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No Princess

von

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Der Tengu

„Es war verrückt.“ flüsterte eine Stimme entsetzt. Annas Augen waren der Tür abgewandt. Sie starrte aus dem Fenster, vor welchem gerade ein Schneesturm tobte. Sie lag in ihrem Bett. Die weiche Matratze war mit einem sanften, violetten Laken bezogen und die dicke Daunendecke, die Anna wärmte, war ein tieferes Lila. Nur ihr Rücken lag entblößt da. Er war gerötet und wund.

„Siehst du das? Sie hat mich gewürgt. Ich hab sogar angefangen zu bluten.“ knirschte Mirai und rieb sich über seine Kehle. Auch Akira rieb sich über die Brust, da, wo Anna ihre Hand vergraben hatte. Liam saß an der Bettkante und wischte über Annas blutverschmierten Rücken. Immer noch formten sich Linien, doch nun, zwei Tage nach dem Tod ihrer Mutter, wurden es weniger. Auch das Tempo, in dem sie sich bildeten, wurde langsamer. Der Schmerz verblasste allmählich und zog sich aus dem restlichen Körper zurück in ihren Rücken.

„Also hat sie ihre Kräfte noch...“ Ren klang nachdenklich, während er Liam dabei beobachtete, wie dieser über die zerfetzte Haut fuhr.

„Nicht nur das. Als sie ihren Ausbruch hatte, wurden ihre Augen komplett schwarz, so wie Eves.“ seufzte Mirai genervt. Annas Rücken zuckte unter Liams Berührung zusammen.

„'Ausbruch' beschreibt es ziemlich gut.“ warf Akira nun ein. „Sie konnte es nicht kontrollieren. Sie war fast ohnmächtig. Ich musste sie ausknocken, damit wir die Sache halbwegs heil überstehen. Ich kann nicht glauben, dass sie tatsächlich geschwebt hat...“ Man hörte das erstaunte und anerkennende Grinsen aus seiner Stimme. Anscheinend war er mehr stolz auf seine Königin, als von ihr schockiert. Annas Mundwinkel zuckten für eine Millisekunde nach oben.

„Wieso hat sie uns überhaupt verschwiegen, dass sie ihre Kräfte noch hat?“ wollte Mirai nun wissen.

„So, wie ich Anna einschätze, hatte sie ihre Gründe. Dieses Mädchen spielt lieber mit verdeckten Karten. Und hättet ihr einen plötzlichen Rivalen würdet ihr auch nicht wollen, dass er eure besten Tricks kennt oder?“ seufzte Ren nun und ging zum Mahagoni-Tisch, um sich etwas Tee einzugießen, wurde jedoch von der Türklingel unterbrochen, die im Erdgeschoss ertönte. „Ich geh' gucken, wer es ist. Passt auf sie auf.“

Die Tür ging auf und schloss sich wieder. Für einige Sekunden trat Stille ein.

„Und? Bist du beruhigt?“ fragte Akiras Stimme nun. Anscheinend wusste Mirai nicht, wie er antworten sollte. Immerhin hatte er sich Sorgen gemacht, dass Anna keine echte Königin ist oder eine Königin ohne Macht. Er hatte sich Sorgen gemacht, sie würde nur ein Mensch sein, sobald ihre Kräfte komplett nach gaben. Aber das, was er fühlte, was in seinem Herz für Anna schlug, hätte es vielleicht nichts ausgemacht… Er seufzte genervt.

„Es ist gut, dass sie ihre Kräfte noch hat...“ Anna wollte das im Moment nicht hören. Sie zog das Kopfkissen weiter unter ihren Körper und verharrte dann wieder in ihrer Position. Akira und Mirai fielen zurück ins Schweigen, aus Sorge, sie hätten das Mädchen geweckt, doch dann öffnete sich die Tür erneut.

„Ich habe Ihnen gesagt, dass sie zur Zeit nicht zur Verfügung steht, Inspektor Kobayashi.“ Ren klang kühl und ungeduldig.

„Das ist mir egal. Ich versuche Sie seit zwei Tagen zu erreichen und ...“ Doch die schroffe Stimme des Inspektors brach ab. Sein Blick fiel auf Liam, dessen Waschlappen mit Blut getränkt war. Sofort wanderte der Blick auf Annas nackten Rücken. „Was geht hier vor sich?“ Entsetzen machte sich in dem Mann breit, als er Annas blutige Laken sah.

„Das sagte ich Ihnen bereits. Es geht ihr nicht gut.“ seufzte Ren nun und rieb sich den Nasenrücken.

„Sie ist leicht suizidal.“ fügte Akira gelassen hinzu. Anscheinend fand er den Zeitpunkt geeignet, Witze zu reißen. Der Inspektor wirkte geschockt.

„Sie sollten sie in ein Krankenhaus bringen...“ begann er, doch Ren wedelte mit den Händen.

„Wir haben die Situation unter Kontrolle.“ wies er ihn ab.

„Nun gut…“ murrte Herr Kobayashi schließlich widerwillig. „Dennoch habe ich einige Fragen, bei denen Sie Herren mir vielleicht helfen könnten. Die erste Frage wäre: Haben Sie eine Möglichkeit, Herrn Kurosawa zu erreichen? Ich schaffe es nicht. Ich dachte, wenn vielleicht seine Tochter anrufen würde, dann...“

„Wir kennen ihren Vater nicht persönlich und haben ihn auch nie getroffen.“ antwortete Ren sofort. Der Inspektor seufzte. Rens kurze und barsche Antworten machten es nicht einfach für ihn in diesem Fall weiter zu kommen.

„Nun gut, zur nächsten Frage. Ich weiß, dass ich das schon einmal gefragt habe, aber: Haben die Kurosawas Feinde?“ Auf diese Frage hin konnte niemand sofort antworten. Feinde? Eve, ihre ganzen Gefolgsleute, das Schattenvolk – reichte das? Doch Ren fand schnell seine Fassung wieder.

„Wie Sie bestimmt wissen, hat Herr Kurosawa eine sehr erfolgreiche Firma, die sogar nach China expandiert ist. Über die Jahre haben sich natürlich Beschwerden angesammelt wegen der zahlreichen Kündigungen, die ausgesprochen wurden, als seine Firma andere geschluckt hat. Doch da ich nicht für Herrn Kurosawa arbeite, kann ich Ihnen keine Namen nennen.“ Der Inspektor machte sich hastig ein paar kraklige Notizen. Anscheinend hatte er nicht darüber nach gedacht. Tatsächlich schien es, als würde Ren seinen Job übernehmen und essenzielle Informationen sammeln. Dann seufzte er erneut.

„Also läuft es doch auf ihn hinaus...“ murmelte er zu sich und Ren nickte.

„Nun gut. Dann müsste ich Sie noch fragen, ob Sie ein Alibi für die Tatzeit haben. Alle von Ihnen.“ Die Frage war absurd, Mirai und Akira wussten nicht, ob sie lachen durften. Fassungslos schauten sie den Herren von der Polizei an.

„Ich war bei meinem Vater in China. Der Herr am Bett war bei mir.“ erklärte Ren. Der Blick des Inspektors schwenkte zu Akira und Mirai.

„Wir waren mit Anna auf einem Wochenendtrip zu ihren Verwandten.“ antwortete Mirai wie aus der Pistole geschossen.

„Gibt es dafür irgendwelche Zeugen oder Beweise?“ hakte der Mann nach. Mirai überlegte. Es gab nicht wirklich irgendwelche Zeugen und selbst wenn sie mit einem Schaffner oder ähnlichem mal gesprochen hatten, hatten sie wohl kaum einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

„Ich bin mir sicher, dass es Kameraaufnahmen von den Bahnhöfen gibt, an denen sie Halt gemacht hatten.“ seufzte Ren sofort und wirkte allmählich genervt. „Ist das alles?“ Auch der Inspektor schien genervt – aber eher durch Rens Ungeduld.

„Eine letzte Sache noch.“ fauchte er leise, um Anna nicht zu wecken. „Wusste jemand, dass Sie drei über das Wochenende nicht Zuhause sind?“

Die Anwesenden schüttelten den Kopf. „Wir haben es niemandem gesagt. Warum sollten wir auch.“ Der Inspektor schien verärgert. Verständlich – er hatte kaum Informationen aus diesem Gespräch erhalten.

„Soll ich Ihnen ein Taxi rufen? Bei diesem Wetter ist es gefährlich, zu Fuß unterwegs zu sein.“ Ren zeigte wieder ein charmantes Lächeln, doch der Inspektor wies das Angebot ab. Sein Auto wartete unten vor der Tür. Der Hausherr geleitete seinen ungebetenen Gast zur Tür und verschwand wieder.

„Es ist nicht nett zu lauschen.“ seufzte Liam und ließ den Waschlappen in ein Plastikbecken gefüllt mit heißem Wasser fallen. Akira und Mirai schauten zu ihm.

„Hä? Was meinst du?“ fragte Akira erschöpft und entnervt. Liam deutete mit dem Finger auf Anna und erneut trat ein ekliges, ungewolltes Schweigen ein. Anna drehte sich um. Die zwei zeigten süße, leicht geschockte Gesichter.

„Weißt du etwas, Anna?“ fragte Liam. Doch wieso fragte er? Er konnte Gedankenlesen. Oder fragte er nur für Liam und Mirai nach? Das Mädchen schwieg. Akira und Mirai gingen nun auf das Bett zu und ließen sich an der Kante nieder.

„Der Typ sollte uns nicht so nerven...“ fauchte Mirai leise und fuhr mit einer Hand über Annas Seite, die unter der Decke begraben war. Akira nickte. Annas Augen wanderten durch den veilchenblauen Raum. Der Pastellton war irgendwie beruhigend, genau so wie der Lavendelduft.

„Yuki hat nach dir gefragt. Am Freitag kommt Shiro an.“ Akiras Stimme war wie Honig für die Seele. Anna nickte. Die Männer fielen zurück in ihr Schweigen. Sie wollten Anna wieder zum Reden bringen, sie dazu bewegen, aufzustehen. Doch wie zwang man ein Mädchen dazu, das seine Mutter verloren hatte, nicht mehr zu trauern? Würde ein „Kopf hoch“ ausreichen? Oder wäre es unpassend gewesen? Liams große, weiche Hand streichelte die blonden Haare. Es wäre unpassend. Das wussten alle. Jeder trauerte auf seine eigene Weise und auch, wenn Anna noch wochenlang in dem Bett liegen und weinen würde, würde ihr niemand Vorwürfe machen. Sie hatten nicht das Recht dazu.

„Wieso hast du uns nicht erzählt, dass du deine Kräfte noch hast?“ fragte Akira nun leise. Anna schwieg.

„Anna… Erklär's uns.“ Auch Mirai wollte es wissen. Doch Liam hob seine Hand. Dieses Thema stand gerade nicht zur Diskussion.

„Iori.“ Es war ein Flüstern. Annas Hals gab nicht mehr her – Er war trocken und heiser. Er tat bei jedem Wort weh, das sie sprechen wollte, als würde er explodieren. Als würde sie sofort anfangen zu weinen, sobald sie sprach. Alle drei schauten sie verwirrt an. „Ich habe Iori erzählt, dass ich am Wochenende bei Verwandten sein würde.“

Donnerstag, 06. Oktober. Die Schule war in Aufruhr. Die Wahlen für die nächste Schülervertretung stand kurz bevor und seit einigen Tagen ließ auch die Queen sich nicht mehr blicken. Die Gang, die der Schule einen schlechten Ruf eingehandelt hatte, war aufgelöst worden. Und Eve war auf dem Höhepunkt ihres Schulalltags.

„Iori, du bist mit Eve befreundet oder? Kannst du uns vorstellen?“ Der Schwarzhaarige war umringt von männlichen und weiblichen Schulkameraden. Seit Tagen ging das nun schon so. Doch er musste sie abweisen – woher kam der plötzliche Beliebtheitsboom her?

„Hat einer eigentlich was von Anna gehört? Sie war seit letzter Woche nicht in der Schule.“ fragte der Junge schnell, um vom Thema abzulenken. Er erreichte genau das, was er damit wollte: Die Traube von Schülern löste sich genervt auf.

„Lass die doch, ist besser, wenn sie nicht zur Schule kommt.“

„Wirklich, sie nervt. Niemand vermisst sie.“ Es waren Kommentare gefüllt mit Hass und Verachtung. Doch das störte den Winddämonen nicht.

„Ich weiß, wo sie ist.“ ertönte eine Stimme. „Tatsächlich wollte ich gerade mit dir darüber reden.“ Ren stand im Eingang zur Klasse. Ein Kreischen ging durch die Menge, Mädchen stürmten auf Ren zu, der sich seit langer Zeit mal wieder hat blicken lassen. Auch Mirai wurde angehimmelt. Sie hatten ganz vergessen, wie beliebt sie eigentlich bei den Menschen gewesen waren. Ren bohrte sich einen Keil durch die Menge und ging auf Iori zu. „Hast du kurz Zeit?“

Iori sprang auf seine Füße. Es war ein Reflex gewesen, aber irgendetwas an Ren passte ihm nicht. Auch dieser Mirai war kein gewöhnlicher Mensch, das konnte er sofort sagen. Eine unglaublich starke Aura umgab die beiden, als würden sie kurz davor stehen, Iori anzugreifen. Dennoch erfasste etwas seine Neugier, das ihn nicht los lies. Er nickte.

Die drei Männer verließen die Klasse und betraten den Weg zum Schülerratsraum. Die großen Türen öffneten sich und gaben Iori einen Einblick in das Leben von den mächtigsten Schülern dieser Institution. Wie von automatisch schloss sich die Eichentür hinter ihm wieder und der Raum schien dunkler zu werden. Er war warm, die Heizungen waren wahrscheinlich voll aufgedreht worden, um den kleinen Blizzard vor der Tür entgegen zu wirken. Die großen Fenster waren mit roten Vorhängen bedeckt und schienen jegliches Geräusch der Außenwelt zu ersticken.

„Was ist denn mit Anna?“ Iori klang naiv. So naiv, dass Mirai die Galle hoch kam. Genervt setzte er sich auf einen der Stühle und begann darin zu kippeln. Seine Hand fuhr sich durch die Haare und massierte die Kopfhaut. Ren wanderte um den Tisch und ließ sich am Kopfende nieder.

„Hmm… Wo soll ich anfangen.“ Seine tiefe, ruhige Stimme gab Iori zum Teil das Gefühl von Sicherheit, andererseits … Langsam krabbelte eine Gänsehaut seinen Nacken hinauf. „Anna geht es nicht gut. Es ist etwas vorgefallen, dass sie nicht erwartet hatte. Sie weigert sich zu essen oder zu trinken und hat seit Tagen nicht geschlafen.“ Ren schloss erschöpft die Augen, seufzte und rieb sich die müden Lider. Iori schluckte. Was war passiert?

„Was ist passiert?“ fragte der Junge sofort intuitiv und gab seinen Gedanken Auslauf. Mirai seufzte.

„Wenn wir das wüssten… Wären wir nicht hier. Sie will es uns nicht sagen.“ fauchte er genervt und trat mit einem Fuß gegen das Tischbein. Verwirrt blickte der Winddämon zum Affenkönig. Was sollte das bedeuten?

„Der einzige, mit dem sie reden möchte oder den sie sehen möchte, ist ihr Bruder.“ erklärte Ren nun und dehnte seinen Nacken, in dem er seinen Kopf zu beiden Schultern abwechselnd zog. Er knackte. „Doch ihr Bruder ist weg und wir können ihn nicht finden. Wir dachten, dass du und Anna vielleicht guten Kontakt habt. Immerhin seid ihr beide in einer Klasse und sie hat uns oft erzählt, wie du sie an ihren Bruder erinnerst.“

Iori schluckte. Das konnte nicht ihr Ernst sein.

„Ich? Sie hasst mich.“ gab er entsetzt zurück. Ren lachte kurz, Mirai seufzte genervt.

„Anna zeigt ihre Gefühle nicht gerne. Sie spielt gern die Harte, weißt du.“ lächelte Ren. Ja, das stimmte. Er hatte gesehen, wie sie mit Kiki und anderen Leuten aus ihrer Gang ganz anders umgesprungen war, als mit ihm. Vielleicht musste sie erst einmal mit Leuten auftauen, um ihnen näher zu kommen. Doch was, wenn es eine Falle war?

Scharf nachdenken. In so einer Situation muss man den möglichen Gewinn gegen den möglichen Verlust abwägen. Was konnte Iori dadurch gewinnen, Anna zu besuchen? Erstens könnte er an Insider-Informationen gelangen, um Eve zu helfen. Wenn Anna wirklich geschwächt war, sollte er nachsehen, ob es stimmte. Und dann könnte Eve ihr den Gnadenstoß verpassen und wäre alleinige Herrscherin. Zweitens: Würde sie wirklich so schwach sein, wäre es ein leichtes, sich in ihr Herz zu schleichen. Eve hatte schon Dei erwählt. Iori war nur bei ihr geblieben, damit er in Zukunft auf der richtigen Seite stehen würde. Die Tengus auf dem Berg wurden weniger und schwächer – er brauchte die Kraft einer Königin, um seine Rasse zu stärken. Das war wahrlich nicht mehr der Fall bei Eve. Sie war keine Jungfrau mehr, ein großer Teil ihrer Mächte war auf Dei übertragen worden. Iori könnte also seine Ähnlichkeit mit ihrem Bruder ausnutzen, um sich in Annas Herz zu schleichen. Er hatte noch eine Chance darauf, dass er die Macht einer Königin kriegen würde, wenn es auch eine falsche sein mochte. Drittens: Wäre es nicht der Fall, dass Anna wie ein kleines, heulendes Mädchen Zuhause saß und nicht mehr aß oder trank, sondern nur so tat, um Iori in eine Falle zu locken, könnte er verhandeln. Er könnte seinerseits Insider-Informationen anbieten, zu denen nur der engste Kreis von Eve Zugang hatte. Auch das würde ihm erneut eine Position zu sichern, die sich im engeren Kreis von Anna befand. Er musste sie nur davon überzeugen, dass sie ihm vertrauen könnte. Schlimmster Fall und letztens: Würde sie weder schwach sein, noch verhandeln wollen, hatte er Flügel. Er könnte fliehen. Niemand könnte ihn jagen, so schnell war er unterwegs.

Iori starrte auf den blank polierten, braunen Tisch. Er reflektierte das schwache Licht der Glaslampe, die an der Decke hing. Er spürte wie Mirai und Ren ihn musterten. Er musste sich entscheiden. Er musste es schnell tun. Das war eine Tür, die ihm geöffnet wurde und sich jede Sekunde schließen würde.

„Ich hab's dir gesagt. Es bringt nichts.“ Mirais lautes und genervtes Stöhnen weckte Iori aus seinen Gedanken. Der Blonde war aufgestanden und schritt wütend auf die Tür zu. Sofort sprang auch Iori auf und schrie, lauter als er eigentlich wollte:

„Nein! Stopp, ich mach es. Ich will Anna auch sehen.“ Mirais Rücken war ihm abgewandt. Er hatte seine Hand auf dem Türknauf ruhen. Er rührte sich nicht. Auch Ren schien sich nicht mehr zu bewegen. Es war, als wäre die Zeit für diesen Moment eingefroren.

„Okay, gut. Es ist wichtig, dass du heute noch vorbei kommst. Ich weiß nicht, wie lange sie das noch durch hält.“ Ren klang erleichtert. Er zückte ein Blatt Papier und begann, eine Adresse aufzuschreiben.

„Hier ist die Adresse. Komm vorbei, wenn du Zeit hast.“ Der große Mann war aufgestanden und drückte dem kleinen Iori das Papier in die Hand. „Bis heute Abend.“

„Wie lief's bei euch?“ Mirai und Ren kamen gerade zu der Haustür hinein und sahen, wie Akira und Liam einige Sachen auf den Boden abstellten. Als Liam nicht antwortete, seufzte Akira und antwortete:

„Gut. Toki hat uns ausrichten lassen, dass Adam ein Tagebuch von Anna hatte, in dem er die wichtigsten Punkte ihrer Entwicklung festgehalten hat. Wir haben auch die Blume und deinen blöden Stein mitgebracht.“

„Oooh.“ entgegnete Mirai erfreut und ging hastigen Schrittes auf Akira zu, der gerade einen riesigen Stein – oder eher kleinen Felsen – aus seinem Rucksack zog.

„Das Ding ist schwer. Was ist das?“ fauchte Akira genervt und warf Mirai seinen Stein zu. Dieser begann zu grinsen.

„Geheimnis.“ Auf diese Antwort hin rollte Akira genervt mit den Augen und begutachtete als nächstes die Blume.

„Sie hat gesagt, sie wäre nicht gewachsen...“ murmelte er wütend. Die Knospe war nicht mehr faustgroß. Sie hatte die Größe einer kleinen Katze.

„Wenn das Ding so viel Kraft aufgesaugt hat, ist es klar, dass Anna schwach wirken würde.“ murmelte Ren. Die Pflanze stank nicht mehr. „Hast du Toki mal darauf angesprochen?“ Er wandte sich an Liam, welcher gerade begann, Annas Wäsche auszupacken und zu falten. Dieser nickte.

„Die Pflanze stößt Miasma aus, wenn sie nicht genügend Energie kriegt. Sie tut das, um in ihrer Schwäche Feinde abzuschrecken. Er meinte, es sei normal.“ antwortete die ruhige, brummige Stimme. „Als ich ihm gesagt habe, wie groß sie ist, hat er gelacht und meinte, ich soll ihn nicht auf den Arm nehmen.“ Mirai rieb sich den Kopf.

„Scheint, als wäre sie mit Anna als Energiequelle zufrieden. Wenn das so weiter geht, hat Anna bald noch ein Kind am Hals.“ Er lachte kurz bei dem Gedanken, dass Anna eine alleinerziehende Mutter sei. Auch Akira musste grinsen, als er ahnte, was durch Mirais Kopf schoss.

„Wie lief's denn bei euch?“ wollte der Rotschopf nun wissen und schloss seinen Rucksack wieder. Mirais Grinsen wurde schärfer, boshafter.

„Er kommt.“

Es klopfte. Anna saß in ihrem Bett und lehnte an dem Kopfteil. Ein weiches, lavendelblaues Kissen diente als Stütze. Ihr Blick war aus dem Fenster gerichtet. Der Schnee klatschte stürmisch gegen die Scheiben. Nur zwei Lampen leuchteten schwach an den Wänden, es waren Leuchter mit dimmbarem Licht. Auch Shiro betrachtete das Wetter eingehend. Es hatte ihn nichts gehalten – er war gerannt. Tag und Nacht, ohne Pause, um bei seiner Mutter zu sein. Der Junge stütze sein Gesicht auf seiner Hand ab. Er saß in der hinteren Ecke des Raumes am Mahagoni-Tisch. Seine Füße ruhten auf der Sitzfläche, er kauerte sich zusammen. Wortlos starrten beide das selbe, ungeheuerliche Bild an, dessen Rahmen das Fenster war. Anna hatte sich umgezogen. Dank Akira und Liam hatte sie nun wieder Kleidung am Leib, die nicht von Blut getränkt war. Das Tattoo hatte aufgehört zu brennen und sich neu zu formen, es ruhte gerade. Der Raum war still, nur die Schneeflocken prasselten rhythmisch im Ticken der Uhrzeiger gegen das Glas.

Liam stand von seinem Stuhl auf, der neben dem Bett gestanden hatte und ging zur Tür, um sie zu öffnen. Immer noch starrten Mutter und Sohn aus dem Fenster. Niemand musste hinsehen, um zu wissen, wer durch diese Tür trat.

„Anna...“ Ioris fröhliche, leicht hohe Stimme war nun leise, bedrückt. Unsicher ging er einige Schritte auf das Bett der Kranken zu. Die anderen Männer, die Iori ins Zimmer begleitet hatten, schlossen die Tür hinter sich und warteten an der Wand.

„Anna, was ist passiert?“ Die Hand des Dämons wanderte vorsichtig auf Annas Arm. Er setzte sich auf den leeren Stuhl, den Liam hinterlassen hatte. Er schien wirklich, wahrhaftig besorgt. Das fahle Licht beleuchtete die ozeanblauen Augen, die das Mädchen so sehr an ihren Bruder erinnerten. Es war unfair. Anna winkelte die Beine an und legte ihre Stirn auf ihre Knie. Sie atmete den Geruch der Decke ein. Es waren tiefe, lange Atemzüge. Wenn er so sprach, konnte man meinen, er wüsste von nichts. Als wäre er nur ein Mensch. Ren seufzte wortlos, als hätte er den Eindruck, Anna würde es nicht schaffen. Doch dann begann sie.

„Iori...“ Annas Stimme klang leise, wie ein kleines Mäuschen, das man mit der Hand lockte und sich gerade aus seinem Versteck traute. „Hab ich dir jemals etwas getan?“

Der Junge nahm seine Hand zurück. Er starrte Anna an. Man konnte sie nicht gut erkennen, es waren zum Großteil nur Schatten auf ihrem Gesicht. Es war nicht das Szenario, das er erwartet hatte. Sie wirkte schwach, ja, aber irgendetwas sagte dem Jungen, dass sein Erscheinen hier einer anderen Motivation zugrunde lag, als sie zu trösten.

„Was?“ fragte er mit einer erstickten Stimme.

„Hab' ich dir je etwas getan?“ wiederholte sich Anna und das ängstliche, verletzte Gefühl, das sie zuvor von sich gab, verschwand. Die Blondine hob ihren Kopf an und ihr Anblick verriet Iori: Sie weinte nicht. Sie hatte keine Angst. Sie war nicht traurig. Und sie war sicherlich nicht krank. Tatsächlich waren diese tiefblauen, runden Augen gefüllt mit etwas, das keiner Emotion entsprach, die Iori wieder erkannte.

„Nein… Hast du nicht.“ antwortete der Junge wahrheitsgetreu. Annas Beine legten sich wieder lang. Ihr langes, blondes Haar fiel über ihre Schultern. Iori folgte dem Bewegung der Strähnen, wie sie über Annas vernarbte Haut fielen. Doch das waren keine Narben. Es waren Linien, die sich durch die Hautzellen kämpften und rote Spuren hinterließen. Vor seinen Augen offenbarte sich etwas, das er nicht einmal bei Eve beobachten durfte: Ihr Tattoo wanderte. Es erstreckte sich von ihrem Rücken. Immer mehr Linien, höchstens einen Millimeter breit, kletterten von Annas Schulterblättern über ihre Arme und Brust. Ihm stockte der Atem. Er war in Gefahr.

Mit einem Ruck stand Iori auf seinen Füßen. Er musste fliehen. Platz für Verhandlungen? Nein. Das, was in Annas Augen leuchtete, war die Lust zu töten. Ihre Augen fesselten ihn. Er musste seine Flügel ausbreiten, er musste fliehen, jetzt oder nie. Sofort drehte er seinen Kopf zur Tür um, die von vier großen, angsteinflößenden Gestalten blockiert wurde. Ihre Körper waren in Dunkelheit getaucht. Das Fenster. Iori wollte los laufen, doch auch das Fenster wurde versperrt. Der junge Mann mit dem weißen Haar starrte ihn an. Dort, in dem Grinsen, wo Zähne sich hätten zeigen sollen, entblößte der Kerl messerscharfe Reißzähne.

Eine Bewegung vor ihm ließ Iori zusammen zucken. Er schaute zu dem Bett. Anna hatte ein Bein unter der Decke auf den Boden gestellt. Sie wollte aufstehen. Irgendwas in Iori befahl ihm, dass sie unter keinen Umständen aufstehen dürfte. Sie durfte ihm nicht näher kommen. Doch das Blut in seinen Adern gefror. Es lähmte seine Füße, seine Hände, seine Flügel, die hervor platzen wollten, um zu fliehen.

„Iori.“ Die Stimme des Mädchens war wie Trockeneis. Sie brannte sich in seine ganze Existenz. „Ich frag' anders. Was hast du Eve erzählt, als ich nicht da war?“ Iori bekam eine Gänsehaut.

„Nichts!“ Er wollte dieses Wort schreien, doch alles, was seine Lunge her gab, war ein heiseres Husten.

„Ich schwöre dir, ich hab' ihr nur erzählt, dass ich mit dir auf ein Date wollte und dass du nicht könntest, weil...“ Er brach ab. Die Linien wurden dichter. Sie kletterten Annas Hals hinauf. Jetzt sah er, wie das Blau in ihren Augen immer dunkler wurde.

„Was hat Eve getan?“ Es war keine Menschlichkeit mehr in ihrer Stimme.

„Ich weiß es nicht, ich schwöre dir, ich weiß nicht, was passiert ist.“ Seine Beine zitterten. Hinter ihm spürte er die messerscharfen Blicke der anderen. Der weißhaarige Mann, der am Fenster stand, setzte sich nun in Bewegung, kam ebenfalls auf den Gast zu. Ioris Knie knickten weg. Sein Po fand sich auf dem Boden wieder.

„Anna, ich schwöre dir, ich weiß nicht...“

„Dein Schwur gilt nicht mir, oder? Er gilt Eve.“ unterbrach die Blondine ihn mit einem leisen Hissen der Zunge. Iori schluckte. Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Brust. Es war schwer zu atmen. Er konnte ihr nicht länger ins Gesicht blicken. „Sieh' mich an.“

Ein Knurren fuhr durch den Raum, welcher immer dunkler zu werden schien. Annas Füße standen direkt vor ihm. Die blasse Haut war von schwarzen Linien, Kreisen und Formen durchzogen. Das Knurren wurde lauter. Man hörte Zähne fletschen. Heißer Atem blies Iori entgegen. Er roch nach Tod. Anna beugte sich hinunter. Iori sah zu, wie die tätowierten Hände nach seinem Gesicht griffen. Sie zogen es hoch, sodass er Anna in die Augen sehen musste. Ihre Haut war unglaublich zart. In jedem anderen Moment hätte er sich nur allzugern dieser Berührung hin gegeben, doch Annas Hand war eiskalt. Als wäre sie eine Leiche. Er schloss die Augen.

„Sieh' mich an.“ bebte die Stimme erneut. Es war leise, aber mit Hass erfüllte Wut zu hören. Iori weigerte sich, seine Augen zu öffnen. Doch er konnte sich nicht zurück halten – durch einen Spalt seiner Wimpern erhaschte er einen Blick auf Annas Augen. Das Tattoo krabbelte wie viele kleine, zahllose Spinnen langsam über Annas Kiefer in ihr Gesicht. Das Weiß in ihren Augen war gefüllt mit Schwarz. Ihre Augen waren gefüllt mit Dunkelheit. Ein Schrei-ähnliches Geräusch entwich Ioris Lippen. Er wusste es nicht. Er wusste nicht, dass ihre Mutter gestorben war. Jetzt würde er sterben. Er würde jetzt sterben und niemand würde es je wissen. Er würde für etwas sterben, wofür er keine Schuld hatte.

„Lüg' mich nicht an.“ hisste Annas Stimme. Es half nicht mehr, seine Augen zu schließen. Pure Dunkelheit erfüllte den Raum. Sie füllte seine Sicht, seine Gedanken. Anna war in seinem Kopf. Die schwarzen Augen starrten ihn durch seine Lider an, erkannten mit einem Hieb seine Schwachpunkte. „Ich weiß es. Du hast es ihr gesagt. Du hast ihr gesagt, ich wäre nicht Zuhause. Du warst der Auslöser. Du warst der Anfang.“ Die Dunkelheit schien Iori zu erdrücken. Bilder begannen, durch seinen Kopf zu fluten. Es waren die Bilder von einer Leiche. Gerüche. Gefühle. Sofort verdrehte sich ihm der Magen. Iori konnte nicht mehr oben von unten unterscheiden. Seine Hand griff nach Halt und fasste ins Leere. „Sieh hin.“ flüsterte die Stimme immer wieder. Das Flüstern war in einer Lautstärke, die fast sein Trommelfell zum Bersten brachte. Der Winddämon bekam keine Luft mehr. Miasma ertränkte ihn. Nun war die Idee von Flucht lächerlich geworden. Er würde das hier nicht einmal überleben…

Plötzlich klärte sich die Dunkelheit. Iori lag auf dem Rücken und starrte an die Decke. Der kalte Schweiß auf seiner Haut schien seinen Körper auf Minustemperaturen zu kühlen. Er zitterte. Seine Atmung war flach, wie die eines Fisches, der auf dem Trockenen lag. Seine Finger krallten sich in den Dielenboden, hielten sich daran fest. Er konnte die Gestalten von Ren, Mirai und Akira erkennen. Sie sahen nicht menschlich aus. Gewicht lastete auf seinem Magen und drückte ihn zu Boden. Scharfe Krallen drohten, sich durch die Haut zu bohren. Ein Blick verriet ihm, dass ein zwei Meter großer, weißer und Zähne fletschender Wolf über ihm stand. An seiner Seite ruhte Anna. Ihre Hand fuhr liebevoll und zärtlich durch das glänzende Fell, während sie auf Iori starrte. Ihre Augen sahen wieder normal aus. Die Haut war wieder blass, unbefleckt.

„Wieder wach?“ fragte sie leise mit einem feisten, angriffslustigem Lächeln.

„Lass mich gehen. Ich weiß wirklich nichts.“ keuchte Iori sofort.

„Oh man, Tengus sind echt die letzten Hinterweltler.“ fauchte Mirai nun und trat gegen den Kopf des Gefangenen. Sein Augenbrauen waren zu dicken Wülsten mutiert, sein Gesicht hatte merkwürdig kantige Züge.

„Lass ihn, Mirai.“ Ren hielt ihn zurück. Die Hand, die sich auf Mirais Schulter gelegt hatte, war von Schuppen überzogen. Die schlitzförmigen, smaragdgrünen Augen waren nun zu tierähnlichen, großen Pupillen angewachsen. Sein Haar war länger, dunkler und welliger, als wäre er frisch aus der Dusche gestiegen. Die Krallen versenkten sich in Ioris Magengrube. Blutpfützen bildeten sich in seinem Hemd.

„Shiro… Noch nicht.“ säuselte das Mädchen leise und küsste den riesigen Wolf auf den Nasenrücken. Iori erzitterte unter seiner Angst.

„Was hast du mit mir vor…?“ fragte er erstickt und zog Annas Blick auf sich.

„Ich dachte, das wäre klar.“ lächelte sie liebevoll. „Wir haben jetzt unser Date.“



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