eine dunkle Flasche, bei deren Inhalt es sich laut Etikett um vegane Gojibeeren-Limonade handelte. „Und für mich gibt es … Apfelschorle mit Heuextrakt. Hm.“

Schweigend kosteten sie ihre jeweiligen Getränke. Einen Schluck. Einen zweiten. Musterten die bunten Flaschen.

„Das ist ziemlich lecker“, stellte Erik verblüfft fest.

„Lass mich mal probieren.“ Jonas legte seine Hand in Eriks Nacken und zog ihn zu sich, genoss die Süße auf seiner Zunge als sich ihre Lippen berührten. Der Geschmack der Schorle war dabei ziemlich zweitrangig. „Fuck, du hast mir echt gefehlt.“

„Dabei waren das nur drei Tage. Wie wird das erst, wenn du wieder in Bayern bist?“

„Weiß nich‘“, nuschelte Jonas. „Vielleicht muss ich dich im Handgepäck mitnehmen oder so.“

„Vielleicht musst du das.“ Erik holte eine silberne Küchenwaage aus einer seiner Schubladen. „Lass uns anfangen. Du bist nicht der Einzige, der Hunger hat.“

Hefe, Wasser, Mehl und Öl waren schnell zusammengekippt und mit einem Kochlöffel zu einer klebrigen Masse gerührt. „Schätze, ab jetzt brauchen wir unsere Finger.“ Jonas trocknete seine frisch gewaschenen Hände und machte sich daran, den Teig zu kneten.

Erik schien dagegen andere Pläne zu haben. Offensichtlich taub für Jonas‘ kleinen Protestlaut, schlang er seine Arme um dessen Taille und presste ihn gegen den Küchentresen. „Hmm, ich hoffe, du bist gut im Multi-Tasking.“

„Ich bin ‘n Scheißprofi.“ Spielerisch bewegte Jonas die Hüften, genoss die Vorstellung, Eriks Glied damit zum Leben zu erwecken. Glücklicherweise brauchte Teigkneten keine gesteigerten kognitiven Fähigkeiten, andernfalls hätte er den Pizzaboden gnadenlos versaut.

„Sind wir ein wenig abgelenkt?“, raunte Erik in Jonas‘ Ohr, blies heiße Luft über empfindliche Haut.

„Kein bisschen. Weiß nich‘, wie du darauf kommst.“ Jonas zwang sich, sich auf den Hefeteig zu konzentrieren, bis dieser eine glatte, leicht glänzende Kugel formte, die sich mühelos vom Boden lösen ließ. „Fertig!“ Mit diesem Siegesruf entzog er sich Erik.

„Sehr gut“, lobte dieser jovial. „Und? Schon eine Idee, wie du dich die halbe Stunde, die der Teig jetzt gehen muss, von deinem grauenhaften Hunger ablenken möchtest?“

„Ähm … ähm … So?“ Blitzschnell tauschte Jonas den Platz mit Erik, drängte nun wiederum ihn gegen die Arbeitsplatte. Die Härchen in seinem Nacken stellten sich auf und er sog den Duft nach Holz und Sonne tief in seine Lungen. Eriks Lippen waren warm und weich und wussten, was Jonas von ihnen wollte.

Ein Telefon schrillte.

Unwillig brummte Erik in den Kuss. „Hört sicher gleich wieder auf.“ Nach dem sechsten Klingeln brummte er noch unwilliger und löste sich vor Jonas. „Ich mach’s kurz.“

Er verschwand aus der Küche, um den Anruf entgegenzunehmen und Jonas warf einen neugierigen Blick unter das Küchentuch, mit dem sie den Teig abgedeckt hatten. War er schon größer geworden? Würden sie vielleicht nur zwanzig Minuten statt einer halben Stunde warten müssen? Obwohl sich Jonas bemühte, es nicht zu tun, lauschte er mit halbem Ohr Eriks Gespräch.

„Danke, gut und euch? … Ah, schön … Ja … Unglaublich, dass sie schon achtzehn wird … Mhm … Du, ich habe gerade Besuch, also … Ah … In der Woche … Ja, nein, macht euch da mal keine Gedanken … Nein, das ist wirklich kein Problem … Ja … Ja … Das verstehe ich … Nein, das solltet ihr wirklich nutzen … Genau, das können wir mal machen … Vielleicht im Sommer … Ach so … Nein, das ist natürlich auch in Ordnung … Sicher. So, wie es euch passt … Ja … Ja … Danke … Ja, euch auch … Ja, danke. Mach’s gut.“

Das Telefon piepte leise und Jonas widmete sich rasch seinem eigenen Handy. Er wollte nicht neugierig erscheinen, aber Eriks Gesichtsausdruck, als er in die Küche zurückkehrte, ließ ihn dennoch die Stirn krausziehen. „Is‘ alles okay?“

„Sicher.“ Eriks Lächeln war nicht übermäßig glaubwürdig. „Das war nur …“ Er hielt inne, lehnte sich gegen den Küchentisch und starrte auf seine Hände. „Das war meine Tante.“

„Die, bei der du aufgewachsen bist, nachdem …“ Jonas beendete den Satz nicht.

„Mhm. Seit ich nach Berlin gezogen bin, fahre ich zum Todestag meiner Eltern nach Stuttgart und bleibe ein paar Tage dort. Kümmere mich um die Grabpflege, treffe ein paar alte Freunde, was eben so ansteht, wenn man einmal im Jahr in die alte Heimat zurückkehrt. Dazu gehört, dass ich an einem Abend bei meiner Tante und ihrer Familie zum Essen eingeladen bin. Dieses Jahr hat sie mir abgesagt.“ Erik zupfte an einem überstehenden Stück Haut neben seinem Fingernagel.

„Warum?“

„Sie haben ein Angebot für eine Reise nach Zypern bekommen und das ist der einzige mögliche Zeitraum. Was absolut in Ordnung ist!“, beteuerte er, bevor Jonas etwas erwidern konnte. „Ich bin nicht der Typ Mensch, der sich an einem Datum aufhängt.“

„Du siehst aber nich‘ so aus, als ob dich der Scheiß völlig kalt lassen würd. Bist du enttäuscht?“

„Eher … durcheinander.“ Ein winziger roter Fleck erschien neben Eriks Fingernagel. Er schien ihn nicht zu bemerken, kratzte weiter mit dem Daumen über die blutige Stelle. „Ich habe das Gefühl, ich sollte enttäuscht sein, aber eigentlich bin ich erleichtert.“

Jonas nahm Eriks Hand, hauchte zarte Küsse darauf. „Ich hab auch den einen oder anderen Verwandten, bei dem ich erleichtert bin, wenn ich die hässliche Fresse nich‘ sehen muss.“

Immerhin brachte er Erik damit zum Lachen. „Ganz so ist es nicht. Es ist nur …“ Er seufzte. „Der Verlust meiner Eltern hat mich in ein ziemlich tiefes Loch gerissen und ich habe mein Umfeld mit runtergezogen. Da ist eine Menge Mist passiert und viele hässliche Worte gefallen. Irgendwie sind wir alle halbwegs heil aus der Situation rausgekommen, aber wirklich aus der Welt schaffen, konnten wir diese Dinge nie. Jedenfalls fühlt es sich für mich so an. Also wird jedes dieser jährlichen Essen zum Eiertanz, bei dem wir uns höfliche Komplimente machen und erzählen, was in den vergangenen zwölf Monaten so passiert ist. Natürlich nur die guten Sachen, wir wollen ja nicht in Gefahr geraten, die heitere Stimmung zu trüben. Meine Tante und ihre Familie tun so, als hätten sie mich gerne bei ihnen und ich tue so, als wären sie überzeugend. Ich sollte also eigentlich froh sein, wenn sie entschieden haben, dieses Theaterspiel endlich zu beenden.“ Überrascht blickte Erik auf, als Jonas‘ eine Hand an seine Wange legte. Er versuchte sich an einem Lächeln. „Es ist wirklich in Ordnung. Ich klinge vermutlich gerade arg dramatisch.“

„Du klingst traurig“, sagte Jonas. „Und auch wenn ich scheißsicher bin, dass du dich irrst und ihr einfach bloß nich‘ wisst, wie ihr miteinander umgehen sollt … Falls sie dich wirklich nich‘ gern um sich haben, is‘ das ihr Verlust. Nich‘ deiner.“

„Wir sollten mit der Soße anfangen.“ Erik schob Jonas zur Seite, um zum Herd zu gelangen.

Jonas rollte mit den Augen. „Du kannst echt keine Komplimente annehmen. Sie hätten dich sicher nich‘ mehrere Jahre bei sich leben lassen, wenn sie nich‘–“ Der Topf, den Erik aus einer Schublade geholt hatte, knallte auf die Anrichte.

„Sie haben mich nicht mehrere Jahre bei sich leben lassen!“

„Sorry, ich …“ Aber Jonas wusste nicht, was er sagen wollte. Also verstummte er.

Erik holte hörbar Luft und ließ sie langsam wieder aus seinen Lungen entweichen. Die Knöchel der Hand, die den Topfgriff umklammert hielt, waren weiß. „Nein, ich muss mich entschuldigen.“ Er stellte den Topf auf die Herdplatte, zog Schneidbrett und Zwiebeln zu sich. „Das konntest du nicht wissen. Und ganz offenbar sitzt dieser Dorn tiefer, als ich mir bis eben eingestehen wollte. Tut mir leid, dass du das gerade abbekommen hast.“

Wortlos drückte Jonas Erik an sich und spürte, wie kalt dessen Finger waren, als er sie mit seinen eigenen verwob.

„Ich war nur ungefähr ein Jahr bei ihnen“, erklärte Erik deutlich ruhiger, wand sich jedoch aus Jonas‘ Griff und schnappte sich ein Gemüsemesser. „Und das auch nur, weil es relativ lange gedauert hat, einen Platz in einer geeigneten Wohngruppe zu bekommen.“ Er rieb sich über die Augen. „Ah, diese Zwiebel macht mich fertig.“

„Ich schneid sie“, bot Jonas an und nahm Eriks Platz ein. „Du kannst dafür die Tomaten übernehmen.“ Er beobachtete Erik aus dem Augenwinkel, fragte sich, ob er das Thema fallenlassen, oder seiner Neugierde nachgeben sollte. Letztlich nahm Erik ihm diese Entscheidung ab.

„Du kannst dir so eine Wohngruppe wie eine WG vorstellen. Mit dem Unterschied, dass die Bewohner üblicherweise minderjährig und rund um die Uhr Sozialpädagogen anwesend sind. Zumindest war das in meinem Fall so, es gibt da unterschiedliche Varianten.“

„Is‘ das nich‘ anstrengend, so viele Jugendliche auf einen Fleck? Die ja vermutlich nich‘ ganz grundlos in so ’ner WG gelandet sin‘.“ Zu spät bemerkte Jonas, wie dieser Satz für Erik geklungen haben musste. „Ähm, ich mein, die alle irgendwie ihre Probleme haben mussten. Also, ähm …“

„Ich weiß schon, wie du das meinst“, beruhigte ihn Erik. „Ich war ja auch kein unbeschriebenes Blatt und es wäre eine dreiste Lüge, zu behaupten, dass es keine Reiberein zwischen uns gegeben hätte. Aber alles in allem, war der Zusammenhalt gut und …“ Er warf die kleingeschnittenen Tomaten in den Topf. „Weißt du, es war eine ziemliche Erleichterung für mich, zu sehen, dass ich nicht der Einzige war, der irgendwann in seinem Leben gestrauchelt ist und Schwierigkeiten hatte, wieder auf die Beine zu kommen. Das gab mir das Gefühl, kein völliger Versager zu sein.“

„War es das, was deine Tante dir eingeredet hat?“

„Nein!“, versicherte Erik eilig. „Nein, so war das nicht. Ich glaube, sie kommt hier gerade viel zu schlecht weg. Der Tod meiner Eltern kam für sie genauso überraschend wie für mich. Plötzlich war sie nicht nur völlig allein für ihre demenzkranke Mutter verantwortlich, sondern musste sich um den Nachlass ihrer Schwester kümmern. Die beiden hatten kein übermäßig enges Verhältnis, aber sie hat sicher getrauert. Dazu hatte sie ihre eigene Familie. Einen Mann, der häufiger im Büro als zuhause war, einen pubertierenden Sohn, eine kleine Tochter … und trotzdem stand keine Sekunde außer Zweifel, dass sie mich bei sich aufnehmen würde. Zu all ihrem Stress, kam also noch ich dazu und damit auch Termine bei Jugendamt, Jugendgericht und so weiter. Neben all dem emotionalen Kram, noch ein riesiger Haufen organisatorischer Mist. Aber sie hat sich kein einziges Mal darüber beschwert.“

„Woran ist es dann gescheitert?“, fragte Jonas und biss sich gleich darauf auf die Zunge. „Ähm, sorry, ich weiß, dass das ein Scheißthema für dich is‘. Du musst also nich‘ …“

„Frag ruhig“, ermutigte Erik ihn. „Falls ich etwas mal nicht beantworten will, sage ich dir das dann schon. Und frag auch nach, wenn etwas unklar ist. Damals ist so viel in so kurzer Zeit passiert, dass ich gar nicht genau weiß, wie ich anfangen soll.“

Der Sud aus Tomaten, Zwiebeln, Knoblauch und Kräutern begann im Topf zu blubbern und Erik reduzierte die Hitze. Jonas wartete, bis er weitersprach.

„Gescheitert ist es letztlich wahrscheinlich an einer Reihe von Dingen. Nach dem Tod meiner Eltern wollte ich mich irgendwie ablenken und bin mehr oder weniger in meine erste Beziehung gestolpert. Ich war völlig auf meinen Ex fokussiert, bis zu dem Punkt, an dem ich Schule und Freunde vernachlässigt und immer wieder Absprachen mit meiner Tante gebrochen habe, nur um mehr Zeit mit ihm verbringen zu können. Am Ende war ich“, der Hauch eines Zögerns, den Jonas sicher übersehen hätte, hätte er Erik inzwischen nicht so gut gekannt, „emotional ziemlich von ihm abhängig und als die Beziehung dann in Rauch aufging, habe ich andere Wege gefunden, den Schmerz erträglich zu machen.“

Wieder eine kurze Pause. Eriks Finger strichen über seine Unterarme. „Rückblickend betrachtet war das vermutlich das Beste, das passieren konnte, weil es meine Probleme offensichtlich gemacht hat und ich endlich die Hilfe bekommen habe, die ich damals brauchte. Aber was denkst du, wie viel Stress so ein Verhalten in eine Familie bringt? Zumal die Dinge davor schon wacklig waren. Das waren sie wohl schon, bevor ich dazu gekommen bin und meine Anwesenheit hat es nicht besser gemacht. Mein Cousin war damals dreizehn und musste plötzlich sein Zimmer mit einem Jungen teilen, den er zuvor vielleicht einmal im Quartal gesehen hatte. Dass er darüber nicht glücklich war, ist klar. Wir haben gestritten. Oft.

Mein Onkel fand dagegen, dass ich zu viel Zeit in Anspruch nehme, während seine eigenen Kinder und seine Ehe zu kurz kamen. Und er hatte ja recht. Meine Tante hat sich fast zerrissen, um allen irgendwie gerecht zu werden. Geholfen hat es nicht. Mein Cousin wusste nicht wohin mit seiner Wut, meine kleine Cousine war viel zu oft auf sich gestellt und ich kam mir vor wie ein Fremdkörper, der selbst dann, wenn er perfekt funktioniert, gerade mal geduldet wird, aber sicher nicht willkommen ist. Damit sage ich nicht, dass es so war“, betonte Erik. „Aber so hat es sich angefühlt. Der Platz in der Wohngruppe wurde schließlich auf Anraten meiner Psychologin und mit Hilfe meiner Betreuerin beim Jugendamt organisiert, was für uns alle wirklich die beste Lösung war. Nur … Das Gefühl abgeschoben worden zu sein, wollte nie völlig verschwinden.“

Jonas bekämpfte das Bedürfnis, Erik in den Arm zu nehmen, fürchtete, dass dieser die Geste als Mitleid interpretieren würde. Vielleicht lag er damit auch gar nicht so falsch. Stattdessen sagte er: „Du hast echt ganz schön viel Scheiß hinter dir.“

„Nicht mehr als andere auch.“ Erik tunkte einen Löffel in die Soße und hielt ihn Jonas vor die Nase. „Probier mal.“

„Bisschen mehr Salz würd nich‘ schaden.“ In Gedanken war Jonas noch immer bei Eriks Erzählung.

„Entschuldige, ich habe das gerade ganz schön über dir ausgekippt, was?“

„Nee, ich wollt’s ja wissen. Ich hab bloß keine Ahnung, wie ich … mit dir umgehen soll.“ Jonas verzog das Gesicht. „Scheiße, klang das grad blöd. Aber genau das mein ich! Was soll ich sagen, wie soll ich mich verhalten? Irgendwie muss ich ja reagieren. Gar nix sagen is scheiße, dich bemitleiden auch, vor allem, weil ich echt nich‘ das Gefühl hab, dass du das brauchst, weil du dein Leben ziemlich gut im Griff hast und–“

Eriks Lachen unterbrach Jonas‘ verunsichertes Gestammel.

„Okayyy“, sagte Jonas gedehnt. „Wenigstens schein ich dich zu amüsieren.“

„Entschuldige.“ Vergeblich versuchte Erik, sein Schmunzeln hinter seinem Ärmel zu verstecken. „Es ist nur ein wenig absurd zu hören, dass du denkst, ich hätte mein Leben im Griff, während ich selbst ständig befürchte, all mein Chaos könnte dich vertreiben. Und, dass du ganz offensichtlich dieselbe Angst nur umgekehrt hast, bringt da noch einen ganz wunderbaren Schuss Ironie mit rein.“

„Na toll … Dann sin‘ wir also beide ein verficktes Komplexbündel?“

„Mhm, sieht ganz so aus.“ Nach einer letzten kritischen Verkostung, zog Erik die Pizzasoße vom Herd. „Aber um deine Frage, wie du mit mir umgehen sollst zu beantworten … ‚Wie mit jedem anderen auch‘, wäre mir das liebste. Nur bin ich eben doch die Summe meiner Erfahrungen und reagiere manchmal empfindlich auf bestimmte Auslöser. Bitte erschrick nicht, falls das passiert. Es ist nicht deine Schuld. Und es sollte nicht dazu führen, dass du mit mir vorsichtiger umgehst als mit anderen. Mach mich darauf aufmerksam und sag mir, wenn du dich unsicher fühlst. Oder, wenn ich mich wie ein Idiot aufführe.“ Verlegen lächelnd rieb Erik über seinen Nacken. „Das sagt sich jetzt alles ziemlich leicht, aber ich weiß, dass ich da viel von dir erwarte. Obwohl ich es ja nicht wirklich erwarte. Es wäre nur …“ Er seufzte. „Vielleicht kann ich dir deine Frage auch einfach nicht beantworten.“

„Passt schon“, sagte Jonas. „Du bist unsicher, ich bin unsicher, irgendwie kriegen wir das schon hin. Und wenn’s eins gibt, worauf du dich verlassen kannst, dann, dass ich meine Klappe eh nich‘ lang halten kann.“

Erik lächelte und küsste Jonas‘ Schläfe. „Habe ich dir schon gesagt, wie gerne ich dich bei mir habe?“

„Sag’s ruhig noch mal.“ Jonas deutete auf den von einem bunten Küchentuch abgedeckten Teigklops. „Ich glaub, der durfte lang genug gehen. Lass uns weitermachen!“

 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich habe keine Ahnung, wie Gojibeeren-Limonade schmeckt, aber Apfelschorle mit Heuextrakt ist echt überraschend lecker!
Euch allen ein schönes Wochenende und hoffentlich bis nächsten Freitag :) Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2018-07-27T11:56:42+00:00 27.07.2018 13:56
Haha, die Beiden sind ja jetzt schon wie ein alteingesessenes Ehepaar :D ich find's jedenfalls unglaublich süß, wie sie zusammen Pizza backen :) und dass immer mehr Bruchstücke der Vergangenheit aufgedeckt werden - kann nur förderlich für die Entwicklung der Beziehung sein, hoffe ich :)
Von:  Usaria
2018-02-03T15:42:51+00:00 03.02.2018 16:42
Tolles Kapitel, Auch wenn´s etwas traurig is. Da hat Erik ja viel durch gemacht. Das beste Rezept ist, dass die beiden viel mit einander Reden, reden und wieder Reden. Sag mal wenn Erkik seinen Unterarm betrachtet sind dann dort Narben zu sehen? Du schreibst es zwar nicht aus, aber die Andeutungen sind dar?
Antwort von:  Noxxyde
05.02.2018 18:18
Ja, auf Eriks Unterarm sind Narben zu sehen. Allerdings nicht von einem Suizidversuch, falls du das denkst, sondern oberflächlichere Verletzungen.
Antwort von:  Usaria
05.02.2018 21:54
Nein, ich dachte nicht an Suizid, sondern an Selbstverletzung.
Antwort von:  Noxxyde
05.02.2018 23:11
Damit liegst du richtig.


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