Überraschende Erkenntnisse
Die Blicke, die Kei bekam, als er die Ecke im Gang erreichte, in der sich Karasunos Jungen-Volleyballteam niedergelassen hatte, rangierten überall zwischen Erstaunen und Erleichterung. Yamaguchi strahlte, als versuchte er, Hinata Konkurrenz zu machen (absolut unmöglich), und Sawamura und Sugawara tauschten einen Blick, der Kei viel zu unangenehm an ein Elternpaar erinnerte, das erleichtert darüber war, dass ihr Problemkind seine Trotzphase überwunden hatte.
Es dauerte keine zehn Sekunden, bis Nishinoya auf ihm hing.
„Tsukishimaaaaaaaa! Du hast dir ganz schön Zeit gelassen! Hast du wenigstens dein Trikot dabei?!“
Nein. Hatte Kei nicht. Warum sollte er auch? Aber ehe er das hätte sagen können – zuerst pflückte er ohnehin Nishinoya von sich und stieß ihn achtlos beiseite –, räusperte Yamaguchi sich verlegen. Er sah kleinlaut aus, als er zu Kei hinüberblinzelte, das Strahlen war ihm vergangen.
„Um. Tsukki, deine Mutter bringt es vorbei.“
Nach diesem kurzen Austausch war alles wie immer.
Kei hätte auch nichts anderes erwartet. Während sie da hockten, teilweise noch mit Dehnübungen beschäftigt, teilweise ausruhend, wurde die Startaufstellung für das nächste Match durchgegangen. Es erstaunte niemanden, dass Narita seinen Platz auf der Bank zurückbekam und Kei stattdessen eingesetzt wurde. Sawamuras Blick, als Ukai die Aufstellung verkündete, war ernst und mahnend, und Kei ignorierte es vollkommen.
Es war ihm egal, was sein Captain von ihm dachte. Oder der Rest des Teams. Es war nicht, als hätte er es nötig, auf dem Spielfeld zu stehen und live dabei zu sein, wenn Karasuno nun verlor. Datekou war ihm ein Begriff – ein Begriff, der vor allem davon ausging, Dass Datekou weit stärker war als Karasuno.
Das Team zerstreute sich, nachdem die organisatorischen Belange geklärt waren. Yamaguchi verkündete, er würde Kei begleiten, als der schließlich zum Haupteingang der Halle trottete, um dort Mutter und Sportbekleidung in Empfang zu nehmen. Kei sparte sich den Protest, weil es letztlich doch vertrauter war, Yamaguchi bei sich zu haben. Nach einem kurzen Abstecher in die Umkleiden verschlug es sie nach draußen, wo sie im Schatten eines Baumes ein leichtes Mittagessen zu sich nahmen.
„Weißt du, Tsukki, ich bin froh, dass du zurück bist.“
Yamaguchi sah zu ihm hinüber, und als er sich sicher war, dass er Keis Aufmerksamkeit hatte, grinste er bis über beide Ohren.
„Es fehlt einfach etwas ohne dich!“
„Ich bin sicher, du bist der einzige, der das so sieht.“
Yamaguchi sah nicht überzeugt aus. Kei war umso überzeugter.
„Ich denke, Hinata mag dich“, fuhr Yamaguchi fort, während er mit spitzen Fingern sein Essen zerrupfte. Keis Augenbraue wanderte in ungeahnte Höhen, während er Yamaguchi ungläubig betrachtete.
„Im Ernst! Aber gut, Hinata mag ja auch jeden?“
„Ihr seid ja ganz schön dicke geworden.“
Es hatte kein Vorwurf sein sollen, nicht wirklich, denn im Endeffekt war es Kei doch egal, was Yamaguchi tat, aber es kam vorwurfsvoll heraus und Yamaguchi machte es noch schlimmer, weil er beinahe ertappt blinzelte, ehe er den Blick senkte.
„Er–“ – „Halt die Klappe, Yamaguchi.“
Was auch immer er war, Kei wollte es nicht hören. Mit einem Ruck erhob er sich von seinem Platz, nachdem sein Essen längst vertilgt war. Dehnübungen zu machen war eine gute Möglichkeit, Yamaguchi das Gesprächsende zu signalisieren, ohne ihm noch mehrmals den Mund verbieten zu müssen. Er sah aus, als wolle er sich unbedingt rechtfertigen wegen Keis unabsichtlichem Vorwurf.
Dabei war es doch ganz alleine sein Ding, mit wem er sich anfreundete. (Kei musste seine Freunde ja nicht mögen.)
Auf dem Spielfeld zu stehen war seltsam. Kageyama, natürlich, ignorierte Kei, so gut es möglich war. Davon ab war alles wie immer: Nishinoya war ein Idiot, aber in seiner Idiotie schaffte er es, die angespannte Stimmung mühelos wieder zu lockern. Kei merkte erst im Nachhinein, wie sehr ihn die Stimmung selbst tangiert hatte.
„Wir gewinnen“, murmelte Hinata. Es schien, als wolle er sich selbst davon überzeugen. Neben ihm stand Kageyama. Er nickte, fest entschlossen.
„Wir gewinnen.“
Kei schnaubte angewidert. Sie waren doch beide ekelhaft. Ein Blick auf ihr gegnerisches Team sollte doch zur Genüge zeigen, dass sie keine Chance hatten – Datekous Spieler waren größtenteils wahre Hünen, und sie waren nun wirklich nicht umsonst als der Eiserne Wall bekannt.
„Tsukki. Viel Erfolg!“
Mit Ende der Aufwärmphase schließlich war es vorbei mit den Glückwünschen und guten Zusprüchen, und während sich die Spreu vom Weizen trennte – der unnütze Ersatz auf die Bank, der Rest aufs Spielfeld –, fragte Kei sich eigentlich nur, wieso er sich darauf eingelassen hatte, hier mitzumachen. Vielleicht war es tatsächlich wegen Kageyama. Kei wollte sehen, wie seine Hoheit ihren Stolz herunterschluckte und zähneknirschend im Team mit ihm spielte – oder wie er wahlweise unterging, weil er es nicht schaffte.
Allerdings kristallisierte sich schnell heraus, dass es keine teaminternen Probleme brauchte, damit sie scheiterten – Datekou waren eindeutig das bessere Team. Während Kei selbst noch auf der Bank saß und beobachtete, weil Libero Nishinoya seinen Platz auf dem Feld innehatte, wurde klar deutlich, dass Karasuno weit unterlegen war. Vielleicht mochte sich etwas ändern, wenn Kageyama und Hinata auf ihre Freak-Angriffe zurückgriffen, doch Kei sah keine Möglichkeit, zu gewinnen.
Ihm konnte es egal sein. Er hatte nichts anderes erwartet.
Er verstand wirklich nicht, wie man sich so sehr reinhängen konnte für etwas, das einfach nicht funktionierte.
„Tsukki. Sie planen etwas.“
Yamaguchis Schulter drückte gegen Keis, als er sich zu ihm hinüberlehnte, um ihm zuzuwispern. Sie waren Hinata und Kageyama, die gerade etwas abseits zusammengerottet standen. In dem Lärm der Sporthalle konnte Kei ihr Gespräch nicht hören, aber Hinatas ganze Körpersprache drückte Aufregung und Begeisterung aus, und zumindest das freudige Krähen schwebte bis zu ihm hinüber, auch wenn die Worte auf dem Weg verloren gingen.
Kageyama lächelte.
Kei hatte ernsthaft nicht gewusst, dass er das konnte.
Kei wollte gar nicht erst glauben, dass er es konnte. Wann immer er an Kageyama dachte, hatte er das aggressive bis hasserfüllte Gesicht des anderen vor Augen, mal erzürnt über einen bösen Spott, mal wirklich eiskalt angewidert, wenn man ihn zu weit trieb.
„Tsukki?“ – „Halt die Klappe, Yamaguchi.“
Es konnte Kei eigentlich doch auch egal sein.
Nishinoya schlug ihm auf die Schulter, als er Plätze mit Kei tauschte. Als wären sie alte Freunde. Oder Teamkameraden. Beides war lächerlich, und es nervte Kei.
„Euer Hoheit“, begann er, kaum, dass er in Kageyamas Hörweite angekommen war, „Tut mir den Gefallen und spielt nicht so nah ans Netz. Ich kann dankend darauf verzichten, geblockt zu werden.“
Kageyama sah ihn an, und im ersten Moment sah er eisige Ablehnung in den blauen Augen. Es schien einen langen Moment zu dauern, bis sich Kageyama selbst daran erinnerte, dass er beschlossen hatte, Kei zuzuspielen, und dann wandte er mit einem unbestimmten Brummen den Blick ab.
„Hah?“
Nicht, dass Kei das so stehen lassen würde. Er verkniff sich ein Grinsen, während er augenscheinlich gleichmütig (und innerlich sehr amüsiert) beobachtete, wie Kageyama sich irgendwie doch noch ein paar Worte abrang: „Ich hab gesagt, ich bin einverstanden.“
„Du solltest deutlicher reden. Aber natürlich. Ihr nehmt nicht gerne Befehle des Pöbels an, oder, Euer Majestät?“
Wäre Tanaka nicht sofort dazwischen gegangen, vielleicht hätte Kageyama zugeschlagen. Vielleicht hätte er sich auch im letzten Moment wieder besonnen. In jedem Fall stellte Kei fest, dass er dieses aufgebrachte und wutentbrannte Gesicht um einiges angenehmer fand als das völlig deplatzierte Lächeln, das er vorhin gesehen hatte.
Und dann flog der Ball.
So egal Kei Volleyball auch sein mochte, jetzt, wo er mittendrin dabei war, nahm er es ernst genug, dass ihm Kageyama und alle lapidaren Spötteleien erst einmal egal wurden. Das hatte nach dem Spiel noch genauso gut seinen Platz.
In gewisser Weise war es Routine. Volleyball bestand schlussendlich eben doch nur aus den gleichen Abläufen, die immer und immer wieder in verschiedenen Variationen abgespult wurden, und sie waren Kei vertraut. Selbst der Umstand, dass Hinata fast dauerhaft alle Aufmerksamkeit auf sich zog, war so natürlich geworden in der kurzen Zeit, in der Kei dieses nervige Kind kannte, dass es längst eine Selbstverständlichkeit war.
Es störte Kei nicht.
Hinata war ein ganz anderes Kaliber als er selbst. Mit dem kleinen Zwerg wollte er sich nicht vergleichen, denn er wusste, dass das Resultat dessen einfach nur erbärmlich wäre und das brauchte er nicht. Seine Position, wie sie war, reichte ihm. Den Ärger abwenden, solange Hinata in der hinteren Reihe war und auf seinen Einsatz wartete, und schließlich zusehen, wie Hinata sich zurück ins Rampenlicht drängelte, sobald er wieder vor dem Netz platziert war.
Sie gewannen das Spiel. Ungefähr nach der Hälfte der Zeit hatte Kei aufgehört, es für eine Unmöglichkeit zu halten, und schließlich hatte er jeden Zweifel beiseitegeschoben, dass sie scheitern könnten.
Sie gewannen. Sahen sich Aoba Jousais Match an. Fuhren schließlich zurück zur Schule, um ein letztes Meeting vor dem Spiel am nächsten Tag abzuhalten, das sie gegen Aoba Jousai bestreiten mussten.
Auf der Busfahrt war es ruhig. Abgesehen von Kei schliefen sie alle. Nach zwei Spielen vermutlich wenig verwunderlich, dass sie müde waren. Nach nur einem Spiel wenig verwunderlich, dass Kei nicht eine ähnlich tiefe Erschöpfung verspürte. Er lehnte in seinem Sitz, starrte aus dem Fenster, ließ seine Gedanken wandern. Kageyama sah selbst im Schlaf aggressiv aus.
Es erstaunte Kei nicht.
Jetzt im Nachhinein konnte er sich gar nicht mehr vorstellen, dass dieses Gesicht zu einer freundlichen Regung fähig war.
Hatte Kageyama nicht selbst beim Küssen noch aggressiv ausgesehen? (So genau hatte Kei gar nicht hingeschaut, wo er darüber nachdachte.)
Auf das Meeting folgte Feierabend. Der altvertraute Weg von der Schule hinunter am Sakanoshita-Markt vorbei, bis sich ihre Wege ganz selbstverständlich an der immer gleichen Straßenecke trennen würde. Die Stimmung war euphorisch von den vorangegangenen Siegen, heiter, ausgelassen. Sugawara lächelte, als Kei zufällig seinen Blick auffing. Als wollte er wortlos sagen es ist gut, dass du zurück bist.
Allein dafür wäre Kei am Liebsten wieder gegangen.
Er ging nicht.
Er spazierte weiter mit diesen Leuten den Weg entlang, hörte ihren Gesprächen zu, ohne zuzuhören, und ignorierte Yamaguchis langweiligen Smalltalk, dem er noch nie wirklich aufmerksam gefolgt war, seit er ihn kannte. Hinatas und Nishinoyas Geschrei übertönte sie ohnehin alle.
„Tsukishima.“ – „Hmmmm? Euer Majestät spricht freiwillig mit dem Pöbel? Ihr werdet doch nicht etwa krank?“
Kageyamas Blick hätte die Hölle zufrieren lassen können. Kei grinste, verschränkte artig die Hände hinter dem Rücken.
„Bitte, sprecht doch. Ich bin ganz Ohr für Eure königlichen Sorgen.“
Mit einer Geste wies Kageyama weg von der kleinen Gruppe. Zu der Straßenlaterne, unter der sie schon einmal gestanden hatten. Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah so sehr danach aus, dass er nicht hier sein wollte, dass Kei sich ernsthaft fragte, wieso er das Gespräch überhaupt initiiert hatte. Aus der Ferne hörte er Hinata hinüberbrüllen, dass sie sich beeilen sollten; offensichtlich wollte er noch etwas von Kageyama.
„Oikawa-San ist extrem stark. Er wird jede Schwäche ausnutzen, die er findet. Egal, wie klein sie ist.“
Es war nicht das erste Mal, dass Kei hörte, wie unglaublich schrecklich Oikawa Tooru war. Er hob unbeeindruckt die Augenbrauen. Was auch immer die Warnung ihm sagen wollte, es zog an ihm vorbei, und er war nicht bestrebt, der Bedeutung von Kageyamas Worten hinterher zu hetzen. Sein Gegenüber verzog die Mundwinkel. Unwillig. Drucksend. Kageyama wollte nicht sprechen. Schon den ganzen Weg über war er still gewesen, auch wenn Kei das über allen anderen Lärm nicht allzu intensiv bemerkt hatte.
Er seufzte unwirsch.
„Was willst du mir sagen?“
„Du bist eine Schwäche.“