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Ranmas Abtritt

Seltsame Dinge geschehen in Nerima
von

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Der Fremde

4.

Der Fremde
 


 

Ich betrat das Tendou-Haus mit einer Mischung aus Gefühlen. Zuerst war ich froh, wieder etwas vertrautes vorzufinden, doch in Anbetracht der Dinge, die heute passiert sind, konnte ich nicht sicher sein, ob ich nun meine Ruhe hätte. Und ich fragte mich, warum Ukyou den Laden verkauft hatte. Sie war auch nicht in der Schule gewesen, ich hatte Sie in der Klasse nicht gesehen, daraus schloss ich, dass Sie wieder gegangen war.

Wenigstens eine Verlobte weniger, dachte ich hoffnungsvoll, aber auch irgendwie traurig. Ich kannte Ukyou schon seit meiner Kindheit, und nun war Sie aus meinem Leben getreten und einfach gegangen.

"Hey, Akane. Heute will ich niemanden mehr sehen, ja? Keine Anrufe, keine alten Bekannten. Egal wer, es soll niemand kommen."

Doch auf das, was ich gesagt hatte, antwortete mir nur die Stille, die sich hier ausgebreitet hatte. Akane müsste schon längst wieder hier sein. Aber so schlimm war das nicht. Vielleicht hatte Sie ein paar Freundinnen getroffen und . . . ACH WAS. Es antwortete mir niemand, nicht einmal Kasumi, mein Vater oder Herr Tendou. Und einer der drei war immer hier. Normalerweise mussten Herr Tendou und mein Vater wieder mal zusammen Shogi spielen, deshalb ging ich zur Gartentür, wo Sie davor immer Shogi spielten.

Aber es war niemand da.

Dann ging ich in Richtung Küche um nachzusehen ob Kasumi dort war. Aber auch dort befand sich niemand.

Vielleicht sind sie auch entführt worden, dachte ich hoffnungsvoll. Hoffnungsvoll deshalb, weil ich dann wenigstens zu tun hatte, das mich von all den anderen Gedanken in mir ablenkte. Vor allem dem Gedanken an Arnies' Ruhestand, der mir immer noch alptraumhaft im Verstand herumspukte.

Doch es deutete nichts auf einen Kampf hin, der stattgefunden haben könnte. Die Möbel waren fein hingestellt, nichts war umgeflogen. Nur neben dem Mülleimer lagen ein paar Fetzen Papiere. Rechnungen. Vollkommen unwichtig. Doch auf dem Tisch lag ein Brief, der nicht geöffnet war.

Langsam ging ich auf den Brief zu, befürchtend, dass mir jede Sekunde das Herz stehenblieb, wenn ich ihn nicht wegging. Doch ich konnte nicht. Irgend etwas trieb mich voran, den Brief aufzuheben, ihn zu lesen . . . und dann der schrecklichen Wahrheit ins Auge zu sehen.

Zwei Briefe lagen dort.

Ich hatte keine Ahnung, wie ein zweiter dorthingekommen war, aber es war mir egal. Es war noch einer da, und ich wusste nicht, wie er dorthin gekommen war. Das interessierte mich auch nicht, als ich den einen Brief packte und ihn öffnete. Mein Herz, das kurz davor gestanden hatte, vor Schreck einen Auerbachsalto schlagen zu wollen, beruhigte sich wieder etwas, als ich die Einladung zum Klassentreffen am Freitag las.

Dann nahm ich, etwas ruhiger, den zweiten Brief in die Hand und öffnete ihn.
 

Ranma,

Akane hatte einen Unfall und liegt im hiesigen Krankenhaus. Es geht ihr nicht gut. Sie ließ uns ausrichten, dass Sie dich im Moment nicht sehen will, weshalb auch immer, mein Sohn. Wir wissen nicht, was passiert ist und ich fürchte, Akane scheint dir die Schuld daran zu geben. Ich bin mit Soun, Kasumi und Nabiki unterwegs zum Krankenhaus.
 

Dein Vater, Genma
 

PS: Ich gehe zurück zu deiner Mutter Nodoka und werde wahrscheinlich eine längere Zeit bei ihr bleiben. Versuche nicht uns zu erreichen, sondern Sorge dich um Akane, auch wenn Sie dich nicht zu sich lassen will.
 

Ich zerdrückte das Stück Papier wütend in meiner Hand, warf es in Richtung Mülleimer, doch der Brief prallte am Rand ab, fiel zu Boden und rollte ein paar Meter über den Boden. Das war echt die Krönung für diesen beschissenen Tag, dachte ich mir und ging die Treppe hinauf.

In Gedanken ging ich den Brief wieder und wieder durch. Ich dachte an Paps, der sich jetzt aus dem Staub machte. Aber in einem hatte er recht. Nämlich, dass ich mich um Akane kümmern musste.

Aber . . . wieso wollte Sie mich nicht sehen? War es etwa wegen der Verlobungsgeschichten. Oder was. Außerdem hatte Sie mir doch gesagt, dass ihr das ganze kaum etwas ausmachte. Hatte Sie das wirklich gesagt, fragte eine Stimme in seinem Hinterkopf unangenehm, wirklich und wahrhaftig, oder war das nur eines der Märchen, dass du dir so lange eingeredet hattest?

Ich versuchte die Stimme zu verdrängen, dafür erschien nun eine andere Stimme in seinem Kopf. Ja, bald werde ich sehen können. Richtig sehen, rief Mousse Stimme. "Halt's Maul", sagte ich laut, nur um die Stille um mich herum zu durchbrechen. Ich ging weiter und plötzlich erschienen mehrere Gesichter vor meinem geistigen Auge wie eine irre Marschkapelle aus der Hölle. Die Tendous (vor allem Akane), Vater, Mousse, Ryouga und auch die beiden Maler waren darunter.

Verwirrung. Nichts als Verwirrung.

Ich ging hinauf in den Schlafraum von mir und Vater. Als ich die Tür öffnete, fand ich nur noch meinen ganzen Krempel vor. Eigentlich war es ein so typischer Nerima-Nachmittag, dass andere Menschen wohl damit rechneten, irgendwo das eingetragene Warenzeichen - ® - zu sehen, aber für mich war aus diesem ganzen Tag das Licht gewichen. Ich dachte an die Flasche Fusel, die unten im Wohnzimmer, in der untersten Schublade rechts im Wandschrank zu finden war, aber plötzlich schien mir die Anstrengung zu groß, sie zu holen. Es schien, als müsste ich den Mount Everest mit Turnschuhen besteigen.

Der Geruch der frischen Farbe an Ucchans' drang jetzt bis zu mir, und ich wusste, dass dieser lediglich in meiner Einbildung bestand. Normalerweise mochte ich den Geruch frischer Farbe, aber heute nicht. Diesmal war es der Geruch von allem, was schiefgegangen war.

Mir fiel klar und einfach ein - ich könnte mir denken, daß großen Menschen ihre Einfälle immer so kommen -, wenn es einem Arzt gelingen würde, den Krebs herauszuschneiden, der meinen Freund und Touristenführer Arnie umbrachte, dann wäre der weiß. Austernweiß. Und er würde genau wie frische Farbe der Marke Dutch Boy riechen.

Dieser Gedanke war so ermüdend, daß ich den Kopf senken, die Handballen auf die Schläfen pressen und ihn stützen mußte . . . vielleicht wollte ich auch nur verhindern, daß er explodierte und eine Schweinerei auf die Wände spritzte. Selbst als die Tür leise geöffnet wurde, drehte ich mich nicht um. Es schien eine größere Anstrengung zu sein, die ich überhaupt erbringen konnte.

Außerdem hatte ich die seltsame Vorstellung, daß ich bereits wußte, wer es war. Ich konnte dieses Wissen nicht erklären, aber die Schritte klangen irgendwie vertraut. Ebenso wie das Hugo Boss Rasierwasser, auch wenn ich den Namen nicht kannte. Aus einem einfachen Grund. Ich hatte es noch nie gerochen. Aber wie konnte ich einen Geruch kennen, den ich noch nie wahrgenommen hatte, werden Sie sich fragen. Das weiß ich selbst nicht, Freund, aber es ist so.

Und das war noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war: ich war fast besinnungslos vor Angst. Ich habe dem waffenstarken Mousse, meinem Rivalen Ryouga, dem Schwertkämpfer Kunou, Happousai und den Amazonen gegenübergestanden, eigentlich ein ereignisreiches Leben. Aber nichts hatte mir solche Angst gemacht, wie mir dieses Rasierwasser und die Geräusche seiner Schritte, angst machten.

Mein Körper schien sich nicht umdrehen zu wollen, und ich wollte ihn nicht sehen.

"Ranma", sagte eine Stimme. Eine Stimme die ich noch nicht gehört hatte, eine Stimme, die mir trotzdem so bekannt war wie meine eigene. Dieses Wort, und das Gewicht meines Körpers schnellte auf eine Tonne herauf.

"Machen Sie, dass Sie rauskommen, wer immer Sie auch sind", sagte ich, ohne mich umzudrehen. "Sie dürfen hier nicht hinein." Aus unerfindlichem Grund fügte ich hinzu: "Wegen Umzugs."

"Schlechter Tag, Ranma?"

Drückte die Stimme Mitgefühl aus? Ich fand, irgendwie ja, was alles noch schlimmer machte. Wer der Kerl auch immer sein mochte, ich wollte sein Mitleid nicht. Etwas sagte mir, daß sein Mitleid schlimmer sein würde, als sein Hass.

"Nicht so schlecht", sagte ich und setzte mich an den neu hingestellten Schreibtisch, in den Stuhl und stützte den Kopf mit den Händen auf die Tischplatte. Ich starrte hinab, als hinge mein Leben davon ab. Dort studierte ich die Nummer von Ryougas Handy-Nummer die er dorthin gekritzelt hatte - 0700-381459761. Es schien eine gute Idee zu sein, die Nummer zu studieren. Ich wusste nicht, wer mein Besucher war, aber ich wusste, ich wollte ihn nicht sehen. Das war das einzige, was ich wußte.

"Ich glaube, du bist ein wenig . . . sagen wir, unlauter?" fragte die Stimme, und es war tatsächlich Mitleid. Mein Magen verkrampfte sich dabei zu etwas, was sich wie eine säuregetränkte Faust anfühlte. Ein Knarren ertönte, als er auf dem anderen Stuhl Platz nahm. Er musste nun zum Fenster hinausblicken, saß daher direkt vor mir.

"Ich weiß nicht genau, was das Wort bedeutet, aber sagen wir es meinetwegen", stimmte ich zu. "Und nachdem wir es nun gesagt haben, warum stehen Sie nicht gleich wieder auf, und verziehen sich? Ich denke, ich werde ein paar Tage krankfeiern. Das kann ich ohne großes Hin und Her, verstehen Sie, weil mir der Schuldirektor egal ist. Schön, wie sich manchmal alles so trefflich fügt, was?"

"Kann schon sein. Sie mich an, Ranma."

Mein Herz schlug wieder unregelmäßig, aber ich studierte weiterhin 0700-381459761. Ein Teil von mir fragte, wie es Ryouga wohl ging.

"Sieh mich gefälligst an, Ranma."

Ich wollte nicht, hob aber trotzdem den Kopf. Er saß vor mir und blickte zu mir herüber. Das Licht fiel auf die Züge seines Gesichts, dass einen Dreitage-Bart hatte, eingefallene schwarze Augen hinter Brillengläsern und schwarzen Haaren. Seine Statur ließ eine gewisse Sportlichkeit erahnen, die bestimmt mit Kampfsport zu tun hatte. Naja, immerhin hatten wir das gemein.

Der Ausdruck von Mitleid in seinen Augen, war das Teuflischste was ich jemals gesehen habe, und als er seine Hand ausstreckte, verspürte ich den Wunsch, vom Stuhl aufzustehen und mich aus dem Fenster direkt in den Vorhof des Hauses zu stürzen. Ich hätte es vielleicht getan, wäre ich nicht so verwirrt, so durch und durch verloren gewesen. Ich hatte das Wort unmännlich schon oft von meinem Vater gehört, aber dies war das erste Mal, dass ich mich selber so fühlte.

Plötzlich wurde es dunkel im Zimmer. Der Tag war völlig klar gewesen, das hätte ich beschwören können, aber jetzt hatte sich eine Wolke vor die Sonne geschoben.

Der Mann auf der anderen Seite des Schreibtisches war fast zwanzig Jahre älter als ich.

Er nahm meine schlaffe Hand vom Tisch und schüttelte sie so heftig wie ein Grundstücksmakler beim Verkauf und ließ sie wieder fallen. Sie landete mit einem Plop auf der Schreibtischplatte und bedeckte Ryougas Handy-Nummer. Als ich die Finger wieder hob, stellte ich fest, daß Ryougas Nummer fort war. Tatsächlich war alles fort, was jemals auf dem Tisch eingekritzelt war. Die Tischplatte war so rein - nun, so rein wie das Gewissen eines bigotten Baptisten.

"Herrgott", krächzte ich. "Herrgott noch mal."

"Keineswegs", sagte der Mann vor mir, der in dem anderen Stuhl saß. "Hepbourne. Daniel D. Hepbourne. Zu deinen Diensten."
 

Ende Kapitel 4 von 7.



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