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Wolf & Nerz

von

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Nerz (2)

Als der Mann auf mich zugerannt kommt, habe ich meine linke Hand längst erhoben und auch mehr als ausreichend Zeit, sein Herz anzupeilen, um den Stromstoß genau zu platzieren – Menschen sind ja so unglaublich langsam – aber da sehe ich im Augenwinkel, wie ein anderer Mann in einem dunkelroten Ledermantel Anstalten macht, dazwischen zu hechten und ich senke meine Hand schnell, um nicht den falschen außer Gefecht zu setzen.

Der Mann wirft sich zwischen mich und den Riesen und in nur einem Sekundenbruchteil liegt letzterer wieder am Boden zu meinen Füßen.

„Redet keinen Unsinn. Seht ihr vielleicht irgendeine Ähnlichkeit zwischen diesem Mädchen und dem auf dem Fahndungsfoto?“, fragt mein Retter in die Runde. „Der Kerl ist sturzbetrunken. Nur deshalb lässt er sich so leicht auf die Bretter legen.“

Sein Stunt scheint ihn weder außer Atem gebracht, noch ihm allzu viel Kraft abverlangt zu haben, obwohl der Riese fast doppelt so groß und mindestens drei mal so schwer ist, wie er selbst. Trotzdem hat er ihn mit einer geschickten Bewegung zu Boden geworfen.

Offensichtlich beherrscht er einige Techniken, für die man weniger Kraft als Geschick braucht, um einen Gegner außer Gefecht zu setzen, wie die, von denen ich mal in einem Buch über Kampfsportarten gelesen habe.

Er hat mir den Rücken zugewandt, deshalb sehe ich nur seinen Hinterkopf, dessen dunkelbrauner Schopf von einer schwarzen, etwas abgenutzt wirkenden Mütze verdeckt ist, aber seine Stimme ist angenehm und ich habe das unwirkliche Gefühl, sie schon einmal gehört zu haben.

„Androiden sehen doch ganz anders aus. Macht die Augen auf, das hier ist ein ganz normales Mädchen, das sieht man doch sofort.“

Sein Ton klingt nicht unbedingt leidenschaftlich, und ich kann kleine Unregelmäßigkeiten darin feststellen. Scheinbar hat er keine Ahnung, ob das, was er gerade gesagt hat, der Wahrheit entspricht. Aber das ändert nichts daran, dass er mich gerade verteidigt hat.

„Ach ja? Und wie kommt es, dass ich sie hier noch nie gesehen habe?“, fragt die Frau, die mich zuvor angeschrien hat. Ihr Teint ist irgendwie grau und ihr Blick ist verschleiert.

Ihre Gesundheit scheint nicht die beste zu sein, aber ich bezweifle, dass sie das Geld für einen Arztbesuch aufbringen kann.

„Das ist doch wirklich verdächtig, oder? Kaum fängt die Regierung an, Androiden zu jagen, taucht hier ein unbekanntes Mädchen mit unmöglichen Kräften auf?“

Mein Helfer, der sich schützend vor mir aufgebaut hat, zögert kurz. „Was weiß ich. Vielleicht ist sie ein Flüchtling aus einer anderen bewohnbaren Zone irgendwo weit weg von hier und vielleicht hat sie seit ihrer Kindheit viel Sport getrieben. Aber jedenfalls...“

Die Tür schnellt auf und ich mache einen Satz zur Seite, um nicht von ihr getroffen zu werden. Dabei rempele ich meinen Retter an, der kurz ins Schwanken gerät, sich aber schnell wieder fängt.

Männer in silbern glänzenden Anzügen stehen im Eingang. Ihre Gesichter sind hinter Helmen verborgen, aber natürlich weiß jeder, wer sich dahinter verbirgt.

Ich spüre, wie mein biologischer Teil in Panik gerät und alles in mir schreit, dass ich weglaufen soll, aber äußerlich bleibe ich ganz ruhig und lasse nicht zu, dass mein Gesicht mich verrät.

Die Soldaten sind gekommen.

„Wir sind Teil des Sondereinsatzkommandos der Abteilung für Bereinigung von humanoiden Maschinen. Bei uns ist ein Hilferuf von diesem Lokal eingegangen“, erklärt der zuvorderst stehende Soldat. Er hat eine tiefe Stimme, die durch seinen Helm blechern verzerrt klingt.

Mein Retter stolpert ein paar Schritte zurück, als er die Männer in Silber erblickt, und sieht sich nach dem Tresen um.

„Moth...!“

„Tut mir leid, Varg. Ich habe keine Ahnung, in was für einer Verbindung du mit diesem Mädchen stehst, aber ich kann keinen Ärger gebrauchen. Wenn sich herausstellt, dass sie wirklich so dringend gesucht wird, könnte es Schwierigkeiten geben“, erklärt der Wirt entschuldigend und ich sehe wie die Schultern des Mannes neben mir sich anspannen.

Varg, also.

Noch immer habe ich keinen Blick auf sein Gesicht erhaschen können, aber das ist jetzt auch nebensächlich. Ich will mich den Soldaten zu erkennen geben, denn Doktor Azar hat mir erklärt, dass ich den Befehlen von Menschen unter allen Umständen gehorchen soll. Und wenn die Regierung nach mir sucht, sehe ich das als indirekten Befehl, mich ihnen zu ergeben. Wenigstens weiß ich jetzt auch, warum die Soldaten gekommen sind und versucht haben, ins Labor einzudringen. Ich will mich dem Befehlshaber gerade vorstellen, aber da dreht Varg sich nach mir um und blickt mir ins Gesicht – und die Welt fängt an, sich zu drehen.

Ich kenne dieses Gesicht, schießt es mir durch den Kopf und ich spüre, wie eine heiße Welle meinen Körper überschwemmt. Ich kann mich nicht an die genauen Umstände unseres Treffens erinnern, aber ich sehe ihn vor mir, wie in einem vergangenen Traum. Und plötzlich kommt mir auch sein Name seltsam vertraut vor. Varg. Wo habe ich das schon mal gehört...?

Manche Menschen glauben an Liebe auf den ersten Blick. Ich denke nicht, dass es so etwas gibt.

Trotzdem ist mein erster Gedanke, als sich unsere Blicke jetzt treffen, dass ich noch nie zuvor etwas so schönes gesehen habe und mich durchströmt eine tiefe Zuneigung zu dem Besitzer dieses Gesichts.

Seit meiner Flucht aus dem brennenden Labor habe ich ungewohnt viele Gesichter gesehen und mich über ihre Unterschiedlichkeit und die versteckten, schönen Detail gefreut. Aber keines hat mich so verzaubert, wie es dieses gerade tut. Ein Gefühl, das ich nicht zuordnen kann, macht sich in mir breit und gleichzeitig höre ich Alarmglocken klingeln.

Das ist jetzt völlig unangebracht! Reiß dich zusammen und konzentriere dich auf die Situation!

Aber alles, was ich tun kann, ist ihn weiter anzustarren.

Flackernd legt sich die Erinnerung eines jüngeren Gesichts über das vor mir, aber das Bild verschwindet so schnell, wie es gekommen ist.

Woher kenne ich ihn?

„Wo ist die Androidin?“, höre ich den Soldaten irgendwo im Hintergrund ungeduldig fragen, während ich eine Reise durch Vargs Gesicht antrete. Nach einander bewundere ich seine in alle Richtungen abstehenden Haare, seine buschigen, ungleichmäßig wachsenden Augenbrauen, seine zarte Nase, die schön geschwungenen, weichen Lippen, sein schmales Kinn mit dem winzigen Bärtchen und den Bartstoppeln, die sich bis zu den Koteletten an seinen Schläfen hochziehen, seine kleinen, aber schön geformten Ohren – nur um wieder bei seinen klaren, graublauen Augen hängen zu bleiben, die meinen Blick starr erwidern.

Es ist schon eine Weile her, dass er das letzte Mal geblinzelt hat und meine Datenbank sagt mir, dass das für Menschen eher ungewöhnlich ist. Diese Information ignorierend betrachte ich fasziniert die dunklen Schatten unter seinen Augen, die die Farbe seiner Iris noch unterstreichen und das kühle Blau hervorheben.

„Sie steht genau vor Ihnen“, sagt da eine andere Stimme und versetzt mir einen Stoß in den Rücken, der mich vorwärts stolpern lässt, sodass ich plötzlich genau vor der Nase des befehlshabenden Soldaten stehe.

Auch wenn ich seine Augen durch das dunkle Visier seines Helmes nicht sehen kann, spüre ich, wie er mich prüfend mustert.

Was auch immer Schuld daran ist, mein Vorsatz, mich zu stellen, ist vergessen.

Plötzlich bin ich mir ganz sicher, dass ich mich nicht stellen, nicht sterben will.

Doktor Azars Anweisungen zum Trotz wünsche ich mich jetzt weit weg von allen Soldaten, die diese Stadt zu bieten hat.

„Passt zu keinem unserer Fahndungsfotos“, gibt der Soldat schließlich knapp zur Antwort.

„Sie wissen, was es kostet, eine Sondereinheit umsonst herzubestellen?“

„A-aber“, stottert der Wirt noch, doch ich nutze die Gelegenheit und stürze mich an den Soldaten vorbei ins Freie. Kaum bin ich über die Schwelle, nehme ich etwas Anlauf und springe auf das nächste höhere Gebäude, um über die Dächer zu fliehen.



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