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Die Taube der Wahrheit

von

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Die Taube der Wahrheit - neue Version

1

Die untergehende Sonne tauchte Tokyo in schummriges Licht. Eine weiße Gestalt rannte im neu eröffneten Museum eine Treppe hinauf. Hinter ihr eine Gruppe von Polizisten. Allen voran Kommissar Nakamori mit erhobener Waffe.

„Kaitō Kid, bleib stehen!“ rief er und sah gerade noch, wie Kid die Tür, welche auf das Dach führte, zuschlug. „Heute entkommst du mir nicht!“

Als er die Tür selbst erreichte, öffnete er diese mit Schwung. Er sah den Dieb am Rand des Daches stehen und sah direkt in sein Gesicht. Es wurde halb von seinem Hut verdeckt und so konnte er nur das selbstgefällige Grinsen auf seinen Lippen erkennen. Der Kommissar trat einen Schritt nach vorn. Seine Waffe immer noch vor sich und auf seinen Gegner gerichtet. Er fing nun seinerseits zu grinsen an und ging noch ein paar weitere Schritte auf Kid zu.

„Was machst du nun Kid? Dein Gleiter nutzt dir jetzt nicht mehr viel oder kannst du mit einem durchlöcherten Stück Stoff fliegen?“ fragte Nakamori und sein Grinsen wurde noch breiter.

Er verringerte seinen Abstand zu Kid bis auf wenige Schritte. Die Pistole nun mit beiden Händen umschlossen. Kid dagegen regte sich nicht. Nur seine Augen folgten den Bewegungen des Kommissars unauffällig.

„Aber, aber, verehrter Kommissar, wer wird denn gleich so ausfallend werden? Sie enttäuschen mich Nakamori-san“, sprach Kaitō Kid mit gespielt trauriger Stimme.

Und in dieser Sekunde trafen sich beide Augenpaare und Kid setzte zur Bewegung an. Doch plötzlich schweifte sein Blick zum Treppeneingang ab. Auf dieser war ein Tumult zu vernehmen, der von einer jungen Dame herrührte, die sich durch die Gruppe Polizisten drängte und in der Tür stehen blieb.

„Oto-san!“ rief Aoko völlig außer Atem.

Nakamori blickte nach hinten und sah seine Tochter verwirrt an. Seine Waffe allerdings zielte immer noch auf den Meisterdieb. Aoko schaute ihrem Vater wütend in die Augen, bevor ihr Blick zu Kid abschweifte. Dieser wiederum erwiderte ihren Blick kurz und verbeugte sich (ganz der Gentlemen), bevor er zum Sprung ansetzte. Und in diesem Augenblick drehte sich Nakamori, der dem Blick seiner Tochter gefolgt war, wieder vollends zu Kid herum. Dieser hatte bereits seinen Umhang umfasst.

„Halt! Hiergeblieben Kid!“ rief der Kommissar Kid wutentbrannt entgegen.

Doch der Angesprochene schwang seinen Umhang, woraufhin plötzlich dutzende weiße Tauben umher flatterten. Nakamori verlor den Blickkontakt zu Kaitō Kid. Verwirrt auf Grund der Situation und sauer auf sich selbst sowie seine Unachtsamkeit feuerte der Kommissar ohne Vorwarnung wild in die Taubenflut hinein. Allerdings blieb es bei einem einzigen Schuss, denn den Rest des Magazins hatte er schon in Kids Gleiter verschossen. Tobend schmiss er die Pistole auf den Boden und hechtete zum Rand des Daches. Kid ließ sich gelassen rückwärts vom Dach fallen. Als Nakamori am Rand des Daches ankam, konnte er nur noch in Kids grinsendes Gesicht sehen, der sich mit einer Militärgeste verabschiedete. Und Sekunden später schwebte der Meisterdieb auch bereits mit einem neuen Gleiter in den Nachthimmel davon.

Ein verblüffter Ausdruck zeigte sich auf Nakamoris Gesicht, während er Kaitō Kid hinterher starrte. „Das gibt es doch nicht! Wo hat der Kerl einen neuen Gleiter her?“ zischte er mit knirschenden Zähnen. Erst die Stimme seiner Tochter, die nun näher kam, holte ihn aus seiner Wut.

„Oto-san, wie konntest du nur? Seit wann zielst du mit einer Waffe auf Kid? Das ist gar nicht deine Art, so kenne ich dich gar nicht!“ tadelte Aoko mit in die Hüften gestemmten Händen.

Stumm wandte Nakamori sich seiner Tochter zu und blickte ihr kurz in die Augen, die Enttäuschung ausdrückten. Bevor er auf dem Weg an ihr vorbei seine Waffe vom Boden aufhob. Aoko folgte seinen Bewegungen, drehte sich zu ihm und wartete, immer noch wütend, auf eine Antwort. Als sie merkte, dass er ihr diese wohl schuldig bleiben würde, durchbrach sie die Stille.

„Oto…“ Doch weiter kam sie nicht.

Mit einem tiefen Seufzer fuhr sich der Kommissar mit der Hand über sein Gesicht und unterbrach seine Tochter mit genervter Stimme. „Ich habe überreagiert. Er hat mit mir heute mehr Spielchen gespielt als sonst. Und ich dachte, heute hätte ich ihn wirklich.“

Ohne seine Tochter eines Blickes zu würdigen wurde er beim Sprechen immer leiser. Er steckte seine Waffe weg und setzte seinen Weg Richtung Tür fort. Dort angekommen ging er einfach an den dort stehenden Polizisten vorbei. Diese folgten ihm stumm. Aoko blieb wie versteinert an ihrer Position stehen und somit allein auf dem Dach zurück.

Nach ein paar Minuten fing sie sich wieder, seufzte und holte tief Luft. Anschließend wollte sie sich in Bewegung setzten und ihrem Vater folgen, doch ein Geräusch erregte ihre Aufmerksamkeit. Suchend ließ sie ihren Blick über das Dach schweifen. Ihre Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt, die mit der Nacht Einzug hielt. So bemerkte sie sofort das kleine Geschöpf, welches auf dem Boden, am Rande des Daches, in einer Ecke lag. Langsam näherte sich Aoko diesem, um es nicht zu erschrecken. Kurz vor ihm ging sie in die Hocke und begutachtete es genauer. Es handelte sich um eine weiße Taube. Eine jener Tauben, mit deren Hilfe Kaitō Kid wieder einmal die Flucht gelungen war. Aoko seufzte, streckte die Hände aus und wollte die Taube hochnehmen. Doch sie erntete nur ein böses Gurren und eine kleine Wunde an ihrer Hand, nachdem die Taube sich mit ihrem Schnabel verteidige.

Warum fliegt sie denn nicht weg? dachte Aoko.

Sie wagte sich näher heran. Da bemerkte sie, dass die Taube verletzt war. Nun war es ihr egal, ob sie selbst Verletzungen davontrug. Sie griff einfach nach dem Tier, hob es mit vorsichtigem Griff hoch und betrachtete die Taube genauer. Mit einem schnellen Blick auf die Wunde wurde ihr klar, dass der Schuss ihres Vaters nicht ins Leere gegangen war.

„Ich würde sagen, du hast großes Glück gehabt. Sieht aus, als wäre es nur ein Streifschuss“, erklärte Aoko erleichtert der Taube.

Sie schenkte dem Geschöpf ein zufriedenes Lächeln und folgte ihrem Vater und der restlichen Polizei.
 

2

Kaitō Kid landete graziös auf dem Fensterbrett seines Zimmers. Wie immer stand es halb offen und er konnte problemlos ins Haus gelangen. Gerade als er sich geschafft auf sein Bett fallen ließ, kam Jî aufgeregt ins Zimmer geeilt.

„Junger Herr!“ schrie dieser schon fast.

„Was ist denn Jî? Ich bin gerade erst rein“, fragte Kaito mit genervter Stimme. Er setzte sich auf und nahm Hut sowie Monokel ab. „Heute habe ich es wohl etwas übertrieben. Hab Nakamori sogar dazu gebracht seine Waffe zu ziehen und sein ganzes Magazin zu verballern.“

Jî wurde bei diesen Worten bleich und wollte gerade etwas erwidern, als ihn Kaito unterbrach.

„Der gute Kommissar hat natürlich nur ins leere getroffen.“ Und meinen Gleiter durchsiebt, fügte er in Gedanken hinzu. „Also kein Grund zur Sorge.“

Er machte eine wegwischende Geste mit der Hand, erhob sich und wollte sich seiner Sachen entledigen, als ihn Jîs Worte innehalten ließen.

„Junger Herr, es sind diesmal nicht alle Tauben zurückgekehrt.“

„Was?“ Kaito blickte ihn mit fragendem Gesicht an. „Nakamori hat seinen letzten Schuss mitten in meine Ablenkung abgegeben. Ich habe leider nicht mitbekommen, wohin die Kugel geflogen ist.“ Sollte er eine von ihnen getroffen haben?

Kid blickte nachdenklich aus dem Fenster und fasste einen Entschluss.

„Bin gleich wieder da Jî.“

Mit diesen Worten griff er nach seinem fehlenden Zubehör, platzierte es an ihrem Platz und sprang, ohne ein erklärendes Wort, zurück in die Dunkelheit der Nacht. Seinen Gleiter aufspannend und davon schwebend hatte er bereits eine Ahnung was nach seiner Abwesenheit geschehen war.

Es dauerte nicht lange, bis seine Füße wieder etwas Festes berührten. Wissend, dass die Polizei schon lange abgerückt war, schritt Kid gelassen über das Dach. Dieses lag nun still und ruhig in einer wolkenlosen Nacht und wurde nur vom Schein des Mondes und der Sterne erhellt. Gezielt huschten seine Augen über den Boden und fanden schnell das Gesuchte. Er beugte sich hinunter und begutachtete die kleine Blutlache, die bereits eingetrocknet war und ein paar weiße Federn genauer. Sein Blick überflog noch einmal das Dach, bevor er den Himmel absuchte. Von der Taube war jedoch nichts zu sehen, was seinen Verdacht bestätigte.

„Nur wer hat dich mitgenommen?“ fragte Kaitō Kid in die Dunkelheit.

Da er nicht mehr in der Lage war, dies heute Nacht in Erfahrung zu bringen, begab er sich ein zweites Mal in dieser klaren Nacht auf den Weg nach Hause.

Wenige Minuten später landete er wieder auf dem Fensterbrett seines Zimmers. Doch diesmal hatte er es sehr eilig. Er sprang hinein und schmiss die losen Sachen seiner Maskierung auf sein Bett. Den mitgegangenen Diamanten ließ er dagegen sanft in seine Hand gleiten, hielt ihn hoch und betrachtete ihn im Licht des Mondes.

„Und wieder nichts“, seufzte Kaito und legte ihn in eine Schachtel auf seinem Nachttisch. „Ich werde ihn morgen wieder zurückgeben. Jetzt aber erst einmal ab ins Bett.“

Er gähnte und warf seine Klamotten auf den Boden, bevor er selbst auf sein Bett folgte. Er schlief sofort ein.
 

3

Am nächsten Morgen wurde Aoko durch ein ihr unbekanntes Geräusch geweckt.

Was war das? dachte Aoko und rieb sich verschlafen die Augen.

Als jedoch das Geräusch nicht noch einmal erklang, drehte sie sich in ihrem Bett auf die Seite und war gerade dabei wieder einzuschlafen. Da vernahm sie wieder diesen merkwürdigen Laut.

Ist das ein Gurren? fragte sie sich und setzte sich auf.

Plötzlich brachen die Erinnerungen an letzte Nacht über sie herein. Sie hatte eine verletzte weiße Taube auf dem Dach, auf welchem Kaitō Kid und ihr Vater sich gegenüberstanden, gefunden. Es war eine von Kids Tauben, dass wusste sie ganz genau. Dennoch konnte das Tier nichts für die Taten des Diebes und mit ihrem verletzten Flügel, den eine Kugel gestreift hatte, konnte sie nun auch nicht mehr fliegen. Aoko hatte sie deshalb mit nach Hause genommen und sich um sie gekümmert.

Langsam stand sie auf und schlüpfte in ihre Pantoffeln. Ihr Weg führte sie zu ihrem Schreibtisch, der unter ihrem Fenster stand.

„Guten Morgen!“, begrüßte Aoko ihren neuen Mitbewohner freudig.

Das weiße Tier saß auf seinem Kissen und putzte sich. Der verletzte Flügel war im Gegensatz zu ihrem Unverletzten weit ausgestreckt und wurde nicht bewegt. Doch nun musste Aoko diesen betrachten und wollte ihn vorsichtig berühren. Da wurde nach ihrer Hand gepickt. Dieses Mal jedoch war Aoko darauf vorbereitet und zog rechtzeitig ihre Hand zurück.

„Ok, ok, ich lass dich in Ruhe“, sagte Aoko und hab beschwichtigend die Hände. „Wenigstens scheint es nicht mehr zu bluten.“

Mit einem letzten Blick auf den noch weißen Verband und einem Seufzer ließ sie die Taube allein und ging, noch immer in ihrem Pyjama, runter in die Küche. Dort traf sie auf ihren Vater.

„Guten Morgen“, richtete sie zurückhaltend das Wort an ihn.

Stumm blickte sie ihn sekundenlang an und wartete auf eine Antwort. Doch auf diese hätte Aoko an diesem Morgen lange warten können. Denn Nakamori saß am Tisch, die Zeitung in den Händen hoch erhoben und tat so, als hätte er sie nicht bemerkt. Er lass einfach weiter. Aoko seufzte und ging weiter ins Bad. Das Frühstück ließ sie ausfallen. Die Stimmung im Haus hatte die Ihrige heruntergezogen. Anschließend lief sie wieder hoch in ihr Zimmer, zog sich an und machte sich, ohne ein Wort des Abschieds, auf den Weg zur Schule.

Ruhig und mit gesenktem Kopf lief Aoko, ganz in Gedanken versunken, die Straße entlang. Als ihr jemand auf die Schulter tippte.

„Morgen!“ wurde ihr plötzlich ins Ohr geschrien.

Erschrocken zuckte Aoko zusammen und drehte sich um. Bis sie in ein freudig lächelndes Gesicht sah.

„Kaito!“ schrie sie den Verursacher ihrer klingelnden Ohren an. „Was soll denn das?“

Fragend blickten sie zwei große Augen an.

„Hör auf damit. Mein Morgen war nicht so gut“, erklärte Aoko.

„Oh!“ bekam sie als einzige Antwort.

Gerade, als sie ihren Weg fortsetzen wollte, tauchte vor ihr eine Hand auf. Und mit einem ‚Puff‘ erschien in ihr plötzlich ein Blumenstrauß.

„Kuruba Kaito!“ brüllte Aoko los.

Sie entriss Kaito die Blumen und ihre Hand war zielsicher in Richtung Kaitos Gesicht unterwegs, als sie mitten in der Bewegung stoppte. Das Grün warf sie ihm ins Gesicht, bevor sie blitzartig los rannte.

Nach ein paar Metern blickte sie sich um und schrie lachend: „Wenn du da noch lange stehen bleibst, kommst du zu spät.“

Dies erweckte den erstarrten Kaito. Er ließ die Blumen verschwinden und rannte ihr hinter. Zusammen kamen sie doch noch pünktlich. Aoko verhielt sich den restlichen Tag über gewohnt zickig, meckerte über Kaitos Zaubertricks und lief ihm hinterher. Diese Tatsache beruhigte ihn. Immerhin hatte er des Nachts Aokos Worte an ihren Vater mitbekommen und konnte sich ungefähr denken weshalb sie am Morgen so traurig wirkte.

Nach der Schule trafen sie sich vor dem Schultor.

„Gehen wir noch in die Stadt, uns den neuen Straßenzauberer ansehen? Der soll wirklich gute Tricks draufhaben“, fragte Kaito.

„Nein, ich kann heute nicht“, antwortete Aoko. „Ich muss nach Hause. Bis morgen Kaito.“

Und mit diesen Worten lief sie, ihm noch zum Abschied winkend, davon. Währenddessen hatte er ein nachdenkliches Gesicht angenommen und war in Gedanken versunken. Plötzlich erschien ein breites Grinsen auf seinem Gesicht und er folgte Aoko unauffällig.
 

4

Aoko kam, wie jeden der vergangenen Tage, direkt nach der Schule nach Hause. Stürmisch rannte sie hoch in ihr Zimmer.

„Da bin ich wieder!“ begrüßte sie freudig ihre Mitbewohnerin, bevor sie zu ihrer alltäglichen Flügelkontrolle überging.

Sofort bemerkte Aoko, zu ihrer Überraschung, dass der Flügel von Yuki, wie sie die Taube mittlerweile nannte, vollständig verheilt war. Jedoch hatte die Taube noch keinerlei Flugversuche unternommen. Sie hüpfte immer nur auf ihren Beinen durch das Zimmer und auf die Hand, wenn sie ihr hingehalten wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt beunruhigte sie dieser Umstand nicht, aber jetzt da der Flügel verheilt war, kamen nun doch Sorgen in ihr hoch. Also nahm sie Yuki in die Hände und warf sie ein kleines Stück über dem Bett in die Luft. Die Taube breitete die Flügel aus, aber nach kurzem Flattern landete sie sanft auf dem Bett.

Stirnrunzelnd erklärte Aoko ihr: „Ich glaube, du musst das Fliegen neu lernen. Sie hob das Tier hoch und plötzlich machte sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht breit. „Aber das schaffen wir.“

Auf der Straße stand wie immer Kaito und schaute hinauf zu einem Fenster. Er sah eine lachende Aoko in ihrem Zimmer mit der Taube in den Händen tanzen. Grinsend ging er weiter.
 

5

Aoko spazierte gemütlich mit einem Körbchen in der Hand im Park lang. An einer Bank hielt sie an, setzte sich, platzierte das Körbchen neben sich und holte behutsam Yuki aus eben diesem. Sie setzte die Taube auf ihren Schoß, breitete nacheinander vorsichtig ihre Flügel aus und legte sie wieder zusammen. Dies wiederholte sie ein paar Mal. Die gleiche Prozedur, wie jeden Tag der vergangenen zwei Wochen.

„Heute schaffen wir es Yuki!“, machte Aoko der Taube und vor allem sich selber Mut, bevor sie aufstand.

Mit dem Tier in ihren Händen streckte sie ihre Arme nach oben und warf es mit ein wenig Schwung in die Lüfte. Yuki breitete sofort ihre Flügel aus und flatterte los, aber nach ein paar Metern verlor sie die Kraft und fiel herunter. Aoko hatte alles genau beobachtet und war sofort zur Stelle und fing die Taube auf.

„Das war länger als gestern. Langsam lernst du es wieder.“, strahlte Aoko und drehte sich einmal im Kreis. „Noch ein bisschen länger und du kannst wieder fliegen.“

Sie gönnte Yuki ein wenig Ruhe. Gebettet auf ihrem Schoß gab sie ihr Körner aus ihrer Hand und genoss mit ihr die warme Frühlingssonne.

„Wollen wir noch einen Versuch wagen?“ Die Angesprochene antwortete mit einem freudigen Gurren. Und wieder die gleiche Prozedur. Doch dieses Mal blieb Yuki in der Luft und flog hoch über die Bäume. Aoko sprang vor Freude in die Luft. Mit den Augen folgte sie der Taube, konnte sie aber bald nicht mehr entdecken. Also setzte sie sich auf die Bank und suchte immer wieder die Umgebung ab. Sie wartete auf ihre Rückkehr, doch sie kam nicht.

Voller Sorge und da sich Aoko nicht anders zu helfen wusste, schrie sie: „Yuki!“

Gespannt sah sie sich nach allen Seiten um. Als aber keine Taube in Sicht kam, wollte sie schon loslaufen. Doch plötzlich flatterte es neben ihrem Ohr und eine kleine weiße Gestalt setzte sich auf ihre Schulter und gurrte zufrieden.

„Da bist du ja!“ atmete Aoko erleichtert auf und graulte Yuki am Kopf.

Kaito stand ein paar Schritte entfernt hinter einem Baum und hatte alles beobachtet. Mit einem wissenden Lächeln verließ er seinen Platz und steuerte Aokos Wohnhaus an. Kurz darauf machte sich auch diese mit ihrer Mitbewohnerin auf den Heimweg.

Wieder in ihrem Zimmer angekommen, setzte Aoko die Taube auf ihr Kissen. Dann wollte sie das Zimmer verlassen, doch ihre Schritte wurden immer langsamer, bis sie plötzlich stehen blieb. Sie blickte zurück zu Yuki.

„Ich muss sie Kaitō Kid zurückgeben“, gestand sie sich ein. „Nur wie?“

Tief in Gedanken versunken ließ sie ein plötzliches Klopfen zusammenzucken. Sie sah auf und trat näher an die Geräuschquelle. Dort fiel ihr Blick sofort eine Karte, die von außen ans Fenster geklemmt war. Langsam öffnete sie es und holte die Karte herein. Aoko wusste sofort, von wem die Karte stammte.

Guten Tag kleine Dame!

Du willst mich treffen? Dann komm um 18 Uhr zum Ort des Geschehens.

Kaitō Kid

Natürlich prangte neben der Unterschrift der typische gezeichnete grinsende Kopf. Aoko seufzte und blickte zur Uhr.

„Noch zwei Stunden“, murmelte sie zu sich.

Unten auf dem Bürgersteig schlenderte Kaito gerade um die nächste Ecke.

Als der genannte Zeitpunkt näher rückte, verließ Aoko mit Yuki in einem Korb still und leise das Haus. Ihr Vater sollte nicht mitbekommen, dass sie ging. Mit dem mulmigem Gefühl, welches sie verspürte, würde sie ihm niemals eine glaubwürde Lüge erzählen können. Sie fühlte sich schuldig, da sie hier irgendwie ihren Vater hinterging. Aber die Taube gehörte Kid und dass sie verletzt wurde war nun einmal die Schuld ihres Vaters. Außerdem hatte er sich die ganze Zeit über nicht für ihren kleinen Mitbewohner interessiert. Und so war sie jetzt hier, auf dem Dach des Museums.

„Kid?“ fragte Aoko fast schon flüsternd.

Sie stand immer noch allein auf dem Dach. Doch ein Flattern verriet seine Ankunft. Ohne jede Bewegung stand sie Kaitō Kid gegenüber.

„Guten Abend junges Fräulein!“, durchbrach der Dieb ihr Schweigen.

Durch seine Stimme aus ihrer Starre gelöst, stellte sie den Korb vor ihren Füßen ab und holte Yuki heraus. Dann trat sie näher an Kid heran.

„Sie gehört dir, nicht wahr?“ glichen ihre Worte mehr einer Feststellung als einer Frage.

Er antwortete ihr nicht, sondern ließ nur einen kurzen Pfiff ertönen. Die Taube befreite sich sofort aus Aokos Griff und flog zu ihm. Sie landete auf seiner Schulter und er graulte sie am Kopf.

„Vielen Dank. Ich habe sie schon vermisst“, bedankte sich Kid freundlich, verbeugte sich gentlemanlike und verschwand kurz darauf in einer Rauchwolke.

„Warte!“ schrie Aoko und rannte zum Ende des Daches.

Doch erst als der Rauch sich auflöste konnte sie den Dieb wieder erkennen. Er flog bereits mit dem Gleiter davon. Und daneben ein weißer Vogel. Sie wusste nicht wieso, aber plötzlich lächelte sie glücklich und schaute den beiden nach bis sie nicht mehr zu sehen waren.
 

6

Drei Tage waren mittlerweile vergangen und der Alltag lief wie gewohnt ab. Aoko vermisste ihre kleine Mitbewohnerin, aber sie wusste auch, dass es ihr bei Kid gut ging. Dennoch schweiften ihre Gedanken immer wieder zu Yuki ab. Und das, obwohl sie sich auf das Lernen konzentrieren sollte. Denn am nächsten Tag erwartete sie eine Mathearbeit in der Schule.

„Ach man! So wird das doch nichts!“ fluchte Aoko an ihrem Schreibtisch und schmiss das Mathebuch auf ihr Bett.

Sie beschloss Kaito zu besuchen. Er konnte ihr sicher helfen und außerdem würde er sie ganz bestimmt ablenken. Für seine kleinen Zaubertricks ließ er einfach keine Gelegenheit aus. Sie schmunzelte und machte sich auf den Weg.

Vor dem Haus angekommen klingelte Aoko. Ihr wurde jedoch nicht gleich geöffnet. Deshalb klingelte sie noch einmal und überbrückte die Wartezeit, indem sie den blühenden Kirschbaum bewunderte, der im Vorgarten stand. So bekam sie auch nicht mit, wie Kaito sie vom Fenster seines Zimmers aus beobachtete. Während dessen öffnete Jî ihr die Tür.

„Guten Abend Aoko!“ wurde sie freundlich begrüßt.

„Hallo Jî!“, grüßte die Angesprochene fröhlich lächelnd zurück.

„Der junge Herr ist in seinem Zimmer.“ bekam Aoko auch gleich die Antwort auf ihre noch ungestellte Frage.

„Dankeschön Jî!“ sagte Aoko, bevor sie ihre Jacke und Schuhe auszog und die Treppe zu Kaitos Zimmer hochging. Auf halbem Weg die Treppe herauf kam ihr Kaito jedoch schon entgegen.

„Aoko? Was machst du denn hier?“ fragte er gespielt überrascht.

„Ich komme mit Mathe nicht weiter“, seufzte sie.

Kaito zuckte nur mit den Schultern. „Na dann komm“, war seine gleichgültige Antwort. Gemeinsam gingen sie in sein Zimmer. Aoko sah sofort die Bücher und Hefte auf dem kleinen Tisch liegen.

„Du bist auch gerade bei Mathe?“ fragte sie skeptisch.

„Ja, mehr oder weniger“, kam Kaitos gemurmelte Antwort, während er sich wieder auf ein Kissen am Tisch sinken ließ.

Aoko setzte sich zu ihm, packte ihre Hefte aus ihrer Tasche und legte sie mit auf den Tisch. Gerade als sie ein Buch aufgeschlagen hatte und zu einer Frage ansetzen wollte, unterbrach sie Kaitos Stimme.

„Was war eigentlich in den letzten Wochen so wichtig, dass du direkt nach der Schule nach Hause musstest? Du hast nie Zeit für mich gehabt. Und seit ein paar Tagen bist du immer so abwesend.“ Seine Augen, die bis eben aus dem weit offenen Fenster geblickt hatten, schauten Aoko nun direkt an.

„Das ist eine lange Geschichte.“ seufzte sie und wich seinem Blick aus.

Zögerlich und mit Pausen erzählte Aoko jedes Detail von ihrem kleinen Abenteuer. Kaito hörte ihr aufmerksam zu und gab ab und zu ein zustimmendes Wort von sich. An einigen Stellen zuckten seine Mundwinkel nach oben, was Aoko allerdings nicht mitbekam, so sehr war sie in ihre Erzählung vertieft. Natürlich viel auch häufiger der Name Yuki, denn die Namensgebung erwähnte sie schon ganz am Anfang ihres Berichts.

„Und dann bin ich mit Yuki…“, endete Aoko abrupt und blickte sich im Raum um. „Hast du das auch gehört?“

„Was gehört?“ fragte Kaito gelangweilt und spielte mit einem Bleistift, den er über seine Finger gleiten ließ.

„Na dieses Geräusch“, sagte Aoko genervt und stand auf. „Es hört sich an wie ein Flattern.“

Als das Geräusch näher zu kommen schien, drehte sich Aoko erschrocken um. Als auch schon eine kleine weiße Taube auf ihrer Schulter landete. Sofort wirbelte Aoko herum.

„Kid ist hier. Das ist seine Taube. Das ist Yuki. Sie muss auf ihren Namen reagiert haben“, richtete sie sich aufgeregt an Kaito.

Doch dieser sah Aoko nur an und wirkte überhaupt nicht überrascht, im Gegenteil, er lächelte sie einfach nur an. Das bekam sie gar nicht mit. Sie blickte sich nur hektisch im Zimmer umher. So bemerkte sie auch nicht, wie sich Kaito erhob, auf sie zu kam und direkt vor ihr stehen blieb. Erst als Kaito ihre Hand nahm, trafen sich ihre Blicke und schon im nächsten Moment spürte sie seine Lippen auf ihren. Jedoch ließ er Aoko keine Zeit darauf zu reagieren. Als Kaitō Kid stand er auf einmal vor ihr und grinste sie an.

„Du…“, versuchte sie etwas zu sagen, doch ihre Stimme versagte ihr.

Sie konnte ihn einfach nur anstarren. Diesen Augenblick ergriff Kid.

„Vielen Dank nochmal für deine führsorgliche Pflege von Yuki“, bedankte er sich ein weiteres Mal mit einem Handkuss. „Das ist übrigens ein sehr schöner Name.“

Mit gezogenem Zylinder verbeugte er sich und entschwand auch schon im nächsten Moment durch das Fenster in den Abendhimmel.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  IchBinLiebe
2016-12-27T19:46:40+00:00 27.12.2016 20:46
Ich finde das es schöner u. besser geworden ist.
Mir gefallen die Formulierungen besser und auch die hinzugefügten Szenen.


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