Hoffnung
Gedankenverloren spielte Tala mit dem Handy in seiner Hand und warf dabei gelegentlich einen Blick auf die Uhr. Es war früher Nachmittag, und es war unwahrscheinlich, dass Bryan ihn vor dem Abend anrufen würde; dennoch beschäftigte ihn dessen Vorhaben bereits den ganzen Tag – zumal Bryan ihm verboten hatte, zu helfen, oder überhaupt anwesend zu sein, bevor er nicht fertig war.
Er musste das alleine schaffen, hatte er gesagt.
Nun, nicht direkt gesagt – eigentlich sprach Bran kein Wort mehr, seit man sie aus der Abtei geholt und in dieses Kaff gebracht hatte, um sie zu resozialisieren, wie es so schön in den Akten stand.
Doch Tala brauchte keine Worte, um sich mit Bryan zu verstehen.
Ein Blick, eine Geste, das leichte Neigen des Kopfes waren meist genug, um endlose Unterhaltungen zu führen und sich über alles in der Welt zu verständigen, wenn sie es denn wollten.
Nur dass Bryan auch das nicht mehr tat, seit sie hier waren.
Er hatte sich vom Rest des Teams, vom Rest der Welt abgekapselt – seine Therapeuten bezeichneten ihn als unkooperativ und hoffnungslos; das Einzige, was sie davon abhielt, Bryan endgültig in eine geschlossene Anstalt abzuschieben, war die Tatsache, dass er ihnen bisher noch keinen konkreten Grund gegeben hatte. Doch sie würden einen finden, da war sich Tala sicher.
Sie hatten Bryan schon längst abgeschrieben – und, wenn er ehrlich war, hatte er selbst vor einiger Zeit ebenfalls die Hoffnung aufgegeben.
Die Hoffnung, dass die Wunden, die die Biovolt geschlagen hatte, jemals heilen würden.
Die Hoffnung, dass ihr Team jemals zu der Familie zusammenwachsen würde, die sie sich alle so wünschten.
Die Hoffnung, dass er jemals wieder in die Augen seines besten Freundes blicken könnte und das Gefühl hätte, dass es nichts gab, das zwischen ihnen stand.
Er schämte sich dafür, doch Bryan war in seinem Herzen bereits vor einiger Zeit gestorben – bis er an jenem merkwürdigen Morgen vor drei Wochen zu ihm gekommen war.
Er brauche Gartengeräte, hatte er gesagt, und Tala hatte ihn minutenlang nur angestarrt; er hatte sich kaum noch an den Klang von Bryans Stimme erinnern können. Als Bryan noch nachgesetzt hatte, dass es um ein Grab ging, war Tala in Gedanken sofort alle Regionalnachrichten der letzten Wochen durchgegangen – doch nachdem er sich an keine Berichte über einen Mord oder Vermisstenmeldungen erinnern konnte beschloss er, dass Bryan wohl glücklicherweise niemanden umgebracht hatte und es nicht um die Vereitelung einer Straftat ging.
Mit einem Nicken hatte er also begonnen, die Baumärkte in der Gegend und ihr Sortiment im Internet abzufragen, doch nachdem Bryan ihm nicht hatte sagen können, welche Geräte und Pflanzen er eigentlich suchte, hatte er die Suche schnell wieder beendet und stattdessen mit der Recherche zu Grabpflege und Gartenarbeit begonnen.
Mit einem schweren Seufzen stand Tala auf und ging in das Wohnzimmer, wo er sich auf dem alten, abgewetzten Ledersofa niederließ und nach dem Buch griff, das auf dem Kaffeetisch lag und das er nun schon seit einigen Tagen nicht-las. Lustlos blätterte er in den Seiten und zog alle paar Minuten sein Handy hervor, um nachzusehen, ob Bryan sich schon gemeldet hatte.
In den vergangenen drei Wochen hatten sie gemeinsam viel über Grabpflege gelernt, wie man einen verwilderten Garten wiederherrichtete, und wie man die Erde bearbeiten musste, damit neue Blumen möglichst schnell angingen.
Tala hatte vor allem Informationsmaterial beschafft, und Bryan hatte sich in die Materie gestürzt als habe er seine Berufung zum Friedhofsgärtner erkannt – ohne Tala zu erklären, warum genau er es eigentlich tat.
Doch die Tatsache, dass Bryan auf einmal mit der Leidenschaft und Hingabe, für die Tala ihn in der Abtei immer bewundert hatte, wieder auf ein Ziel hin arbeitete veränderte etwas in ihm. Wo er vorher sein Inneres mit der beruhigenden Schwere dumpfer Schicksalsergebenheit gefüllt hatte, begann etwas, zu keimen. Etwas, das er schon lange nicht mehr gefühlt hatte.
Hoffnung.
Und mit jedem Blick, den Bryan ihn bei ihrer gemeinsamen Arbeit zugeworfen hatte, mit jeder Bepflanzungsskizze, die er ihm vorgelegt hatte, mit jedem Wort, das er aussprach, um seine Meinung einzuholen, spürte Tala, wie der Same austrieb, den Bryan dort gesät hatte. Als sie gestern schließlich alle Geräte und Pflanzen gekauft hatten, da war dieses Gefühl bereits zu einer gesunden Pflanze herangewachsen.
An diesem Morgen hatte er Bryan schließlich zum Friedhof gebracht, und als er ihm dabei geholfen hatte, alle Utensilien zum Grab zu bringen, war für ihn mehr als deutlich geworden, dass sich in diesen letzten Wochen etwas geändert hatte. Etwas in Bryan – und etwas in ihm. Als hätte Bryan etwas gefunden, dass sie verloren hatten, und es auch ihm, Tala, wiedergegeben.
Wie Tala erwartet hatte war es bereits früher Abend, als sein Handy endlich vibrierte und eine Nachricht von Bryan anzeigte.
Sie enthielt nichts weiter als einen einzigen Punkt, doch für Tala reichte das.
Er spürte ein leichtes Kribbeln in der Brust, als er seine Schuhe anzog und den Autoschlüssel in die Tasche steckte. Aufregung. Etwas, das er schon seit Jahren nicht mehr gefühlt hatte.
Es dauerte nicht lange, bis er am Parkplatz des Friedhofs angekommen war, wo Bryan bereits auf ihn wartete.
Stumm verstauten sie die Geräte im Kofferraum des dunklen Kombis, dann verschlossen sie das Auto und gingen gemeinsam in den Friedhof, zum frisch bepflanzten Grab.
Anerkennend nickte Tala, als er sich die Blumen betrachtete, und auf seinem Gesicht erschien die Spur eines Lächelns.
Es ist wunderschön geworden.
Und in ihm war die Hoffnung zu einem mächtigen Baum herangewachsen.