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the world outside

Magister Magicae 9
von

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Wiedersehen

„Na schön, jetzt haben wir einen ganz passablen Angriffszauber aus Feuer, der einen gründlich durchgrillt. Nun müssen wir natürlich auch lernen, uns gegen sowas zu wehren. Soleil, welchen Zauber würdest du vorschlagen?“, wollte er von einem seiner Studenten direkt wissen. Sein Fach war zwar nicht gerade das langweiligste, aber trotzdem hatte er es sich angewöhnt, direkt mit seinen Zuhörern zu arbeiten, um sie bei Laune zu halten. Um so weniger öde wurde es für ihn selber.

„Den ... Spiegel-Fluch?“, schlug das japanische Mädchen vor. Das war laut Lehrbuch ihr nächstes Themengebiet, also schien das naheliegend.

„Den Spiegel-Fluch!?“, gab Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov zurück, in einem halb erstaunten, halb anerkennenden Tonfall, der ungefähr nach 'Sowas kannst du?' klang und sicher auch so gemeint war. „Der Spiegel-Fluch ist nicht die schlechteste Idee. Der unfairste Fluch, den ich kenne. Er spiegelt einen Zauber auf seinen Angreifer zurück. Und warum genau ist das Ding so unfair?“, fragte er in die Runde.

Jemand meldete sich. „Er ist Verteidigung und Angriff in einem und völlig unabhängig von der eigenen Stärke oder der Stärke des Gegners.“

„Ganz recht!“, stimmte Victor Dargomir Raspochenko Akomowarov zu. „Dieser Fluch ist so mies, weil er nicht übertrumpft werden kann. Egal wie haushoch dir dein Gegner überlegen ist, DIESER Fluch kann von ihm nicht durchbrochen werden. Ich zeige euch heute die Bewegungen dazu. Macht ruhig schonmal mit. Man kreuzt die Arme und nimmt alles auf, was da zu einem kommen mag. Stellt euch dabei vor, irgendwas liebgewonnenes in die Arme zu nehmen und an euch zu drücken. Man sammelt, sammelt, sammelt. Das Fassungsvermögen dieser Fluchblase ist schier unendlich. Und dann, wenn euer Angreifer endlich fertig ist, breitet ihr die Arme aus und schleudert alles auf ihn zurück. Als würdet ihr Konfetti werfen. Nochmal. Sammeln ... und zurückschleudern! ... Hat was von Tai Chi, nicht?“, scherzte er und machte die Bewegungen noch ein paar Mal vor. Wie er das vormachte, wirkte es so selbstbewusst und cool, daß automatisch alle Studenten den Drang verspürten, das auch können zu wollen. Daher lachten alle und machten fleißig mit, obwohl solche Trockenübungen gern mal als Kindergarten abgetan wurden. „Nagut, das soll´s für heute gewesen sein. Übt die hübschen Armbewegungen bis zum nächsten Mal fleißig weiter. Nächste Woche lernen wir dann die Magie dazu. Und wer sich eine gute Note verdienen will, sagt mir nächstes Mal, warum der Spiegel-Fluch zu den Flüchen gezählt wird. Schönen Nachmittag, Studenten!“

„Schönen Nachmittag, Professor Akomowarov!“, gröhlten ihm alle im Chor zu. Das war inzwischen ein fest eingeschliffenes Prozedere. Das kannten sie alle miteinander noch aus dem letzten Jahr.

Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov lächelte leicht. Er mochte diese rituellen, immergleichen Begrüßungen und Verabschiedungen. Seine Studenten ebenfalls, die schienen das genauso lustig zu finden wie er selbst. Während alle lärmend und polternd den Hörsaal verließen, drehte er sich zu seinem Schreibtisch um und begann in Ruhe zusammenzupacken.

Salome tauchte neben ihm auf. „Professor?“, begann er kleinlaut. „Ich komme mit meiner Hausarbeit über die Bann-Kreise einfach nicht weiter. Ich glaube, irgendwo habe ich da einen gewaltigen Denkfehler. ... also ... naja, hätten Sie vielleicht nochmal einen Moment Zeit für mich?“

„Klar. Womit genau hast du Probleme?“, wollte Akomowarov hilfsbereit wissen und schaute ihn interessiert an, statt weiter seine Sachen zusammen zu kramen. Für seine eigenen Studenten hatte er immer gern ein bisschen Zeit. Die waren ja immerhin der Grund, warum er hier war. Nur fremde Studenten hielt er sich rigeros vom Leib.

„Ich weiß nicht, wie man es anstellt, daß Zauber einen Bann-Kreis nicht durchdringen. Es gibt Komponenten, die einen Bann-Kreis blickdicht machen können.“

„Richtig, entweder nur nach innen, daß man nicht sieht, was drin ist, oder nur nach außen, daß der, der drinsteckt, nicht rausgucken kann. Das nennt sich Einwegschranke. Es gibt aber auch Komponenten, die in beide Richtungen blickdicht machen. Das sind dann Zweiwegschranken.“ Er zog sich mit Schwung rücklings auf die Tischplatte hinauf, als er merkte, daß das Gespräch länger dauern könnte. Selbst in dieser kindlich-frechen Haltung schaffte er es noch, ernstzunehmend auszusehen. Auch wenn er mit baumelnden Beinen und diesem täuschend jungen Gesicht auf dem Tisch saß, hätte man niemals in Frage gestellt, daß er ein fähiger und mächtiger Meister war.

Der Student nickte. „Das gleiche gibt es für schalldichte und physische Schranken, die keine stofflichen Dinge durchlassen – in welche Richtung auch immer. Und man kann Illusions-Elemente mit einbinden, die einem vorgaukeln, auf der anderen Seite der Barriere befände sich etwas anderes.“

„Man kann auch Elemente mit einbinden, die denjenigen, der im Bann-Kreis drin steckt, bewusstlos machen. Damit der sich da drin keine Lösung überlegt, wie er denn mal am blödestens wieder rauskommen könnte.“, fügte Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov an.

Wieder nickte er. „Ja, hab ich gelesen. Aber eine entscheidene Sache fehlt mir. Ich habe kein einziges Zeichen gefunden, das unterbinden würde, daß mein Gegner mir von dort drinnen lustig Flüche auf den Hals hetzt oder mir telekinetisch irgendwelche Sachen um die Ohren haut. Magie kann durch diese Bann-Kreise immer durch.“

Akomowarov schaute kurz überlegend zur Decke hinauf. „Ja und nein. Magie basiert immer auf irgendwas, was der Bann-Kreis einsperren kann. Für manche Zauber muss Blickkontakt bestehen, damit sie dich treffen. Manche Zaubersprüche – vor allen Dingen Wortmagie – musst du zwingend hören können, damit sie auf dich wirken. Wenn derjenige, der im Bann-Kreis drin ist, dich nicht sieht, oder du ihn nicht hörst, hilft ihm auch die entsprechende Magie nicht mehr weiter.“

„Also muss ich vorher wissen, was der alles in petto hat und meinen Bann-Kreis darauf abstimmen? Das ist ja furchtbar.“

Der Dozent lächelte leicht. „Keiner hat behauptet, daß Bann-Kreise einfach wären. Sieh es mal so: Es kann keine Bann-Kreise geben, die Magie perse unterbinden würden. Denn dann würde der Bann-Kreis sich ja selber auslöschen.“

„Also kann man mittels eines Bann-Kreises keine Magie ein- oder aussperren.“

„Nein.“

Salome grübelte noch sekundenlang vor sich hin. Dann entschied er irgendwann mit einer Mischung aus Lächeln und Schulterzucken, das Thema erstmal als geklärt anzusehen. „Danke, Professor.“, meinte er. „Das hat mir sehr weitergeholfen.“

„Den Eindruck habe ich nicht. Und das Thema deiner Hausarbeit war auch ein ganz anderes. Also, Salome, was genau hast du vor?“

Der Student ließ ertappt den Kopf hängen, trotz des geradezu väterlichen Tonfalls, den sein Dozent angestimmt hatte. „Nagut. Also ich kenne da jemanden, von dem ich vermute, daß ein Fluch oder eine Verwünschung auf ihm liegt. Aber wir haben noch nicht so richtig rausgekriegt, was es damit auf sich hat. Ich hatte gehofft, einen Bann-Kreis um den Betroffenen ziehen zu können, der den Fluch erstmal aussperrt, bis wir genug rausgefunden und uns eine Lösung überlegt haben.“

Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov sah wieder nachdenklich zur Decke hinauf und überlegte. „Das ist mal ne originelle Idee.“, gestand er. Dann schüttelte er irgendwann doch langsam den Kopf. „Aber mir ist kein Bann-Kreis bekannt, der sowas zuwege bringen würde. Wenn der Fluch bereits wirksam ist, dann sowieso nicht mehr.“

„Gut. Trotzdem danke, Professor.“
 

Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov trat aus dem Universitätsgebäude heraus, sah sich um und schaute dann auf die Uhr. Er war doch selber schon alles andere als pünktlich. Dann wanderte sein Blick wieder suchend durch die Runde. Einen Moment später hechtete jemand mit einem luftschnappenden „Dragomir!“ auf ihn zu und blieb völlig aus der Puste vor ihm stehen.

Victor schmunzelte amüsiert, während er wartete, daß der Mann mit den schwarzen Wuschelhaaren und der schwarzen Leder-Kombi wieder zu Atem kam. „Du bist aber ganz schön spät dran. Wo hast du gesteckt?“, wollte er wissen. Es war ein wohlwollendes, zugetanes Lächeln, das er auf den Lippen hatte. Man merkte sofort, daß Victor den Mann mochte.

„Tut mir leid. Ich hab im Trainings-Center völlig die Zeit vergessen.“, keuchte der andere, mit beiden Händen nach vornüber gebeugt auf seine Knie gestützt.

„Schon wieder das Trainings-Center? Urnue, du verbringst jede freie Minute da. Das kann nicht gesund sein.“

Der junge Mann richtete sich wieder auf. Nun sah Victor auch das viele Kajal und den schwarzen Lidschatten, die seine Augen stets umrahmten. „Du bist ein mächtiger Magier, Dragomir. Ich will dir gern gerecht werden.“

„Ach, Urnue.“, seufzte Victor und setzte sich langsam in Bewegung. Wie erwartet folgte Urnue ihm. „Du machst dir doch nicht immer noch Vorwürfe, daß du Ruppert damals nicht retten konntest, oder?“

„Ich weiß nicht. ... Ich fühl mich jedenfalls besser, wenn ich zumindest etwas dafür tue, daß mir das nicht nochmal passiert.“

Victors Lächeln wurde noch etwas breiter. Etwas dankender. Er war ja froh, daß Urnue in der Lage sein wollte, ihn zu verteidigen. Aber wenn Victor jemals in eine Situation geraten sollte, in der er sich nicht mehr selber verteidigen konnte, dann war Urnue ihm beim besten Willen auch keine Hilfe mehr. Er baute das Thema jedoch nicht weiter aus. Das hatte er schon in der Vergangenheit oft genug getan. Vergeblich. Und er hatte auch keine Gelegenheit mehr dazu, denn da ließen ihn „Professor Akomowarov!“-Rufe den Blick zum Eingang der Universität zurücklenken. Im Eingang stand noch Salome herum, der zwei anderen Studenten gerade gezeigt hatte, wer dieser ominöse Professor Akomowarov war. Diese zwei Studenten rannten ihm nämlich eilig nach, offensichtlich in dem Bestreben, ihn noch zu erwischen bevor er ging. Es waren keine Studenten aus seinen Vorlesungen, das sah er sofort. Victor kannte seine Studenten sehr genau. ... Aber auch wenn nicht, kannte er dieses Kerlchen. Lange, schwarze Haare und Ledermantel waren ja auf dem Kampus einer Universität recht auffällig und fielen ihm nicht nur deshalb ins Auge, weil er selber genauso aussah. Auch er bevorzugte den derben, schweren Ledermantel, der vor so mancherlei Einflüssen schützte.

Urnue begann zu grinsen, als er das blonde Mädchen entdeckte. „Hey. Was machst du denn hier? Bist du Student an der Zutoro? Wie geht´s deiner Freundin?“

„Oh, die macht sich jetzt schon selber Prüfungsstress, obwohl das neue Semester gerade erst angefangen hat.“, gab Hedda grüßend und mit unbefangener Fröhlichkeit zurück.

Victor sah verstehend zwischen Urnue, ihr und Safall hin und her. Letzterer gaffte ihn an wie vom Donner gerührt. „Ihr kennt euch?“, wollte Victor interessiert von seinem Getreuen wissen und schob die Hände in die Manteltaschen.

„Naja, 'kennen' wäre übertrieben. Ich hab dir doch von dem Mädchen erzählt, das im Tee-Haus ... du weißt schon ... diesem Kerl die Jacke angezündet hat. Das war ihre Freundin. Die beiden waren zusammen im Tee-Haus. Wir sind uns dort begegnet.“

„Wie amüsant. Wir beide kennen uns aus genau dem gleichen Tee-Haus.“, schmunzelte Victor Safall vielsagend an. Und schon wieder konnte Safall diese 'du hast uns doch belauscht'-Drohung aus seinem Blick herauslesen.

Der Student zog gerade haarsträubende Parallelen. Das war der Typ, den er in seiner Vision über den Mord an Ruppert Edelig gesehen hatte. Und den er spät Abends im Tee-Haus belauscht hatte. Der den Mord an Ruppert Edelig mitverantwortete. Und den er später auch bei dem Überfall auf den Each Uisge, diesen Straßenmusiker, auf frischer Tat ertappt hatte. Er wusste, daß dieses Milchbubi-Aussehen mit dem jugendlichen Körperbau und den schulterlangen, schwarzen Haaren, die das freundliche, junge Gesicht einrahmten wie zwei Vorhänge, täuschte. Erheblich täuschte. Dieser nämliche Typ war Professor an einer Universität? „S-Sie sind Professor Akomowarov?“, stammelte er nur perplex.

„Lustig, nicht?“, gab der schalkhaft zurück und grinste breit. „Wie, hast du gesagt, war doch gleich dein Name?“

Safall stellte sich und Hedda mit mulmigem Gefühl vor und fragte dann zögerlich, ob Akomowarov vielleicht etwas Zeit für ihr Anliegen habe.

Sein Name kam dem Professor aus der Bittschrift eines Kollegen bekannt vor, in dem ihm ein wahrlich absonderlicher Fall versprochen worden war, eine echte Herausforderung, kombiniert mit der Bitte, sich dieses Studenten doch einmal anzunehmen. Daher willigte Victor ein. Auf diese Herausforderung war er wirklich gespannt.
 

Victor drehte nachdenklich das verkohlte Papier in Händen, auf dem der Fluch niedergeschrieben gewesen war, und die Übersetzung dazu. Da er kein Schottisch konnte, hatte Safall ihm zumindest Salomes alte, englische Originalversion davon gegeben. Dann ließ er es geringschätzig auf die Platte seines Schreibtisches fallen. Die Geste war psychologisch bis zur Vollendung ausgereift und schund ungeheuer Eindruck. So wie jede seiner Bewegungen. Allein die gerade Haltung, mit der er auf dem Stuhl saß, wog die Unzulänglichkeiten seines viel zu jungen Aussehens bei weitem wieder auf. Er hatte Safall und Hedda mit zurück ins Universitätsgebäude genommen und in sein Büro gebracht, wo sie in Ruhe reden konnten. „Also eines kann ich euch auf Anhieb sagen. Das hier ist kein ordentlicher, ägyptischer Papyrus, das ist irgendein Leinfaser-Imitat mit Industrieklebstoff. Wenn ihr Flüche basierend auf Papyrus erarbeitet, müsst ihr schon wenigstens auch Papyrus verwenden.“

„Hedda!“

„Ich kann nichts dafür! Das ist mir als echter Papyrus verkauft worden! Zähl den Verkäufer an, nicht mich!“, hielt Hedda trotzig dagegen. „Hat das echt eine Relevanz, auf was für einem Papier man das aufschreibt? Salome hätte den Fluch auch aus dem Kopf aufsagen können, wenn er Schottisch gekonnt hätte.“, wollte sie dann wissen.

Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov nickte langsam. „Offensichtlich hat es eine Relevanz, sonst wäre das Papier nicht verbrannt. Wenn man einen Fluch konstruiert, muss man ihn an irgendetwas binden. Da im Gegensatz zur Verwünschung nicht die Zielperson selber als Medium herhalten kann, muss die Energie sich auf irgendeinem anderen Medium manifestieren können. Oft nimmt man irgendwelche Gegenstände dafür, die sich später leicht wieder zerstören lassen, falls man den Fluch mal wieder aufheben will. Salome hat sich offensichtlich für ein Schriftstück entschieden und dieses Fluchpapier hier entworfen, in dem Glauben es sei echter Papyrus.“

„Wir wissen jedenfalls nicht, was meiner Schwester nun wirklich fehlt, mal unabhängig von unserem schiefgegangenen Gegenfluch. Wir hatten es für einen Jahrestausch-Fluch gehalten, der Lebensjahre vertauscht.“, erzählte Safall.

„Gibt Sinn. Es handelt sich nach wie vor um einen Tausch-Zauber, er hat sich nur gewandelt. Ursprünglich hat er wohl Lebensjahre oder die gesundheitliche Verfassung vertauscht, jetzt vertauscht er Seelen in ihren Körpern. Zusätzlich zu den Jahren, oder ersatzweise, wer weiß.“

„Wohl zusätzlich. Meiner Schwester geht es keinen Deut besser als vorher. Es wird im Gegenteil immer schlimmer. Seit den Semesterferien ist sie schon dreimal ohnmächtig geworden, weil gar nichts mehr ging.“

„Also hat sich der Zauber nicht einfach nur gewandelt, sondern sogar erweitert. ... Und ab da wird´s knifflig. Ich fürchte, da ist mir die Universität keine Hilfe. Um da etwas rauszufinden, muss ich nach Hause in meine Privatbibliothek. Ich bemühe mich, so schnell wie möglich alles Nötige in Erfahrung zu bringen. Wisst ihr sonst noch irgendetwas, das mir helfen könnte?“

Safall verneinte bedauernd. Alles, was er wusste, hatte er Professor Akomowarov bereits erzählt. Das es vor ein paar Jahren in ihrer Heimat auf den Orkney-Inseln angefangen hatte, und daß beim Gegenfluch dieses Amulett aus dem Tee-Haus mit im Spiel gewesen war. Und das war auch schon alles, was er wusste. Akomowarov hatte das Amulett nach einer langen, sehr nachdenklichen Musterung an sich genommen.

„Du hast noch mehr auf dem Herzen, wie ich merke.“, stellte Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov in den Raum wie eine Tatsache.

Safall haderte kurz mit sich, ob er das wirklich sagen sollte. Andererseits war es vielleicht besser, das zu klären. Immerhin war er schon am Tee-Haus von Akomowarov als offensichtlicher Stalker aufgegriffen worden und ihm auch später an der alten, eisenbeschlagenen Tür wieder in einer eindeutigen Szene begegnet. Die Situation war hinreichend bekannt. „Sie hatten mit dem Mord zu tun, oder?“

Victors Blick schweifte kurz suchend über eine ganze Enzyklopädie von Erinnerungen, dann sah er Safall selbstbewusst direkt in die Augen. „Ich hatte mit so einigen Morden zu tun. Welchen genau meinst du?“, wollte er mit fester Stimme wissen. Gar nicht wie jemand, der sich ertappt oder schuldig fühlte.

„Ruppert Edelig.“

„Ah, der!“, machte Victor nur, sich erinnernd.

„Sie haben Geld dafür bezahlt, daß der Genius am Leben gelassen wird.“

„Ja, habe ich.“ Victors Stimme troff immer noch von Selbstbewusstsein und vielleicht sogar einer Prise Selbstgefälligkeit. Es hatte diese unterschwellige 'stört dich das?'-Note, die einen in den Wahnsinn treiben konnte.

„Sie sind ein ehrloses Schwein!“, hielt Safall ihm sauer vor.

„Ja? Ist es, da wo du herkommst, nicht gern gesehen, jemandem das Leben zu retten?“

„Wieso haben Sie den Mord nicht verhindert? Oder wenigstens der Polizei gemeldet, wenn Sie schon davon wussten? In den Gerüchten, die kursieren, heißt es immer nur, Sie hätten Urnue später gefunden und befreit. Es war nie die Rede davon, daß sie schon vorher von den Mordplänen wussten und es förmlich unterstützt haben!“

Auf Victors Gesicht machte sich ein Schmunzeln breit. „Du bist ein Hellseher, was? Natürlich, woher solltest du sonst davon wissen? Die zwei Kompagnons sind gerade ziemlich angezinkt, weil über diese Vorkommnisse irgendjemand der Polizei was gesteckt hat. Warst du es etwa, der sie verpfiffen hat?“

„Nein!“, wehrte Safall schnell ab, gerade noch bemüht, nicht allzu panisch zu klingen. Seine Entrüstung wich sichtlich einem viel kleinlauteren Tonfall. Er spürte deutlich, daß Akomowarov sich von Safalls Wissen nicht ins Boxhorn jagen ließ.

„Weißt du, wer ich bin? Hast du überhaupt eine Ahnung, was genau ich mache? Warum ich so ein Mysterium bin? Warum so viele mich feiern und doch hassen?“

Safall schüttelte eingeschüchtert den Kopf. Er wusste es wirklich nicht. Er hatte aber auch keine Lust herauszufinden, ob das vielleicht das letzte war, was er je erfahren würde. Lieber blieb er unwissend.

„Du warst doch dabei, in diesem Hinterhof. Ich schätze dich als ein schlaues Köpfchen ein. Ich glaube du weißt, was da vor deiner Nase passiert ist, als die beiden Schläger den Each Uisge angegriffen haben. Du weißt, in welchen Kreisen ich mich bewege. Ich bin ein vielfach gesuchter Mörder und Verbrecher. Ich agiere außerhalb des Gesetzes für die Rechte der Genii. Die Motus hat damals riesige Sklavenmärkte betrieben und hunderte von Genii in die Knechtschaft getrieben, zum Teil auch kaltblütig hingeschlachtet. Die Motus hat ganze Klans einfach ausgelöscht, wenn sie sich der Sklaverei nicht gebeugt haben. Ja, ich war der stellvertretende Leiter von diesem Verbrecherhaufen. Ich war die rechte Hand vom Boss selbst. Es hat mir viele Opfer abverlangt, so weit zu kommen. Und als ich endlich so weit war, habe ich dieses gesamte Kartell in die Knie gezwungen und hopp genommen. ICH war das!“ Victor machte eine theatralische Pause, um dem Gesagten die nötige Wirkung zuzugestehen. „Du kannst dir vorstellen, daß ich bis heute viele Feinde deswegen habe. Die ehemaligen Motus-Funktionäre sind bis dato auf meinen Kopf aus. Seit es die Motus nicht mehr gibt und sich die Funktionäre wie die Kakerlaken in alle Himmelsrichtungen zerstreut haben, um ihre eigenen, kleinen, miesen Geschäfte aufzubauen, greife ich Menschen an, die Genii nicht angemessen behandeln. Ich rede hier nicht von Otto-Normal-Magiern, die ihren Genius Intimus bevormunden. Ich rede von Gangster-Bossen, Drahtziehern der Unterwelt, einflussreichen, zwielichtigen Finanziers. Bei den Menschen, mit denen ich mich anlege, kann ich es mir nicht leisten, sehr rücksichtsvoll zu Werke zu gehen. Da verschwinden schonmal Leute und werden nie wieder gesehen. Oder wenn, dann nicht lebend. Verstehst du? Ich bin der, der die Unterwelt aufmischt. Ich gehöre zu den Guten, arbeite aber wie einer von den Bösen. Wenn die Staatlichen meiner habhaft würden, hätte ich einmal die gesamte Palette aller Vergehen am Hals, die das Strafgesetzbuch hergibt, deshalb geben sie sich zum Glück nicht sonderlich viel Mühe, mich zu fassen zu kriegen. Die haben erkannt, was ich tue. Die politischen Schachfiguren der Unterwelt dagegen würden mich liebend gern tot sehen, können aber nicht aus ihren Löchern gekrochen kommen, ohne sich selbst zu gefährden. Das ist ein schmaler Grat, auf dem ich mich bewege. Ich darf keiner der beiden Seiten zu nahe kommen. Egal in wessen Netz ich lande, ich bin in beiden Fällen unweigerlich des Todes. Für Genii von meinem Kaliber schlägt in etlichen Ländern der Welt, in denen ich gesucht werde, die Todesstrafe zu Buche. Deshalb bin ich ein Phantom. Deshalb weiß keiner irgendwas über mich. ... Du fragst, ob ich den Mord an Ruppert Edelig hätte verhindern können. Rupperts Feinde waren auch meine Feinde. Ich steckte in seinen Machenschaften bis zum Hals mit drin. Nein, ich hätte nichts tun können. Nicht ohne meinen eigenen Kopf mit hinzuhalten.“

Safall gaffte Akomowarov mit großen Augen an und wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Das alles, was er hier hörte, kam nicht unbedingt überraschend. Er wusste aus seinen Recherchen selber, in welchen Kreisen der Junge aktiv war. Allein die Tatsache, daß die Magister-Magicae-Datenbank so überhaupt nichts über ihn wusste, sagte im Grunde genug. Aber es von Akomowarov selber erzählt zu bekommen, so direkt und unverblümt, machte ihm echt Angst. Und was ihn dabei noch viel mehr irritierte, war, daß der so unglaublich jung aussah. Rein optisch hätte keiner den geringsten Zweifel daran gehabt, daß er hier selber nur Student wäre. In welchen Zeitfenstern hatte sich diese ganze Motus-Bewegung denn um Himmels Willen abgespielt?

„Ich empfehle dir, mit keinem über den Edelig-Mord zu sprechen. Vor allem nicht mit der Polizei. Sollten ich oder diese beiden Haudegen, die du im Tee-Haus gesehen hast, verschwinden, werde ich nicht mehr in der Lage sein, deiner Schwester zu helfen.“

Safall nickte einsichtig. Dann strich er sich nervös eine seiner langen Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Verraten Sie mir, was an diesem Edelig-Mord so besonders war? Soviel ich weiß, hatte die Motus zahllose Morde zu verantworten. Um keinen davon ist soviel Ruß gemacht worden wie um diesen Ruppert Edelig.“

Victor lächelte dünn. „Das kann ich dir sagen. Es gab einen ganz entscheidenden Unterschied zu allen anderen Verbrechen, die die Motus betreffen. Ruppert Edelig war ein Mensch. Der erste und einzige Mensch, der jemals der Motus zum Opfer gefallen ist. Die Motus wollte die Menschen schützen. Normalerweise waren diese Typen ausschließlich hinter gefährlichen oder unliebsamen Genii her.“

'Im Gegensatz zu Ihnen, wie man hört.', dachte Safall im Stillen. Laut aussprechen tat er diesen Gedanken freilich nicht. Schließlich brauchte er ja nach wie vor die Hilfe dieses Mannes. Er musste Sewill helfen. Er musste einfach. Akomowarov war seine letzte Hoffnung. Also würde Safall sich bestimmt nicht mit ihm anlegen.

Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov hob erneut vielsagend das verkohlte Papier mit dem Fluchtext hoch. „Ich begebe mich in meine Privatbibliothek, um ein paar Nachforschungen zu betreiben. Stellt in der Zwischenzeit nichts Blödes an!“, trug er Safall auf und erhob sich in einer runden Bewegung, für die er keinerlei Schwungholen zu brauchen schien, hinter seinem Schreibtisch. Damit machte er deutlich, daß auch Safall und Hedda jetzt bitte aufstehen und gehen sollten. „Ich melde mich wieder bei euch, sobald ich mehr weiß.“

„Danke, Professor. Wenn Sie vorbeikommen und sich Sewill einmal ansehen wollen, steht unser Studentenzimmer Ihnen jederzeit offen.“, schlug Safall ihm noch vor.

Hedda beschränkte sich auf eine höfliche Verabschiedung. Natürlich hätte sie viele Fragen oder Anmerkungen gehabt, aber sie wollte als Safalls Nebengetreue nicht wieder mit phänomenaler Dämlichkeit punkten. Daher zog sie es strategischerweise vor, die Klappe zu halten. Ihre Fragen konnte sie hinterher immer noch Soleil oder Safall stellen, wenn sie wollte.

Urnue, der die ganze Zeit über gleichsam schweigend in der Raumecke gesessen und aufmerksam das Gespräch verfolgt hatte, machte keine Anstalten, Hedda noch zu verabschieden. Er war der Genius Intimus von Ruppert Edelig gewesen. Es wäre damals seine Aufgabe gewesen, Ruppert Edelig zu beschützen. Und er hatte es nicht geschafft. Er hatte den Mord nicht verhindern können. Als direkt Betroffener ärgerte es ihn ein wenig, wie sensationslüstern und emotionsfrei die Studenten in ihrer Unwissenheit über die Motus und über diesen Mord sprachen, ohne irgendeinen Bezug dazu zu haben. Sie hatten keine Ahnung davon, was Victor wirklich vollbrachte, wenn er Genii vor den Übergriffen solcher Verbrecher bewahrte. Sie sahen in ihm vermutlich nichts anderes als einen weiteren Verbrecher unter vielen.



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