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Forever Dream

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Willkommen zurück!

Nachtrag zum Thema Leiden: Es verteilt sich eigentlich relativ gleichmäßig auf alle Bandmitglieder, nur schauen wir uns ein paar von ihnen genauer an als andere (und wieder andere *hust* Yoshiki *hust* sind mit ihrem Scheiß auch schon vor der Story durch)... Außerdem muss man sich erinnern, dass zwischen hide Drama 1 und Drama 2 fast zehn Monate vergangen sind. Wir bewegen uns ja beständig in die Zukunft. Nun ja. Ja. Trotzdem viel Drama auf wenigen Schultern, es stimmt. Aber manche Leute erwischt es halt hart.

Danke für eure Kommentare und für's Lesen! (... ich weiß, dass ihr da seid. xD) Komplett anzeigen

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All I've Ever Had

Frau Sawada mochte Feste.

Wer es immer noch nicht verstanden hatte, den begrüßte an diesem Tag im Kühlschrank eine kunstvoll angerichtete Platte mit Sushi und überbrachte durch ihre bloße Anwesenheit diese Information. In die Sushiröllchen hatten detailverliebte Hände kleine Bilder eingearbeitet – Blumen, Gesichter, abstrakte Formen – und wäre Taiji nicht dezent beeindruckt gewesen, er hätte sich vielleicht über die mädchenhaften Rosen beschwert. So aber sagte er, wie er so in Boxershorts und Shirt vor dem Kühlschrank stand und hineinschaute: „Ich glaube, ich bin zu schlecht angezogen.“ Aber was wollte man erwarten? Er war immerhin vor zehn Minuten erst aufgestanden!

Hinter ihm am Tisch prustete Reiji in seinen Reis, doch seine Mutter nickte mit diesem tadelnden Zug um den linken Mundwinkel. „Es wäre schön, wenn du dich noch umziehst, Liebling, ja.“

Taiji griff sich endlich eine Mango aus der Tür und machte den Kühlschrank wieder zu. Jeder andere hätte vermutlich gefragt, warum sie immer so einen Aufwand betrieb, wo ihn selbst sein Geburtstag eigentlich so gar nicht interessierte. Doch Taiji kannte die Antwort. Also stellte er eine andere, wenn auch verwandte Frage: „Wie stehen die Chancen, dass wir mal mit Burgern vor dem Fernseher feiern?“

Der versteckte Tadel verwandelte sich in offene Missbilligung. „Das will ich jetzt nicht gehört haben.“

Und so stand Taiji einige Stunden später, immer noch in Jeans aber zumindest im Hemd, am Wohnzimmerfenster und sah hinaus. Es war ein schöner Sommerabend und zwei kleine Nachbarsmädchen saßen neben ihren Rollern in der Einfahrt gegenüber und malten mit Kreide große Blumen auf die Steine. Das Telefon klingelte. Taiji drehte sich um und sah über den festlich gedeckten Tisch hinweg zu Reiji. Dieser hatte sich mit The Shining im Sessel am Fenster eingerollt und schüttelte den Kopf, als er den Blick seines Bruders bemerkte.

„Oh, komm schon!“, rief Taiji. „Ich hab heute schon zweiundzwanzig Anrufe bekommen und die Hälfte von Verwandten, an die ich mich nicht mal erinnere!“ Und die andere Hälfte von Mädchen, bei denen es irgendwie ähnlich war. Nach dem zehnten Anruf hatte Taiji begonnen zu befürchten, dass das Problem eventuell bei ihm lag.

Doch sein Bruder blätterte seelenruhig eine Seite um und murmelte mit einem leichten Singsang in der Stimme: „Keine Chance…“

Taiji verzog also das Gesicht und ging so langsam er konnte in den Flur. Es klingelte immer noch. Wieso waren alle Leute, die hier anriefen, nur immer so hartnäckig? Gnah. Er hob ab.

„Sawada desu kedo…“, schlurrte er lustlos.

Eine Männerstimme drang aus dem Hörer. „He Champ. Alles Gute.“

Taiji umfasste den Türrahmen neben sich. Telefon. Der Mann befand sich noch in der Nähe eines Telefons! Doch vielleicht war er irgendwo rausgefahren und benutzte eine Telefonzelle. Oder die Leitung in einem Laden? Er beherrschte sich also mühsam, als er fragte: „Wo bist du?“ Nur zu gern hätte er gesagt ‘das Essen wird kalt‘, aber dieses Risiko war bei Sushi eher gering. Vielleicht sollte er sagen ‘Das Essen bildet Salmonellen aus‘. Gerade als ihm dieser geniale Gedanke kam, seufzte die Stimme am anderen Ende der Leitung jedoch.

„Taiji, hör zu…“

Taiji unterbrach ihn. Er wollte es nicht hören. „Du hast versprochen, dass du es schaffst.“

„Ich weiß. Und ich wollte. Wirklich. Aber es gab eine wichtige-“

Versprochen“, wiederholte Taiji, auch wenn er begann sich zu fühlen wie ein Grundschulkind, das seinen Trotzkopf durchsetzen wollte. Eine Bewegung neben ihm ließ ihn aufsehen. Reiji war in der Tür aufgetaucht und hatte die Stirn in Falten gelegt. Er gestikulierte in seine Richtung, vermutlich um ihn aufzufordern, das Telefon vom Ohr zu nehmen, damit er mithören konnte, doch Taiji schob ihn weg und wandte sich ab. Das hier gehörte ihm.

Ein Seufzen. „Ich weiß, ich weiß. Aber was soll ich machen? Sei nicht enttäuscht, ja? Wir können feiern, wenn ich nächstes Wochenende nach Hause komme, in Ordnung?“

Taiji schwieg.

„Und wenn es irgendetwas gibt, das du brauchst… also…“

Taiji dachte unwillkürlich darüber nach. Bisher war ihm immer noch was eingefallen. Er war nicht dumm. Er erkannte, wenn man versuchte, sich von Verantwortung frei- und Liebe zu erkaufen. Das hieß nicht zwangsweise, dass man es nicht mal mitmachen konnte. Doch heute hörte er sich sagen: „Ich brauche nichts.“ Und es stimmte.

Ein paar Sekunden passierte nichts. Dann sagte sein Vater am anderen Ende der Leitung: „In Ordnung.“ Sein Tonfall war über das Rauschen hinweg nicht ganz einzuordnen. Vielleicht Resignation, vielleicht aber auch nur, was es war: ein in Ordnung.

Taiji schwieg.

„Sag deiner Mutter Entschuldigung von mir.“

„Von mir aus“, sagte Taiji, auf einmal wütend. Und wer sagte ihm Entschuldigung? „Was auch immer.“ Er warf den Hörer ohne Abschiedswort auf die Halterung an der Wand.

Reiji stehenlassend ging er die paar Schritte in die Küche und nahm sich eine Packung Kokosnusswasser aus dem Kühlschrank. Seine Mutter hatte sich vom Fenster weg und ihm zugewandt, in den Händen noch die Sahne, mit der sie anscheinend gerade den Nachtisch auf der Anrichte bedeckt hatte.

„Papa kommt nicht. Er bittet, sein Arsch-Sein zu entschuldigen“, teilte Taiji ihr sachlich mit, schlug die Kühlschranktür zu und verschwand wieder auf den Flur. Reiji, der ihm vorsichtig gefolgt war, ging ihm intelligenter Weise aus dem Weg.

Seine Mutter aber folgte ihm einige Schritte. „Was? Er… Wo willst du hin…?“

„Garage.“ Er schaffte einen Tonfall, der offenbar frustriert genug klang, um keine empörten mütterlichen Worte zu provozieren und gleichzeitig so abschließend, dass man ihn nicht umzustimmen oder gar zu trösten versuchte.

Er warf die Tür mit einem befriedigenden Knall hinter sich zu, schlüpfte aus seinen Hausschuhen und in die alten Stiefel, die er hier meist trug und trat einmal herzhaft gegen die in der Ecke gestapelten Winterreifen. Dann stellte er das Wasser auf dem Tisch ab, legte wahllos eine der herumliegenden Kassetten in den Recorder und schaltete den Amp an. Daneben stand sein alter Greco. Es war kein guter Bass, aber er taugte, um darauf zu üben und das vertraute Material unter seinen Fingern half im Normalfall dabei, ihn zu beruhigen. Heute nicht. Die Kassette, bemerkte er, als er auf Play drückte, war ein zehn Jahre altes Album von Deep Purple und war nicht ganz auf Anfang zurückgespult. Während er also halbherzig zum Solo von Burn einstieg, dachte er plötzlich unwillkürlich an Yoshiki. Yoshiki sah seinen Vater auch nie. Yoshiki hatte nie zusehen müssen, wie sich sein Vater in einen Arsch verwandelt hatte. Seine Vorstellungen konnten nicht mehr von der Realität zerquetscht werden wie eine Kakerlake unter einer Schuhsohle. Einen Moment lang spürte er schrecklicherweise etwas, das Eifersucht ziemlich nahe kam. Taiji hielt inne und verpasste drei Takte. Was dachte er denn da? Er riss sich zusammen. Im Grunde, dachte er weiter und stieg wieder ein, wurden Yoshikis Vorstellungen ja genauso enttäuscht wie seine. Denn egal, was er sich ausmalte: Es würde nicht mehr passieren. Sein Vater war nicht zu Arsch geworden, sondern zu Asche. Vielleicht doch nicht besser. Der Track lief aus, ein paar Sekunden herrschte Stille, bis die kratzigen Gitarrensounds von Might Just Take Your Life erklangen, dicht gefolgt von der melodischen Stimme Coverdales.
 

I've been called by many names

And all of them are bad

I can take it all the same

It's all I've ever had
 

Einen kurzen Moment kam ihm der Gedanke, was wohl wäre, wenn er Yoshiki wäre und Yoshiki er. Wäre Yoshiki glücklich mit einem Vater, den er nie sah, einfach weil es ihn noch irgendwo gab? Wäre er selbst glücklich ohne Vater, weil er aufhören könnte, sich Hoffnungen zu machen? Schwer zu sagen. Aber der Unterschied zwischen Yoshiki und ihm war eindeutig, dass sein eigener Vater ein Arschloch war, während Yoshikis einfach nur Pech gehabt hatte. Und zu dieser Schlussfolgerung gekommen beschloss Taiji, sich jetzt ein wenig selbst zu bemitleiden – sofern man bei einer Mischung, die so viel Wut auf jemand anderen enthielt denn noch von Selbstmitleid sprechen wollte.
 

You can't hold me

I have told you

Might just take your life

Might just take your life
 

Das Wasser war halb leer und der Himmel hatte sich bereits dunkelviolett gefärbt, als seine eremitische Ruhe schließlich gestört wurde. Zu diesem Zeitpunkt saß Taiji auf seinem Klappstuhl und warf Plektren in den Aschenbecher, der auf einem alten Karton stand. Die Einrichtung hier hatte deutlich darunter gelitten, dass er den Proberaum ausgestattet hatte.

„Alles in Ordnung?“ Reiji.

„Ja“, beschied Taiji knapp. Ein weiteres Plektrum fand klappernd sein Ziel. „Was soll sein.“

Sein Bruder schob sich vollständig zur Tür herein. „Meh. Es ist nur, du bist jetzt schon seit zwei Stunden hier drin…“

Taiji drehte endlich den Kopf, sah ihn aber nur ausdruckslos an. „Ich bin jeden Tag mehrere Stunden hier drin.“

Mit einem Nicken lehnte sich der jüngste Sawada an die Tür. Zwei weitere Plektren landeten auf dem Boden. Dann sagte er: „Komm schon. Iss zumindest was. Mama hat sich da wirklich Mühe gemacht.“

Seufzend unterbrach Taiji sein Spiel und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Wie viel muss ich dir zahlen, damit du dich verpisst?“

„Ey. Ich hab nichts falsch gemacht.“ Reiji verschränkte vorwurfsvoll die Arme.

Taiji seufzte noch einmal. „Ich weiß… ich weiß.“

Sein Bruder stimmte in das Seufzen mit ein, nahm den anderen Klappstuhl von der Wand, entfaltete ihn und ließ sich mit den Armen auf der Rückenlehne darauf sinken. „Das ist doch jetzt nicht der erste Geburtstag, den er nicht hier ist… Was ist los?“

„Ich weiß nicht. Ich find’s einfach scheiße.“ Ein weiteres Plektrum prallte vom Karton ab und sprang einen Meter über den Boden. Kein gutes Zielgefühl, wenn man sich zurücklehnte, dachte Taiji. „Ist dir klar, dass ich jetzt achtzehn bin? So lange hatten wir Zeit, um eine echte Beziehung zueinander aufzubauen und… wir haben’s nicht. Ich kenn nicht mal… keine Ahnung, seine Lieblingsfarbe. Findest du das nicht schräg?“

„Naja. Er will uns was bieten.“ Reiji machte eine vage Geste um sie herum. Ganz versagt hatte er nicht, das mussten das Haus, die zwei Autos, der Jacuzzi im Garten und letztlich Taiji, der sich jetzt immerhin seit zwei Jahren nicht um einen Job bemüht hatte, irgendwie zugeben. „Das frisst halt Zeit. Ich glaub nicht, dass ihm das nur Freude macht.“

„Und ich glaub, er schläft mit seiner Sekretärin.“ Etwas in Taijis Stimme war ätzend wie Batteriesäure.

„Ja…“ Reiji verdrehte die Augen. Unbeeindruckt. „Du glaubst das, ich glaub das, Mama glaubt das. Dein Punkt?“

Taiji stand auf, klaubte seine Plektren aus dem Aschenbecher und sammelte die Ausreißer vom Boden ein. „Erinnerst du dich an den Kodomo no Hi in dem Jahr, wo wir im Sommer in diesem Beach Resort in Ishigaki waren? Du warst… boah, keine Ahnung, sieben oder so?“

„… so grob.“

„Auf jeden Fall kam er nach Hause und ihr… keine Ahnung mehr, wo ihr wart, ich glaub, ihr habt noch Mochi gerollt. Ich bin also in den Flur, weil ich die Tür gehört hab und im ersten Moment wusste ich echt nicht, wer er ist und warum er in unser Haus kann. War nicht lang, vielleicht eine Sekunde oder so. Aber… das ist krass, oder?“

Reiji runzelte die Stirn. „Ja, gut. Er ist schon länger nicht viel zu Hause. Aber ich versteh’s immer noch nicht.“

Kurz dachte Taiji noch einmal an Yoshikis Vater und dann an hide mit seiner Großmutter. Wie sehr sie scheinbar darunter litten, dass diese Leute aus ihrem Leben verschwunden waren – und wie wenig manche Menschen scheinbar mit solchen Verlusten abschließen konnten. In hides Fall mochte es andere Ursachen haben, aber niemand konnte ihm erzählen, dass Yoshiki ganz normal im Kopf war. „Ok. Es ist das: wenn er mal nicht mehr da ist, dann wird er jemand gewesen sein, der mir Sachen bezahlt hat, aber niemand, den ich…“ Taiji rang ein paar Herzschläge lang nach Worten, bis ihm klar wurde, dass er nicht sicher war, was er hier einfügen wollte und dass er es nicht aussprechen konnte, selbst wenn ihm ein passendes Verb einfiel. Weil es zu schrecklich war. Er entschied sich, ein wenig Empathie seitens des Jungen vorauszusetzen, mit dem er fünfzig Prozent seiner DNA teilte und sprach einfach weiter. „Ich meine… das war dann sein Leben! Wie kann man damit glücklich sein?“

„Also… willst du, dass er mehr hier ist und eine engere Bindung zu uns aufbaut?“

„Ja! Nein. Keine Ahnung.“ Frustriert warf Taiji drei weitere Plektren in den Aschenbecher. Sein Vater war fast ein Fremder. Wollte er jetzt noch die Kraft investieren, aus ihm wieder eine Bezugsperson zu machen? Machte das irgendwas besser? Bluärgh. Eigentlich wollte er nur, dass dieses Gespräch vorbei war. Und dieser Tag. Dann konnte er wieder aufhören, darüber nachzudenken.

„Ja, wenn du das auch nicht willst - warum bist du dann sauer?“

Taiji legte die restlichen Plektren auf den Tisch und wischte seine schweißfeuchte Hand an der Hose ab. Es war warm in der Garage. „Ich weiß es nicht.“ Eigentlich machte sein Vater nichts, was nicht tausende von anderen Vätern auf allen Inseln genauso machten. Guter Job, stabile Familie, Universitätsausbildung der Kinder praktisch vorprogrammiert, wenn es nicht an Idioten wie Taiji scheiterte. Und trotzdem kotzte ihn irgendetwas hier an und er konnte einfach nicht den Finger darauflegen, was es war. Vermutlich, weil 'darauf' in diesem Fall 'auf die Wunde' bedeutete. Manchmal musste das jemand anderes tun. Und es war gerade nur eine andere Person hier. Er drehte den Kopf in Richtung seines Bruders. „Ok. Warum bin ich sauer?“

Reiji lehnte sich nach vorne und kaute eine Weile nachdenklich auf seiner Unterlippe herum. Schließlich sagte er: „Mmh. Ok. Theorie.“

Taiji setzte sich bequemer hin. Super, jetzt ging er schon zu Dr. Nerdface in die Garagensprechstunde. Dennoch nickte er. Was hatte er zu verlieren.

„Ok. Du hast jetzt vor eineinhalb Jahren die Schule geschmissen, weil du Musik machen willst. Wir werten diese Entscheidung jetzt mal nicht, aber du erkennst, dass du wieder ein Jahr älter bist, der bisherige Erfolg ist mäßig und… ich kenn mich jetzt nicht aus, aber sagen wir mal, der Markt ist hart, ja?“

Taiji nickte. „Komm mir nicht mit Midlife Crisis“, wandte er dennoch ein. Er war achtzehn, verdammte Scheiße.

Sein Bruder winkte ab. „Nein, keine Sorge. Also. Du älter, Erfolgsaussichten unsicher. Jetzt siehst du Papa und du weißt, dass das das Leben ist, das man normalerweise so führt. Das lehnst du ab, weil – Gründe. Du weißt also, dass du nicht so leben willst. Ein Teil von dir, von dem ich vermute, dass du ihm normalerweise nicht zuhörst, fragt sich aber, ob das hier so eine schlaue Idee war. Und umso mehr Zeit vergeht, desto deutlicher siehst du, dass du keine Alternativen mehr hast. Du hast auf dein eines Pferd gesetzt und wenn der Gaul schlapp macht, wird es zu spät sein, um noch das zu kriegen, was Papa hat. Du musst also zwei Dinge befürchten: Dass das auch dein Leben sein könnte und dass es nicht dein Leben sein wird. Auf der einen Seite bist du frustriert, auf der andern neidisch. Und dadurch belegst du das Bild von Papa gleich doppelt mit einer negativen Empfindung. Du bist nicht sauer. Du hast Angst.“

Schweigend ließ Taiji die Worte einsinken. Diese Erklärung gefiel ihm nicht, doch leider fühlte sie sich so falsch nicht an. „Jupp“, sagte er schließlich, streckte die Waffen. „Du hast Recht. Das ist es.“

„Tja. Du bist der Hübsche, ich bin der Schlaue. Gene sind unberechenbar.“

„… schon mal über eine Karriere in der Psychologie nachgedacht?“, fragte Taiji nach einigen Sekunden, in denen er abgewogen hatte, ob Reiji ihn als etwas blöde bezeichnete. Wann hatte er ihn eigentlich das letzte Mal in die Mülltonne gesteckt? War sicher schon ein paar Jahre her… das war gefährlich bei jüngeren Brüdern. Sie verloren so schnell den nötigen Respekt!

Reiji grinste schief. „Ich dachte eher in Richtung Architektur.“

„Ah. Dann viel Erfolg dabei.“ Der Klappstuhl ächzte leise, als Taiji sich erhob. „Ich geh spazieren.“

„Ok…“ Der jüngste Sawada stand auf, um den Klappstuhl zurück an die Wand zu stellen, wo er ihn gefunden hatte. „Taiji?“

Der Angesprochene pausierte an der Garagentür. „Mmh.“

„Es ist Blau.“
 

Draußen hing die Wärme des Tages noch schwer und drückend zwischen den Häusern. Überall standen Fenster offen oder saßen diejenigen, die ausreichend Grund und Boden hatten im Garten. Es war nicht annähernd so still, wie Taiji sich das wünschte und er bog bei der nächsten Gelegenheit auf die Straße ab, die ihn aus dem Vorort hinausbringen würde. Ein Blick an sich hinunter. Er trug immer noch seine alten, ausgelatschten Schuhe. Naja. Drauf geschissen, er war schön. Fast musste er lachen, als ihm der Gedanke durch den Kopf schoss, ob Reiji ihn seinen Freunden wohl mit den Worten dumm aber sexy beschrieb. Doch die Empfindung hielt nicht lange vor. Die Worte seines Bruders hatten ein tiefsitzendes, unangenehmes Jucken irgendwo im Oberkörper verursacht und Taiji wusste, dass er das nicht ignorieren konnte – und dass es vermutlich erst verschwinden würde, wenn er sich entweder ernsthaft damit auseinandersetzte oder sich so dermaßen betrank, dass er das Gespräch wieder vergaß. Heute war? Freitag. hide spülte irgendwo Teller. Und da ging diese zweite Option den Bach runter…

Mit einem stillen Seufzen nur für sich fügte Taiji sich in sein Schicksal. Na dann los.

Mal angenommen, es stimmte so weit. Warum hatte er Angst? Gut. Es war einfach eine große Sache. Wie Reiji gesagt hatte. Der eine Gaul. Und es wurde immer schwerer, nochmal umzusatteln. Doch er hatte Vertrauen zu sich. Er hatte Vertrauen in diese komische, geniale, manchmal nervtötende Band, die er sich angelacht hatte. Warum also sollte er sich Sorgen machen? Sorgen so unbewusst, dass er nicht mal von selbst darauf gekommen war?

Auf der Frage herumkauend wie ein Hund auf einem Gummiknochen, ging Taiji durch die Siedlung, übers Feld, wieder durch die Siedlung, ohne zu einer Antwort zu kommen. Er endete vor einem Haus, das seinem eigenen sehr ähnlich sah und das er nur ein einziges Mal betreten hatte. Im Schatten zwischen zwei Straßenlaternen schließlich blieb er stehen und lauschte. Kein Geräusch erhob sich über das Zirpen der Zikaden. Obwohl es vermutlich Unsinn war, stellte Taijis Hirn sofort die Verbindung her, dass wo kein Klavier war, auch kein Yoshiki sein konnte. Kurz wanderten seine Augen über die oberen Fenster. Eines davon musste seines sein, aber er wusste nicht einmal welches. War auch egal, denn sie waren alle dunkel. Sollte er trotzdem mal klingeln? Doch worüber sollten sie reden. Ein Teil von ihm wollte Yoshiki nach seinem Vater fragen. Wie er gewesen war. Woran er gestorben war. Und ob Yoshiki sich manchmal vorstellte, er wäre noch hier. Aber ein anderer – größerer – Teil von ihm wusste, dass Yoshiki nicht antworten würde. Aus dem gleichen Grund, aus dem Taiji ihm nicht sagen würde, dass er so was wie Sorgen hatte.

Langsam wandte er sich ab und schlug den Weg zurück nach Hause ein.

Vielleicht war es das, dachte er plötzlich, als er gerade den Lichtkegel der letzten Straßenlaterne verließ und auf den schmalen Feldweg abbog. Als er noch zur Schule gegangen war, hatte er jeden Tag davon gehasst, obwohl er nie Probleme gehabt hatte. Er hatte sich jeden Tag gefragt, was er da eigentlich machte und warum und ob er nicht gerade sein Leben verschwendete mit dieser bescheuerten Routine, die ihn nirgendwo hinzubringen schien. Dann hatte er aufgehört. Ein paar Wochen lang war er sehr enthusiastisch gewesen und dann hatte sich allmählich wieder die Routine eingestellt. Er hatte seine Band in den Eimer getreten, um sich wieder auf sich zu konzentrieren. Enthusiasmus. Routine. Und jetzt X. Enthusiasmus. Routine?

Irgendwo fragte er sich anscheinend, ob da noch was kam oder ob es das jetzt wieder gewesen war. Er war so was von bereit für die nächste Stufe. Und wenn man Reijis Worten Glauben schenkte, dann war es eigentlich völlig unwichtig, wie die aussah. Egal, ob er ins Büro ging, ein Haus baute und Kinder in die Welt setzte oder sich in der Garage einschloss und dort versuchte, perfekte Triolen zu spielen: Irgendwas würde ihn wohl immer stören, spätestens ab dem Zeitpunkt, an dem es keine Neuheit mehr war. Was die Frage aufwarf: Würde er irgendwann mal zufrieden sein oder lag es einfach in seiner Natur, immer zu wollen, was er gerade nicht hatte? Sich einzureden, dass nur noch eine kleine Sache fehlte zum Glück? Wenn das stimmte, musste er eventuell hart an sich arbeiten. Doch er wusste nicht, wie er das machen sollte. Leute sagten ja gerne, Zufriedenheit wäre eine Sache der Einstellung. Taiji glaubte allerdings nicht, dass er sich dieser Einschätzung anschließen konnte. Wenn man wusste, was es dort draußen alles gab, wie konnte man sich dann damit zufriedengeben, es nicht zu haben? Wie konnte man eine Krawatte tragen, wenn es Lederjacken gab? Einem Vorgesetzten in den Hintern kriechen, wenn man sein eigener Boss sein konnte? Limo trinken, wenn Whiskey zu haben war? Und dennoch... er konnte doch nicht sein ganzes Leben in mehr oder minder selbstgeschaffener Frustration verbringen. Nein. Er musste er sich einfach zu weigern, irgendetwas anderes zu sein als entschlossen und an irgendetwas anderes zu glauben als an Erfolg. Wenn er anfing, in Optionen zu denken, war er wieder so weit, wie er am dritten Schultag der Oberstufe gewesen war – das Schwanken, die Unsicherheit, die Fragen, die alle mit Aber begannen. Er hatte damals entschieden, dass er nur auf eine Art leben wollte. Er hatte bereits viel darüber nachgedacht. Und jetzt musste er es durchziehen. Wenn er schon immer ein wenig unzufrieden bleiben würde, wollte er es zumindest mit dem Wissen sein, wirklich alles versucht zu haben.

Taiji hatte den Gartenzaun noch nicht ganz erreicht, als die Haustür aufschwang und die Silhouette seiner Mutter im Gegenlicht erschien. Dagegen anblinzelnd legte er die letzten Meter zurück und schaffte ein Lächeln.

Und bis er an den Punkt kam, an dem er alles versucht hatte, konnte er sich vielleicht zumindest ein bisschen über... naja. Den Rest freuen? Bestimmt. Wenn er es nur hart genug versuchte.

Er hatte eine Mutter und einen Bruder und Sushi und irgendeinen Nachtisch mit viel Sahne drauf. Und außerdem noch etwa vier Stunden Geburtstag.

Damit konnte man arbeiten.

Er stieg die Verandastufen hinauf.

„Tabeyou.“

 
 

-X-
 

An einem Nachmittag der darauffolgenden Woche saß Toshi am Strand, vergrub seine nackten Zehen im warmen Sand und sah übers Meer. Er wünschte, er wäre vorher auf die grandiose Idee gekommen, eine Badehose einzupacken. So blieb ihm nur, die kühlen Wassermassen sehnsüchtig anzuschauen.

Neben ihm lag Yoshiki auf einem Handtuch und las mit zusammengekniffenen Augen eine Einführung ins Aufnehmen, Abmischen und Homogenisieren von Songs (oder, wie der Kenner es nannte und wie es groß auf dem Cover geschrieben stand: Recording – Mixing – Mastering). Taiji hatte zwar mit einem Kopfschütteln erklärt, dass man das nicht aus einem Buch lernen konnte, schon gar nicht ohne Equipment, doch das hatte Yoshiki nicht aufgehalten. Natürlich könne man das, das würden sie ja noch sehen und überhaupt, so hatte Yoshiki erklärt, habe er nicht ein Buch, sondern vier.

Weiter vorne am Strand watete Hiro im seichten Wasser herum und suchte Muscheln und hübsche Steine. hide baute in der Zeit einen Kopf an ihre Sandschildkröte und hatte allem Anschein nach sogar mehr Spaß dabei als sein Bruder – und der war ziemlich begeistert.

„Wie die Kinder“, sagte eine belustigte Stimme hinter ihm. Taiji war von drinnen zurück und hatte kühle Getränke dabei, sein Blick allerdings war Toshis gefolgt.

„Mmh“, machte Toshi und griff nach einem Wasser. Vielleicht war sein Gesicht nur deshalb so heiß, weil er allmählich einen Sonnenbrand bekam. Ja. Das musste es sein.

„Hast du Orangensaft dabei?“, fragte Yoshiki an seinem Buch vorbei.

Taiji zog eine Grimasse und ließ sich auf Yoshikis andere Seite fallen. „… ja. Das war eigentlich meiner, aber natürlich gehst du vor.“ Er reichte dem Schlagzeuger den Saft.

„Gut“, sagte Yoshiki und verschwand wieder hinter dem geschriebenen Wort.

Taiji schaute stirnrunzelnd in die Runde. „Sagt eigentlich irgendeiner von euch mal Danke?“

„Danke“, sagte Toshi ertappt.

„Mmh“, machte Yoshiki. Er hatte ganz offensichtlich überhaupt nicht zugehört.

Es brachte ihm ein ungläubiges Kopfschütteln seitens des Bassisten ein. „Ok. Was auch immer.“ Taiji legte sich hin und zog seinen Hut übers Gesicht. Um sie her erklangen die Geräusche eines Nachmittags am Strand – Kinder spielten, junge Frauen lachten, das Meer rauschte und irgendwo über ihnen schrie hin und wieder eine Möwe. Ein Sommertag wie gemalt.

Toshi sah sich verstohlen einmal links über die Schulter und dann wieder rechts. Dann geradeaus. hide und Hiro verzierten jetzt den Rücken der Sandschildkröte mit den Steinen und Muscheln. Yoshiki war in sein Buch versunken. Auf seiner anderen Seite lag Pata in seinem Schatten und schaute in den Himmel. Toshi legte den Kopf in den Nacken. Eine einzige kleine Wolke wanderte langsam über die azurblauen Weiten. Sie sah aus wie ein Kätzchen, bis sich irgendwann der Kopf ablöste.

„Sag mal…“, begann Toshi an dieser Stelle leise und wandte sich dem Gitarristen zu. „Kurz nach der Beerdigung, da hab ich hide nochmal besucht.“

„Hmm?“, machte Pata, zum Zeichen, dass er hörte.

„Und da war er… gelinde gesagt ein Wrack.“

„Hmm“, machte Pata noch einmal.

„Was ist zwischen da und dem Tag, als ihr zwei allein im Proberaum wart, passiert? Hat er irgendwas erzählt?“

Pata dachte ein wenig darüber nach, oder zumindest interpretierte Toshi das so. „Naja“, sagte er schließlich. „Zeit ist vergangen. hide hat zwei Jobs, von denen er abhängt. Da ist zuhause sitzen und Trübsal blasen ein Luxus, den man sich nicht leisten kann.“ Toshi machte ein ungläubiges Gesicht. Sollte es das gewesen sein? Doch Nein: „Er hat mal angerufen. Wegen ein paar Sachen, von denen meine Tante meinte, dass er sie haben könnte, als er ausgezogen ist. Dann hab ich mich noch ein bisschen so mit ihm unterhalten und dann hat er noch eine Weile mit meiner Schwester telefoniert und mehr weiß ich nicht.“

„Ah“, machte Toshi. Er wusste nicht, ob er damit zufrieden war. Zu gerne hätte er gefragt, worüber genau sie geredet hatten, am Telefon und an dem Tag im Proberaum, doch entweder sah Pata keine Verbindung, welche rechtfertigte, es zu erwähnen oder aber, er fand, dass das doch zu privat war. So oder so kam er hier wohl nicht weiter. Vielleicht hatte sich hide wirklich einfach selbst gefangen, weil er musste. Zum Thema hide: dieser stapfte gerade vom Wasser aus wieder zu ihnen nach oben.

„Wir sollten mal weitermachen“, sagte er, als er nahe genug herangekommen war und ging neben Taijis Füßen in die Hocke, um einen Schluck Orangensaft aus dem Tetrapack zu nehmen. „Ich muss um vier weg.“

„Oh, hide!“, rief Yoshiki. Er setzte sich schwungvoll auf und warf Gitarristen einen vorwurfsvollen Blick zu, so vorwurfsvoll, wie man eben schaffte, wenn man dabei gegen die Sonne blinzelte wie ein Küken unter der Wärmelampe. Seine inzwischen noch einmal nachblondierten Haare glänzten golden im Licht des Nachmittags.

„Nix hide!“, rief hide zurück. „Ich muss um fünf auf Arbeit sein und morgen früh aufstehen und was für mein Portfolio machen, bevor ich wieder auf Arbeit muss. Mach mich nicht an, ich hab gesagt, dass das jetzt erstmal schwierig wird!“

Yoshiki machte eine ausholende Bewegung mit beiden Armen, den Zeigefinger der rechten Hand immer noch an der richtigen Stelle in seinem Buch. „Ja, aber du hast auch gesagt, dass du Zeit für uns findest und warst jetzt seit zwei Wochen bei keiner Probe länger als drei Stunden!“

hide schnippte ihm eine Muschel an den Kopf und stand auf. „Ja, meine Schuld, buhu. Proben wir jetzt oder willst du noch ein bisschen nörgeln?“

„Noch zwei Minuten nörgeln, danke.“ Yoshiki warf hides Silhouette einen finsteren Blick zu. Toshi schüttelte den Kopf und winkte Hiro, der noch die letzten Steinchen auf den Panzer setzte. Er winkte zurück und tappte noch einmal ein Stück ins Wasser, um seine Hände zu entsanden.

„Gut denn. Ich warte drinnen.“ hide wandte sich unbeeindruckt ab und machte sich auf den Weg zur Treppe, um den Sand aus seinen Schuhen zu kippen.

„… das war jetzt aber ein erstaunlich glimpflicher Ausgang“, bemerkte Taiji dumpf unter seinem Hut hervor.

Yoshiki zuckte mit den Achseln und vergrub sich wieder in seinem Buch, um den Absatz zu Ende zu lesen, in dessen Mitte hide ihn unterbrochen hatte.

 

 
 

-X-
 

Es gab mehrere Gründe, warum Yoshiki hide einfach nicht böse sein konnte. Es war ein bisschen, dass sie befreundet waren und ein weiteres bisschen, dass man hide einfach wirklich, wirklich schwer böse sein konnte, egal wie er sich aufführte. Aber es war auch, dass Druck von außen bei hide in etwa so gut funktionierte wie bei ihm selbst und dass er wusste wie es war, wenn man etwas unbedingt wollte. Zwar hatte er immer gehofft, dass hide und er die gleichen Ziele hatten, doch da dem gerade anscheinend nicht so war, musste er da wohl durch, bis hide auf Granit biss. Yoshiki konnte Dinge aussitzen. Nörgelnd und stellenweise bissig, aber aussitzen. Es hatte ja auch gute Seiten. hide war ausreichend beschäftigt und solange hide ausreichend beschäftigt war, hatte er keine weiteren Durchhänger. Er schien eine feste Routine aus Schlafen, Arbeiten, Zeichnen und Gitarre spielen entwickelt zu haben und es begann bereits jetzt, sich zu zeigen – wenn auch meist darin, dass hide begonnen hatte, sich das rechte Handgelenk zu bandagieren. Seit er die Gitarre mit nach Hause nehmen konnte und tatsächlich übte, wurde er fast wöchentlich besser. Und er tat es mit einer Konzentration, die ihm Yoshiki vor einigen Monaten niemals zugetraut hätte. Unter Stress, gutem Stress, verschwand der fröhliche, überdrehte hide, der keine drei Sekunden stillhalten konnte und machte Platz für eine kühle, ernste Form von Konzentration, um die ihn Yoshiki fast beneidete. Aber nur fast. Das auf jeden Fall waren die beiden hide, zwischen denen er wechseln wollte. Und solange es so blieb, war ihm alles andere erst einmal Recht.

 
 

-X-
 

Um Punkt vier Uhr packte hide seine Sachen, schenkte Hiro ein Plektrum und winkte noch einmal in die Runde, bevor er zur Tür hinausglitt. Er war etwa zehn Sekunden weg, als Toshi der Hoodie auffiel, der noch über der Sofalehne hing. Seinen Bruder mit der Aussicht auf eine kurze Einlage am Mikro ablenkend, entschuldigte Toshi sich und eilte dem Gitarristen nach. Chancen musste man ergreifen und das Glück war mit den Waghalsigen und den Vollidioten.

Er holte hide wenige Schritte vom Haupteingang ein. Wie nicht anders zu erwarten, hatte er bereits wieder eine Kippe im Mund. Toshi konnte einen Moment lang nicht anders, als sich zu fragen, ob er ihm diese Angewohnheit wohl wieder austreiben konnte, falls die Notwendigkeit entstand. Vermutlich nicht…

„Du hast deine Jacke vergessen“, sagte er also, um nicht länger darüber nachzudenken.

„Oh. Danke.“ hide nahm das Kleidungsstück an sich. „Knuffigen Bruder hast du da“, sagte er an der Zigarette vorbei und steckte sie sich etwas umständlich an. „Hast du gesehen, wie süß er die Schildkröte gebaut hat?“

„Er hatte mich schon ewig gebeten, ihn mal zu einer Probe mitzunehmen…“ Toshi lächelte. Vermutlich hatten sie jetzt einen Fan. „Und um ehrlich zu sein hab ich gesehen, wie süß du die Schildkröte gebaut hast.“

hide grinste breit zur Antwort. Sie schauten einander noch etwa drei Sekunden lang an, dann nickte er in Richtung Stadt. Er musste los. „Ok, also dann. Danke nochmal und… bis übermorgen.“

Toshi hob verlegen die Hand. „Uhm… hide?“

„Ja?“ Der Gitarrist machte seine halbe Drehung auf dem Ballen elegant wieder rückgängig.

„Hast du… Lust, übermorgen nach der Probe noch was Essen zu gehen? Da ist ein neuer Italiener am Krankenhaus und Yoshiki mag das Zeug nicht sonderlich.“ Um ehrlich zu sein stimmte das soweit Toshi wusste nur zur Hälfte, aber hoffentlich würde hide den Wahrheitsgehalt der Aussage nicht überprüfen. Kleine Lügen vergab der liebe Gott sofort, oder so ähnlich sagte man doch?

Ohnehin aber zog hide eine entschuldigende Schnute. „Ano… Da muss ich arbeiten.“

„Und am Freitag?“ Zweiter Versuch.

„Auch.“

Ok, einer noch, einer ging noch! „Uhm… in Ordnung… Wie ist’s am Wochenende?“

hide lächelte beschämt. „Ich glaub, da muss ich mal schlafen. Und bis zum Ende bei der Probe bleiben. Yoshiki ist so ruhig geblieben die letzten Wochen, das… ist enorm gruselig. Will nicht derjenige sein, bei dem es sich entlädt, wenn du verstehst.“

Toshi tat sein Bestes, seine Enttäuschung zu verbergen. Er schaffte ein schiefes Grinsen, das aber vermutlich sehr gut zu der Art und Weise passte, wie er sagte: „Ja. Versteh ich.“ Mist. Wenn er weiterhin in diesem Tempo Fortschritte machte, würde er irgendwann um die nächste Eiszeit herum Ergebnisse sehen. Er brauchte irgendwie eine andere Strategie.

Wenn das Pferd nicht zur Tränke kam…

„Und… wenn ich dich mal auf Arbeit besuchen würde?“

… musste die Tränke eben zum Pferd.

hides guckte einen Moment lang verdutzt. Dann lächelte er noch etwas breiter. „Das ist ja mal eine gute Idee. Mensch, Yoshiki hatte Recht. Du bist klug. Freitag dann?“

„Ja“, stimmte Toshi zu.

„Aber weißt du was, bring Taiji mit. Wir haben so ein extrascharfes Curry, ich glaub, da steht er drauf. Und du langweilst dich nicht so. Ich meine, ich kann nicht dauernd bei dir rumhängen. Vielleicht servier ich euch sogar heimlich was Ordentliches zu trinken.“ hide zwinkerte schelmisch.

„Äh…“, machte Toshi zögerlich. So hatte er sich das aber nicht vorgestellt! (Um ehrlich zu sein hatte er sich ein romantisches Dinner im zwanzigsten Stock ausgemalt, mit Kerzen auf dem Tisch und sanfter Swing-Untermalung im Hintergrund. Ein Glas Wein nachdem die letzten Gäste lange gegangen waren. Kein Wunder also, dass die Realität immer hinter seinen Erwartungen zurückblieb.) Gegenargument, gutes Gegenargument… „Vielleicht bring ich dann einfach alle mit?“, hörte er sich sagen. Ja… Und das war nicht, wonach er gesucht hatte.

Da schleppte man den Wassereimer einmal durch die Wüste. Doch es half alles nichts, wenn der scheiß Gaul nicht saufen wollte!

hide allerdings war begeistert. „Mega. Ich freu mich.“

„Ja“, sagte Toshi und lächelte, in der Hoffnung, dass es nicht so gezwungen aussah, wie es sich anfühlte.

Sie verabschiedeten sich noch zweimal zu viel, dann flitzte hide los.

Ok, dachte Toshi, dessen Lächelns in dem Moment verschwunden war, in dem hide sich umgedreht hatte, und wandte sich wieder dem Hauptgang zu. Er hatte nicht versagt. Er hatte nur wieder zwei Varianten gefunden, die nicht funktionierten.

Das war das Wesen der Wissenschaft.

 
 

-X-
 

Yoshiki lag auf dem Boden im Wohnzimmer und las im zweiten seiner vier Bücher. Der Ventilator brummte leise und pustete ihm beständig nur geringfügig kühlere Luft ins Gesicht. Sein Shirt klebte ihm am Rücken und er spielte schon seit geraumer Zeit mit dem Gedanken, es auszuziehen, doch es schien ihm viel zu viel Arbeit, mehr zu bewegen als die drei Finger, die er zum Umblättern brauchte. Eigentlich hatte er auch Durst. Doch die paar Meter in die Küche waren so weit… Wenn er nur noch ein bisschen wartete, kam sicher seine Mutter von der Arbeit und konnte ihm dann etwas zu trinken antragen. Ja. Das war ein guter Plan.

Und als würde es das Schicksal heute besonders gut mit ihm meinen, hörte er just in diesem Moment die Haustür.

„Tadaima!“, rief seine Mutter, nach der Lautstärke zu schließen die Treppe hinauf.

„Okaeri“, sagte Yoshiki. Da er nur einmal um die Ecke lag, musste er nicht brüllen.

„Ah“, kam die Stimme seiner Mutter aus dem Flur und ein paar Sekunden später lugte sie in den Raum. „Ouh… Yoshiki!“, entfuhr es ihr.

Der Angesprochene sah von seinem Buch hoch. „Mmh?“ Irgendwie lud ihr Tonfall plötzlich nicht mehr dazu ein, sie um ein Getränk zu bitten. Und die in die Hüften gestemmten Arme sprachen auch eine deutliche Sprache.

„Sag mir bitte mal, was du da siehst?“ Sie gestikulierte zur Küche hin.

„Uhm… ich hatte Wassermelone.“ Er vermied einen schuldbewussten Blick in die entsprechende Richtung.

„Wenn du schon den ganzen Tag zuhause bist, könntest du zumindest hinter dir aufräumen!“

„Das tu ich noch“, murrte Yoshiki. Man musste sich nichts vormachen, die Küche sah aus wie Scheiße. Aber sich unterstellen lassen, er würde die ganze Zeit nur rumhängen, das ging ihm entschieden zu weit!

Seine Mutter seufzte und ihr Fuß, auf den Yoshiki aufgrund seiner Position einen besonders guten Ausblick hatte, tappte ungeduldig auf den Boden. „Ich hab gesagt, es ist in Ordnung, wenn du ein bisschen das mit der Musik versuchst und ich verlang wirklich nicht viel. Aber so funktioniert das nicht. Ich geh mich jetzt umziehen und wenn ich wiederkomme, will ich dich das Aufräumen sehen.“

„Aber-“, setzte Yoshiki noch an, doch sie fiel ihm ins Wort: „Sofort.“

Sie verließ den Raum.

Mit einem unwilligen Seufzen richtete Yoshiki sich auf und betrachtete die Küchenzeile aus der Ferne. Das war anscheinend keines dieser Probleme, das sich löste, wenn man es nur lange genug ignorierte. Langsam und beschwerlich richtete er sich auf und machte sich an die Arbeit.

Gerade hatte er den letzten Melonensabber vom Edelstahl gewischt, als das Telefon klingelte. Er nahm sich noch ausgiebig Zeit, um den Lappen auszuwaschen und seine Hände abzutrocknen, dann ging er in den Flur und nahm ab.

„Hayashi…“ Scheiße, seine Finger sahen schon wieder aus wie Walnüsse! Handcreme. Er brauchte tatsächlich Handcreme! Wie ein Mädchen… unglaublich.

„Yoshiki, was tust du gerade?“, fragte hide ohne Einleitung.

„Ich leide vor mich hin. Das Übliche. Wieso?“

„Du musst vorbeikommen. Ich brauch anatomische Hilfe.“

„…was?“

„Ich hab Probleme mit Körpern und ich krieg das allein nicht hin.“

„Uhm… wenn du Probleme mit deinem Körper hast, die du allein nicht gelöst bekommst, bin ich da nicht ganz der Richtige, Schatz.“ Er hatte so eine Vermutung, was hide eigentlich wollte, aber den Witz konnte er nicht an sich vorbeiziehen lassen. Yoshiki war kein von Natur aus witziger Typ und dieser Spaß wurde ihm quasi frontal ins Gesicht geklatscht. Er konnte nicht widerstehen.

hide war für simplen Humor immer ein dankbares Publikum. Er kicherte. „Nicht so. Arsch. Aber ja, vielleicht musst du dich ausziehen. Hrrr.“

Yoshiki verdrehte die Augen. „Ok. Die Kombination beunruhigt mich, aber ich nehme an, ich komme trotzdem.“

hide prustete in den Hörer. „Haha, kommen…“

Yoshiki legte auf. Trauriger Weise war das immer noch besser als sein echtes Leben.
 

Eine gute halbe Stunde später saß er auf hides Sofa und blinzelte wenig begeistert in dessen Richtung.

„Du willst… was?“

„Ich brauch ein Model. Ich hab versucht, mich selber abzuzeichnen vor dem Spiegel, aber bei dem Tempo werd ich nie fertig und sonderlich herausragend sah’s jetzt bisher auch nicht aus. Bitte. Ich brauch nur ein Standardset von zehn oder so und wir sind durch. Und… ähm… vielleicht noch Hand- und Fußstudien, wenn du’s aushältst.“

Yoshiki runzelte die Stirn und sah sich um. Auf jeder Oberfläche des Zimmers und auf dem Bett war Papier verteilt, manchmal bekritzelt, manchmal zerknüllt. Der Papierkorb lief über und auf dem Schreibtisch stand ein Set Aquarellfarben. Auf dem Couchtisch stapelten sich Modemagazine. Nach den Artikeln auf dem Cover zu urteilen, richteten sie sich vor allem an Mädchen im Alter von vierzehn bis zwanzig. Nun ja. Zumindest wusste er jetzt, wen er für die zehn besten Tipps zum Thema Dating oder zwölf Wege, Pickel loszuwerden ansprechen musste.

„Ja“, sagte hide, seinem Blick folgend, „ich hab auch aus denen abgezeichnet, aber was auf Fotos gut aussieht, wirkt gezeichnet total unnatürlich. Und oft geht es ihnen auch um die Models und weniger um die Klamotten. Die Posen sind alle falsch für meine Zwecke.“

Yoshiki seufzte.

„Bittäää“, machte hide und setzte einen Dackelblick auf.

Yoshiki seufzte noch einmal. „Fein… Was soll ich machen?“
 

Zwei Stunden später saß er wieder auf dem Sofa, während hide noch die letzten Striche an seinem großen Zeh vollendete. 'Für den Fall, dass ich noch irgendwas mit Füßen mache‘, hatte er gesagt. Yoshiki hatte zwar gefragt, warum hide nicht einfach seine eigenen Füße abmalte, aber dieser hatte erwidert, dass es genauso schwierig war, die eigenen Füße von vorne zu sehen wie den eigenen Kopf von hinten. Das wiederum war Yoshiki irgendwie eingeleuchtet.

„Uuund fertig!“, teilte hide mit. „Du kannst dich wieder bewegen.“

„Halleluja“, sagte Yoshiki und wackelte mit den Zehen. Sie kitzelten. „Hast du was zu trinken?“

„Oh Gott, ja!“ hide schoss hoch. „Ich bin so ein schrecklicher Gastgeber! Wieso sagst du auch nichts?!“

„Du warst so vertieft.“ Höflicher wäre vermutlich die Antwort gewesen, dass er keinen Durst gehabt hatte, aber das wäre gelogen. Er hatte schon seit geraumer Zeit ziemlichen Durst.

„Gnah!“, machte hide und tauchte in den Kühlschrank. „Wünsche?“

„Wasser ist in Ordnung.“ Yoshiki stand auf und trat zum Schreibtisch hinüber. Neben den Skizzen, die hide in den letzten Stunden gemacht hatte, lagen dort auch einige Arbeiten, die bereits coloriert worden waren. In einem Bilderrahmen, der Yoshiki bei seinem letzten Besuch nicht aufgefallen war, steckte die Schwarzweißfotografie einer jungen Frau, die es irgendwie schaffte, im Kimono auf einem Fahrrad zu sitzen und dabei vorwitzig in die Kamera zu grinsen. Yoshiki betrachtete sie einen Moment lang nachdenklich. Sie hatte hides Nasen- und Augenpartie. Die Verbindung war dann einfach. Er wandte sich den colorierten Skizzen zu. Sie zeigten verschiedene Outfits, manchmal nur in Teilen, manchmal komplett mit Makeup und Frisur, spielten mit westlichem Schnitt und traditionellen Färbungen oder traditionellen Schnitten und westlichem Design.

Ein Räuspern erklang neben ihm. „Uhm…“ hide reichte ihm ein Glas Wasser mit Sprudel. Sein Gesichtsausdruck war der eines Schuljungen, wie er so von einem Bein aufs andere Trat und Yoshiki mit einer Mischung aus Neugierde und Scheu ansah. Schließlich überwand er sich. „Was denkst du?“

„Ich mag das Businessoutfit“, sagte Yoshiki und deutete auf eine junge Frau in Jeans, deren locker sitzender Blazer entfernt an einen Yukata erinnerte. Das Stück Stoff, das hide daneben platziert hatte, war das ausgewaschene Blau eines lange auf dem Dachboden vergessenen Festtagskimonos.

hide lächelte dankbar. „Ja, das mag ich bisher auch am liebsten.“ Er zog eine Mappe aus dem Regal neben dem Bett. „Magst du die anderen auch sehen? Es sind noch nicht viele.“

Yoshiki nickte. Er setzte sich auf den Schreibtischstuhl, blätterte die restlichen Seiten durch und legte sie dann vorsichtig in die Mappe zurück. „Weißt du“, sagte er und reichte sie hide, „wenn ich ganz ehrlich bin… hatte ich so meine Zweifel. Aber das hier, das ist ziemlich gut. Vielleicht ist das ja wirklich dein Ding.“

„Total mein Ding“, bekräftigte hide fröhlich und legte die Mappe wieder ins Regal. Er glühte ein wenig. Ob vor Stolz oder vor Aufregung war schwer zu sagen.

Und vielleicht lag es an diesem Glühen, dass Yoshiki sich auf einmal bewusst wurde, wie wenig er sich für ihn freute.

 
 

-X-
 

Toshi hielt, was er angekündigt hatte. Und so saßen sie am Freitagabend an einen Tisch im Restaurant und betrachteten die Curryauswahl. Oder nun, drei von ihnen zumindest. hide machte seine Arbeit und Yoshiki hatte sich nach den ersten Schluck Tee nach draußen verabschiedet und ward seither nicht mehr gesehen. Toshis Augen folgten über die Karte hinweg hides Weg durch den Raum. Das Restaurant war etwa zur Hälfte besetzt – der Nachmittagsansturm war vorbei und der Nachtbetrieb noch nicht wirklich angekommen. hide wuselte gerade mit einem Umweg zum Nachbartisch zu ihnen zurück und gewährte ihm dadurch noch einen guten Rundumblick auf seine Person in schwarzer Schürze und weißem Hemd. Er war immer noch schnuckelig. Wenn einen dieses Kellner-Outfit nicht hässlich machte, dachte Toshi und senkte den Blick gerade noch rechtzeitig wieder auf das laminierte Papier, dann schaffte es nichts.

Sie bestellten. Taiji machte einen bescheuerten Witz, der das Adjektiv ‘scharf‘ beinhaltete, hide kicherte in seinen Block und dann war er wieder verschwunden.

Toshi wandte den Blick zum Fenster, doch konnte in der Dämmerung draußen nichts sehen. „Yoshiki ist schon ziemlich lange weg…“, merkte er an.

„Ich geh mal nachschauen“, sagte Taiji und stand, sich dabei einmal die Schultern dehnend, auf. „Wollte eh noch eine rauchen…“
 

Yoshiki ging in langsamen Schritten vor dem Restaurant auf und ab und sah erst auf, als Taiji durch die Tür kam und sich eine Zigarette ansteckte. Er rauchte ebenfalls, was Taiji aufgrund seiner etwas zerknirschten Miene nicht verwunderte.

„Warum rauchst du nicht drinnen?“

„Draußen ist schöner“, sagte Yoshiki abweisend.

„Ah. Ist alles klar?“, fragte Taiji und blies einen dünnen Strahl Rauch in die Luft.

„Mmh.“

„Es ist nur, du hast den ganzen Nachmittag fast nichts gesagt. Und nichts zu essen bestellt.“ Tajii machte eine Geste über die Schulter, dorthin, wo Bestellen von Essen im Allgemeinen möglich war.

Der Schlagzeuger aber rauchte nur auf, warf den Zigarettenstummel auf den Boden und trat ihn aus. „Hör zu.“ Er bückte sich nach dem Stummel und drückte ihn mit etwas zu viel Nachdruck in den Aschenbecher auf dem Blumenkübel neben der Tür. „Ich hab schon eine Mutter und einen Toshi, die mir mit solchem Scheiß auf die Nerven gehen. Fang du jetzt nicht auch noch an.“

Taiji legte den Kopf schief und sagte nichts. Am Anfang hatte ihn allein Yoshikis Tonfall schon auf die Palme gebracht, aber inzwischen war er immun dagegen. Also konnte er Yoshiki in aller Ruhe abwartend anstarren, während dieser eine zweite Zigarette aus der Schachtel schüttelte.

Schließlich knickte er ein. Mit einem tiefen Seufzen lehnte er sich an die Hauswand. „Ich hab hides Sachen gesehen.“

Taiji legte den Kopf verständnislos noch ein wenig schiefer. „Wie, seine… Unterwäsche?“

„Nein, du Vollidiot. Seine Mappe.“

„Und? Schlecht?“

„Nein. Sie ist gut.“

„Ah. Und?“

Yoshiki betrachtete betont intensiv ein Werbeplakat auf der anderen Straßenseite und zuckte schließlich mit den Achseln.

„Oh…“, machte Taiji nach einigen Sekunden verstehend. „Oh mein Gott. Du machst dir Sorgen, dass er es schafft...“ Er klang wie jemand, der nicht wusste, ob er schockiert oder amüsiert sein sollte.

Der Schlagzeuger hob in einem Anflug von Verzweiflung die Hände. „Ich würd mich für ihn freuen, wirklich! Er verdient das! Aber das sind dann wieder zwei Jahre, in denen er mit dem Kopf woanders sein wird und … ja, da hab ich noch nicht über den Rest von ihm nachgedacht! Immerhin ist das Ding in Tokio. Und was ist danach? Vielleicht wird wirklich was aus ihm und dann kriegt er einen normalen Job und…“ Yoshiki wandte sich ab, um die Zigarette auszudrücken. Als er sich zurückdrehte, war sein Gesicht ernst. „Wenn hides Mappe durchgeht, könnte das X ruinieren, Mann.“

Taiji tippte ein wenig Asche auf den Boden. „Hast du denn schon mal mit hide darüber geredet, wie er sich das vorstellt?“

Der andere Junge schüttelte den Kopf. „Nein. Ich fand es schlauer, erstmal die schlafenden Hunde nicht zu wecken… Ich meine, vielleicht löst sich das Problem ja von selbst.“ Yoshiki stockte, als ihm auffiel, was er da gerade gesagt hatte. „Oh mein Gott“, murmelte er und hob den Blick zu Taiji, ernsthaft betroffen. „Das… das klang... böse.“

Taiji trat an ihm vorbei zur Pflanze, drückte seine Zigarette aus und fragte in Richtung Aschenbecher: „Willst du wissen, was ich glaube?“

„Nein“, sagte Yoshiki entschieden.

„Ich glaube, du bist eingeschüchtert davon.“

„Ok, wo bist du hängengeblieben, beim N oder beim ein?“

Taiji machte einen halben Schritt zur Seite und warf einen Blick nach drinnen. Schemenhaft konnte er immer noch Pata und Toshi am Tisch sitzen sehen. hide stand hinter dem Tresen.

Er trat zurück zu Yoshiki, ein bisschen näher als unbedingt nötig. Doch was er sagen würde, eignete sich nicht dafür, lauter als in einem Wispern ausgesprochen zu werden. Reijis Stimme erklang so deutlich in seinem Ohr, dass er keinen Zweifel an der Richtigkeit seiner Vermutung hatte. Er war vielleicht der dümmere Bruder, aber hin und wieder hatte auch er Eingebungen. Und diese hier war eine der unangenehm-wahren Sorte. „Denk mal drüber nach. Die ganze Zeit haben wir geglaubt, hide wär ein etwas trotteliger, emotional... naja, sagen wir instabiler Typ ohne echte Ziele im Leben. Aber jetzt merkst du, er ist ein Trottel, aber er steht einfach immer wieder auf. Und jetzt könnte es sein, dass er, stell dir vor, vielleicht sogar fähig ist, eigene Träume und Pläne zu haben. Was heißt, dass er auf deine eventuell nicht angewiesen ist. Und dir ist klar: wenn du das verlierst, gibt es nichts mehr an hide, das du kontrollieren kannst. Und du weißt auch, was das bedeutet.“

Yoshiki versuchte den Unbeeindruckten. „Dass du weniger unbekannte Pflanzen rauchen solltest?“

„Er könnte gehen.“

Ein paar Sekunden starrten sie einander wortlos an. Nichts regte sich, außer ein paar feinen Härchen auf ihren Köpfen, über die eine kaum merkliche Brise strich. Dann verzog Yoshiki das Gesicht und schob sich unsanft an Taiji vorbei. Mit wenigen Schritten erreichte er die kleine Gasse neben dem Haus, bog darin ab und war verschwunden.

 
 

-X-
 

„Taiji!!!“

Wohow, dachte der Bassist und lehnte sich unwillkürlich ein wenig in seinem Stuhl zurück, um mehr Abstand zwischen sich und sein Gegenüber zu bringen. Er hatte Toshi noch nie sauer erlebt und es war ein wenig ehrfurchteinflößender, als er das vermutet hätte.

„Ich hab nichts falsches gesagt!“, verteidigte er sich vehement. So weit kam es noch, dass er sich hier für die psychischen Aussetzer des Planeten verantwortlich machen ließ!

„Ja, aber anscheinend hast du irgendwas gesagt!“

Taiji verschränkte die Arme und ließ sich nicht zu einer Aussage hinreißen. hide lugte ein wenig zu neugierig über die Schulter zu ihnen hinüber und der Inhalt des Gesprächs mit Yoshiki war etwas, das er ihm besser nicht gestand, wenn es kein Bier dazu gab. Aber das hieß noch lange nicht, dass er stattdessen in einem Anflug von Heldenmut die Schuld auf sich nehmen musste!

„Ok.“ Toshi lehnte sich auf den Tisch und atmete durch. „Ich weiß nicht genau, was du gemacht hast und vielleicht geht's mich auch nichts an. Aber das ist kein normales Yoshiki-Verhalten. Deswegen sag ich dir jetzt, wie es läuft. Ich hab grade was zu essen bekommen und ich will es auch genießen. Ich hab die letzten neun Jahre babygesittet, jetzt bist du alt genug. Deshalb wirst du jetzt gehen, ihn suchen, dich entschuldigen für egal-was du gesagt hast und ihn wieder herbringen.“

„Aber ich will mich nicht entschuldigen!“, beharrte Taiji trotzig und wiederholte sein Hauptargument: „Ich hab nichts falsches gesagt!“ Und außerdem hatte er auch Curry hier! Was war mit seinem Genuss, hu?

„Und jetzt beißt sich gerade die Katze in den Schwanz“, stellte Toshi trocken fest. „Ok, dann einigen wir uns darauf: Du siehst tough aus, aber ich bin doppelt so breit wie du und das sind alles Muskeln.“

Der Bassist dachte darüber nach und verzog schließlich das Gesicht. „Deal.“
 

Und so kam es, dass Taiji ziellos durch die Straßen der Stadt streifte und nach Yoshiki suchte. Er versuchte es unten an der Promenade, beim kleinen Musikgeschäft in der Innenstadt, im Schlosspark. Während er ging, kühlte er allmählich ab und seine ohnehin nie sonderlich große Wut – immerhin, es war ein Problem zwischen Yoshiki und hide und diese seltsame Männerliebe zwischen Toshi und Yoshiki, und das ging ihn beides nichts an – verwandelte sich erst in Unruhe und schließlich in so etwas wie Besorgnis. Als er aber eine erfolglose Stunde später wieder in die schmale Straße einbog, in der der Curry-Tempel lag, lehnte Yoshiki am Auto und starrte vor sich hin. Taiji wurde schneller, so dass er schließlich aus dem Laufschritt heraus neben Yoshiki stoppte, und legte sofort los.

„Mann! Du kannst nicht einfach so verschwinden! Es ist ok, wenn du sauer bist, aber-“

„Ich bin nicht sauer.“

„-du musst dich irgendwie mel-… du bist nicht sauer?“

Yoshiki schüttelte den Kopf und bohrte die Fußspitze in einen Riss im Asphalt. „Mm-Mm. Ich meine, ich war sauer auf dich. So etwa eine halbe Stunde. Danach war ich sauer auf mich.“

Taiji blinzelte zweimal und schaute verständnislos. Er zog die Augenbrauen zusammen und lehnte sich vorsichtig neben Yoshiki ans Auto. „Warum?“

„Weil… es vielleicht ein bisschen stimmt. Was du gesagt hast. Ich weiß nicht. Vielleicht bin ich wirklich nicht so gut darin, wenn Leute…“ Yoshiki seufzte und schüttelte den Kopf. Einige Haarsträhnen hatten sich aus seinem Zopf gelöst und verdeckten für den Moment sein Gesicht, dann sah er wieder auf. „Egal…“

„Nicht egal", beharrte Taiji. „Erklär's mir."

Der Schlagzeuger verzog unwillig das Gesicht und starrte auf seine Schuhe. „Weil es scheiße ist, wenn Leute gehen."

„Aber es passiert. Nicht jeder, den du triffst, bleibt dein Leben lang."

„Nein. Und das will ich gar nicht. Aber manche gehen, ohne dir zu sagen, warum. Und dieses Warum... bleibt."

Einen Augenblick lang wusste Taiji nicht, was er sagen sollte. Er warf einen Blick auf Yoshikis Gesicht im Profil. Yoshiki sah stur geradeaus. Ein älteres Ehepaar bog aus einem Hauseingang, tippelte zusammen die Straße hinunter und an ihnen vorbei.

„Also“, begann er zögerlich, „ist alles… in Ordnung? Zwischen uns?“

„Yeah.“

„Sorry“, sagte Taiji trotzdem. Irgendwie war es einfacher, sich zu entschuldigen, wenn es nicht von einem erwartet wurde.

„Is‘ ok.“

Sie blieben schweigend nebeneinander ans Auto gelehnt stehen, bis die älteren Herrschaften um die Ecke gebogen waren.

„Willst du wieder reingehen?“, fragte Taiji schließlich. Immerhin saß dort drinnen noch ein alles andere als begeisterter Toshi, der überzeugt werden wollte, dass er Yoshiki keinen irreversiblen Schaden zugefügt hatte. Und wenn er Glück hatte, war sein Curry auch noch da.

Yoshiki zuckte mit den Schultern, stieß sich aber vom Auto ab und schlurfte langsam in Richtung Restaurant. Vor der Tür aber hielt er inne. „Denkst du, ich sollte hide fragen, wie er sich das weiter vorstellt?“, fragte er.

Taiji sah ihn nachdenklich an. Dann schüttelte er den Kopf. „Man merkt, dass es dir dabei um dich geht. Sitz es aus. Und versuch, nicht so viel… zu zicken.“

„Und wenn er es schafft?“

„Dann schaust du ihm in die Augen, lächelst und sagst ‘Ich freue mich für dich‘.“

„Und wenn er die Band verlässt?“

Taiji seufzte innerlich. Yoshiki war wesentlich einfacher gewesen, als sie einfach die ganze Zeit nur gestritten hatten. „Das wird schon. Und falls nicht, schreibst du ihn oben auf die Liste der Dinge, die du mal mit einem Therapeuten besprechen solltest. Ich hab da jemand verlässlichen. Und jetzt rein da.“

Er schob Yoshiki durch die Tür.

 
 

-X-
 

Die anderen hatten bereits gegessen. Man hätte sicher auf sie gewartet, doch Yoshiki erklärte etwas müde, er habe keinen großen Hunger und wolle eigentlich nur nach Hause. Also packten sie eine halbe Stunde später zusammen, Pata ging in die eine Richtung, Toshi, Taiji und Yoshiki in die andere. hide blieb zurück – es warteten noch etwa eineinhalb Stunde voller Kundenwünsche auf ihn.

Yoshiki fuhr sie heim.

Er setzte Toshi ab und schließlich, gegen zehn Uhr, hielt er vor Taijis Haus. Dieser machte allerdings keine Anstalten auszusteigen. Gerade als Yoshiki überlegte zu fragen, ob das heute noch was wurde, drehte der Bassist den Kopf in seine Richtung.

„Willst du auf ‘nen Kaffee reinkommen?“, fragte er.

Yoshiki blinzelte einmal überrascht, erlaubte sich aber auch den Luxus einer nach oben wandernden Augenbraue. Er hatte genug Ahnung von einschlägigen Filmen, um diese Zeile als das Klischee zu erkennen, das sie war. „Und wenn du Kaffee sagst, dann meist du…“

Taiji grinste schief und lehnte sich zum Fahrersitz hinüber, so nah, dass Yoshiki seinen Atem auf seiner Haut spüren konnte, als Taiji ihm ins Ohr wisperte: „Nicht Kaffee.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ha. Hahaha. Ja. Yoshiki und Taiji... Ein Phänomen. Ich kann nichts dagegen tun!
Es fügt sich hier wieder ein Kapitel an, das man für die Story nicht direkt braucht, Lesen also weiterhin optional.
Und keine Sorge, das passiert jetzt nicht ständig. Die Anzahl dieser Szenen in dieser FF steht schon fest und ist begrenzt. :'D
Man liest sich im Schlafzimmer oder am nächsten Morgen! xD Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  SamAngel
2017-09-11T09:51:57+00:00 11.09.2017 11:51
Taiji kann einem richtig leidtun in diesem Kapitel. Der hat es nicht einfach zu Hause.

Mal angenommen, es stimmte so weit. Warum hatte er Angst? Gut. Es war einfach eine große Sache. Wie Reiji gesagt hatte. Der eine Gaul. Und es wurde immer schwerer, nochmal umzusatteln. Doch er hatte Vertrauen zu sich. Er hatte Vertrauen in diese komische, geniale, manchmal nervtötende Band, die er sich angelacht hatte. Warum also sollte er sich Sorgen machen? Sorgen so unbewusst, dass er nicht mal von selbst darauf gekommen war? <------ Ich liebe diesen Gedankengang. Kann man richtig gut nachvollziehen.

Villeicht kann man ja Toshi's kleine Schwester und Taiji's kleinen Bruder als Therapeuten bei X anstellen? Dann haetten die gleich n Job auf Lebenszeit :D

„Hayashi…“ Scheiße, seine Finger sahen schon wieder aus wie Walnüsse! Handcreme. Er brauchte tatsächlich Handcreme! Wie ein Mädchen… unglaublich.
„Yoshiki, was tust du gerade?“, fragte hide ohne Einleitung.
„Ich leide vor mich hin. Das Übliche. Wieso?“
„Du musst vorbeikommen. Ich brauch anatomische Hilfe.“
„…was?“
„Ich hab Probleme mit Körpern und ich krieg das allein nicht hin.“
„Uhm… wenn du Probleme mit deinem Körper hast, die du allein nicht gelöst bekommst, bin ich da nicht ganz der Richtige, Schatz.“ <------ Ich lieg immernoch vor Lachen aufm Boden..das war guuuuuuuuuuut

Lg
Sam




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