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Ranmas Abtritt

Seltsame Dinge geschehen in Nerima
von

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Ein Interview mit Gott

Kapitel 5

Ein Interview mit Gott
 


 

Ich sah über den Tisch hinweg, auf den Mann vor mir. Der Name kam mir bekannt vor, und so versuchte ich mich daran zu erinnern, wo ich den Namen schon mal gehört hatte.

Obwohl ich so überrascht war, brauchte ich gerademal eine oder zwei Sekunden, bis ich den Namen zugeordnet hatte. Laut Maler Nummer zwei war das der Mann, der Ukyous Restaurant aufgekauft hatte. Und nun saß er mir gegenüber. Ich wusste nicht, warum er jetzt hier war und was er von mir wollte, aber das Gefühl, dass er schnell gehen sollte, verstärkte sich noch mehr.

Aber jetzt erst fiel mir auch wieder ein, dass diesem Mann auch die Tourismusbranche in Japan gehörte. Demnach war er auch für Arnies' Ruhestand verantwortlich.

Jetzt musterte ich ihn gründlicher als zuvor. Bei sich hatte er einen schwarzen Koffer. Aber dieser Koffer war anders als die, die ich jemals gesehen hatte. Statt eines Schnappverschlusses besaß dieser Koffer einen Reißverschluss. Die Kleidung passte überhaupt nicht in diese Vorstadt von Tokyo, Nerima. Er trug eine durchgewaschene Jeans und ein zerknittertes Hemd aus Jeans-Stoff.

Ich dachte mir, er sah überhaupt nicht aus, wie ein Geschäftsmann, dem eine Tourismusbranche und nun auch ein Restaurant in der Nähe des Tendou-Hauses gehört, sondern eher wie ein Penner. Und zwar wie einer, an einem guten Tag, zu dem ein Bad und eine Rasur gehörten.

Mein Blick fiel auf seine Turnschuhe, die so aussahen, als hätte Sie Frankensteins Monster selbst entworfen. Auf seinen Schuhen war in roten Lettern ein Name geschrieben, der eher zu Colognes China-Restaurant gehören konnte. REEBOK.

"Was wollen Sie hier?" fragte ich ihn schließlich. Die Angst war immer noch da, aber ich war froh, dass meine Stimme fest und entschlossen klang. "Statten Sie allen Leuten hier einen Besuch ab, oder wollen Sie mich nur kennenlernen. Wenn es um das Tourismusgebäude geht, kann ich Ihnen nur raten Arnie seinen Job zu lassen. Im Moment kann ich mich nicht an vieles erinnern, und eine meiner Verlobten scheint gerade bemerkt zu haben, dass Sie ohne mich besser dran ist."

Hepbourne schenkte meinem kläglichen Versuch das Thema zu wechseln, nicht die geringste Bedeutung. "Ja", sagte er mit nachdenklicher Stimme, "ich vermute, es war der Prototyp eines schlechten Tages - und das ist meine Schuld. Es tut mir leid, Ranma - wirklich. Sie persönlich kennenzulernen ist nicht so, wie . . . nun, wie ich es mir vorgestellt hatte. Zum ersten, kann ich dich besser leiden, als ich gedacht hatte. Aber", er seufzte auf. "Jetzt gibt es kein zurück mehr." Das gefiel mir überhaupt nicht.

"Was meinen Sie damit?" Meine Stimme zitterte noch immer und meine restliche Hoffnung schwand.

Er antwortete nicht gleich, sondern packte den Koffer, der neben seinem Stuhlbein lehnte und legte ihn auf den Tisch. Auf dem Koffer waren die Zeichen D.D.H. zu erkennen, und ich schlußfolgerte daraus, dass mein rätselhaftes Gegenüber ihn mitgebracht hatte.

Ich betrachtete die Schreibtischunterlage, die einst mit verschiedensten Sachen vollgeschmiert gewesen war, und bemerkte plötzlich, dass ich mich nicht mehr an Ryougas Handy-Nummer erinnern konnte, obwohl ich Sie letzten Winter mehrere tausend Male angerufen haben musste. Das Gefühl des Grauens nahm zu.

"Mister", sagte ich. "Es würde mich freuen, würden Sie zur Sache kommen und dann gleich wieder verschwinden. Andererseits, wie wäre es, wenn wir das mit der Sache lassen und gleich zum verschwinden übergehen?"

Er lächelte müde, fand ich. Das war das andere. Das Gesicht über dem schlichten weißen Hemd mit dem offenen Kragen sah schrecklich müde aus. Und schrecklich traurig. Es drückte aus, dass der Mann, dem es gehörte, Dinge durchgemacht haben mußte, die ich mir nicht einmal vorstellen konnte. Ich verspürte eine gewisse Sympathie für meinen Besucher, aber am meisten verspürte ich Angst.

"Tut mir leid, Ranma", sagte er. "Kann nicht."

Er griff nach diesem winzigen, erstaunlichen Reißverschluss, und plötzlich wollte ich als allerletztes, dass Hepbourne den Koffer öffnete. Um ihn daran zu hindern, sagte ich: "Besuchen Sie Fremde immer in einem Aufzug wie die Typen, die ihr Leben damit verbringen, hinter dem Pflug herzulaufen? Was sind Sie, einer dieser exzentrischen Millionäre?"

"Exzentrisch bin ich durchaus", sagte er. "Und es wird dir nichts nützen, die Sache hinauszuzögern, Ranma."

"Wie kommen Sie darauf, dass ich . . ."

Dann sprach er das aus, wovor mir graute, und löschte gleichzeitig das letzte winzige Fünkchen Hoffnung aus. "Ich kenne alle deine Gedanken.

Ich leckte die Lippen und zwang mich zu sprechen; ich hätte alles getan, um ihn daran zu hindern, diesen Reißverschluss zu öffnen. Rein alles. Meine Stimme klang heiser, aber wenigstens klang sie überhaupt.

"Ist ja nichts besonderes. Aber das Rasierwasser sagt mir nichts. Ich selbst schwöre auf Old Spice."

Er hielt den Daumen und Zeigefinger am Reißverschluss, zog aber nicht daran. Noch nicht."

"Aber es gefällt dir", sagte er durch und durch überzeugt, "und du würdest es auch benützen, wenn du es im Laden um die Ecke bekommen könntest, oder nicht? Aber das kannst du nicht. Es ist Emotion von Hugo Boss und kommt erst um 2000 in die Läden." Er betrachtete seine seltsamen Basketballschuhe. "Wie meine Turnschuhe."

"Teufel noch mal."

"Nun ja, ich denke, der Teufel könnte auch irgendwann ins Spiel kommen", sagte Hepbourne, aber er lächelte nicht.

"Woher kommen Sie?"

"Ich dachte das wüsstest du." Hepbourne zog den Reißverschluss auf und nahm ein rechteckiges Ding aus glattem Plastik heraus. Einen Laptop. Hepbourne nahm es aus dem Koffer, ließ mit dem Daumen die Laschen an den Seiten aufschnappen, klappte das Oberteil an Scharnieren zurück, und ließ den Bildschirm erkennen. "Ich komme aus der Zukunft", sagte Hepbourne. "Genau wie in einer Geschichte in einem Groschenheft."

"Wahrscheinlicher ist eher, dass Sie aus einer Irrenanstalt geflohen sind", krächzte ich.

"Aber nicht genau wie in einem Groschenheft", sagte er und achtete nicht auf das, was ich gesagt hatte. Er schaltete den Laptop an und irgendwie glaubte ich plötzlich das, was er gesagt hatte.

Er sah zu mir auf und fragte: "Wie heißt Ryougas Vater, Ranma?"

Ich sah ihn einen Moment an. Es war noch dunkel im Zimmer, die Sonne war hinter einer Wolke verborgen, die nicht zu sehen gewesen war, als ich von der Straße hereinkam. Hepbournes Gesicht schien in der Düsternis zu schweben wie ein verschrumpelter Ballon.

"Was hat das mit dem Preis von Gemüse zu tun?" fragte ich.

"Du weißt es nicht, oder?"

"Natürlich weiß ich es", sagte ich, und ich wußte es auch. Es fiel mir nur nicht ein, das war alles - der Name lag mir auf der Zunge, wie die Handy-Nummer von Ryouga, die 0400-irgendwas gewesen war.

"Wie ist der Name seiner Mutter?"

"Hören Sie auf, Spielchen mit mir zu treiben."

"Na schön, dann etwas einfaches. In welchem Ort bist du geboren? War es Hokkaido?"

Ich machte den Mund auf, aber dieses Mal kam nichts heraus.

"Weißt du es? Ja?"

"Ja! Es war . . ."

Er bückte sich. Tippte auf die Tasten des Laptops und plötzlich rief ich: "Geboren in Kyoto!"

Er stellte die Machine auf den Schreibtisch und drehte sich um, damit ich die Worte lesen konnte, die im Fenster über den Tasten schwebten:
 

"Geboren in Kyoto!"
 

Mein Blick fiel auf die eingestanzte Gravur. "Seit wann gibt es denn eine Computerfirma namens IBM?"

"Jetzt noch nicht. Und da wir gerade vom Jetzt sprechen, Ranma, wann ist jetzt? Welches Jahr haben wir?"

"1994", sagte ich, dann hob ich eine Hand zum Gesicht und rieb mir über die Lippen. "Moment mal - 1995."

"Es könnte sogar 1996 sein. Habe ich recht?"

Ich sagte nichts, spürte aber wie mein Gesicht heiß wurde.

"Nicht traurig sein, Ranma. Du weißt es nicht, weil ich es nicht weiß. Ich habe es immer unklar gelassen, in den ganzen Fan-Stories die ich geschrieben habe. Der Zeitraum, den ich erreichen wollte, war mehr wie eine Atmosphäre. Für die meisten meiner Leser war das okay, und es machte es auch irgendwie leichter, weil man das Verstreichen der Zeit nie ganz in den Griff bekommt. Die einzigen Zeitangaben bestehen darin, dass du zehn Jahre auf Trainingsreise warst, du mit sechzehn hier angekommen bist, und seither wieder zwei Jahre vergangen sind. Mehr aber auch nicht. Ist dir das noch nie aufgefallen?"

"Nein - noch nie." Aber jetzt, da er es sagte, fiel es mir doch auf. Ich las jeden Tag Zeitung. Aber von welchem Tag stammte sie überhaupt? Man sah es ihr nicht an, weil im Kopf immer nur der Wahlspruch stand: "Japans beste Zeitung in Japans bester Stadt."

"Du sagst das, weil die Zeit in deiner Welt nicht wirklich vergeht. Das ist . . ." Er machte eine Pause, dann lächelte er voller Sehnsucht und seltsamem Verlangen. "Das ist einer ihrer vielen Vorteile", sagte er.

Ich hatte Angst, aber ich habe dem Teufel schon immer auf den Kopf treten können, wenn es erforderlich war. Nun war es das. "Verdammt noch mal, verraten Sie mir, was hier los ist?"

"Na gut. Aber du kommst langsam selbst dahinter, Ranma. Oder nicht?"

"Vielleicht. Ich kenne den Namen von Ryougas Eltern nicht, weil Sie sie nicht kennen. Ist es das?"

Er nickte und lächelte, wie ein Lehrer einen anlächelt wenn man einen logischen Fehler gemacht, aber trotzdem zum richtigen Ergebnis gekommen war. Aber in seinen Augen stand immer noch dieses schreckliche Mitleid.

"Und als Sie Kyoto mit dem Ding geschrieben haben und es mir selbst eingefallen ist . . ."

Er nickte und ermutigte mich.

"Sie besitzen nicht nur Ukyous Restaurant und diese Reisebranche, oder?" Ich schluckte und versuchte den Kloß in meiner Kehle loszuwerden. "Sie besitzen alles."

Aber Hepbourne schüttelte den Kopf. "Nicht alles. Nur Tokyos Stadtteil Nerima und einige andere wichtige Gegenden, einschließlich ihrer erfundenen Zusätze und gelegentlichen Brüche in der Kontinuität."

"Blödsinn", sagte ich, aber ich flüsterte es.

"Siehst du die Wand links von der Tür?"

Ich sah sie, aber das war kaum nötig. Sie war schon immer leer gewesen seit . . . nun, seit ich hergekommen war.

Hepbourne hatte seinen Laptop genommen und begann zu schreiben.

"Tun Sie das nicht!" schrie ich und wollte ihn packen. Ich konnte es nicht. Es schien, als hätten meine Arme keine Kraft, und es schien, als könnte ich die Willenskraft nicht aufbringen.

Als er fertig geschrieben hatte, drehte er die Maschine um, damit ich die Zeilen lesen konnte. Sie lauteten: An der Wand, die zum Tendou-Land hinausführt, hängt ein Bild von Akane - aber etwas schief. So wie sie mir gefällt.

Ich sah an die Wand. Tatsächlich hing dort jetzt ein Bild von Akane. Das Bild hing ein wenig schief.

"Ich brauche den Laptop nicht", sagte er. Es klang ein wenig verlegen, als hätte ich ihm etwas unterstellt. "Ich kann es auch, indem ich mich einfach konzentriere - wie die verschwundenen Notizen -, aber der Laptop hilft. Wahrscheinlich weil ich es gewohnt bin, alles aufzuschreiben. Und es dann zu bearbeiten. In gewisser Weise sind Bearbeiten und Umschreiben die faszinierendsten Aufgaben dieses Hobbys, weil da die entscheidenden Veränderungen stattfinden. Sie sorgen dafür, dass das Bild realistisch wird."

Ich sah Hepbourne an, und als ich sprach, klang meine Stimme tot. "Sie haben mich erfunden, richtig?"

Er schüttelte den Kopf. "Nein, erst ab einem bestimmten Punkt und zwar ab dem Schluss von Rumiko Takahashis Anime: Ranma ½. Sie hat dich erfunden."

"Wann haben Sie die Geschichte fortgesetzt? Oder ist das nicht die richtige Frage?"

"Ich weiß es nicht", sagte er, "und ich könnte mir denken, jeder andere Schreiber würde dir ungefähr das gleiche sagen. Es passierte nicht schlagartig - da bin ich sicher. Es war sehr langwierig. Mein erstes Buch mit dir lautete Scarlet Town, das war Ende 1996. Das war die Geschichte als Arnold Schmidt hier als Touristenführer anfing."

Ich wollte einfach nur hoffen, dass das alles ein Traum war, aber ich konnte es nicht. Der Geruch seines Rasierwassers verhinderte es. Der vertraute Geruch den ich noch nie wahrgenommen hatte.

Wie konnte ich auch? Es war Emotion, eine Sorte die mir so fremd war wie IBM.

Aber er fuhr fort.

"Meine letztes Buch mit dir war Fallen Angel, das habe ich Herbst 2001 angefangen, war aber erst Anfang Januar 2003 fertig. In der Zwischenzeit hatte ich genug eigene Probleme. Mein Leben ist ziemlich interessant gewesen." Er verlieh dem Wort einen häßlichen Beigeschmack. "Schriftsteller schreiben ihre besten Werke nicht in interessanten Zeiten, Ranma. Glaub mir."

Ich betrachtete die verlotterte Pennerkleidung, die an ihm hing, und kam zum Ergebnis, dass er recht haben könnte. "Vielleicht haben Sie deshalb diesmal so grandios Scheiße gebaut", sagte ich. "Die Geschichte mit der Lotterie und den Fünfzigtausend Yen war reiner Quatsch - das Geld reicht niemals für eine Operation aus."

"Das habe ich gewusst", sagte er gelassen. "Ich will nicht sagen, dass ich nicht ab und zu mal Mist baue - in dieser Welt mag ich eine Art Gott sein, aber in meiner eigenen bin ich ein ganz normaler Mensch. Doch wenn ich Mist baue, erfahren du und deine Mitmenschen das niemals, Ranma, denn meine Fehler und Kontinuitätssprünge sind Teil deiner Wahrheit. Nein, Mousse hat gelogen. Ich wusste es, und ich wollte, dass du es auch weißt."

"Warum?"

Er zuckte die Achseln und sah unbehaglich und ein wenig beschämt drein. "Ich denke, um dich ein wenig auf meine Ankunft vorzubereiten. Darum das alles, angefangen mit Mousse. Ich wollte dir nicht mehr Angst machen, als unbedingt nötig."

Jeder Mensch, der etwas auf seine Menschenkenntnis hält, hat eine ziemlich gute Ahnung, wann ein anderer lügt und wenn Sie die Wahrheit sagt; zu wissen, wann eine Person etwas zurückhält aber sonst ehrlich ist, kriegen nicht einmal die Genies von uns hin. Vielleicht merkte ich es jetzt nur, weil Hepbournes und meine Gehirnwellen im Gleichschritt marschierten; jedenfalls merkte ich es. Er sagte mir nicht alles. Die Frage war nur: sollte ich ihn darauf ansprechen oder nicht?

Was mich hinderte, war die plötzliche und gräßliche Intuition, die aus dem Nichts getanzt kam wie ein Gespenst, das aus der Wand eines Spukhauses schwebt. Es hatte mit dem heutigen Tag zu tun.

Mousse, der mir verkündete, er würde bald richtig sehen können und Arnie, der an seinem Krebs zugrunde ging.

Arnie, der in der Maschine dieses Mannes zugrunde ging. Der im Kopf dieses Mannes zugrunde ging.

"Wenn Sie mir keine Angst machen wollten, haben Sie Ihre Aufgabe beschissen gelöst", sagte ich und fragte mich sofort, ob er sie überhaupt besser hätte lösen können. Stellen Sie sich mal folgende Frage: Wie bereitet man jemanden darauf vor, Gott kennenzulernen? Ich wette, selbst Moses wurde ein wenig heiß unter der Kutte, als der Busch zu brennen anfing, und ich bin schließlich nichts mehr als ein Martial Artist.

"Fallen Angel - das war die Geschichte, wo du und Ryouga zusammen Akane aus den Händen von Dämonen befreiten. Eine ähnliche Idee stammt von einer anderen Fanfiction die ich gelesen habe. Es war eine Hommage."

"Wenn Sie mich fragen, scheint es ein neues Wort für Abschreiben zu sein." Er hatte wenigstens den Anstand zu erröten.

"Okay lassen wir den Literaturunterricht", sagte ich, "und sagen wir, ich glaube es. Was machen Sie hier? Weshalb sind Sie gekommen?"

Aber ich wusste es bereits. Die Antwort kam aus meinem Herzen und nicht aus meinem Kopf.

"Ich bin deinetwegen gekommen."

"Meinetwegen?"

"Ja, tut mir leid. Ich fürchte, du wirst dein Leben auf eine neue Art und Weise betrachten müssen. Als . . . nun, sagen wir, als ein Paar Schuhe. Du ziehst sie aus, und ich zieh sie an. Und wenn ich die Schnürsenkel gebunden habe, gehe ich weg."

Na klar. Selbstverständlich. Und plötzlich wusste ich, was ich tun mußte - das einzige, was ich tun konnte.

Ihn wegschaffen.

Ich verzog das Gesicht zu einem breiten Lächeln. Einem Erzählen-Sie-mir-mehr-Lächeln. Gleichzeitig zog ich die Beine unter den Stuhl um ihn über den Tisch hinweg anspringen zu können. Nur einer würde den heutigen Tag überstehen, soviel stand fest. Und das würde ich sein.

"Ach wirklich?" sagte ich. "Wie faszinierend. Und was wird aus mir, Danny? Was wird aus dem Kämpfer ohne Schuhe? Was passiert mit Ranma . . ."

Saotome, das letzte Wort sollte mein Nachname sein, das letzte Wort, das dieser aufdringliche Störenfried in seinem Leben hören sollte. In dem Augenblick, wenn ich es aussprach, würde ich springen. Das Problem war, die Telepathie schien in beiden Richtungen zu funktionieren. Ich sah einen erschrockenen Ausdruck in seinen Augen, dann machte er sie zu und verzog den Mund vor Konzentration. Er bemühte das Laptop gar nicht erst. Wahrscheinlich wusste er, dass er keine Zeit haben würde."

"'Seine Enthüllungen wirkten auf mich, wie eine Art lähmende Droge'" sagte er im leisen, aber tragenden Tonfall eines Mannes, der rezitierte, nicht nur spricht. "'Jegliche Kraft schwand aus meinen Muskeln, meine Beine fühlten sich wie zwei zu heißgekochte Ramen an, und ich konnte nur in meinen Sessel zurücksinken und ihn ansehen.'"

Ich sank in meinen Stuhl zurück, meine Beine unter mir wurden schlaff, ich konnte ihn nur ansehen.

"Nicht besonders gut", sagte er. "Aber Improvisation war noch nie meine Stärke."

"Sie Dreckskerl", sagte ich kläglich.

"Ja", stimmte er zu. "Das bin ich wohl."

"Warum tun Sie das? Warum stehlen Sie mein Leben?"

Da blitzten seine Augen zornig auf. "Dein Leben? Du weißt es besser, Ranma, auch wenn du es nicht einsehen willst. Es ist nicht dein Leben. Ich habe es so geschrieben, indem ich an einem verschneiten Tag am Ende des Jahres 1996, meiner Zeitrechnung, angefangen habe und bis in die Gegenwart weitergeschrieben hatte. Ich habe dir dieses Leben gegeben, daher steht es mir auch zu, es dir wieder zu nehmen."

"Sehr nobel", höhnte ich, "aber wenn Gott in diesem Augenblick herunterkommt und Ihr Leben auseinandertrennen würde wie schlechte Nähte an einem Schal, könnten Sie meinen Standpunkt vielleicht besser verstehen."

"Schon gut," sagte er, "Sie haben wohl recht. Aber warum streiten? Mit sich selbst zu streiten, das ist wie mit sich selber Schach spielen - ein faires Spiel führt immer zu einem Remis. Sagen wir einfach, ich tue es, weil ich es kann."

Plötzlich war ich etwas ruhiger. Ich befand mich auf vertrautem Gelände. Wenn Sie einen in der Hand hatten, musste man sie zum Reden bringen und dafür sorgen, dass sie weiter redeten. Das hatte bis jetzt immer funktioniert, also würde es jetzt auch funktionieren. Sie sagten Sachen wie: Nun, ich denke, es kann nicht schaden, wenn Sie es erfahren oder Was kann es schon anrichten?

Die letzte Version die ich gehört hatte, war elegant gewesen: Sie sollen wissen, Mr. Saotome - ich möchte, dass Sie die Wahrheit mit in die Hölle nehmen. Sie können Sie dem Teufel bei Kaffee und Kuchen erzählen. Es spielte keine Rolle, was sie sagten; solange sie redeten, schossen sie nicht.

Immer dafür sorgen, dass sie redeten, darauf kam es an. Man musste sie am Reden halten und hoffen, dass die Kavallerie rechtzeitig eintraf.

"Die Frage ist doch, warum wollen Sie es?" fragte ich. "Es ist doch sicher nicht üblich, oder? Ich meine, seid ihr Schriftsteller normalerweise nicht zufrieden, die Schecks zur Bank zu bringen, wenn sie kommen, und euren Angelegenheiten nachzugehen?"

"Sie versuchen, mich am Reden zu halten, Ranma. Oder nicht?"

Das traf mich wie ein Schwinger in die Magengrube, aber ich hatte keine andere Wahl, als es durchzustehen. "Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wie auch immer, ich will es wirklich wissen." Und das war nicht gelogen.

Er sah noch einen Moment unsicher drein, bückte sich und strich über die Tasten auf seinem Laptop (ich spürte Krämpfe in Beine und Magen als er sie berührte), dann richtete er sich wieder auf.

"Ich denke, es kann nicht schaden, wenn Sie es erfahren", sagte er schließlich. "Ich meine, was kann es schon anrichten?"

"Nicht das geringste?"

"Du bist ein kluger Junge, Ranma", sagte er, "und du hast ganz recht - Schriftsteller tauchen nur selten ganz in die Welten ein, die Sie geschaffen haben, und falls doch, dann ausschließlich in ihren Köpfen, während ihre Körper im Irrenhaus dahinvegetieren. Die meisten von uns geben sich damit zufrieden, Touristen im Land der Phantasie zu sein. Bei mir war das auf jeden Fall so. Ich bin kein schneller Schreiber - ich glaube, ich habe dir gesagt, dass das Schreiben immer eine Tortur für mich war -, aber ich schaffte vier Bücher in sieben Jahren, und jedes war etwas erfolgreicher als das vorhergegangene. Nach dem Erfolg meines ersten Buches und in der Mitte des zweiten, kündigte ich meinen Job als Bezirksleiter einer großen Versicherungsgesellschaft, um freier Schriftsteller zu werden. Ich hatte eine Frau, die ich liebte, einen kleinen Jungen, der jeden Morgen die Sonne aus dem Bett kickte und sie jeden Abend wieder zu Bett brachte - jedenfalls kam es mir so vor -, und ich glaubte nicht, dass das Leben noch besser werden könnte."

Er stieß ein bitterkaltes Lachen aus.

"Und ich hatte recht", sagte er. "Es konnte nicht mehr besser werden, aber viel, sehr viel schlechter. Und es wurde schlechter. Etwa einen Monat nachdem ich mit Fallen Angel angefangen hatte, fiel Steven - unser kleiner Junge - im Park von der Schaukel und schlug sich den Kopf an."

Ein flüchtiges Lächeln, in jeder Hinsicht so bitter und kalt, wie sein Lachen gewesen war, huschte über sein Gesicht. Es kam und ging so schnell wie der Kummer.

"Er hat stark geblutet und Linda hatte schreckliche Angst, aber die Ärzte waren gut, und wie sich herausstellte, war es nur eine Gehirnerschütterung; sie stabilisierten ihn und gaben ihm einen Liter Blut als Ersatz für das verlorene. Vielleicht war es nicht nötig - und das quält mich -, aber sie taten es. Das echte Problem war nicht sein Kopf, sonder der Liter Blut. Er war mit AIDS infiziert."

"Bitte?"

"Das ist etwas, das du nicht kennen kannst, und dafür solltest du deinem Gott danken", sagte Hepbourne. "Es existiert in dieser Dimension nicht, Ranma."

"Was macht es?"

"Es zerstört das Immunsystem, bis alles zusammenbricht wie ein Kartenhaus. Dann kommt jeder Virus, der da draußen herum fliegt, von Krebs bis Windpocken, hereingestürzt und feiert eine Party."

"Großer Gott!"

Sein Lächeln kam und ging. "Wie du meinst. AIDS ist primär eine sexuell übertragene Krankheit, aber ab und zu taucht sie auch in Blutkonserven auf. Man könnte sagen, mein Kind hat den Hauptgewinn einer sehr unglücklichen Version von Lotterie gewonnen."

"Das tut mir leid", sagte ich, und es war mein Ernst, obwohl ich vor diesem dünnen Mann schreckliche Angst hatte. Ein Kind wegen so etwas zu verlieren - was konnte schlimmer sein?

Wahrscheinlich gab es etwas - es gibt immer etwas -, aber man musste sich hinsetzen und darüber nachdenken, richtig?

"Danke", sagte er. "Danke, Ranma. Wenigstens ging es bei ihm schnell. Er fiel Oktober von der Schaukel. Die ersten purpurnen Flecken - Kaposi-Sarkom - traten kurz vor seinem Geburtstag im Dezember auf. Am achtzehnten März 2002 starb er. Vielleicht musste er nicht so leiden wie viele andere, aber er litt. O ja, er litt."

Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ein Kaposi-Sarkom war, beschloß aber nicht zu fragen. Ich wusste auch so schon mehr, als ich je wissen wollte.

"Du verstehst vielleicht, warum ich mit deinem Buch etwas langsamer war", sagte er. "Oder nicht, Ranma?"

Ich nickte.

"Aber ich machte weiter. Hauptsächlich, weil ich glaubte, etwas zu erfinden eine heilsame Wirkung hat. Vielleicht muss ich das glauben. Ich versuchte auch, mein Leben weiterzuführen, aber es ging alles schief damit - es war fast so, als wäre Fallen Angel eine Art böser Fluch. Meine Frau verfiel in schwere Depressionen nach Stevens Tod, und ich war so besorgt um sie, daß ich die roten Flecken kaum bemerkte, die ich an den Beinen und an Bauch und Brust bekam. Und den Juckreiz. Ich wusste, es war kein AIDS, und am Anfang war das das einzige, was mich interessierte. Aber die Zeit verging und es wurde immer schlimmer. - Hast du jemals Gürtelrose gehabt, Ranma?"

Dann lachte er und schlug sich mit der Hand auf die Stirn - eine Was-bin-ich-für-ein-Narr-Geste -, bevor ich den Kopf schütteln konnte.

"Natürlich nicht. Du hast nie mehr als Kampfverletzungen gehabt. Gürtelrose, mein Freund, ist ein komischer Name für ein schreckliches chronisches Leiden. In meiner Zeit steht ziemlich gute Medizin dagegen zur Verfügung, um die Symptome zu lindern, aber das half mir nicht viel; Mitte 2002 litt ich Qualen. Teilweise lag das natürlich an allgemeinen Depressionen wegen Stevens Schicksal, aber vor allem lag es an den Schmerzen und dem Juckreiz. Ich sage, es war eine Zeit der Hölle. Natürlich ist es jetzt leicht, Witze darüber zu machen, aber damals war es kein Witz - ich schlief höchstens drei Stunden die Nacht, und an manchen Tagen war mir, als wollte mir die Haut vom Leibe kriechen. Wahrscheinlich habe ich deshalb nicht gemerkt, wie schlimm es mit Lisa wurde."

Ich wusste es nicht, konnte es nicht wissen . . . und dennoch wusste ich es. "Sie hat Selbstmord begangen."

Er nickte. "Im September 2002, ein halbes Jahr nach Stevens Tod. Das ist jetzt wieder über ein halbes Jahr her."

Eine einzige Träne rann an seiner Wange hinab. Es war irgendwie eine niederschmetternde Erkenntnis, dass mein Leben von einem so jämmerlichen Abbild von Gott erschaffen wurde, aber es erklärte auch einiges. Zum Beispiel meine Unzulänglichkeiten.

"Das genügt", sagte er mit einer Stimme, die von Wut ebenso wie von Trauer verzerrt wurde. "Kommen wir zur Sache. Ich schrieb das Buch zu Ende. An dem Tag als ich Lisa tot um Bett fand, hatte ich neunzig Seiten fertig. Ich war an der Stelle, wo du gerade gegen den Dämon Xandras kämpftest. Drei Tage später kam ich von der Beerdigung heim, warf den Computer an und machte mit Seite einundneunzig weiter. Schockiert dich das?"

"Nein", sagte ich.

"Da bist du ganz entschieden in der Minderheit", sagte Hepbourne. "Es schockierte die wenigen Freunde, die ich noch hatte, und zwar gewaltig. Lisas Verwandte waren der Meinung, ich hätte nicht mehr Gefühl als ein Warzenschwein. Ich hatte nicht die Kraft ihnen zu erklären, dass ich nur versuchte, mich selbst zu retten. Ich klammerte mich an mein Buch wie ein Ertrinkender an einen Rettungsring. Ich klammerte mich an dich, Ranma. Meine Gürtelrose war immer noch schlimm, und das verlangsamte mein Tempo - bis zu einem gewissen Ausmaß hielt es mich draußen, sonst wäre ich vielleicht schon früher hier eingetroffen, aber es hielt mich nicht auf. Als ich das Buch fertig hatte, ging es mir ein wenig besser - jedenfalls körperlich. Aber als ich es fertig hatte, verfiel ich ebenfalls in Depressionen. Ich ging das Manuskript in einer Art Benommenheit durch. Ich verspürte so ein Gefühl des Bedauerns . . . des Verlustes . . ." Er sah mich direkt an und sagte: "Ergibt das alles überhaupt einen Sinn für dich?"

"Es ergibt einen Sinn", sagte ich. Auf eine verrückte Weise war es tatsächlich so.

"Es waren noch eine Menge Tabletten im Haus", sagte er. "Manchmal war ich nahe dran, zwei Händevoll zu nehmen. Ich dachte dabei nicht an Selbstmord, sondern daran, dass ich Lisa und Steven einholen würde, solange ich noch Zeit hatte."

Ich nickte. Irgendwie war es komisch anzunehmen, der Mann mit der Pennerhose, Dan Hepbourne, sei hier für alles verantwortlich. Der Gedanke war immer noch verrückt, doch kam er mir immer normaler vor.

Ich stellte fest, dass ich gerade noch genügend Kraft hatte um mich herumzudrehen und zum Fenster hinauszusehen. Was ich sah, überraschte mich nicht: Fußgänger, Radfahrer, alle hatten in der Bewegung angehalten. Die Welt da draußen sah aus, wie ein Kodak-Schnappschuss, und warum auch nicht? Ihr Schöpfer hatte keine Zeit, sie vollständig zu beleben, jedenfalls im Augenblick nicht; er steckte immer noch im Mahlstrom seines eigenen Kummers. Verdammt, ich konnte von Glück sagen, dass ich noch atmete.

"Also, was ist passiert?" fragte ich. "Wie sind Sie hergekommen, Dan? Darf ich Sie so nennen? Stört es Sie?"

"Nein es stört mich nicht. Ich kann dir aber keine befriedigende Antwort geben, weil ich es selbst nicht genau weiß. Ich weiß nur eins mit Sicherheit - immer, wenn ich an die Tabletten dachte, dachte ich an dich. Speziell dachte ich: Ranma Saotome würde so etwas nie tun, und er würde jeden verachten, der es tut. Er würde es den Ausweg von Feiglingen nennen."

Ich dachte darüber nach, fand es zutreffend und nickte. Bei jemandem, der einem schrecklichen Schicksal ins Auge sah - Arnies Krebs oder dem unfassbaren Alptraum, der den Sohn dieses Mannes getötet hatte -, würde ich vielleicht eine Ausnahme machen, aber die Flatter machen, nur wegen Depressionen? Das war etwas für Memmen.

"Dann dachte ich: ,Aber das ist Ranma Saotome, und Ranma ist nur eine Erfindung . . . nur eine Ausgeburt der Phantasie.' Doch dieser Gedanke hatte keinen Bestand. Die Dummköpfe dieser Welt - vor allem Politiker und Anwälte - machen sich über die Phantasie lustig und glauben, dass nichts real ist, wenn man es nicht rauchen oder trinken oder sonstwas damit kann. Das glauben sie, weil sie keine Phantasie haben und nichts von ihrer Macht wissen. Ich wusste es besser. Verdammt, ich sollte es auch besser wissen. Schließlich verdiene ich mit meiner Phantasie seit zehn Jahren die Brötchen und bezahle die Hypothek.

Gleichzeitig wusste ich, ich konnte nicht weiter in der Welt leben, die ich als ,die wirkliche Welt' betrachtete, womit wir wohl alle ,die einzige Welt' meinen. Da wurde mir klar, ich konnte nur noch an einen Ort gehen und mich zu Hause fühlen, und wenn ich dort ankam, konnte ich nur eine einzige Person sein. Der Ort war hier - Nerima. Und die Person warst du."

Ich hörte wieder das leise Surren des Laptops, drehte mich aber nicht um.

Teilweise, weil ich Angst davor hatte.

Und teilweise, weil ich nicht mehr wusste, ob ich es noch konnte.
 

Ende Kapitel 5 von 7.



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