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Vergissmeinnicht

Angelina x George
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo meine Lieben,

Angelina und George sind meiner Meinung nach ein stark unterschätztes Paar im Harry Potter Universum, denn ihre komplexe Liebesgeschichte bietet einiges an Zündstoff!
Leider gibt es viel zu wenig gute Fanfictions zu den beiden, die meinen Ansprüchen genügen ;)

Ich denke, ihr Weg bis hin zu ihrer Hochzeit und den beiden gemeinsamen Kindern Fred und Roxanne ist nicht leicht gewesen.
Im Gegensatz zu J.K. Rowling glaube ich auch, dass es alles deutlich komplizierter war bis die beiden endlich ein Paar wurden.

Die Geschichte ist bereits beendet und ich werde sie nun Stück für Stück hier hochladen.

Ich wünsche euch viel Spaß und freue mich über eure Ideen zur Beziehung der beiden,
gerne auch mit FF Empfehlungen zu dem Thema!

Liebste Grüße,
eure Nubes Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo meine lieben Leser :)

nun haben wir die Hälfte dieser FF erreicht und ich möchte mich deswegen kurz zu Wort melden.
Zunächst einmal: vielen lieben Dank für 3 Favoriteneinträge! Ich freue mich, dass meine Geschichte offenbar gelesen wird und hoffe, dass es euch gefällt. Es wäre klasse, wenn ihr mir in einem Kommentar Rückmeldung geben würdet, gerne auch Kritik und Anmerkungen, damit ich besser werden kann.

Jetzt wünsche ich euch viel Spaß mit Angelinas Morgen danach!

allerliebste Grüße, Nubes Komplett anzeigen

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Prolog

Hogwarts – 01. Mai 1998

 

Der Nachthimmel über dem Schloss war noch immer taghell erleuchtet von umherfliegenden Flüchen und Zaubern, die sonst so idyllische Stille über dem Gelände durchbrochen von unheilvollem, aber bereits abklingendem Kampflärm. Voldemorts Anhänger begannen einer nach dem anderen, sich umzuwenden und flohen panisch Hals über Kopf in den verbotenen Wald.  Sie konnten es alle spüren. Voldemort war nicht mehr. Der dunkle Lord und seine Macht gebrochen; besiegt von dem Jungen, der überlebt hatte. Die Aura des Bösen und der Dunkelheit lag schwer über dem Schlachtfeld, aber sie begann bereits sich zu verflüchtigen. Hinter den Fliehenden pfiffen immer noch Flüche durch die Luft. Angelina konnte jetzt trotz des ohrenbetäubenden Lärms um sie herum den Jubel vom Schloss herüber klingen hören.

 

Die zwei Werwölfe, die vor wenigen Minuten noch zum Angriff angesetzt hatten, hatten plötzlich angsterfüllt aufgejault und auf der Stelle kehrt gemacht. Einen hatte sie noch auf der Flucht mit einem gut gezielten Petrificus totalus unschädlich machen können, er lag nun gefesselt und ohnmächtig zu ihren Füßen. Ihr verkrampfter Körper und ihre zum Zerreißen gespannten Muskeln begannen, sich ein wenig zu lockern. Sie ließ den Zauberstab sinken und sank erschöpft auf die Knie. Einige Tränen der Erleichterung und sich lösender Anspannung liefen ihr stumm über das Gesicht, doch sie fasste sich sofort wieder. Sie musste Hannah helfen! Hannah Abbott, die ihr tapfer zur Seite gestanden und beherzt eingegriffen hatte, als sie von drei Wölfen gleichzeitig attackiert worden war, lag ohnmächtig zu ihrer Rechten und war offenbar am Kopf verletzt. Als Angelina sich zu ihr hinunter beugte, sah sie aus dem Augenwinkel Marcus Flint auf sie zu rennen.  

 

„Angelina, ist alles in Ordnung?“  

„Hannah ist verletzt Marcus, ich weiß nicht wie ernst es ist. Wir wurden von den Wölfen quasi überrannt. Ich… Hast du Katie gesehen?“

„Ihr geht es gut, keine Sorge. Warte, ich helfe dir. Ich bringe sie zu Madam Pomfrey, schaffst dus alleine zurück zum Schloss?“

 

Als er das sagte, war er schon dabei, Hannah vorsichtig hochzuheben und im Begriff zu gehen. Aus der tiefen Feindschaft, die sie beide einst auf dem Quidditchfeld verbunden hatte, war zunächst eine Art stillschweigender Waffenstillstand geworden, als sie sich gelegentlich nach ihrer Schulzeit wieder getroffen hatten. Es ließ sich nicht vermeiden, dass sie sich dann und wann über den Weg liefen, wenn Angelina bei Katie vorbeischaute. Aus Zuneigung zu ihrer besten Freundin riss sie sich zusammen und für Flint galt das Gleiche. Denn der riskierte deutlich mehr als sie, wenn er sich die eine oder andere Nacht zu Katie in deren Londoner Wohnung stahl. Über seinen Kopf hinweg hatten seine traditionsbewussten Eltern ihm eine standesgemäße Ehefrau vor die Nase gesetzt und ihm mit einigem Unschönen gedroht, wenn er ablehnte. Während der vergangenen drei Jahre war der tiefe Groll verblasst und sie kamen mittlerweile recht gut miteinander aus, wenn sie auch immer noch nicht in tiefster Freundschaft verbunden waren.

 

Angelina spürte jetzt deutlich die Erschöpfung über ihren Körper hereinbrechen. Sie war ausgelaugt, müde und jeder Muskel schmerzte. Am liebsten hätte sie sich einfach auf den Boden gesetzt und nicht mehr gerührt. Auch während der einstündigen Kampfpause hatte sie unermüdlich Verletze geborgen und sich keine Ruhe gegönnt. Aber jetzt war noch nicht der Zeitpunkt um endlich auszuruhen. Sie musste schleunigst ins Schloss zurück um zu sehen, was aus ihren Freunden geworden war. Vor allem musste sie ihn sehen.

 

Sie hatte zusammen mit Alicia, Marcus und Katie bei den Zwillingen gestanden, die Gruppen von Kämpfern einteilten, um die passierbaren Geheimgänge des Schlosses zu beschützen.  Von allen Menschen in Hogwarts waren es wohl Fred und George, die diese am besten kannten. Plötzlich war Lee Jordan auf sie zugestürmt gekommen und hatte gerufen, dass die Werwölfe die Schutzzauber durchbrochen hätten.  Sie hatte keine Sekunde gezögert, denn sie wusste, dass hier ausgebildete Auroren gebraucht wurden. Keiner der Schüler konnte es mit ausgewachsenen Werwölfen aufnehmen. Sie und ihr bester Freund Lee waren ein eingespieltes Team, arbeiteten sie doch auch oft genug im Außeneinsatz zusammen.  Sie folgte ihm umgehend, blieb jedoch noch einmal kurz stehen und sah über ihre Schulter zurück. Ihre Augen trafen seine, Schokoladenbraun auf Meeresblau. Fred lächelte sie an und nickte fast unmerkbar. Geh nur, hieß das. Wir schaffen das hier. Pass auf dich auf. Seine Lippen  formten ein paar Worte. Ich liebe dich. Sie hatte zurückgelächelt und auf dem Absatz kehrt gemacht.

 

Seit vier Jahren waren sie ein mehr oder weniger heimliches Paar. George wusste es natürlich, Fred hatte schließlich keine Geheimnisse vor seinem Zwilling. Oft genug war sie zu Gast in der Wohnung über dem Laden der Weasley-Zwillinge. Aber sonst hatten sie es nicht an die große Glocke gehängt. Fred war Geschäftsmann und gab niemals etwas Privates preis. Sein Privatleben ginge niemanden etwas an, sagte er immer, es mache ihn angreifbar. Er hatte ihr versprochen, wenn das hier alles vorbei war, dann würde er sie offiziell seinen Eltern und der restlichen Familie vorstellen.

 

Sie ging zügig zurück Richtung der Großen Halle, wo sie die meisten ihrer Mitstreiter vermutete. Gegen Ende rannte sie fast und stieß unsanft mit einem erschöpft wirkenden Mädchen in Ravenclaw-Uniform zusammen. Als sie endlich die Tür zur Großen Halle erreicht hatte, ließ sie den Blick über die dort Versammelten schweifen. Es glich mehr einem Lazarett als einer Siegesfeier, musste sie erschrocken feststellen. Viele schienen verwundet worden zu sein. Aber die Hoffnung war zurückgekehrt. Familien und Freunde hielten sich still oder schluchzend in den Armen, einfach froh, die Schlacht überlebt zu haben. Ihre Augen suchten unruhig die Menschenmenge ab. Wo waren die Weasleys? Als sie sie endlich entdeckte, beschleunigte sich ihr Schritt, doch Sekunden später ließ sie eine schreckliche Vorahnung abrupt stehen bleiben. Sieh sah Arthur, der seine Arme um Molly gelegt hatte und starr geradeaus an die Wand gegenüber blickte. Sein Blick war glasig. Bill hatte Ginny im Arm, die von Weinkrämpfen geschüttelt wurde. Ron und Charlie standen einfach nur da und rührten sich nicht. Percy saß am Boden, das Gesicht in den Händen vergraben. Und dann sah sie George, gebeugt über jemanden, der am Boden auf einer Tragebare lag. Er saß ganz steif da, aber an seinen verkrampften Händen und seinen leeren Augen erkannte sie, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Das Schrecklichste, was überhaupt hätte passieren können.

 

Ihre Augen weiteten sich vor Panik. Das konnte nicht sein. Die Erkenntnis senkte sich langsam und schwer wie Blei auf sie. Eine eiskalte Hand legte sich auf ihr Herz und drückte zu. Sie begann zu zittern. Ein fast tonloser Schrei kam über ihre Lippen und ihr wurde kurz schwarz vor Augen. Ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr. Sie drehte sich langsam um und versuchte, einen Fuß vor der anderen zu setzen. Weg hier, bitte, einfach nur weg hier. Sie begann zu laufen, ohne auf den Weg zu sehen und schlitzte sich den Arm an einem abgebrochenen Holzpfahl auf, aber sie spürte es nicht.

Ihre Füße trugen sie, ohne dass sie wusste wohin sie ging. Als sie wieder sehen konnte, hatte sie das Ufer des schwarzen Sees erreicht. Bedrohlich still und unwirklich schön lag er im Licht der aufgehenden Sonne da, nur die Trümmer, die verstreut in den Wiesen lagen, deutete darauf hin, dass hier noch vor einer Stunde um Leben und Tod gekämpft worden war. Sie stolperte und stürzte auf den Boden. Ein scharfer Schmerz fuhr durch ihren Unterleib und sie wollte schreien, doch sie konnte nicht. Ihre Panik wurde noch größer. Was passierte hier? Konnte diese lange Nacht tatsächlich noch schrecklicher werden? Der Schmerz intensivierte sich und endlich, endlich konnte sie schreien. Ihr eigener Schrei kam ihr unwirklich vor, sie hörte ihn wie aus weiter Ferne. Ihre vom Aurorentraining geschärften Instinkte sagten ihr, dass sie gleich ohnmächtig werden würde. Doch sie kämpfte nicht dagegen an. Alles, was ihre Schmerzen, seelische und körperliche, betäuben würde, war ihr willkommen. Langsam verschwamm der See wieder vor ihren Augen, bis alles um sie herum endlich dunkel wurde.

Dunkelheit

-St. Mungo’s Hospital -

 

Dumpfes Murmeln, eher ein unwirkliches Summen weit entfernt, war das Erste, das sich in ihr Bewusstsein drängte. Langsam kehrte Angelina in die Wirklichkeit zurück. Oder war es nur ein Traum? Vielleicht einfach nur ein schrecklicher Alptraum… Es wäre zu schön gewesen um wahr zu sein. Sie wusste nicht, wo sie war. Sie konnte nichts hören oder sehen. Erst langsam begannen ihre Sinne, zurückzukehren. Sie fühlte weichen Stoff unter sich. Ein Bettlacken. Sie versuchte, sich zu bewegen, was ihr gründlich misslang. Es verstrichen noch ein paar Minuten und das unverständliche Summen, das in ihren Ohren brummte, wurde klarer, deutlicher, bis sie eine Stimme vernahm, die leise mit einer zweiten sprach.

 

„Danke Miranda, ich denke, ich komme alleine zurecht. Sag den anderen Schwestern, sie sollen sich um die Schwerverletzten kümmern, gerade sind neue Patienten angekommen.“

„Sind Sie sicher, Miss Bell? Ihr Arm… er blutet immer noch. Soll ich nicht lieber schnell einen Kollegen holen?“

„Es gibt für dich wichtigeres zu tun, Miranda, bitte. Ich kann das auch selbst richten.“

„Natürlich, Miss Bell. Dann.. sehen wir uns später.“

 

Angelina hörte, wie jemand die Tür öffnete und das Zimmer verließ. Sie hörte Schritte näher kommen und zwei warme Hände nahmen ihre eigene. Sie versuchte noch einmal, die Augen zu öffnen und diesmal klappte es. Sie stöhnte, als ihr schmerzender Körper in ihr Bewusstsein zurückdrang und blickte in das zunächst verschwommene, dann immer klarer werdende Gesicht ihrer besten Freundin. Ein tiefer Kratzer zog sich über deren Hals und ihr linker Oberarm war bis über die Schulter in einen Verband gewickelt, durch den das Blut bereits bis durch den limonengrünen Umhang gesickert war. Unter diesem konnte Angie die Jeans und die Bluse erkennen, die Kathi schon in der Nacht der Schlacht getragen hatte, nur dass diese jetzt zerrissen und teilweise schwarz angekohlt waren.

 

„Katie…“

„Angie“, Katie unterdrückte ein Schluchzen, „endlich bist du aufgewacht!“

„Was ist passiert, Katie?“

„Du hast so viel Blut verloren, Angie, ich hatte Angst ich verliere dich.“

 

Sie nahm ihren Zauberstab aus dem Kittel und  murmelte ein paar Worte, und Angelinas Körper wurde augenblicklich angenehm taub.

 

Katie war Heilerin und arbeitete im St. Mungo’s als Spezialistin für Kopfverletzungen und neurologische Erkrankungen, hatte es sich aber nicht nehmen lassen, sich um Angelina selbst zu kümmern. Keiner der anderen Heiler hatte ihr widersprochen.  Direkt nach der Schlacht war sie ihren eigenen Verletzungen zum Trotz hier hereingestürzt und hatte sich nur unter Protest äußerst notdürftig von einer der Schwestern den Arm verbinden lassen, bevor sie in das Operationszimmer gestürzt war. Für einen Heilzauber hatte sie den anderen Heilern keine Zeit gelassen.

 

Sie hatte den ersten Grundausbildungsteil ihrer komplizierten Ausbildung zur Neuroheilerin erst in diesen Frühling beendet und war in den Rang einer Assistenzheilerin aufgestiegen, die aufgrund ihrer Fähigkeiten und schnellen Auffassungsgabe vom Stationsleiter der Neurologie, Hector Prewett, schon öfters zu komplizierten Eingriffen hinzugezogen wurde. Dennoch würde ihre Ausbildung noch weitere drei Jahre andauern. Gerade Zaubersprüche, die am Gehirn von Menschen Änderungen vornahmen, waren sehr heikel und bedurften langer Erfahrung und ausführlichem Hintergrundwissen.

 

„Hast du noch Schmerzen?“

„Jetzt nicht mehr.“ Angelina lächelte gequält, ihre Stimme kratze noch leicht. Dann wurde sie ernst.

„Sag mir was geschehen ist, Katie, und keine Beschönigungen oder Ausflüchte. Es kann nicht schlimmer werden als es schon ist. Ich habe nichts mehr zu verlieren und ich will es wissen.“

 

Sie blickte auf zu ihrer Freundin und sah erst jetzt, wie völlig erschöpft sie aussah. Ihre Augen waren rot geweint, sie hatte graue Schatten unter den Augen und sowohl der Arm als auch der Schnitt an ihrem Hals bluteten immer noch.  Vermutlich keine normalen Wunden, sondern Fluchtreffer. Katie schluckte und begann dann mit brüchiger Stimme zu reden.

 

„Wie ich schon sagte Angie, du… hast sehr viel Blut verloren. Dein Arm war bis zum Ellebogen aufgerissen und deine Radialisarterie war verletzt, sodass ich einige Ampullen des entsprechenden Heiltrankes gebraucht habe, bis die Wunde sich halbwegs geschlossen hatte. Und außerdem…“

 

Sie schluckte wieder und zwei Tränen liefen ihr über die Wangen. Katie drückte Angelinas Hand fester.

 

„Du hattest eine Fehlgeburt Angie… Du… Du warst erst in der 8. Woche,  aber der Stress… der Schock… das… war wohl alles zu viel heute Nacht; und du bist wohl gestürzt. Dabei hast du das Baby verloren und noch mehr Blut… Ich hab mein Bestes gegeben, aber ich konnte nichts mehr tun... Wenn er dich nicht gefunden hätte…“

 

Sie brach ab, ihre Stimme erstickt von Tränen. Angelinas Augen hatten sich geweitet, aber sie sagte kein Wort. Sie war schwanger gewesen… Das hatte sie nicht gewusst. Es war definitiv nicht geplant gewesen. Er wäre Vater geworden. Und er würde es nie erfahren.

Katie sprach jetzt sehr leise, aber wieder mit fester Stimme.

 

„Es war Freds Kind, nicht wahr?“

 

Angelina konnte nicht sprechen. Sie spürte die eisige Hand um ihr Herz noch fester zudrücken. In ihrem Kopf war nur Schwärze und sie zitterte wieder.  Sie drehte langsam den Kopf zu Katie und schaute ihr in die Augen. Das war Bestätigung genug. Katie sagte nichts, sie beugte sich lediglich nach unten und umschlang ihre Freundin mit beiden Armen. Angelina war immer noch starr vor Schrecken, aber sie wehrte sich nicht. Dennoch konnte die Wärme ihrer Freundin ihr keinen Trost spenden. Leere. Es dauerte mehrere Minuten, bis Angelina ihrer Stimme wieder mächtig wurde.

 

„Bitte Katie… behalt es für dich. Es würde ja doch nichts mehr ändern. Und es würde alles nur noch schwerer machen.  Ich bitte dich…“

 

Katie drückte sie fester an sich und ihr liefen stille Tränen über die Wangen.

 

„Natürlich… ich verspreche es.“

 

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- In der Nähe von Bukarest, Rumänien  - Juni 1998 -

 

Leise knackten ab und zu Zweige unter ihren Füßen. Beinahe lautlos und unsichtbar bewegte sich die kleine Gruppe Auroren durch den dichten rumänischen Wald. Es war schließlich ihr Job, unbemerkt zu bleiben.

Angelina und Lee Jordan hatten beide nach dem Abschluss in Hogwarts in der Aurorenausbildungszentrale des Ministeriums angefangen und unter der Leitung Kingsley Shaklebolts ihr Handwerk gelernt, der, wie sie erst viel später erfuhren, ein führendes Mitglied des Ordens war. Die Korruption innerhalb und Infiltration des Ministeriums durch die Todesser hatte bereits begonnen, aber die Auroren waren stets ein eingeschworenes Team geblieben. Oft waren sie auch in nicht autorisierten Operationen unterwegs gewesen und hatten heimlich und unauffällig unter Shaklebolts Führung versucht, so viele Verbrechen wie möglich, welche tagtäglich unter dem immer größer werdenden Einfluss des Bösen begangen wurden, zu verhindern. Sie alle bewunderten ihren Chef für sein risikoreiches doppeltes Spiel, mit dem er die korrumpierte Führung des Ministeriums an der Nase herumführte. Nachdem die Übernahme des Ministeriums durch Lord Voldemort nicht mehr zu verleugnen gewesen war, hatten die meisten verängstigten Zauberer und Hexen jeden Schutz, den sie bekommen konnten, dankend entgegen genommen. 

 

Jeder junge Auror konnte in diesen Zeiten Praxiserfahrung zu Genüge sammeln, denn Angriffe auf Zauberer und Übergriffe auf Muggel waren an der Tagesordnung. Oft hatten sie fast drei Tage am Stück gearbeitet, bevor sie völlig erschöpft ins Bett fallen konnten. Als sie sich das Vertrauen von Nymphadora Tonks, die ihre offizielle Teamleiterin gewesen war und Kingsley Shaklebolts erarbeitet hatten, waren sie auch selbst Mitglieder im Orden des Phönix geworden. Doch das hatte noch zusätzliche Arbeit bedeutet. Oft hatte Angelina Fred tage- bis wochenlang nicht gesehen. Es gab kaum etwas was sie heute, knapp fünf Wochen nach seinem Tod, mehr bereute. Der Schmerz war jetzt dumpfer, tief verschlossen in ihrem Inneren. Sie ließ ihn nur selten zurück an die Oberfläche kommen, denn sie konnte keine Tränen mehr vergießen. Aber er war kein bisschen erträglicher geworden.

 

Auch jetzt ließ ihr die Arbeit kaum Zeit im Selbstmitleid zu baden und das war gut so. Nach ihrer Entlassung aus St. Mungo’s nach einer Woche war sie zunächst zurück zu in ihr Eltern gezogen, die in Cornwall lebten. Aber das Herumsitzen in ihrem alten Kinderzimmer hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Realistischer, grausamer, unerträglicher. Sie sah ein, dass Ablenkung das Einzige war, was irgendwie helfen würde. Sie zwang sich, eine Maske der Gleichgültigkeit aufzusetzen, errichtete eine Mauer um ihr Herz und versuchte damit zu erreichen, sich möglichst nichts anmerken zu lassen. Es klappte erstaunlich gut. Nur ihre besten Freunde konnte sie damit nicht täuschen. Außer Katie, Alicia und Lee wollte sie niemanden sehen, den sie kannte. Auch die drei trauerten um ihren toten Freund und sie bedrängten Angelina nicht. Die drei Freundinnen und auch Lee hatten noch nie vieler Worte bedurft um sich gegenseitig zu verstehen. Angelina hatte zunächst daran gezweifelt, aber ihre Gesellschaft half ihr wirklich ein wenig, jeden Morgen wieder aufzustehen.

 

Am wenigsten wollte sie einem der Weasleys über den Weg laufen. Sie wusste, sie hätte ihnen nicht in die Augen sehen können. Vor allem nicht George. Er war der einzige Mensch, der ahnen konnte, was sie verloren hatte. Sie wusste einfach nicht, wie sie es ertragen sollte, ihn so zu sehen. Er hatte seinen Zwilling verloren, sein zweites Ich. Dagegen musste ihre Trauer klein und unbedeutend erscheinen.  In ihrem Inneren krampfte sich jedes Mal alles zusammen, wenn sie an George dachte. Sie war seit Jahren mit den Zwillingen befreundet, seit fast drei Jahren Dauergast in deren Wohnung gewesen. Auch George war ihr mittlerweile mehr als nur der Bruder ihres Freundes, mehr als ein gewöhnlicher Freund. Sein Verlust war nicht mit Worten zu beschreiben, doch sie konnte ihm keinen Trost spenden. Wenn sie den Schmerz in seinen Augen las, würde ihr ganzes Maskenspiel in sich zusammen- und sie auseinander brechen. Das konnte sie nicht noch einmal ertragen, nachdem sie sich so mühsam über die letzten Wochen wieder Stück für Stück zusammengesetzt hatte.

 

Während sie ungeduldig wartete, wieder arbeiten zu dürfen, hatte sie mit Katie bei der Pflege der schwerer Verwundeten geholfen. Es waren Freiwillige hierfür gesucht worden. Diese Zauberer und Hexen würden teilweise nie mehr gesund werden. Alles was sie für diese Menschen tun konnten, war ihr Leiden etwas zu lindern. Sie musste sich glücklich schätzen, dass sie mit ihrem nackten Leben davon gekommen war. Zumindest zwang sie sich immer wieder, das zu denken. Nach zwei langen Wochen konnte sie endlich an ihren Arbeitsplatz zurückkehren.  Sie nahm jede Ablenkung dankend entgegen, es gab viel zu tun und jede Hand wurde gebraucht. Niemand stellte ihr lästige Fragen und alle waren zu beschäftigt, um sich tiefergehend zu unterhalten. Gut so.

 

Es galt die letzten flüchtigen Todesser dingfest zu machen. Das hatte sie und ihr Team, bestehend aus ihrem engsten Vertrauten Lee und dem Dritten im Bunde, Blaise Zabini, in die Wälder Rumäniens verschlagen, wo sie Jagd auf die beiden Todesser Mulciber jr. und Selwyn machten.

Blaise, ein ehemaligen Slytherin, der Hogwarts nach dem Machtübernahme der Carrow-Geschwister aus Protest verlassen hatte, war eines Tages im Büro ihres Chefs gestanden und hatte sich beeindruckend ausdauernd um eine Aufnahme ins Trainingsprogramm beworben.  Angelina und Lee waren ihm zunächst skeptisch gegenüber gestanden. Aber Blaise hatte nicht locker gelassen und nach einiger Zeit konnte er Shaklebolt von seinen Absichten und Qualitäten überzeugen. Und diese Entscheidung war richtig gewesen.

 

Offenbar kam Blaise nicht nach seiner berühmt-berüchtigten Mutter, sondern war froh, sich endlich von seiner Familie distanzieren zu können. Er hatte sich als ganz und gar untypischer Slytherin herausgestellt und sich mehr als einmal als loyaler und findiger Teampartner erwiesen. Als sie Ende letzten Jahres in Wales in einen Hinterhalt geraten waren und sich von zehn Todessern umzingelt wiederfanden, hatte er den schwer verletzen Lee unter Einsatz seines eigenen Lebens in einem waghalsigen Manöver aus der Gefahrenzone befördert. Es hatte ihm eine tiefe, schmerzhafte Wunde im Bauchraum eingebracht, die er fast selbst mit seinem Leben bezahlt hätte. Angelina hatte die beiden nach Eintreffen der Verstärkung nebeneinander fast verblutet, aber lebendig auf dem Waldboden etwas abseits vorgefunden. Seit diesem Tag waren die beiden so etwas wie Blutsbrüder und vertrauten einander blind und auch Angelina hatte ihre Vorurteile gegen Blaise aufgegeben.

 

Die Reihen der Auroren hatten sich schmerzlich gelichtet. Tonks war tot, und auch viele der anderen erfahreneren Auroren, die Voldemort und seinen Jüngern schon im ersten großen Krieg die Stirn geboten hatten, hatten die Schlacht von Hogwarts und die Schreckensherrschaft zuvor nicht überlebt. Kingsley Shaklebolt war nun Zaubereiminister und hatte alle Hände voll zu tun, um den Scherbenhaufen, den er übernommen hatte, ansatzweise wieder in eine Richtung geordneter Realität zu führen. Aber er machte seine Sache bisher gut.

Harry Potter, Ron Weasley und einige andere ehemalige Hogwartsschüler, die in der Schlacht mitgekämpft hatten, waren zu ihrer erlesenen Truppe gestoßen und es waren große Umstrukturierungen im Gange. Es würde sich schon bald viel verändern.

 

Bisweilen war allerdings das Ziel, dass absolute Priorität hatte, all jene Anhänger des dunklen Lords, denen nach der Schlacht die Flucht gelungen war, dingfest zu machen.

Diese Aufgabe erfüllten die verbliebenen Auroren mit großer Entschlossenheit, getragen von ihrer Wut und ihrem Hass auf die Feinde. Fast jede Zaubererfamilie hatte in diesen schlimmen Zeiten Angehörige durch die Hand der Todesser verloren.

 

Vor allem Angelina, nach Tonks Tod und in Ermangelung erfahrenerer, älterer Auroren die Teamleiterin ihrer kleinen Dreiergruppe, war in den letzten Wochen gnadenlos gewesen und zeigte keinerlei Barmherzigkeit, wenn sie einen der Fliehenden dingfest gemacht hatten. Besondere Zeiten erforderter besondere Maßnahmen. Sie blieb zwar stets im Rahmen des Legalen, aber sie war hart, fast schon zu ruhig und grausam. Lee machte sich große Sorgen, aber er konnte es ihr nicht verdenken. An diese Kreaturen war jedes Mitleid verschenkt, dennoch war es eigentlich nicht Angies Art. Er kannte sie als das fröhliche, Quidditch-verrückte Mädchen, welches sie einmal gewesen war und er vermisste all die unbeschwerten Stunden. Aber der Krieg veränderte die Menschen.

Angelina war ihm gegenüber verschlossen und ließ ihn nicht mehr an sich heran, ganz anders als früher. Er spürte, dass die Last, die sie mit sich trug, sie zu ersticken drohte. Aber er wusste auch, dass er sie nicht zwingen konnte sich ihm zu öffnen. Auch er hatte mit Fred einen guten Freund verloren und er trauerte um ihn, doch Angelina war wie ausgewechselt und sie ließ sich nicht helfen.

 

Als es langsam dunkel wurde, beendeten sie die Verfolgungsjagd für diesen Tag. Sie wussten, sie waren auf der richtigen Fährte, aber es würde wohl noch ein oder zwei Tage dauern, bevor sie die beiden Todesser einkesseln konnten. Sie bereiteten ihr Lager mit den üblichen Vorsichtsmaßnahmen vor, verteilten Protego totalum-, Repello Muggeltum-, Salvio Hexia- und Muffliato-Zaubersprüche rings um ihren Aufenthaltsort und losten die erste Nachtwache aus. Die Wahl fiel auf Angelina und schon bald schlummerte Blaise friedlich neben ihrem magischen Feuer auf dem Waldboden. Lee schlief nicht, sondern starrte minutenlang schweigend in die Flammen. Dann beschloss er, dass er ein Gespräch nicht länger aufschieben wollte, stand auf und setzte sich leise neben Angelina, die etwas abseits mit gezücktem Zauberstab auf einem Stein saß.

 

„Äpfelchen, so geht es nicht weiter mit dir. Ich mache mir große Sorgen und du weigerst dich, mit mir zu reden. Was hab ich getan, dass du beschlossen hast mich nicht mehr in dein Leben zu lassen?“

 

Lee hatte sie absichtlich bei ihrem Kosenamen genannt. Einen, der nur er benutzte und nur er benutzen durfte. Eine Kindheitserinnerung, die ihre Freundschaft schon immer begleitete.

Als kleiner Bengel von fünf Jahren war Lee mit seinen Eltern in Cornwall im Urlaub gewesen und ihnen bei einem Spaziergang über die Klippen ausgebüchst. Lachend war er durch die schier endlosen Fallobstwiesen auf dem Hügel über dem Meer gelaufen, schelmisch froh über seinen Streich. An einem besonders knorrigen, alten Apfelbaum hatte er weit oben den perfekten Apfel entdeckt und dann todesmutig begonnen, den Stamm hinaufzuklettern. Plötzlich hatte ihn eine Stimme hinter ihm ärgerlich hinterher gerufen. Dies wären die Äpfel ihres Großvaters und er solle sich ja nicht einbilden, einfach einen zu klauen. Vor Schreck war er herunter geplumst und hätte beinahe angefangen zu weinen, als er ein etwa gleichaltriges Mädchen mit wilden braunen Locken und funkelnden Augen direkt vor ihm erblickte, das jetzt ein bisschen erschrocken aussah. Schnell biss er sich auf die Lippe, denn Jungen in seinem Alter weinten ja nicht und schon gar nicht vor einem Mädchen. Sie fragte ihn, ob er sich denn weh getan hätte, woraufhin er natürlich die Schultern straffte, verneinte und sich ihr brüsk vorstellte. Dann hatte sie kleinlaut gestanden, dass sie nicht gewollt habe, dass er vom Baum falle und gesagt, ihr Name sei Angie.

An diesem Tag hatte er Angelina Johnson das erste Mal getroffen und danach waren sie die restlichen drei Wochen seines Urlaubs unzertrennlich gewesen. Die folgenden Jahre schrieben sie sich lange Briefe und Lee verbrachte einige Sommerwochen auf dem Hof ihres Großvaters in Cornwall, sodass sich eine tiefe Freundschaft entwickelt hatte, die in Hogwarts noch enger geworden war. Er war ihr bester Freund und er liebte sie wie eine Schwester. Es tat weh, sie so einsam und gefangen in sich selbst zu sehen.

 

Dass er sie Äpfelchen genannt hatte machte Angelina schmerzlich bewusst, wer da neben ihr saß. Und ihr wurde klar, wie Recht er mit seinen Worten hatte. Nicht einmal mit ihrem besten Freund hatte sie die vergangenen Wochen viel geredet, geschweige denn über sie selbst gesprochen. Sie hatte sich eingeigelt und nicht ein Gespräch über Fred oder die Schlacht zugelassen. Das hatte er nicht verdient. Auch er trauerte, auch er machte eine schwere Zeit durch; sie hatte als beste Freundin auf voller Länge versagt.

Lee hatte von ihr und Fred natürlich gewusst, doch wie ernst es ihr mit ihm war und dass sie sich mit ihm ihr restliches Leben vorstellen konnte, hatte sie tief in ihrem Herzen verschlossen.  Vielleicht hatte es nicht mal Fred gewusst wie sehr sie ihn geliebt hatte. Hatte sie ihm das jemals gesagt? Sie war noch nie gut mit Worten gewesen, vor allem nicht in der Liebe. Und das Kind.. Freds Kind… darüber nachzudenken bedeutete, es real werden zu lassen. Angelina musste sich zusammenreißen, nicht von den Emotionen überwältigt zu werden und zu schreien. Sie brauchte einige Momente, bis sie sich wieder gesammelt hatte.

 

„Lee... verzeih mir, ich… ich bin eine erbärmliche beste Freundin. Ich wollte dir nicht auch noch meinen seelischen Trümmerhaufen aufbürden, ich weiß doch wie oft du bei den Weasleys vorbei schaust… je mehr ich darüber rede, desto realer wird es. Und ich würde so gerne aus diesem Alptraum aufwachen.“

 

Lee nahm sie seufzend in die Arme und küsste sie auf die Stirn.

 

„Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass man zu zweit weniger allein ist, Äpfelchen? Ich weiß, dass es dich von uns am härtesten trifft und ich verstehe, dass es für dich gerade kein Licht am Ende des Tunnels gibt. Wenn du nicht darüber sprechen willst, muss ich es akzeptieren, aber lass mich wenigstens bei dir sein und stoß nicht jede Hand, die sich dir reicht, wieder weg. Du musst da nicht alleine durch, ok? Wozu sind ich und die Mädels sonst da.“

 

Er lächelte sie an und Angelina fühlte sich zum ersten Mal seit Wochen nicht mehr völlig in der Dunkelheit gefangen. Sie schloss die Augen und lehnte sich an seine Schulter. Sie rang mit sich, ihn nach George zu fragen, wusste sie doch, dass er ihn regelmäßig besuchte und auch im Laden vorbeischaute, wann immer er Zeit fand. Er war nicht so feige und schwach wie sie selbst, wurde ihr brutal bewusst. Wie so oft zuvor in ihrem Leben schien Lee in ihren Gedanken lesen zu können.

 

„George hat sich genauso zurückgezogen wie du, er spricht mit niemandem über Fred, auch mit mir oder seiner Familie nicht. Aber er hat den Laden wieder aufgemacht, direkt am Tag nach der Beerdigung und es läuft so gut wie eh und je. Er hält sich im Hintergrund, macht Buchhaltungsarbeit und sowas, und lässt Ron den Verkauf leiten. Wie es ihm geht ist schwer aus ihm zu lesen. Er will jedenfalls kein Mitleid und geht seiner Familie gezielt aus dem Weg. Keine Gefahr also, Molly oder dem Rest zu begegnen, wenn du bei ihm vorbeischauen würdest.“

 

Angelina war während seines letzten Satzes zusammengezuckt.

 

„Doch, du kannst ihm in die Augen sehen, Angie. Du weißt genau, dass du ihn früher oder später treffen wirst. Und eigentlich willst du ihn sehen, mach dir nichts vor. Auch wenn es sicher schmerzhaft wird, ich bin mir sicher es ist wichtig für euch beide.

Er… er war es, der dich gefunden hat, Angie, damals am schwarzen See. Ich war zu dem Zeitpunkt noch mit Katie und Alicia im zerstörten Astronomieturm unterwegs. George hat dir das Leben gerettet und ist keine Sekunde von deiner Seite gewichen, bis Katie dich soweit zusammengeflickt hatte, dass du außer Lebensgefahr warst.“

 

Sie war verwirrt. George hatte sie gefunden? Er… er war sogar bei ihr geblieben? Sie konnte sich nicht erinnern. Angelina war völlig durcheinander. Dann senkte sich die Erkenntnis bleischwer auf sie. Er musste bemerkt haben, dass sie das Kind verloren hatte.  Sie konnte Lee nicht antworten, ihr Magen verdrehte sich schmerzhaft. Aber Lee hatte Recht.

Sie musste ihn sehen, es half alles nichts. Sie musste verdammt noch mal dringend mit George reden.

Sturmwolken

- London - Juni 1998 –

 

Die blonde Frau lachte über eine Anekdote, die der junge Mann neben ihr wohl gerade erzählt haben musste. Er stimmte ein und ihr fröhliches Kichern wurde leiser, als die beiden in den Park hinein liefen, hinaus aus Angelinas Sichtfeld. Die Muggel waren so unbeschwert, hatten sie doch keine Ahnung, welcher tödlichen Gefahr sie im Mai nur um Haaresbreite entgangen waren.

Sie saß zusammen mit Alicia auf einer Bank am Rande der Kensington Gardens, einem der schönsten grünen Flecken in dieser großen, pulsierenden Stadt und genoss die Londoner Sommersonne. Es wurde endlich wärmer und das führte dazu, dass es die Londoner in Scharen in Richtung der stadteigenen Parks zog. Bei angenehmen 25°C trugen beide Frauen nur leichte Sommerkleider und waren gerade mit den Eiskugeln fertig geworden, die Alicia spendiert hatte. Ihre Freundin war erst am Morgen aus Bulgarien zurückgekehrt, wo sie die vergangenen zwei Wochen bei Viktor verbracht hatte, hatte Angelina erbarmungslos in ein Kleid gesteckt und aus ihrer dunklen Wohnung hinaus in die Junisonne gezerrt.

 

Alicia war seit ihrem sechsten Schuljahr mit Oliver Wood zusammen gewesen. Der hatte sie endlich erhört, nachdem ihn Fred und George, nachdem sie endlich Erbarmen mit seiner Unfähigkeit, Alicias Verhalten zu deuten gehabt hatten, mit der Nase darauf stießen. Sie war immerhin schon einige Monate bis über beide Ohren in ihren Quidditch-Kapitän verknallt gewesen, ohne dass der in seiner Begriffsstutzigkeit davon auch nur Notiz genommen hätte. Die beiden verband die Liebe zum Sport und Olivers Begeisterung und Ehrgeiz hatten Alicia immer sehr imponiert. Er hatte nach seinem Schulabschluss bei Puddlemere United zunächst auf der Ersatzbank angefangen, die in der darauf folgenden Saison prompt die Meisterschaft der Britisch-Irischen Liga gewonnen hatten. Oliver  hatte sich in seinem Team schnell einen Namen als Taktiker gemacht und wechselte ins Trainerfach, wo er als Co-Trainer schon bald maßgeblich am Erfolg seiner Mannschaft beteiligt war. In der Euphorie nach dem genialen Meisterschaftsfinale hatte er Alicia gebeten, seine Frau zu werden. Sie hatte freudestrahlend eingewilligt und die Hochzeit war ein rauschendes Fest gewesen, groß und mit vielen berühmten Gästen. Oliver Wood war in England kein Unbekannter mehr.

Es sah alles nach dem großen Los aus. Sie hätte es da schon besser wissen müssen, aber sie war jung und übermütig gewesen.

 

Alicia selbst war als einzige der drei Freundinnen dem Quidditch treu geblieben. Sie hatte zum Zeitpunkt der Hochzeit gerade das Angebot bekommen, für die Holyhead Harpies zu fliegen, wenn auch zunächst nur als Ersatzjägerin. Nebenbei hatte sie bereits einige kleine Kolumnen über das ein oder andere Spiel der Liga für die Quidditich weekly und andere Sportmagazine geschrieben. Doch Oliver zuliebe hatte sie ihre eigene aktive Karriere auf Eis gelegt und zunächst abgelehnt.

Olivers Ehrgeiz, alles perfekt zu machen und sein neuer Job hatten ihn schon bald sehr eingespannt. Er reiste viel, hatte kaum Zeit für sie und Alicia fühlte sich verlassen in dem großen, stillen Haus. Bereits einige Monate nach der Hochzeit hatte sie begonnen, sich immer einsamer und unglücklicher zu fühlen. Oliver hatte sie immer wieder abgewiesen, wenn sie ihn darauf angesprochen hatte und die so wichtigen, klärenden Gespräche aufgeschoben. Er hatte ganz schlicht und einfach den Ernst der Lage verkannt.

Irgendwann war sie nach vielen tränenreichen Gesprächen mit ihren beiden Freundinnen und inneren Disputen mit sich selbst zu dem Punkt gelangt, dass ihr das nicht reichte; dass sie mehr vom Leben wollte.

Und dann war sie bei einem Testländerspiel, bei dem England die Nationalmannschaft Bulgariens zu Gast gehabt hatte, als Reporterin für die Quidditch weekly Viktor Krum wiederbegegnet, den sie ja bereits vom Trimagischen Tunier in ihrem sechsten Schuljahr flüchtig gekannt hatte. Und der erinnerte sich auch an sie.

 

Danach war alles sehr schnell gegangen. Sie hatte ihre Sachen gepackt und war mit Sack und Pack aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen, in eine wunderschöne kleines Cottage in Kent, direkt am Meer, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte. Oliver hatte es erst bemerkt, als er eine ganze Woche später von einer Auslandsreise nach Hause gekommen war. Sie hatte eine Szene erwartet, dass er um sie kämpfte, wenigstens mit ihr stritt. Doch nichts dergleichen geschah. Er besuchte sie nur einmal in der neuen Wohnung und versuchte sie halbherzig zu überreden, zurück zu kommen. Er machte ihr keinen einzigen Vorwurf. Er schrie nicht, er flehte sie nicht an; er tat einfach gar nichts dergleichen. Sie hatte die Tränen hinuntergeschluckt und ihm Lebewohl gesagt. Und er hatte es einfach hingenommen. Damit war ihre einjährige Ehe für sie beendet gewesen.

 

Als Katie sie drei Wochen nach Woods denkwürdigem Besuch in ihrer neuen Bleibe in St. Magarets Bay besucht hatte, war ihr ein gut gelaunter Viktor Krum in der Tür entgegen gekommen, der sich gerade mit einem Kuss auf die Wange von Alicia verabschiedete. Die irritierte Katie hatte Alicia entgeistert angestarrt, aber dass sie ihre Freundin das erste Mal seit über einem Jahr wieder so strahlend lächeln sah hatte sie schnell milde gestimmt.

Aller Widrigkeiten und der Entfernung zum Trotz waren die beiden heute ein glückliches, wenn auch heimliches Paar. Ihre Privatsphäre wollten beide nicht der Presse opfern. Alicia war glücklich, das war ihr anzumerken, auch wenn nur ihre engsten Freunde von ihrer Beziehung wussten. Viktor war zwar ein Weltstar, aber anders als Wood kannte er seine Prioritäten. Sie arbeitete mittlerweile hauptberuflich als Reporterin, nicht zuletzt dank der Reputation, die ihr ein Exklusivinterview mit dem besten Sucher der Welt vor rund einem Jahr eingebracht hatte. Den Job als Jägerin hatte sie endgültig abgelehnt, weil sie so öfter mit Viktor auf Reisen gehen konnte.

 

Zu zweit genossen die Freundinnen einfach den Sonnenschein. Mit Alicia hatte sie schon immer gut schweigen können. Angelina schätze sie dafür sehr. Es ließ sich dennoch nicht weiter aufschieben, das wusste Angelina.

Sie war vor zwei Tagen aus Rumänien zurückgekehrt, nachdem sie die beiden Flüchtigen in der dritten Nacht nach ihrem Gespräch mit Lee dingfest hatten machen können.

Die beiden waren ausgehungert und abgerissen gewesen, keine Gegner für die drei gut ausgebildeten Auroren. Wie sich das Blatt doch gewendet hatte. Verfolger waren über Nacht zu Verfolgten geworden.  Ihr Team hatte ganze Arbeit geleistet und die Gefangenen noch in derselben Nacht in Askaban abgeliefert, wo sie bis zu ihrer Verhandlung verwahrt wurden. Sie schauderte, wenn sie an die Dementoren zurück dachte. Sie hatte Lee und Blaise bitten müssen, die Gefangenen alleine bei den Wachen abzuliefern. Ihr war nicht der Sinn danach gestanden, Fred wieder und wieder in ihrem Kopf sterben zu sehen. Ihre beiden Freunde hatten verstehende Blicke getauscht und ihr den Gefallen natürlich getan. Im Anschluss hatten sie drei Tage Sonderurlaub für den erfolgreich abgeschlossenen Auftrag erhalten, um sich zu erholen.

Nach einiger Zeit stand sie auf und gab der Freundin einen Kuss auf die Wange.

 

„Ich hab noch was zu erledigen Alicia, sei mir nicht böse. Es ist wichtig.“

 

Alicias Lächeln wurde ein wenig wehmütig und sie war auf einmal sehr ernst.

 

„Ich weiß, Angie. Ich bin froh, dass du dich dazu entschließen konntest. Er wird sich freuen dich zu sehen, da bin ich sicher. Ich werde nach Hause gehen und sehen, ob das Haus noch steht, jetzt da Winky zwei Wochen alleine war.“

 

Bei letzten Satz hatten Alicias Augen schon wieder gelächelt und sie zwinkerte Angelina zu. Winky, die ehemalige Hauselfe der Familie Crouch, lebte jetzt bei Alicia. Sie hatte sie am Tag der Schlacht in Hogwarts kennen gelernt, als diese sie vor einem Querschläger beschützt hatte und danach zu sich nach Hause geholt. Über ihre Großmutter war Alicia mit den Crouchs verwandt und hatte Winky so überzeugen können, dass sie guten Gewissens zu ihr kommen könne. Mit den neuen Aufgaben war die kleine Elfe aufgeblüht und Alicia freute sich über die positive Entwicklung ihres kleinen Schützlings.  Natürlich ließ sich Winky noch immer nicht bezahlen und war tödlich beleidigt, wenn man es ihr anbot, aber Alicia hatte sie wenigstens überzeugen können, ihre Lumpen gegen ein hübsches Kleidchen einzutauschen, dass einst Alicias erster Puppe gehört hatte.

 

Auch sie stand auf und umarmte Angelina kurz.

 

„Du schaffst das. Und wehe, du bekommst jetzt noch kalte Füße, meine Liebe! Wir sehen uns nächstes Wochenende, du kommst doch, oder?“

 

Angelina nickte. Alicia sah sich kurz um, ob Muggel in der Nähe hersahen, ließ die Freundin los und war mit einem Zwinkern und einem leisen Plop verschwunden. Zu apparieren war sicher der schnellste Weg zu reisen. Natürlich hätte sich auch Angelina so in einem Sekundenbruchteil zum Tropfenden Kessel befördern können, aber ihr war der etwa fünfzehnminütige Fußmarsch sehr recht, um ihre Gedanken zu sammeln. Sie war so sehr ins Grübeln vertieft, dass sie ihr erreichtes Ziel erst bemerkte, als sie schon mit dem Kopf gegen das schäbige Schild an der Tür der Kneipe stieß. Sie grüßte den Wirt Tom nur kurz und durchquerte dann zielstrebig das rege Treiben in der Winkelgasse, bis sie vor dem ihr nur zu bekannten bunten Laden der Weasley-Zwillinge stand. Nein, das stimmte nicht mehr. Es war jetzt nur noch Georges Geschäft…

 

Sie betrat nach kurzem Zögern den Verkaufsraum und kämpfte sich durch die vielen begeisternd plappernden Leute, die die Auslagen und Vorführproben des Sortiments bestaunten. Doch George war nicht im Laden, sie sah Ron hinter der Kasse stehen und mit Luna Lovegood reden, die eine Tüte Nasenblutnougat, noch immer ein Verkaufsschlager, in der Hand hielt und ihm anscheinend gerade den jungen Mann, der sie begleitete, vorstellte.

Angelina zog sich schnell wieder zurück. Sie legte nicht gerade Wert auf eine Begegnung mit Ron, auch wenn sie ihn nun häufiger in der Zentrale traf. Bisher hatte sie es vermeiden können, auf der Arbeit mehr als ein Hallo zu ihm sagen zu müssen.

 

Sie ging um den Laden herum und stieg die verborgenen Stufen in der Hauswand, die nur finden konnte, wer wusste wo sie sich befanden, hinauf. Auf diese Weise hatten George und Fred Arbeit und Privates strikt getrennt. Diese magische Treppe führte hinauf in die große, gemütliche Wohnung über dem Laden und dem Büro, mit der sie so viele schöne und lustige Erinnerungen verband. Ein Schwall von Emotionen stürzte auf sie herein und drohte, sie zu überwältigen, aber sie fing sich wieder. Jetzt war nicht der Zeitpunkt, sentimental zu werden. Sie wusste nicht, was sie dort oben finden würde; nicht, in welchem Zustand George war. Angelina versuchte, sich für dieses Treffen zu wappnen und legte sich zurecht, was sie sagen wollte. Sie wollte ihn sehen, unbedingt. Sie musste mit jemandem sprechen, der sie verstehen würde.

Oben angekommen hielt sie inne und klopfte leise an die Wohnungstüre. Niemand antwortete ihr, doch sie hörte Rascheln und das Geräusch von Schritten. Er war definitiv zuhause, daran bestand kein Zweifel. Sie zog ihren Zweitschlüssel aus der Tasche und öffnete die Türe. Im Flur war es still und sie ging langsam hindurch, als sie ein Geräusch aus der Küche vernahm. Zielstrebig steuerte sie darauf zu und betrat den hellen, sonnendurchflutenden Raum. Sie setzte gerade an, ihn zu fragen, warum zum Teufel er ihr nicht die Tür geöffnet hatte, als es ihr mit dem ersten Blick auf die Bar, auf der verschiedene Spirituosen aus der ganzen Welt, vornehmlich Gin- und Absinth-Varianten, standen, die Sprache verschlug.

 

George stand vor dem Regal, ihr den Rücken zugewandt, nur mit einem Handtuch um die Hüften. Wohl gerade aus der Dusche gekommen, hatte er noch feine Wassertropfen im Haar und griff gerade nach einer Flasche Manguin, einer französischen Absinth-Variante, die zu seinen Favoriten gehörte. Fred hätte ein Glas seines Monkey 47 Dry Gin vorgezogen. Er hatte natürlich gehört, dass jemand die Küche betreten hatte und drehte sich lächelnd zu ihr um. Anscheinend hatte er jemand anderen, aber nicht Angelina erwartet, denn sein Lächeln verschwand schlagartig und seine Augen wurden groß. Sie starrte George an und war unendlich verwirrt. Alles an ihm erinnerte sie an Fred und doch auch wieder nicht. Bilder vergangener Erinnerungen flogen an ihrem inneren Auge vorbei. Angelina fand ihre Fassung zuerst wieder und versuchte tunlichst zu vermeiden, etwas anderes als den Boden vor ihr anzusehen.

 

„George, ich… du hast nicht auf mein Klopfen reagiert, deswegen bin ich einfach rein gekommen. Es tut mir leid, ich wollte dich nicht stören… ähh… vielleicht sollte ich ein andermal wieder kommen…“

 

Auch er hatte sich wieder halbwegs im Griff und trat einen Schritt auf sie zu, wurde sich dann aber wohl bewusst, dass er nur ein Handtuch trug und blieb stehen.

 

„Nein warte, Angie... ich hatte ehrlich gesagt nicht mit dir gerechnet...“

 

Er wollte noch etwas sagen, doch in diesem Moment raschelte es in Georges Schlafzimmer, was George abbrechen und Angelina zusammenzucken lies. Im nächsten Moment kam eine atemberaubend schöne Blondine von vielleicht 25 Jahren in die Küche geschwebt; sie hatte sich nur notdürftig ein Hemd von George übergezogen und war sonst ganz offensichtlich nackt. Ihre Haare reichten ihr bis an die Hüften und waren leicht durcheinander, so als wäre sie eben erst aus dem Bett gekommen, was ihrer Schönheit aber keinen Abbruch tat. Angelina erkannte das Gesicht, weil sie es bereits einmal auf einem Bild gesehen hatte. Auf einem Hochzeitsphoto, um genau zu sein. Vor ihr stand Iphigenie Flint, geborene Greengrass. Marcus Flints reinblütige, seinem Stande angemessene Gattin.

Die schöne Frau schien ebenfalls kurz erschrocken zu sein, dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck wieder und sie sah mit fragendem, ärgerlichem Blick zu George. Sie schämte sich ganz offensichtlich nicht wirklich für ihren Aufzug, aber war anscheinend verstimmt über die Unterbrechung ihres heimlichen Stelldicheins.

 

„Ich wusste nicht, dass du noch Besuch erwartest, George. Vermutlich wird es dann besser sein, wenn ich gehe.“

 

Angelina starrte sie voller Entsetzen an. Was wurde denn hier gespielt? Das konnte nicht sein Ernst sein. Sie schüttelte ungläubig den Kopf und aus irgendeinem Grund war sie plötzlich sehr wütend, auf sich und auf George. Sie straffte ihre Schultern und presste ihre Zähne aufeinander bis es schmerzte.

 

„Das wird nicht nötig sein. Ich will nicht weiter stören.“

 

Ihre eigene Stimme klang hoch und schrill in ihren Ohren. Sie machte auf dem Absatz kehrt und floh aus der Küche und durch den Gang in Richtung Haustüre, die krachend hinter ihr ins Schloss fiel. Sie lief schneller und stoppte erst, als sie außer Atem kam. Georges bestürzten Blick, mit dem er ihre Flucht beobachtet hatte, unfähig sich zu bewegen, hatte sie nicht bemerkt.

Nebelschwaden

- Coventry, West Midlands -

 

„Erde an Angelina? Kriege ich eine Antwort?“

 

Sie zuckte merklich zusammen. Angelina hatte tatsächlich überhaupt nicht mitbekommen, dass Alicia sie angesprochen hatte. Sie stand zusammen mit ihr und Katie in der Kabine des englischen Kaders weit unter den Tribünen des größten Quidditchstadions in den Westmidlands, in Coventry, unweit der Millionenstadt Birmingham, wo regsame Betriebsamkeit herrschte. Gut geschützt vor den Augen der Muggel war es erst vor zehn Jahren in einem Waldstück weit außerhalb des historischen Stadtkerns errichtet worden und wurde seither oft für die Topspiele der englischen Liga und auch für internationale Begegnungen genutzt.

 

Der Lärm der insgesamt 40 000 Zuschauer, die sich diesen ersten Höhepunkt der Saison nicht entgehen lassen wollten, drang nur sehr gedämpft bis in die Tiefen des komplexen, unterirdischen Tunnelsystems, in dem sich die Räumlichkeiten für die Mannschaften und ihren Trainingsstab befanden, aber man konnte dennoch erahnen, dass das Stadion relativ ausverkauft sein musste. Auch internationale Quidditchfans hatten sich eingefunden, wie sie zuvor an den entsprechenden Landesfahnen hatten erkennen können.

Das war kein Wunder, schließlich handelte es sich um das erste sportliche Großereignis nach dem Ende des zweiten Krieges. Die englischen Zauberer und Hexen sehnten sich nach Normalität und Unterhaltung, um die Schrecken der Kämpfe, die jetzt gerade einmal sechs Wochen zurücklagen, vergessen zu können.

Heute würde die neu formierte, komplett umstrukturierte englische Nationalmannschaft in einem Freundschaftsspiel gegen die Bulgaren, deren Nationalmannschaft derzeit auf Platz zwei der Weltrangliste rangierte, antreten. Für die neuen englischen Spieler war das die Gelegenheit, sich zu beweisen und einen Stammplatz im Team zu verdienen. Das galt auch für Marcus Flint und seinen besten Freund Graham Montague, die beide heute das erste Mal vor so großem Publikum fliegen würden und mittlerweile offensichtlich nervös waren. Doch beide waren fest entschlossen, die Chance nicht ungenutzt zu lassen.

 

Alicia würde für den Tagespropheten über das Match berichten. Vom einstigen manipulierten Sprachrohr des infiltrierten Ministeriums hatte sich das Blatt tatsächlich wieder zu einer seriösen Zeitung gewandelt, nicht zuletzt weil die komplette Redaktion inklusive dem Chefredakteur ausgetauscht worden war. Viele junge, aufstrebende Journalisten waren jetzt Teil des Teams. Der neue Chefredakteur Jacob Campbell, den sie aus der Redaktion der Quidditch weekly kannte, wo er als Editor beschäftigt gewesen war, hatte Alicia angeboten, als freie Journalistin regelmäßig für den Sportteil des Tagespropheten zu schreiben.

Über den Tagespropheten hatte sie schließlich Freikarten für das Spiel bekommen und Katie hatte ihnen Zugang zur Mannschaftskabine beschafft. Natürlich wollte sie Marcus noch Glück wünschen und hatte alibimäßig ihre beiden Freundinnen mitgeschleppt. In dem heillosen Durcheinander aus Physiotherapeuten, Sportheilern, den Trainern und den vielen neuen Spielern um sie herum fielen sie nicht weiter auf, so dass sich Katie gerade dazu hatte hinreißen lassen, Marcus noch einen flüchtigen Kuss auf die Wange zu drücken.

 

„Entschuldige Alicia, was hast du gesagt?“

 

Alicia seufzte und sah sie durchdringend an. Angelina war seit ihrem Besuch in Georges Wohnung vor  fünf Tagen noch in sich gekehrter als zuvor und ständig grübelnd in Gedanken versunken, was ihrer Freundin natürlich aufgefallen war. Aber Alicia hatte sie nicht darauf ansprechen wollen, was zwischen den beiden vorgefallen war. Sie wartete, dass Angelina von sich aus mit der Sprache herausrückte.

 

„Ich sagte, du und Katie könnt gerne schon nach oben auf die Tribüne gehen. Ich komme nach.“

 

Angelina nickte. Sie wusste natürlich, wo Alicia hinwollte. Fasziniert hatte sie immer wieder beobachtet, wie Alicia und Viktor Krum bei jeder beruflichen Begegnung formvollendete, professionelle Höflichkeit an den Tag legten. Nicht einmal ihr selbst wäre der Gedanke gekommen, dass die beiden sich näher kennen, geschweige denn miteinander liiert sein könnten. Diese schauspielerischen Fähigkeiten waren beinahe beneidenswert; wie gern würde sie ihre eigenen Gefühle zurzeit etwas besser vor anderen verbergen.

 

Sie war im Moment sehr verwirrt. Eine Mischung aus Wut, Verzweiflung, Trauer und Einsamkeit hatten sich in den letzten Tagen wie ein Schatten auf ihre Seele gelegt. Vor allem war sie wütend; wütend auf George und noch mehr auf sich selbst. Was hatte sie eigentlich von ihm erwartet? Ja, das war eine gute Frage. Hatte sie geglaubt, sie würde ihn verzweifelt in einer Ecke der Wohnung sitzend vorfinden? Sie wusste eigentlich überhaupt nicht, was sie erwartet hatte. Vielleicht hatte sie gehofft, er würde sich genauso benehmen wie sie und sie hätte endlich jemanden gefunden, der sie verstehen konnte; dem sie nichts zu erklären brauchte. Doch hätte ihr das überhaupt weiter geholfen? Hätten sie sich gegenseitig nicht nur noch mehr in die Düsternis gezogen? Oder stimmte was Lee gesagt hatte; zu zweit war man weniger alleine? Sie hatte keine Ahnung.

 

Sie hatte ihn vieles fragen wollen. Warum er ihr nachgelaufen war, obwohl sein toter Bruder doch an diesem Abend bestimmt im Mittelpunk all seiner Wahrnehmung gestanden hatte. Warum er an ihrem Krankenbett Wache gehalten hatte, aber gegangen war bevor sie aufwachte. Wie er es schaffte, morgens aufzustehen ohne zu schreien. Sie fühlte sich schrecklich einsam und ihr war erst im Laufe der letzten Tage aufgegangen, dass es nicht zuletzt daran lag, dass sie neben Fred auch George schmerzlich vermisste. Die Späße, die Leichtigkeit, das Lachen, die entspannten Abende in der Wohnung, die guten Gespräche. Eben die schönen Dinge des Lebens inmitten der Schwärze, die um sie herum aufgezogen war. George war immer dabei gewesen, schließlich waren er und sein Zwilling eine durch nichts zu trennende Einheit. Mit George teilte sie die Leidenschaft für einen guten Schluck Absinth nach einem langen, schweren Arbeitstag. Öfter als ihr bisher bewusst gewesen war hatte Fred abends länger zu tun gehabt und war noch nicht zuhause gewesen; noch im Büro, bei einem Unterhändler oder Kunden. Dann hatte sie eben mit George vor dem Kamin gesessen und sie hatte miteinander gelacht und die Sorgen und Nöte des Alltags geteilt.

 

Sie war mit den Zwillingen bereits seit ihrem ersten Hogwartsjahr befreundet gewesen. Spätestens seit der gemeinsamen Zeit als Reserve im Quidditchteam ab dem dritten Schuljahr waren sie sehr gute Freunde geworden und hatten zusammen mit Lee eine kleine, verschworene Gemeinschaft gebildet. Oft genug hatte sie den Zwillingen nach einem Streich aus der Patsche geholfen und Fred und George hatten sie als Gegenleistung immer, auch wenn ihre Stimmung noch so trüb gewesen war, zum Lachen gebracht. In den letzten Tagen hatte sie ihre gemeinsame Schulzeit immer wieder vor ihrem geistigen Auge Revue passieren lassen. George, der ihr Zauberschach beibrachte; Fred, der ihr zeigte, wie man mit den Ohren wackelte. George, der ohne sich zu schämen nach ihren fertigen Hausaufgaben fragte. Fred und Lee, die es  wenigstens heimlich abschrieben. Fred, der ständig ihre Federn und Tintenfässer verhexte, so dass sie ihr die ganze Tinte ins Gesicht sprühten, sobald sie sie benutzen wollte. George, der ihr half, auf die Innenseite von Freds T-Shirts verdünnten Bubotublereiter  zu streichen, obwohl sie sich beide vor lauter Kichern das Zeug fast selbst über die Hände gekippt hatten.  Fred, der in Verwandlung am nächsten Tag dank des abscheulichen Juckreizes kaum still sitzen konnten. Sie und Fred, sich gegenseitig den Mund zuhaltend, um nicht loszulachen, und schwer atmend vom Rennen, als sie sich auf der Flucht vor Filch im Geheimgang der einäugigen Hexe versteckt hielten. Sie, die Zwillinge und Lee waren immer unzertrennlich gewesen.

Dann kam der Weihnachtsball und Fred hatte sie gefragt, ob sie ihn begleiten wollte. Sie hatte eingewilligt, ohne zu ahnen, dass das ihre Welt ganz schön auf den Kopf stellen würde. Am Ende dieses Abends hatte er sie hinauf auf den Astronomieturm entführt und einfach geküsst. Seitdem waren sie ein Paar gewesen.

 

Was sie auf keinen Fall erwartet hatte, war eine nackte Frau in Georges Wohnung. Schon gar nicht die Ehefrau des Freundes ihrer besten Freundin. Was sie noch viel weniger erwartet hatte, war, dass es sie so vehement störte. George war auch früher bisweilen mit dem einen oder anderen Mädchen in deren Wohnung entschwunden, das wusste sie, aber selten hatte er eine mit in seine eigene Wohnung gebracht. Das war tatsächlich niemals passiert, wenn sie selbst in der Wohnung gewesen war. Fred hatte es nur einmal beiläufig erwähnt, als sie nach den Wochenendplänen fragte. Es war nie etwas Ernstes gewesen, sonst hätte er sie ihnen sicher vorgestellt. Und es hatte sie nie gestört, im Gegenteil, sie hätte sich gefreut, wenn er endlich einmal Glück in der Liebe gehabt hätte. Sie hätte ihm so sehr gewünscht, glücklich zu sein.

Warum also hatte sie der Anblick von Iphigenie Flint vor fünf Tagen so rasend wütend gemacht? Vielleicht, weil sie es als Verrat an Fred sah, dass er einfach so weitermachte; dass er eine Affäre anfing, noch dazu mit einer verheirateten Frau, auch wenn diese Ehe ja ganz offensichtlich nicht glücklich war. Schließlich schlief Iphigenies Ehemann mit Katie. Vielleicht weil sie von sich selbst enttäuscht war, sich eingestehen musste, dass er so offensichtlich mit seinem Leben weitermachen konnte und sie nicht? Vielleicht, weil sie ihn beneidete? Oder vielleicht, weil sie sie beneidete? Der Gedanke erschreckte sie, aber er war nicht von der Hand zu weisen. Es schmerzte, ihn anzusehen, da er nun mal verdammt noch mal Freds Ebenbild war. Aber sie vermisste George, nicht nur Fred, das hatte sie sich ja bereits eingestanden. War sie eifersüchtig auf Iphigenie, weil George deren Nähe gesucht hatte, aber sich bei Angelina in den letzten sechs Wochen nicht ein einziges Mal gerührt hatte?

 

Sie wusste es nicht. Statt mit ihm zu reden hatte sie die Flucht ergriffen. Die Gedanken prasselten seit Tagen auf sie ein und sie war mit der Lösung ihrer Grübeleien nicht weitergekommen. Was sie wusste, war, dass sie sich seit ihrer Begegnung mit George nun noch einsamer fühlte als zuvor. Sie hatte sich von Alicia und Katie mit zum Quidditch schleppen lassen, weil sie hoffte, dass das Spiel sie ablenken würde. Doch als sie wieder aufblickte, merkte sie, dass sie den Anpfiff des Matches bereits verpasst hatte. Katie stand neben ihr. Sie war so sehr in Gedanken versunken gewesen, dass sie ihre Füße wie von alleine nach oben auf die Tribüne getragen hatten. Sie hatte die Umgebung bis jetzt mal wieder kaum wahrgenommen.

Sie versuchte, sich einen Überblick über den Spielstand zu verschaffen. Bulgarien führte mit 40 zu 10 Punkten, aber sie musste bald anerkennend feststellen, dass die englische Sturmspitze, bestehend aus Flint, Montague und Elliot, einem alten Hasen, der schon bei der WM 1994 zum Kader gehört hatte, hervorragend harmonierte. Es dauerte nicht lange, bis Marcus und Montague kurz hintereinander zwei Tore werfen konnten und England aufholte. Es war ein hochklassiges Spiel. Die bulgarische Jägerin Iwanowa, die Angelina zu Schulzeiten sehr verehrt hatte, machte ihnen dennoch immer wieder einen Strich durch die Rechnung und baute die bulgarische Führung wieder aus. Angelina wurde wehmütig, als sie die Jäger bei ihren geschickten Manövern, die der Zuschauermenge immer wieder laute Ahhs und Ohhs entlockten, beobachtete. Ihre eigene Quidditchkarriere hatte mit dem Schulabschluss aufgehört und wenn überhaupt saß sie nur noch ein oder zwei Mal im Jahr auf dem Besen. Sie vermisste die Freiheit, die sie stets in den luftigen Höhen über dem Quidditchfeld durchflutet hatte. Aber mit dem drohenden Unheil durch den dunklen Lord im Nacken hatte die Aurorenausbildung einfach Vorrang gehabt. Sie hatte kurz nicht aufgepasst und zuckte zusammen, als Katie ihre Finger in ihren Arm krallte. Aus dem Augenwinkel sah sie Viktor Krum auf den Boden zuschießen und kurz danach riss er triumphierend den Arm in die Höhe. Das Spiel war vorbei. Bulgarien hatte gewonnen, aber die Engländer mussten sich wirklich nicht schämen. Das neue Team hatte eine hervorragende Leistung gezeigt.

 

Eine knappe halbe Stunde später begann sich das Stadion zu leeren. Katie und Angelina hatten Alicia unter den anderen Reportern auf dem Spielfeld entdeckt, die immer noch Exklusivinterviews mit den Spielern, allen voran natürlich dem Mann des Tages, dem besten Sucher der Welt, führten. Sie warteten noch, bis sich der Strom der Menschen etwas gelegt hatte und steuerten dann, dank ihrer VIP-Karten unbehelligt, auf den Spielfeldrand zu. Marcus Flint und Graham Montague waren die englischen Helden der Stunde und beide umringt von Journalisten, aber das hinderte Marcus nicht daran, Katie verschmitzt zuzuzwinkern, als er sie entdeckt hatte. Schließlich wandte sich die allgemeine Aufmerksamkeit wieder Viktor Krum zu und die beiden kamen herüber und gaben ihnen zu verstehen, sie in die Kabine zu begleiten.

Ihre Teamkollegen waren alle bereits in der Dusche verschwunden oder schon am Feiern, schließlich war es heute nicht nur vorrangig ums Gewinnen gegangen, sondern auch um ein ordentliches Debut der neuen, englischen Nationalmannschaft, und das war es auf jeden Fall gewesen.

 

Katie umarmte Marcus stürmisch und gratulierte auch Montague, den sie natürlich mittlerweile auch gut kannte und der sie und Marcus nicht erst einmal gedeckt hatte, herzlich zu ihrer guten Leistung. Angelina rang sich ebenfalls ein Lächeln ab und umarmte beide Männer, wobei sie das Gefühl hatte, dass Montague sie ein paar Sekunden länger fest hielt, als es nötig gewesen wäre. Während Katie noch ganz mit Marcus beschäftigt war, sah er sie unverwandt an und grinste.

Graham Montague war ein dunkelhaariger, unverschämt gutaussehender Mann, daran bestand kein Zweifel. Das bemerkte sogar Angelina mit ihrer derzeit stark eingeschränkten Wahrnehmungsfähigkeit. Er stammte aus einer alten Zaubererfamilie wie Flint und hatte die entsprechende unverschämte Arroganz schon von Kindesbeinen an eingeimpft bekommen. Seine Familie gehörte zur selben Liga wie etwa die Malfoys. Bei ihm störte die Überheblichkeit das Bild aber ganz und gar nicht, im Gegenteil, sie machte ihn äußerst anziehend. Er war charmant, wortgewandt und zuvorkommend; ein echter Gentlemen, der allerdings genau wusste, was er hatte und konnte und keinen Hehl daraus machte. Die Frauen lagen ihm reihenweise zu Füßen, wie sie von Katie wusste, und er hatte damit überhaupt kein Problem. Sie kannte ihn bisher nur flüchtig vom Sehen, aber es hatte sich nie eine Gelegenheit für ein Gespräch oder mehr als den Austausch höflicher Floskeln ergeben. Trotz seines Rufes war er ihr immer sympathisch gewesen, vielleicht weil er stets ein schelmisches Grinsen im Gesicht hatte, das ihr gefiel. Jetzt hatte Angelina das Gefühl, dass er sie mit seinen Blicken durchbohrte. Seine Berührung war ihr wider Erwarten auch nicht unangenehm gewesen, was aber auch daran liegen konnte, dass es lange her war seit sie zuletzt von einem Mann in den Arm genommen worden war. Herrje, war sie wirklich so einsam?

Sie wurde von Marcus Stimme aus ihren Gedanken gerissen, der sich an seinen besten Freund wandte.

 

„Alter Junge, kann ich heute noch mal auf dich zählen? Ich würde diese wundervolle Elfe hier gerne heute Abend für mich alleine haben.“

 

Montague grinste und klopfte ihm auf die Schulter

 

„Geht klar, Marcus. Du bist natürlich wie immer, wie es sich für einen ordentlichen Männerabend gehört, mit mir unterwegs und machst die besten Bars unsicher. Ich schätze, Miss Johnson hier wird es überleben wenn sie aus Alibizwecken mit mir ein paar Drinks nehmen muss.“

 

Er zwinkerte Angelina zu und sah sie fragend an. Ja, warum eigentlich nicht. Sie hatte sowieso nichts anderes vor  und sie brauchte Ablenkung. Da Katie und Marcus ja jetzt eindeutig keine Gesellschaft brauchen konnten und sie auch getrost davon ausgehen konnte, dass Viktor Krum heute Nacht nicht alleine im Hotel schlief, verpasste sie nichts, wenn sie sich ein paar Feuerwhiskeys mit Graham Montague genehmigte.  Sie hätte es schlechter erwischen können.

Vielleicht konnte sie die Gedanken an George und alles andere damit wenigstens für einen Abend vergessen. Alleine trinken war schließlich nicht die feine englische Art. Ihr Unterbewusstsein beschlichen einige Befürchtungen, zu was der Abend noch führen konnte, aber die verdrängte sie erst einmal sicherheitshalber.

 

„Warum nicht. Ein oder zwei Feuerwhiskey können mir heute wirklich nicht schaden.“

 

Grahams Grinsen wurde breiter und er bot ihr seinen Arm an.

 

 „Wollen wir?“

Wirbelsturm

 - Eberkopf, Hoegsmaede -

 

„Na dann, Angelina, auf uns, die wir dank Marcus Flints unersättlicher Libido diesen besonderen Abend statt bei meiner wohlverdienten Siegesfeier in Londons angesagtesten Bars und Clubs in diesem verschlafenen Flecken Erde verbringen müssen. Damit niemand merkt, dass er gar nicht hier ist und sich mal wieder in fremden Betten rumtreibt. Hoffen wir, das schadet meinem guten Ruf nicht allzu sehr.“

 

Graham Montague zeigte schon wieder sein Lausbubengrinsen und Angelina musste tatsächlich seit Wochen das erste Mal wieder ein bisschen schmunzeln. Sie saßen zu zweit an der Bar des zwielichtigen Eberkopfs in Hogsmaede und stießen mit dem ersten Feuerwhiskey des Abends an, den ihnen der alte Aberforth, unverwüstlich wie eh und je, schweigend auf den Tresen geknallt hatte. Der Pub war fast leer. Eine Runde flüsternder Hexen mit tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen, von denen eine, darauf hätte Angelina schwören können, dreiäugig war, saß an einem Tisch etwas abseits; in einer Ecke, die noch düsterer war als der Rest der in schummriges Licht getauchten Kneipe, spielten ein paar Kobolde um eine Kerze herum mit etlichen Goldmünzen als Einsatz Karten und links von ihnen saßen zwei abgerissen aussehende Männer schweigend vor einer schon bedenklich großen Anzahl leerer Bierflaschen . Angelina hatte überrascht feststellen müssen, dass ihr die Gesellschaft Grahams alles andere als unangenehm war. Mit jemandem Zeit zu verbringen, der sie nicht ständig mitleidig ansah war beinah eine Erlösung. Dennoch gelang es ihr nicht, George und den Anblick von Iphigenie aus ihrem Kopf zu vertreiben. Sie war verärgert über sich selbst, war sie doch mit ihren Grübeleien zu diesem Thema immer noch nicht wirklich weitergekommen.

 

Sie beschloss, dass die Lösung des Problems heute nur in einer größeren Anzahl Feuerwhiskey-Shots liegen könnte und orderte gleich einen zweiten für sie beide. Das kleine, leise Stimmchen in ihr, das ihr zuflüsterte, dass das wahrscheinlich eine äußerst dumme Idee war, ignorierte sie geflissentlich. Sie hatte keine Ahnung, wohin dieser Abend führen würde und eigentlich war es ihr egal. Sie sehnte sich einfach nur nach der erlösenden Taubheit in ihrem Kopf, die ihr der Feuerwhiskey bescheren würde und dachte lieber nicht an das Danach. Welches Interesse Graham Montague an ihr haben könnte und ob er überhaupt welches hatte, konnte sie nicht eindeutig einschätzen.

 

Sie redeten über das Spiel, diskutierten einige Taktikdetails, die heute zum Zuge gekommen waren und Graham zeigte sich begeistert von ihrem Fachwissen. Sie beeindruckte ihn mehrere Male mit einer genauen Analyse der Manöver, die er und Marcus heute geflogen waren, ohne dass er etwas ergänzen musste. Nach dem dritten Feuerwhiskey legte er ihr eine Hand auf das Knie und sah sie an. Sie stellte erschreckend fest, dass man ohne weiteres in seinen dunkelgrünen Augen versinken konnte, wenn man nicht verdammt aufpasste.

 

„Äußerst beeindruckend, Angelina. Du bist die einzige Frau die ich bisher kennen lernen durfte, die ein derartiges Quidditch-Grundwissen besitzt, es auf dem Feld, ich erinnere mich noch gut, knallhart einsetzt und nebenbei auch noch eine Schönheit ist. Normalerweise findet man entweder das eine, oder das andere, aber nie zusammen.“

 

Er lachte verschmitzt auf.

 

„Ich könnte glatt noch etwas von dir über Quidditch lernen. Welche Schande, dass du deine Karriere nicht weiterverfolgt hast.“

 

Sie bedankte sich lächelnd für das Kompliment und zwang sich, den Blick abzuwenden. Meine Güte, der Alkohol zeigte wohl bereits Wirkung. Oder war sie einfach mittlerweile so ausgehungert nach ein bisschen Zuneigung, dass sie ein so leichtes Opfer für seinen Charme geworden war? Sie entzog sich seiner Berührung sicherheitshalber.

 

„Nun, von uns beiden bist ja du derjenige, der bald für England fliegen wird, Graham. Ich kann das Kompliment also nur zurückgeben.“

 

Darauf stießen sie mit dem nunmehr vierten Feuerwhiskey an und Angelina merkte jetzt schon deutlicher, dass sie so langsam aufhören sollte, wenn sie nicht irgendwann vom Barhocker kippen wollte. Außerdem war sie sich jetzt langsam nicht mehr ganz sicher, wie Graham Montague zu ihr stand. Aber war es ihr wirklich so unrecht, wenn er Interesse an ihr gehabt hätte?

 

Nach einer weiteren halben Stunde, in der er einige lustige Anekdoten seiner und Marcus‘ Schandtaten aus der übermütigen Zeit nach dem Schulabschluss, noch vor Marcus Hochzeit, zum Besten gegeben hatte, wischten sie sich die Tränen des Lachens aus den Augenwinkeln und stießen mit einem weiteren Whiskey darauf an. In der letzten wahnwitzigen Geschichte hatte Graham ihr anschaulich geschildert, wie er und Marcus einmal versucht hatten, stockbetrunken nachts mit der Londoner U-Bahn nach Canterbury zu gelangen, weil sie in ihrem Zustand vergessen hatten, dass sie Zauberer waren und auch apparieren hätten können.

 

Angelina fühlte sich jetzt tatsächlich ziemlich angetrunken und als Graham ihr einen Arm um die Taille legte, um sie ein wenig näher zu ziehen, wehrte sie sich nicht dagegen. Irgendwo dumpf in ihrem Kopf meldete sich ihr Gewissen und sagte ihr, dass es Verrat an Fred war. Aber sofort kam eine trotzige andere Stimme dazu, die daran erinnerte, dass auch andere, allen voran George, einfach so weitermachten. Warum sollte sie es nicht auch ausprobieren dürfen; vielleicht konnte sie dann wenigstens heute Nacht alles einmal vergessen. Außerdem tat es ihr gut, von jemandem im Arm gehalten zu werden. Natürlich wusste sie irgendwo tief in ihrem Unterbewusstsein genau, was er von ihr wollte. Sie würde nicht nein sagen; sie hatte nicht mehr die Kraft dazu. Sie war angetrunken, wehmütig und tief in ihrem Inneren, und das wurde ihr jetzt bewusst, verletzt. Dann blendete sie die Vernunft endgültig aus und hob den Kopf, um in Graham Montagues verführerische Augen zu blicken.

 

In diesem Moment öffnete sich die Tür und der laue Abendwind strömte in den Raum.  Jemand betrat die Kneipe und als Angelina gerade die Augen geschlossen hatte, in Erwartung von Graham Montagues Lippen, hörte sie ein scharf gezischtes Stupor und gleich darauf noch Sectumsempra, riss die Augen auf und konnte gerade noch sehen, wie Montague erstarrt vom Stuhl kippte, so dass ihn der zweite Fluch gerade so verfehlte und stattdessen ein Stück Holz aus der Bar sprengte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie George an, der offenbar wutentbrannt war und immer noch in der Tür stand. Mit großen Schritten kam er auf sie zu, würdigte Montague keines weiteren Blickes, packte sie am Arm, bevor sie irgendwie reagieren konnte und disapparierte mit ihr.

 

Da ihr sowieso schon reichlich schwindelig war, tat das Apparieren sein Übriges zu Angelinas Zustand. Alles um sie herum drehte sich und es dauerte einige Sekunden, bis sie erkannte, dass George sie in ihre eigene  Wohnung gebracht hatte. Sie stand in ihrem Schlafzimmer und hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Direkt neben ihr stand George und funkelte sie wütend aus seinen blauen Augen an. Er sieht so ganz anders aus als Fred, wenn er wütend ist, schoss ihr durch den Kopf. Seine Augen loderten förmlich vor Zorn. Ihr war übel und sie griff nach seinem Arm, um nicht umzukippen. Er hatte offenbar seine Stimme wiedergefunden und zischte sie nun gefährlich ruhig an.

 

„Was sollte das werden, Angelina Johnson? Bist du von allen guten Geistern verlassen?“

 

Jetzt wurde sie sauer. Obwohl ihr Verstand noch immer reichlich vernebelt war, reichte es dennoch noch, um das gerade Geschehene noch einmal Revue passieren zu lassen. Ihre Stimme wurde laut und vibrierte leicht vor aufkeimendem Zorn.

 

„Das musst du gerade sagen, du wahnsinniger, bescheuerter Idiot! Erst redest du wochenlang kein Wort mit mir, dann hast du nichts Besseres zu tun, als Marcus Flints Ehefrau flachzulegen und schämst dich noch nicht mal dafür. Jetzt stürmst du in eine Bar, schockst Graham Montague vom Stuhl und hättest ihn beinahe ernstlich verletzt, obwohl er dir nichts getan hat. Wer ist denn hier von allen guten Geistern verlassen?“

 

Mit jedem Satz war sie ein Stück näher an ihn heran gerückt und hatte ihm mit der Faust auf die Brust geboxt. Jetzt war auch sie richtig wütend und funkelte ihn nun ihrerseits böse an.

Er fing ihr Handgelenk ein, damit sie ihn nicht mehr schlagen konnte und schaute starr auf die Wand hinter ihr.

 

„Es ist doch völlig klar, dass er seine dreckigen Finger an dich gelegt hätte, wäre ich nicht eingeschritten, oder? Kein Wunder, so wie du dich an ihn herangeschmissen hast.“

 

Jetzt war sie fuchsteufelswild und fühlte sich mit einem Schlag wieder stocknüchtern.  Sie hatte das Bedürfnis ihn mit aller Gewalt ins Gesicht zu schlagen und riss ihren Arm los. Er hatte nicht damit gerechnet und ihr Handgelenk nur noch locker gehalten. Sie verpasste ihm eine ordentliche Ohrfeige, sodass ihr selbst die Hand schmerzte.

 

„Du hast kein Recht, über mich zu urteilen, du verdammter Bastard. Ich wüsste außerdem nicht, was dich angeht, mit wem ich ins Bett gehe!“

 

Er packte sie wieder am Handgelenk und riss sie zu sich herum. Dann hob er den Kopf und hielt sie so fest, dass sie ihm gezwungenermaßen in die Augen sehen musste. Sie versank in tiefem Blau. Was sie darin lesen konnte, waren übermächtiger Zorn und gekränkter Stolz, aber zu ihrer Überraschung noch etwas anderes; Traurigkeit, Schmerz und… Sehnsucht. Es brauchte eine Weile, bis das in ihrem Verstand ankam. Er sprach jetzt so leise, dass es kaum mehr als ein Flüstern war.

 

„Doch, das geht mich verdammt nochmal etwas an.“

 

Und damit überbrückte er die letzten Zentimeter und presste seine Lippen auf ihre. Sie riss die Augen weit auf, aber sie wich nicht zurück. Dann schloss sie sie wieder und verschiedenste Empfindungen strömten auf sie ein. Seine Lippen waren weich und warm; all das, was sie in seinen Augen gelesen hatte, legte er auch in seinen Kuss. Er strich jetzt sanft, aber fordernd mit der Zunge über ihre Unterlippe und bewegte sie so, die Lippen leicht zu öffnen. Sie konnte seinen Atem auf ihrer Haut spüren. Ihr Kopf war wie leer gefegt, die Wut innerhalb von Sekunden verraucht und zu leidenschaftlichem Verlangen geworden; ihre Haut war überempfindlich und prickelte, ihr Körper reagierte wie von selbst und sie drückte sich näher an ihn, suchte nach der Wärme seines Körpers.

 

Er unterbrach ihren Kuss und strich ihr die Träger ihres Kleides über die Schultern, das daraufhin zu Boden glitt; George hob sie hoch, so dass sie ihn mit ihren Beinen umschlingen konnte und presste sie so hart gegen die Wand, dass sie kurz zusammenzuckte. Er war immer noch wütend, das hatte sie jetzt deutlich zu spüren bekommen. Ungeduldig und ungestüm, aber wie Angelina in ihrer Feinfühligkeit deutlich bemerkte, mit großem Begehren und Leidenschaft strichen seine Hände über ihren Körper, während er die empfindliche Haut ihres Halses erkundete und ihren rechten Arm fest an die Wand drückte. Sie schrie leise auf, als sie seine Zähne auf ihrer Haut fühlte. Angelina zog ihm im Gegenzug die Fingernägel der Linken über seinen blanken Rücken, nachdem sie ihm mit einem Ruck sein Hemd von den Schultern gezogen hatte.  Er zog scharf Luft ein, grinste dann breit und küsste sie wieder auf den Mund, diesmal mutiger als beim ersten Mal. Dann löste er sich nochmals von ihren Lippen und sah ihr direkt in die Augen. Sie erwiderte seinen Blick ohne zu zögern, Schokoladenbraun auf Himmelsblau. Viel heller als Freds Augen.  Beinahe zärtlich strich er ihr kurz über Wange und Lippen, dann hob er sie wieder hoch und trug sie zum Bett hinüber. Angelina schlang ihre Arme um seinen Hals und hatte das Gefühl, in einem Meer von verschiedensten Gefühlen und Eindrücken zu ertrinken. Doch sein nächster Kuss löschte jeden Gedanken, der noch in ihrem Kopf herumgeschwirrt hatte, ein für alle Mal aus.

Morgendämmerung

 

Die Sonne kitzelte Angelina im Gesicht. Genüsslich zog sie die Nase kraus und drehte sich in ihrem Bett nochmal auf die andere Seite. Heute war Sonntag, sie musste also nicht auf die Arbeit und konnte noch ein paar Minuten liegen bleiben. Sie tastete neben sich nach ihrem Wecker und es kam ihr der Gedanke, dass dort eigentlich jemand liegen müsste. In Sekundenbruchteilen überfiel sie die Erinnerung an die Geschehnisse der letzten Nacht und sie riss die Augen auf. Panisch schaute sie sich um, doch sie war alleine in ihrem Schlafzimmer. Sie lauschte angestrengt; alles war ruhig. George war nicht mehr hier.

 

Gelähmt vor Schreck saß Angelina jetzt aufrecht in ihrem Bett. Was zur Hölle war gestern in sie gefahren? Und warum zum Teufel war George plötzlich im Eberkopf aufgetaucht? Und verdammt noch mal, hatte sie wirklich mit ihm geschlafen? Stück für Stück kehrten die Erinnerungen zurück und trieben ihr die Schamesröte ins Gesicht. Das Schlimmste an all dem war, und das war nicht zu leugnen, sie hatte es genossen, sogar sehr.

 

Das erste Mal seit Wochen hatte sich alles richtig, alles leicht angefühlt, der eisige Griff um ihr Herz sich gelockert. Für wenige Stunden hatte sie wieder Zuversicht schöpfen können, Hoffnung auf eine Zukunft ohne diesen lähmenden Schmerz, der ihr Leben bestimmte. Sie hatte sich geborgen und sicher in Georges Armen gefühlt.

Und jetzt fühlte sie sich furchtbar schuldig. Sie hatte Fred betrogen; für ein kleines bisschen Ablenkung hatte sie ihre Liebe zu ihm verraten. Mit seinem eigenen Bruder! Doch war es wirklich nur das gewesen? Ablenkung?

 

Warum war er also plötzlich aufgetaucht? Woher hatte er gewusst, wo sie war und anscheinend ja auch, mit wem? Und was sagte ihr die Tatsache, dass er ganz offensichtlich unglaublich wütend darüber gewesen war, sie mit Graham Montague anzutreffen? Sie war schrecklich verwirrt.

Die Szenen der vergangenen Nacht flogen an ihrem inneren Auge vorbei. Bruchstückweise kamen ihr einige Details in den Sinn, die ihr vorher nie aufgefallen waren. Sie wurde wieder rot, als sie an Georges wundervolle Augen dachte, in die sie so gebannt geblickt hatte. Wie hatte ihr vorher nie auffallen können, wie anders sie waren; ganz anders als Freds Augen, ein helleres Blau und mit dichteren Wimpern. Sein Blick hatte sie in seine Seele sehen lassen, etwas, dass Fred nur selten zugelassen hatte. Seine Haut unter ihren Fingern hatte sich anders angefühlt,  heiß und rau, und sie hatte eine kleine, weiße Narbe an seiner Hüfte entdeckt. Sein Geruch hatte sie fast wahnsinnig gemacht. Er war leidenschaftlich gewesen, beinahe ungestüm, aber das hatte ihr gefallen. Fred hätte sie nie so angefasst.  Und als er sie geküsst hatte, hatte sie sich schwerelos gefühlt, für einen kurzen, kostbaren Moment. Seine Lippen waren voller als Freds und sinnlich weich. Den Anblick des Schalks, der ihm in die Augen getreten war, als sie ihm den Rücken zerkratzt hatte, zusammen mit seinen zu einem beinah diabolischen Grinsen verzogenen Lippen hatten sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Angelina schüttelte energisch den Kopf, um die Bilder loszuwerden. Sie ärgerte sich über sich selbst.

 

Nein, er stimmte definitiv nicht was alle immer sagten. George war nicht Freds Ebenbild. Er verhielt sich auch nicht wie Fred, im Gegenteil; er hatte sie nicht eine Sekunde an Fred erinnert. Und sie hatte, und das musste sie sich in ihrer Scham und ihrem quälend schlechtem Gewissen eingestehen, die ganze Nacht nicht ein einziges Mal an Fred gedacht. George hatte in ihrem Kopf alles andere ausgelöscht, für diese wenigen Stunden. Und als er sie an seine Brust gezogen hatte, war sie das erste Mal seit jener schicksalshaften Mainacht ohne zu zittern, ohne zu weinen und ohne Angst vor einem Alptraum eingeschlafen. Sie hatte sich sicher gefühlt. Es war die erste wirklich erholsame, traumlose Nacht seit langem gewesen.

 

Wäre dem Kissen neben ihr, auf dem er geschlafen hatte, nicht so betörend George Weasleys Geruch entströmt, sie hätte sich einbilden können alles wäre nur ein Traum gewesen. Aber das war eindeutig nicht der Fall und jetzt musste sie mit den Konsequenzen leben. Ihr schlechtes Gewissen nahm Überhand und ihr kamen die Tränen. Wie hatte sie Fred nur so hintergehen können? War sie so ein schlechter Mensch? War sie so schwach, so einfach zu haben?

 

Wütend schlug sie mit der Faust gegen die Wand. So fest, dass ihre Knöchel bluteten.

 

» Reiß dich zusammen Angelina Johnson! Fred ist tot. Daran gibt es nichts zu rütteln. Einen Toten kann man nicht betrügen! «

 

Trotzdem schluchzte sie wieder. Sie hatte schon so viele Tränen um Fred geweint, aber diese hier waren die bittersten von allen. Als ihr schlimmstes Vergehen erschien ihr, wie sehr sie Georges Gegenwart, Georges Zuneigung und Wärme genossen hatte. Sie konnte es nicht bereuen. Dazu war es zu wundervoll gewesen.

Nach einigen Minuten hatte sie sich wieder etwas gefasst, trocknete ihre Tränen, stand mechanisch auf, duschte und brühte sich einen starken schwarzen Tee auf, immer noch mit zittrigen Fingern. Dann schrieb sie zwei kurze Briefe an Katie und Alicia, mit der Bitte, sobald als möglich zu ihr zu kommen. Sie schickte ihre zwei schnellen, nachtschwarzen Eulen, die für den Falle eines Falles immer in ihrer Wohnung warteten – jeder Auror besaß zur Sicherheit mehrere, die den Informationsaustausch zwischen den Kollegen ermöglichten – auf den Weg und hoffte, dass sie auf die beiden zählen konnte.

 

Sie fühlte sich elend und verwirrt und brauchte dringend eine zweite Meinung oder wenigstens jemanden, der ihr gut zuredete, damit sie sich nicht gleich aus dem Fenster stürzte. Die Schuld erdrückte sie.

Nach nicht mal zehn Minuten, in denen Angelina mit leeren Augen aus dem Fenster gestarrt hatte, kündigte ein leises Geräusch hinter ihr die Ankunft eines Besuchers an. Katie stand jetzt in denselben Klamotten wie am Tag zuvor, aber noch mit nassen Haaren wie direkt aus der Dusche und mit einer Tüte in der Hand in Angelinas Küche. Dem Geruch entnahm Angelina unterbewusst, dass die Tüte ofenfrische Croissants enthielt. Sie legte diese auf dem Tisch ab, küsste Angelina auf die Wange und half sich selbst mit einem Schwung ihres Zauberstabes zu einem heißen Tee, bevor sie sich neben sie setzte und ihre Hand griff.

Im diesem Moment kündigte ein weiteres leises Geräusch Alicias Ankunft an. Sie trug ein elegantes weißes Kleid, aber ihre wirren Locken verrieten, dass Angelina auch sie mehr oder aus dem Bett – Viktor Krums Bett – geholt hatte. Sie stellte eine Flasche Mari Mayans auf den Tisch, der smaragdgrün in der Morgensonne glitzerte. Angelina verzog zum ersten Mal an diesem Morgen die Lippen zu einem leichten Lächeln. Alicia schmiss ihre Handtasche in eine Ecke und lies wortlos drei kleine Gläschen erscheinen, in die sie großzügig von dem Absinth einschenkte. Sie drückte eines Angelina in die Hand und setzte sich mit erwartungsvollem Blick neben Katie. Angelina setzte ihr Glas an die Lippen und fühlte die brennende Flüssigkeit wohltuend ihre Kehle hinabrinnen. Sie atmete tief ein und straffte ihre Schultern.

 

„Ich habe gestern Nacht mit George geschlafen.“

 

Angelinas Stimme war kaum mehr als ein Flüstern gewesen und für ein paar endlose Sekunden herrschte Stille in der kleinen Küche. Katie, die immer noch ihre Hand auf Angelinas liegen hatte, strich ihr über die Hand und durchbrach als erste die Stille.

 

„Denkst du denn, wir würden dir deswegen Vorwürfe machen?“

 

Angelina schloss die Augen und Alicia antwortete für sie, nachdem sie sie kurz in die Arme geschlossen hatte.

 

„Nein, Katie, sie macht sich selbst Vorwürfe, weil sie glaubt Fred betrogen zu haben und…“

Sie schwieg ganz kurz und atmete tief durch.

… und weil sie ganz offenbar glaubt, dass sie sich und ihn für diese wenigen Stunden, in den sie ihn vergessen konnte, verraten hat.“

 

Alicia kannte sie viel zu gut. Sie hatte natürlich ins Schwarze getroffen. Mit Tränen in den blickte Augen Angelina auf und sah ihre Freundinnen an. Katie nahm sie jetzt in den Arm und drückte sie an sich.

 

„Hör mal, Angie, wir müssen glaube ich jetzt dringend mal Klartext miteinander reden. Die letzten paar Wochen wollten wir dich nicht bedrängen, aber es wird Zeit, dass wir dir mal ein paar Dinge bewusst machen. Fred ist tot. Er ist tot, so schrecklich es für uns alle, und natürlich vor allem für dich und für George. Aber ihr seid ihm nichts schuldig, weder du noch George, hörst du? Ihr seid ihm nichts schuldig!

Ihr tut niemandem einen Gefallen, auch Fred nicht, wenn ihr in eurer Trauer versinkt oder euch aus dem Weg geht. Du und George, ihr seid beste Freunde gewesen all die Jahre und von heute auf morgen konntet ihr euch nicht mehr in die Augen sehen. Ich bin mir sicher, ihr könnt euch gegenseitig helfen, euch gegenseitig Halt geben. Warum wehrst du dich so sehr gegen den Gedanken? Niemand ist dir böse. Niemand wird dir einen Vorwurf machen. Fred ist tot, Angie, und er würde sicher nicht wollen dass du und sein Bruder in Einsamkeit und Unglück vergeht. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass er euch böse wäre, wenn ihr das zusammen durchsteht anstatt alleine daran zu zerbrechen.“

 

Alicia strich über ihre Hand und lächelte ihr ermunternd zu.

 

„Katie hat völlig Recht, Angie. Hör auf, dich für dein Bedürfnis nach Nähe und Zuneigung zu schämen, das musst du wirklich nicht. Du hast genug durchgemacht, genug Einsamkeit ertragen; ich glaube, dass George dich mindestens genauso sehr vermisst wie du ihn. Du hast dir ein bisschen Licht am Ende des Tunnels verdient nach diesen acht Wochen in der Dunkelheit. Du hast so viel um Fred getrauert und…“

Sie flüsterte die nächsten Worte.

„… und auch um euer Baby. Ja, ich weiß davon, ich bin nicht blind, Angie. Wir möchten nicht mehr zusehen müssen, wie du völlig daran zerbrichst. Lass dir helfen, gestehe dir zu, dass du dir ein bisschen Zuneigung und Liebe verdient hast. Wir wollen dich wieder lachen sehen. Einsamkeit und zermürbende Selbstvorwürfe werden Fred und auch dein Baby nicht zurückbringen.“

 

Angelina liefen jetzt zwei große Tränen die Wangen hinab. Tief in ihr war die Trauer wieder aufgebrochen, als Alicia das Kind erwähnt hatte. Freds Kind. Wie sollte sie sich je vergeben, wenn sie die beiden einfach so hinter sich ließ und mit ihrem Leben weitermachte.

Katie schien einmal mehr ihre Gedanken lesen zu können. Sie sprach jetzt leise und eindringlich und sah ihr direkt in die Augen.

 

„Angie, du sollst weder Fred noch das Kind vergessen. Im Gegenteil, ein großer Platz in deinem Herzen wird immer ihnen gehören, da bin ich sicher. Aber du hilfst ihnen nicht, wenn du daran kaputt gehst. Lebe weiter, für Fred und dein Kind. Lache wieder, gib dem Leben eine Chance! Du schaffst das und wir helfen dir dabei, so gut wir können.“

 

Alicia nahm jetzt selbst einen Schluck von ihrem Absinth Gläschen und reichte Angelina sicherheitshalber noch eines. Katie schaute sie immer noch unverwandt an.

 

„George hat dich gesucht, Angie. Er war selbst beim Quidditch Spiel und ist mir kurz nach dem Ende über den Weg gelaufen, als ich gerade versucht habe unauffällig das Station zu verlassen, um mich wieder mit Marcus zu treffen. Er sah ziemlich zerknirscht aus und hat nach dir gefragt. Ich hatte das Gefühl, dass ich ihm die Wahrheit schuldig war und sagte ihm, dass du mit Graham unterwegs warst. Ehe ich mich versah, ist er sehr wütend geworden und auf und davon appariert.“

 

Angelina wurde jetzt der Zusammenhang klar und sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Ihre Stimme war allerdings immer noch eher ein tränenersticktes Krächzen.

 

„Und er hat mich gefunden. Er war fuchsteufelswild und hat Montague mit einem gut gezielten Schockzauber außer Gefecht gesetzt. So schnell konnte ich kaum reagieren, da hat er mich schon gepackt und ist mit mir aus dem Eberkopf verschwunden.“

 

Sie sah wieder beschämt zu Boden. Alicia hatte leise gelacht, wurde aber schlagartig wieder ernst.

 

„Er ist eifersüchtig, Angie, das ist dir hoffentlich klar, oder? Er hat dich schon immer sehr gemocht, aber er hat mir einmal gesagt er hätte seine Hoffnungen an jenem Abend des Weihnachtsballs für immer begraben. Ich denke, du solltest das wissen. Und er ist dir ganz offensichtlich auch nicht egal, sonst ständen wir drei jetzt nicht Sonntag Morgen um 8:30 Uhr in deiner Küche. Du musst mit ihm reden.“

 

Angelina kamen wieder die Tränen und spürte die eisige Hand um ihr Herz deutlich. Die Worte ihrer Freundinnen waren wahr, sagte ihre Vernunft, doch sie fühlte sich immer noch wie eine schlimme Verräterin. Sie hatte es eigentlich nicht sagen wollen, aber da sie jetzt schon einmal mit dem Reden begonnen hatte, musste sie sich die verstörende Szene in Georges Wohnung auch noch von der Seele reden. Sie war heillos verwirrt, passte Georges Verhalten von letzter Woche doch so gar nicht zur letzten Nacht. Sie schüttelte trotzig den Kopf, um die Bilder zu vertreiben, und blickte mit zusammengepressten Lippen auf.

 

„Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass George mich sehr vermisst hat. Als ich ihn letzte Woche besuchen wollte, traf ich ihn halbnackt in seiner Küche an. Und dreimal dürft ihr raten, wer da gerade in seinem Bett lag. Keine Minute später betrat Iphigenie die Küche, bekleidet mit einem Hauch von Nichts. Es war kaum missverständlich, was sie dort verloren hatte. Ja genau die, Katie… Iphigenie Flint, die Ehefrau deines wundervollen Marcus! Ich brauche wohl kaum zu erwähnen, dass ich kaum meinen Augen trauen konnte.“

 

Katie sah ziemlich geschockt aus, aber auf Alicias Gesicht war ein trauriges Lächeln erschienen. Sie blickte aus dem Fenster und seufzte.

 

„Ich glaube, du tust George unrecht, Angie. Er ist genauso überfordert mit seiner Trauer wie du. Und er ist nur ein Mann. Vielleicht er hat sich von einer Affäre etwas Ablenkung erhofft.  Aber ich bin mir sicher, dass es nichts Ernstes war. Lee hat sich an diesem besagten Freitag noch mit ihm auf ein Bier getroffen und gesagt, dass er völlig durch den Wind war, konnte sich aber keinen Reim darauf machen. Jetzt wissen wir, dass es dein Besuch gewesen sein muss, der ihn aus der Fassung gebracht hat.“

 

Angelina schaute immer noch trotzig aus dem Fenster und hatte jetzt Tränen der Wut in den Augen.  Alicia musterte sie mit gerunzelter Stirn und zog dann die Augenbrauen hoch, als wäre ihr etwas klar geworden.

 

„Du bist nicht wütend auf ihn, weil er mit dieser Frau im Bett war. Du bist wütend auf ihn, weil es dir nicht egal war, richtig? Du bist verletzt. Er bedeutet dir mehr, als du dir eingestehst, Angie.“

 

Angelina schaute bestürzt zu Alicia. Eine simple Feststellung, einmal ausgesprochen, brachte ihre ganze Welt ins Wanken. Jetzt war es heraus. Ja, sie war verletzt. Sie war todunglücklich gewesen, dass George sich einfach so  eine Frau genommen hatte; eine andere Frau als sie selbst. Jetzt, da Alicia es ausgesprochen hatte, konnte sie es nicht mehr verleugnen. Sie griff mit zittrigen Fingern zum dritten Glas mit Absinth und leerte es mit einem Zug. Sie musste nichts sagen, Alicia und Katie wussten sowieso bereits, was sie nicht aussprechen konnte.

Katie meldete sich jetzt wieder zu Wort, da sie den Schock über die Rolle ihrer Widersacherin anscheinend einigermaßen verdaut hatte.

 

„Ich glaube auch, dass du ihm unrecht tust, wenn du ihm diese Bettgeschichte vorwirfst. Männer gehen mit Schmerz nun mal oft anders um als wir Frauen; ich kann das genauso wenig nachvollziehen wie du, aber wir wissen beide, dass es so ist. Du bedeutest George eine Menge, Angelina, daran gibt es keinen Zweifel. Ich habe die panische Sorge und den Schmerz in seinen Augen gesehen, als er dich nach St. Mungo gebracht hat. Er war so in Angst um dich, dass er nicht eine Sekunde von deiner Seite gewichen ist. Die ganze Zeit war er bei dir, hat deine Hand gehalten und jedem Heiler, inklusive mir, die Hölle heiß gemacht. Das… das war nicht nur die Sorge um die Freundin seines Bruders. Es ist verständlich, dass du wütend bist. Aber gebe ihm eine Chance, es zu erklären.“

 

Angelina sagte nichts. Sie war zu verwirrt, zu erschlagen von den Ereignissen. Sie brauchte Zeit zum Nachdenken, Luft zum Atmen. Sie sammelte sich und blickte ihre beiden Freundinnen jetzt entschlossen an.

 

„Ihr habt Recht, ich muss mir über einiges klar werden. Ich muss in Ruhe nachdenken, aber dazu muss ich weg von hier, raus aus London.“

 

Katie grinste verschmitzt und lächelte sie dann an.

 

„Wie praktisch, dass ich daran dachte, die nächsten Wochen an der schottischen Küste zu verbringen. Marcus Familie besitzt dort ein wundervolles Cottage und ich habe wegen der ganzen Schichten im Mai etlichen Sonderurlaub abzufeiern. Du kommst einfach mit, Angie. Alleine wäre mir doch sowieso nur langweilig.“

 

Mit diesen Worten schob sie Angelina ein Croissant hin und biss selbst vergnügt in eines, während Alicia sich lieber noch einen Absinth einschenkte. Aber sie grinste jetzt, als sie ihnen zu prostete.

 

„Was für ein Morgen, Mädels… ohne euch wäre mein Leben doch wahrlich sehr langweilig!“

Sommerbrise

- Stonehaven, Aberdeenshire; Schottland -

 

„Meine Güte, Angie. Du bist ja schon wieder fast einen ganzen Ton dunkler im Gesicht als letzte Woche!“

 

Katie lachte vergnügt und warf ein paar Gräserhalme nach ihr, die sie eben gepflügt hatte. Die beiden Freundinnen spazierten gerade über eine saftige, grüne Wiese mit Blick auf das ruhige Meer, unweit der Ruine von Dunnottar Castle oberhalb von Stonehaven an der schottischen Ostküste. Die flauschig-weiche Highlandkuh, die Katie eigentlich gefüttert hatte, machte ihrem Unmut über das verlorene Futter, das Katie einfach so in die Luft geworfen hatte, mit einem lauten Muhen Luft. Jetzt musste auch Angelina lachen, die gerade eine der anderen grasenden Kühe streichelte. Sie fühlte sich befreit, beinahe glücklich; in jedem Fall viel besser noch als vor drei Wochen, als sie mit Katie hier angekommen war.

 

Der milde Sommer der schottischen Küste tat ihr gut. Sie hatte wieder eine gesunde Gesichtsfarbe bekommen und sie sah nicht mehr wie ein Geist, sondern wie eine gesunde junge Frau von fast einundzwanzig Jahren aus. Sie hatte die Tage mit langen Spaziergängen am Strand und ausgedehnten Erkundungstouren der umliegenden Umgebung verbracht und die unberührte Schönheit der Natur hatte geholfen, tief in ihrem Inneren etwas heilen zu lassen. An manchen Tag, wenn sie während einer Pause aufs Meer hinausgesehen hatte, hatte sie die Trauer wieder übermannt, aber sie brannte nicht mehr so verzweifelt in ihr. Ihre Tränen waren jetzt eher eine traurige Erinnerung an die schönen Dinge, die sie mit Fred geteilt hatte.  Sie sah diese Erinnerungen nicht mehr als Qual an, sondern akzeptierte sie als etwas, was sie für immer mit Fred verbinden würde.

 

Das Gefühlschaos, das in ihrem Inneren herrschte, hatte sich ein wenig beruhigt. Sie hatte sich eingestanden, dass ihr George nicht egal war. Das war ein großer Schritt gewesen und brachte dahingehend eine Verbesserung ihrer Lage, da es wenigstens etwas die heillose Verwirrung in ihrem Herzen ordnete. Sie hatte mit ihm geschlafen und sie hatte es genossen. Das waren Fakten, die sie mittlerweile akzeptiert hatte. Ihr schlechtes Gewissen war zwar noch immer nicht verschwunden, aber es lastete ihr nicht mehr so erdrückend auf der Seele wie noch drei Wochen zuvor.

Sie hatte etliche gemütliche Abende mit Katie verbracht, manchmal war auch Marcus dazugekommen. Sie hatten viel gelacht und über alte Zeiten gesprochen, über Quidditchduelle und die Gemeinheiten, die die Gryffindors und Slytherins für die jeweils anderen ausgeheckt hatten. Zum ersten Mal hatte sie beide Versionen der Geschichte gehört, wie aus der erbitterten Feindschaft der Griffindorjägerin und des arroganten Slytherins an einem denkwürdigen Abend in Schulsprecherbadezimmer plötzlich etwas ganz anderes als Feindschaft geworden war, und schallend über Katies unschuldiges Denken und Marcus Dreistigkeit gelacht. Angelina hatte verwundert festgestellt, dass sie gespannt zuhörte, dass sie selbst Scherze machte und dass sie wieder wirklich lachen konnte. Die Gesellschaft des jungen Paares tat ihr gut und sie rechnete es ihnen hoch an, dass sie ihre kostbare gemeinsame Zeit mit ihr anstatt zu zweit alleine verbrachten. Marcus Flint war stark in ihrer Achtung gestiegen und sie bekam eine Ahnung davon, was Katie wohl in ihm sehen mochte.

Sie hatte ihn gebeten, seinem besten Freund eine Entschuldigung von ihr auszurichten, da sie sich nicht sicher war, ob sie Graham Montague selbst noch einmal unter die Augen treten wollte und konnte. Der hatte sich wohl allerdings diskret verhalten und nicht den exakten Ablauf des Abends an Marcus weitergegeben, sondern lediglich erwähnt, dass sie nicht die Nacht bei ihm verbracht hatte, was sie ihm hoch anrechnete.  Am selben Abend noch hatte ihr eine wunderschöne schneeweiße Eule einen kurzen Brief gebracht, in dem sich Montague – augenscheinlich eher scherzhaft – für den stürmischen Abend bedankt hatte und ihr versicherte, dass sie sich jederzeit bei ihm melden könne, gesetzt dem Fall sie könne ihm diesmal garantieren, dass er nicht am nächsten Morgen mit extremen Kopfschmerzen auf dem Boden vor einer Bar aufwachen würde. Sie hatte schmunzeln müssen und dankte Merlin innerlich, dass Marcus Flints bester Freund anscheinend wohl eher ein unkomplizierter und nicht nachtragender Mann war.

 

Ein paar Tage später war Lee zu Besuch gewesen und sie hatten einen entspannten Nachmittag am Strand verbracht, wie damals in ihrer Kindheit. Er hatte sie überredet, wie damals eine Sandburg zu bauen, aber dabei mit etlicher Magie nachgeholfen, so dass ein imposantes Schloss entstanden war. Sie hatte ihn ausgelacht und behauptet, er könne es wohl nicht mehr ohne zu schummeln und war dann schreiend davon gelaufen, als er sie mit zur Strafe mit Unmengen Sand beworfen hatte. Es war ein schöner Tag gewesen und an Lees Seite im Sand liegend hatte sie sich für einige Stunden beinahe wieder wie das unbeschwerte kleine Mädchen gefühlt, das mit seinem besten Freund die Küste von Cornwall unsicher gemacht hatte. Lee hatte kein Wort über George verloren, weil er die Leichtigkeit des Moments wohl nicht zerstören wollte und sie war ihm dankbar gewesen. Irgendwann, als eine fröstelte Katie zu ihnen hinunter gekommen war und sie gefragt hatte, ob sie denn am Strand übernachten wollten, hatten sie bemerkt, dass es über ihren ausgetauschten Kindheitserinnerungen tatsächlich schon Abend geworden war.

 

Sie war all ihren Freunden unendlich dankbar. Jetzt, nach diesen drei Wochen Ruhe und Frieden, fühlte sie sich zum ersten Mal seit drei Monaten wieder wie ein Mensch. Die Entscheidung, ihre Wohnung und ihre Arbeit für eine Weile hinter sich zu lassen war definitiv richtig gewesen.  Doch sie wusste, dass sie ein klärendes Gespräch mit George nicht ewig aufschieben konnte. Dieses schottische Paradies war nichts destotrotz nur gekaufte Zeit, eine kurze Pause, bevor sie wieder in die Realität des Alltags zurückkehren musste.

Und sie musste sich eingestehen, dass sie ihn von Tag zu Tag mehr vermisste. Nachdem der übermächtige Schmerz etwas erträglicher geworden war, hatte sich eine nicht mehr zu ignorierende, leise Sehnsucht in ihr Herz geschlichen. Und mit der Zeit fand sie sich damit ab und sträubte sich nicht mehr allzu sehr dagegen.

 

Angelina lachte und streckte Katie die Zunge heraus.

 

„Sei lieber froh, dass dein makelloser Teint nicht von der Sonne beeinträchtigt wird, Prinzessin. Was würde wohl Marcus dazu sagen?“

 

Katie bewarf sie statt einer Antwort mit noch mehr Gras und gab eine weitere Hand voll der jetzt zufrieden kauenden Kuh neben sich. Es war bereits fast Mittag und sie genossen die frische Brise, die vom Meer herüber wehte, denn die Sonne brannte heiß vom Himmel. Betrachtete man diesen makellosen Sommer, war es kaum vorstellbar, dass vor nicht einmal drei Monaten die gesamten britischen Inseln unter dichtem Nebel und düsteren Wolken dahingesiecht waren. Ein Spiegel der Stimmung und Angst im ganzen Land.

 

Mit einem Seufzer des Wohlbehagens ließ sich Katie ein paar Meter weiter auf das weiche Gras fallen und rieb sich den Bauch, der plötzlich laut knurrte.

 

„An Proviant hätten wir wirklich denken können, Angie. Bis wir zurück gelaufen sind, bin ich verhungert. Ich befürchte, wir müssen nachher magisch abkürzen, sonst muss ich meinen Magen hinter mir her ziehen, weil er so tief durchhängt.“

 

Angelina setzte sich neben sie und grinste sie an, während sie mit dem Kopf nach links deutete. Weit in der Ferne war ein Punkt zu erkennen, der sich in ihre Richtung bewegte.

 

„Ich glaube das müssen wir gar nicht, Katie. Schau mal wer da hinten angelaufen kommt. Und es sieht mir fast so aus, als hättest du Glück im Unglück. Sie hat einen Korb dabei, der mir stark nach einem Picknickkorb aussieht.“

 

Mittlerweile war Alicia so nah herangekommen, dass sie sie deutlich sehen konnten. Sie winkte vergnügt und hatte tatsächlich einen großen geflochtenen Korb dabei, der so gar nicht zu ihrem Kostüm und den Highheels, die sie in der linken Hand trug, passte. Sie kam augenscheinlich direkt von einem Interview.

 

Katie winkte begeistert zurück und lachte vergnügt auf.

 

„Du bewahrst uns vor dem Hungertod, Alicia. Dich schickt der Himmel!“

 

Alicia warf ihr den Korb entgegen und streckte ihr die Zunge raus.

 

„Wie kann ein Mensch, der so verfressen ist wie du, Katie, nur so eine gute Figur haben?“

 

Katie lachte und zwinkerte der Freundin zu.

 

„Das wüsstest du wohl gerne, hmm?“

 

Angelina schloss kurz die Augen und verfolgte die Neckereien ihrer Freundinnen vergnügt. Genauso musste es sein. Das Leben hatte sie endlich wieder und sie dankte Merlin für ihre Freunde, die ihr das ermöglicht hatten.

 

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- Stadteil Belgravia, London –

 

„Darf es noch etwas sein, Sir? Ein Drink oder ein Dessert für die Dame?“

 

Der Ober sah ihn erwartungsvoll an und wartete. Padma legte ihre Serviette beiseite und antwortete dem Ober selbst.

 

„Für mich nichts mehr, danke. Es war vorzüglich. Für dich, George?“

 

Sie schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln und ihre braunen Augen glitzerten im Kerzenlicht. Sie saßen in einem kleinen, aber sehr feinen italienischen Restaurant und hatten ein ausgezeichnetes Candle-Light Dinner genossen. George wusste, was sich gehörte, hatte Padma erfreut und zufrieden festgestellt. Er war äußerst höflich und charmant gewesen, als er sie um dieses nunmehr dritte Date gebeten hatte, und er hatte Geschmack bei der Wahl der Etablissements bewiesen, in die er sie bisher entführt hatte. Er war zurückhaltend, aber immer freundlich gewesen und heute hatte sie beinahe etwas Herzklopfen gehabt, als sie in ihrer Wohnung auf ihn gewartet hatte.

 

Bewundert hatte sie George Weasley schon in der Schule immer heimlich; er, der zwei Jahre älter war als sie, der Griffindor-Clown, von allen bewundert und für seine Streiche gefürchtet, der für die Hausmannschaft als Treiber spielte. Sie hatte sich ausgemalt wie es wäre, wenn er sie einmal um ein Date bitten würde, aber er war ihr dann doch zu unzuverlässig und schelmisch erschienen, bedachte man die ganzen Streiche und dem Unfug, den er und sein Bruder angestellt hatten.

Vor ein paar Wochen waren sie sich dann in der Winkelgasse über den Weg gelaufen, als sie gerade auf dem Weg zurück zu Gringotts gewesen war, für die sie als Fluchbrecherin arbeitete. Erstaunt hatte sie feststellen müssen, dass er nichts von seinem Charme eingebüßt hatte;  aber dem Jungen, den sie kannte, der nur Unfug im Kopf hatte, dem glich er kein bisschen mehr. Er war ihr ungewöhnlich ernst erschienen, aber immer noch charmant und freundlich. Keine Spur mehr von der jugendlichen Leichtsinnigkeit. Ein erwachsener, attraktiver junger Mann.

Sie hatten ein paar freundliche Worte ausgetauscht und sie hatte ihm zum Abschied ihr schönstes Lächeln geschenkt.

 

Und als sie an einem Sonntagnachmittag vor drei Wochen gerade mal wieder darüber nachgegrübelt hatte, warum sie ihn nicht gefragt hatte, ob sie sich nicht irgendwann einmal auf einen Kaffee treffen wollten, hatte ihr ein stolz aussehender Kauz einen Brief gebracht, in dem George sie um eine Verabredung gebeten hatte.  Ihr Herz hatte einen Hüpfer gemacht und sie hatte in ihrem Schlafzimmer umhergetanzt wie ein kleines Mädchen.

 

Jetzt saß sie also mit ihm zusammen in einem romantischen, kleinen Restaurant und dachte darüber nach, was heute Abend noch passieren konnte.

 

„Für mich auch nicht mehr, danke. Die Rechnung, bitte, Herr Ober.“

 

George wand sich wieder ihr zu und lächelte sie an. Wie immer mischte sich etwas Nostalgie und noch etwas anderes, das Padma nicht deuten konnte, in sein Lächeln, aber sie fand es trotzdem bezaubernd.

 

„Ich weiß, es klingt sehr verwegen, aber ich fand den Abend heute so schön, dass ich ihn ungern jetzt schon enden lassen würde, Padma. Ich bringe dich natürlich gerne nach Hause, aber wenn du möchtest, würde ich dich sehr gerne noch auf einen Drink zu mir einladen.“

 

Padma spürte, wie sie eine Gänsehaut am Rücken bekam. Jetzt war es also soweit, sie musste sich entscheiden. Wenn sie ja sagte, wusste sie, wozu das Ganze womöglich führen würde. Aber was sprach eigentlich dagegen? Sie war eine erwachsene, selbstständige Frau und es gab nichts, für das sie sich schämen musste. George war erfolgreich, attraktiv und ein wunderbarer Gesprächspartner. Sie konnte sich durchaus vorstellen, dass daraus etwas mehr werden konnte.

Sie lächelte wieder und sah ihm dabei direkt in die Augen.

 

„Ich würde sehr gerne noch mit zu dir kommen.“

 

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Etwa fünfzehn Minuten später  betrat sie zum ersten Mal seine beeindruckende Wohnung über dem Weasleyschen Laden in der Winkelgasse. Sie war begeistert, wie geschmackvoll die Brüder diese eingerichtet hatten. Es passte zu dem Eindruck, den sie von George bisher hatte. Natürlich wusste sie, dass Fred vor drei Monaten bei der Schlacht um Hogwarts ums Leben gekommen war, aber er hatte es ihr gegenüber mit keinem Wort erwähnt, sodass sie beschlossen hatte, es dabei zu belassen. Sie mochte ihn sehr und wenn sie ihm irgendwie Trost spenden konnte, dann wollte sie das gerne tun, aber sie würde ihn nicht bedrängen.

 

Sie sah sich um und entdeckte das Wohnzimmer, in dem ein bequemes Sofa vor dem großen Kamin stand. Es war gemütlich und warm, ein Feuer prasselte leise vor sich hin. Sie ließ sich auf das Sofa fallen und betrachtete die Photos auf dem Sims und an der Wand, während sie George in der Küche mit Gläsern klappern hörte. Eines der Bilder war in dunkles Holz gerahmt und stand ziemlich weit hinten auf dem Kamin; dennoch war es ihr ins Auge gefallen. Sie trat näher und hob es hoch.

Es war wohl im Winter in aufgenommen worden, denn es waren viele Flocken und eine beachtliche Schneedecke darauf zu erkennen. Weit im Hintergrund war die heulende Hütte erkennbar, woraus sie schloss, dass es wohl aus Hogsmaede stammte. Im Vordergrund standen drei fröhlich lachende Personen mit von der Kälte geröteten Wangen, alle drei in dicke Umhänge gehüllt und mit Mützen auf den Köpfen. Die zwei jungen Männer flankierten ein dunkelhäutiges Mädchen, das glücklich strahlte und ihr zuwinkte; sie hatte Schneeflocken in den schwarzen Locken. George hatte einen Arm um Angelina gelegt, während Fred sie auf die Wange küsste. Eine unbeschwerte Szene aus einer anderen Zeit.

 

Padma hörte ein Geräusch und drehte sich um. Gerade war George in das Zimmer gekommen, in der Hand ein Tablett mit zwei Gläsern, Eiswürfeln und zwei Flaschen in der Hand. Er lächelte sie an, doch als sein Blick auf das Bild in ihrer Hand fiel, veränderte sich sein Blick plötzlich. Ein Schatten legte sich auf sein Gesicht und obwohl er immer noch lächelte, erreichte das Lächeln seine Augen nicht mehr. Sie waren voller Trauer und diesem anderen Ausdruck, den sie bisher immer nur als leise Ahnung wahrgenommen hatte. Sie blickte zurück auf das Bild und verstand plötzlich.

 

Die Erkenntnis durchfuhr sie mit einem Mal und  sie fragte sich, wie sie es hatte übersehen können. Sie wusste nun, was es war, dass in seinen Augen lag; traurig blickte sie zu Boden, dann fasste sie sich wieder und ging auf ihn zu. Sie nahm ihm das Tablet ab, stellte es auf den Tisch und zog ihn neben sich auf das Sofa, wenn auch mit etwas Abstand. Seine Hand hielt sie dennoch fest.

 

„George, es tut mir Leid für dich, wirklich. Ich kann nicht ermessen, was du verloren hast und ich wünschte, ich könnte es sein, die dir Trost spendet. Aber ich habe jetzt verstanden, dass ich eigentlich nicht hier sein sollte, sondern sie. Du solltest aber wissen, dass ich dich wirklich sehr gerne glücklich gemacht hätte.“

 

Sie küsste ihn behutsam auf die Wange und eine Träne stahl sich über ihre Wange.

 

„Hör auf, dir einzureden du könntest sie vergessen. Geh zu ihr und rede mit ihr. Egal mit wie vielen Mädchen du dich triffst, ich glaube nicht, dass es etwas ändern wird. Ich hoffe, sie kann dir helfen. Verspreche mir, dass du wieder lachen lernen wirst.“

 

Georges sah sie schweigend an und seine Augen bestätigten ihr, dass sie richtig lag. Er blickte zu Boden und schluckte.

 

„Es tut mir leid, Padma. Ich wollte dir nie wehtun.“

 

Sie lächelte ihn an, auch wenn es ihr schwer fiel. Er sprach die Dinge nicht aus, aber sie verstand ihn auch so. Sie hatte schon immer eine gute Menschenkenntnis gehabt. Es änderte ja nichts, gegen sie kam sie einfach nicht an. Padma stand vom Sofa auf und atmete tief durch.

Sie würde in zwei Tagen nach Kolkatta aufbrechen, um im Auftrag von Gringotts in einigen Gräbern alter hinduistischer Tempel nach dem begehrtem, alt-indischen Koboldgold zu suchen. Die uralte Magie, die die Grabmäler beschütze, würde ihrer ganzen Aufmerksamkeit bedürfen und das war gut so. Sie musste George Weasley aus ihrem Kopf bekommen.

 

„Mach es gut, George. Ich wünsche dir nur das Beste.“

 

Mit diesen Worten strich sie ihm noch einmal über die Hand, dann drehte sie sich um und ging aus dem Zimmer.

 

Sie blickte sich noch einmal kurz um und sah einen nachdenklichen, traurig blickenden George auf dem Sofa sitzen, der unablässig auf das besagte Photo starrte, das Padma auf dem Tisch abgestellt hatte. Dann verließ sie die Wohnung mit raschen Schritten, traurig, aber wohlwissend, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Sie konnte nur hoffen, dass auch er die richtige Entscheidung treffen würde.

 

Abendwind

-Stonehaven, Aberdeenshire; Schottland-

 

Bis auf das sanfte Rauschen des Meeres und das Kreischen einiger Möwe war es friedlich und still um sie herum. Angelina saß mit geschlossenen Augen im Sand und genoss den letzten Abend in ihrem persönlichen kleinen Paradies und atmete die Seeluft tief ein.  Sie war alleine und wusste, dass sie heute Abend auch niemand stören würde. Katie war bei Marcus und auch sonst war niemand hier. Das Cottage lag verlassen auf dem Küstenhügel über ihr. Der Wind ließ ihre Locken tanzen und die Sonne begann gerade, sich über den Horizont zu senken. Morgen Abend würde sie nach London zurückkehren und dann wieder arbeiten müssen. Morgen Abend musste sie zurück in ihr altes Leben.  Sie blendete das jetzt allerdings noch aus, denn sie wollte dem Augenblick nicht die Leichtigkeit nehmen; sie würde die Kraft, die sie in den letzten drei Wochen hier gewonnen hatte, brauchen. Natürlich war ihr klar gewesen, dass es so nicht ewig weitergehen konnte. Sie konnte nicht ewig vor George und ihren Problemen davon laufen. Aber diese Pause hatte ihr gut getan. Wenn sie heute an Fred dachte, dann sah sie ihn lachen und erinnerte sich an sein Leben, nicht an seinen Tod. Sie vermisste ihn schrecklich und sie trauerte um ihr Baby, das noch nicht mal ein richtiger Mensch gewesen war, als es diese Welt schon wieder hatte verlassen müssen. Aber sie wusste jetzt, dass der Schmerz mit der Zeit weniger schlimm, dass er erträglicher werden würde. Endlich konnte sie wieder einigermaßen klar denken. Nun galt es, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen und herauszufinden, was sie eigentlich wollte. Sie musste George sehen und hoffte, dass sie dann wissen würde, was sie tun oder lassen sollte.

 

Sie war ganz in sich selbst versunken und genoss die letzten Sonnenstrahlen, als ihr jemand plötzlich eine Decke über die Schultern legte. Erschrocken riss sie die Augen auf und wollte sich umdrehen, als sie die Hände auf ihren Schultern erkannte und kurz erstarrte. Sie drehte den Kopf, leicht zitternd, und sah altbekannte rote Haare in der Abendsonne aufblitzen; sie erblickte ebenmäßige, vertraute Gesichtszüge und durchdringende blaue Augen. Angelina brachte kein Wort heraus, sondern sah ihn nur unverwandt an. Er setzte sich neben sie in den Sand und legte ihr wie selbstverständlich den Arm um die Schultern. Dann zog er sie sanft zu sich heran, sagte aber nichts. Stattdessen lächelte er  und schaute dann entspannt in den Sonnenuntergang. Angelina brauchte einige Sekunden, bis sie ihren Schock überwunden hatte.

 

Dann, ganz langsam, entspannte ihr Körper sich und schmiegte sich an den Mann neben ihr. Ihr wurde schlagartig bewusst, dass sie genau darauf die ganze Zeit unterbewusst gehofft hatte. Sie hatte sich nach ihm gesehnt, auch wenn ihr schlechtes Gewissen es ihr ausgeredet hatte.

Die beklemmende Scheu fiel von Angelina ab. Jetzt, nachdem sie es sich selbst eingestanden hatte, gab es keinen Grund mehr dazu. Sie legte ihren Kopf an seine Schulter und schloss die Augen. Sein unverwechselbarer Geruch ließ das Lächeln auf ihre Lippen zurückkehren. Sie hatte ihn vermisst, sehr vermisst. Seine großen Hände lagen warm und ruhig auf der Haut ihrer rechten Schulter und strichen sanft darüber. Ein paar seiner roten Haarsträhnen kitzelten sie im Gesicht und sie zog die Nase kurz kraus. Er lachte leise auf, sagte aber immer noch nichts und küsste sie sanft auf die Stirn, bevor er wieder aufs Meer hinaussah. Sie genoss seine Nähe in vollen Zügen und diesmal schämte sie sich nicht mehr dafür. Irgendwo tief in ihrem Unterbewusstsein schlichen sich jetzt einige Gedanken in ihren Kopf, die nicht mehr wichen. Du musst das alles nicht alleine durchstehen. Du hast ein Recht darauf, dass dein Leben weitergeht und dass du irgendwann wieder wirst unbeschwert lachen können. Angelina wusste nun, Fred wäre der Letzte gewesen, der sie hätte unglücklich sehen wollen.

 

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Also Angelina erwachte, dämmerte gerade der Morgen. Sie lag, immer noch in die Decke gehüllt, auf dem Sofa in Katies kleinem Cottage. George musste sie hierher gebracht haben. Wie viele Stunden sie am Abend zuvor am Strand gesessen hatten, konnte sie nicht mehr sagen. Sie hatten keine Worte gesprochen, sondern einfach nur die Gesellschaft des anderen genossen. Irgendwann, lange nachdem die Sonne untergegangen war, musste sie wohl eingeschlafen sein. Doch jetzt war George nicht mehr da. Diese Erkenntnis hatte den faden Beigeschmack eines Déjà vus, denn es war nicht das erste Mal, dass sie nach einem denkwürdigen Abend mit George Weasley alleine aufwachte.

 

Doch diesmal war es anders. Sie hatte im Gefühl, dass er wieder kommen würde. Sie wusste es einfach. Angelina fühlte sich nicht so erbärmlich egoistisch wie an jenem Sonntag drei Wochen zuvor. Sie hatte Angst davor gehabt, ihm in die Augen zu sehen. Sie hatte befürchtet, ihn wiederzusehen würde in peinlicher Stille oder in einem Streit enden. Sie hatte gedacht, sie würde an ihren Selbstvorwürfen ersticken. Es stand immerhin die unumstößliche Tatsache im Raum, dass sie miteinander geschlafen hatten.

Nein, nicht nur das. Etwas viel Schwerwiegenderes; wenn sie ehrlich zu sich selbst war, musste sie eingestehen dass es eindeutig nicht nur Sex gewesen war. Sie hatten sich geliebt. Und diese kleine, feine Nuance Unterschied konnte keiner von ihnen beiden ignorieren.

Doch es war ganz anders gekommen am gestrigen Abend. Georges Anwesenheit weder peinlich noch seltsam noch schwierig gewesen. Im Gegenteil, sie hatte sich leicht gefühlt.  Sie wollte mehr davon.

 

Heute würde ein besonderer Tag werden. Sie hatte noch etwas zu erledigen, das sie die ganzen letzten drei Monate aufgeschoben hatte. Doch heute fühlte sie sich stark genug dafür; sie musste es endlich tun, es war längst überfällig.

Angelina wickelte sich langsam aus der Decke und ging die Treppe hinauf, um sich umzuziehen. Sie wählte ein blaues Kleid, das Fred sehr gemocht hatte. Mit leicht zittrigen Fingern schloss sie die Knöpfe ihres Reiseumhangs, denn der junge Morgen war noch kühl, und kämmte ihr Haar, so dass ihr die Locken über die Schultern fielen. Alles tat sie mit besonderer Sorgfalt. Es war schließlich ein besonderer Ort, den sie besuchen wollte.

 

Es war noch dunkel, als sie aus dem Haus trat. Sie apparierte mit Absicht nur an den Rand des kleinen Waldes, so dass sie die letzten zwei Kilometer zu Fuß zurücklegen musste. Die Sonne begann gerade, den Horizont rötlich zu verfärben, als sie das eiserne Tor durchschritt. Die gesamte Lichtung war noch in Nebelschwaden gehüllt, aber sie konnte dennoch die in säuberlichen Reihen angelegten Gräber erkennen. Der uralte Friedhof lag still und friedlich da. Er wirkte beinahe unwirklich schön, so als ob es sich dabei einfach nur um eine idyllische Waldlichtung im Morgentau handeln würde. Langsam passierte sie Reihe um Reihe, bis sie ganz hinten unter den Kronen einer alten Eiche und einer Blutbuche zum Stehen kam. Die Bäume standen in voller Blätterpracht da, kraftvoll und voller Leben, als wären sie die Wächter dieser letzten Ruhestätte.  

Der noch frische Erdhügel vor ihr war immer noch mit Unmengen von Blumen und Kränzen bedeckt, von denen einige schon anfingen zu welken, andere jedoch noch ganz frisch zu sein schienen. Vielleicht war es auch nur ein geschickter Zauber. Ganz oben lag ein immergrüner Kranz mit sieben einzelnen gelben Lilien, der mit den Namen aller Familienmitglieder beschriftet war. Eine der Lilien war verwelkt. Es wirkte, als wären seit Freds Beerdigung erst einige Tage vergangen. Ein schlichtes Holzkreuz stand am Kopfende.

 

Angelina wurde schwindelig und sie spürte einen Stich im Herzen. Sie hatte es damals, am Tag seiner Beerdigung, nicht über sich gebracht, hierher zu kommen. Zu viel Angst hatte sie vor dem Blick in Georges Augen, vor dem Schmerz seiner Mutter und dem Anblick der ganzen Freunde und Verwandten gehabt. Ganze dreizehn Wochen hatte sie gebraucht, bis sie soweit gewesen war. Drei Wochen hatte sie in Schottland die Kraft gesammelt, um jetzt einen Fuß vor den anderen zu setzen; um genau hier her zu kommen.

Jetzt, da sie hier stand, vor diesem endgültigem Ort, durchzuckte sie die Trauer wie schon so oft in den letzten Monaten wie ein glühendes Schwert. Fred... Doch es war etwas anders als zuvor. Eine einzelne Träne lief ihre Wange hinab.

 

Vor seinem Grab zu stehen bedeutete, mit eigenen Augen zu sehen, dass er wirklich tot war. Dass er hier unter der Erde lag, nur noch eine Hülle seiner selbst. Der Mann, den sie geliebt hatte, war nicht mehr hier. Er weilte nicht mehr in dieser Welt. Nicht mehr bei ihr.

Regungslos stand sie einfach nur da und weinte stille Tränen. Es war nichts mehr Hysterisches dabei wie an den ersten Tagen nach seinem Tod, nichts mehr Taubes oder Erdrückendes wie in den Wochen danach. Es war die gemeinsame Zeit, die sie nicht mehr haben konnten, die Angelina in diesem Moment beweinte. Und dennoch fühlte sie sich getröstet an diesem Ort. Die Tränen befreiten sie Stück für Stück ein bisschen von der bedrückenden Enge in ihrem Inneren.

Sie nahm in diesem Moment Abschied von ihm. Sie wusste jetzt, dass sie ihn gehen lassen musste. Sie durfte ihn nicht an diese Welt binden, denn er musste den Weg weitergehen. Vorrausgehen dorthin, wohin sie ihm alle eines Tages würden folgen müssen. Doch noch war es nicht so weit. Nicht für sie und auch nicht für George.

 

Wie lange sie so an diesem Ort der Erinnerung gestanden hatte, konnte sie nicht sagen. Irgendwann versiegten ihre Tränen und sie blickte nur noch stumm auf den Erdhügel. Die Augustsonne schien ihr bereits erstaunlich warm in den Rücken. Es mochte vielleicht mittlerweile sechs Uhr morgens sein, sie wusste es nicht genau. Ganz langsam hob sie ihre Hände und öffnete die lange silberne Kette im Nacken, die unter dem Kleid und Mantel verborgen war und die sie seit über vier Jahren ständig trug. Der silberne Anhänger lag schwer in ihrer Hand. Es war ein wunderbar filigran gearbeiteter Knoten aus verschiedenen Silberfäden, in dessen Mitte ein winziger Smaragd glitzerte. Ihr Talisman, der sie bisher nur an einem einzigen Tag vor drei Monaten im Stich gelassen hatte. Es war ein Geburtstagsgeschenk gewesen. Sie tippte leicht mit dem Zauberstab an den Anhänger. Langsam wie kleine Schlangen wandten sich die Silberfäden und der Knoten löste sich. Dann teilte sich das Silber auf und synchron entstanden zwei neue, identische Knoten, in die sich die Silberfäden kunstvoll verwebten. Der Smaragd brach mit einem Klicken entzwei und die beiden Stückchen fanden jeweils einen neuen Platz, schwebend in der Mitte der beiden entstandenen Schmuckstücke.

Angelina trat einen Schritt vor und ging in die Knie. Sie fädelte einen der beiden Knoten langsam wieder auf die Kette und legte sich diese um den Hals. Dann schloss sie kurz die Augen, berührte den zweiten Knoten flüchtig mit den Lippen und legte ihn dann in eine kleine Mulde, die sie mit der anderen Hand in die Mitte der Graberde gedrückt hatte. Bedächtig bedeckte sie den Knoten wieder mit der Erde und stand auf.

Sie fühlte sich erleichtert und musste lächeln, als sie daran dachte, was Fred in diesem Moment gesagt hätte. Er hätte angemerkt, dass ihm Silber nicht stand. Eine letzte Träne rollte ihr über die Wange, aber diesmal blieb ihr Lächeln.

 

» Ich habe dich geliebt, Fred Weasley, Merlin weiß, wie sehr. Aber wo du hingegangen bist, kann ich dir nicht folgen. Ich weiß jetzt, ich muss dich gehen lassen und ich hoffe, es geht dir gut, wo auch immer du bist. Vergib mir, dass ich weiterlebe. Ich werde dich niemals vergessen…«

 

Sie berührte ein letztes Mal das Kreuz und drehte sich dann um. Mit einem letzten Blick über die Schulter auf die unwirklich sonnenbeschienene Szenerie hinter ihr ging sie weiter in Richtung der großen Bäume hinter dem Grab. Hier begann direkt der Wald. Sie ging noch ein Stück tiefer hinein, hielt ihr Gesicht in die Sonne und genoss das Rauschen der Blätter im Sommerwind.

 

Das plötzliche Quietschen des Eisentores in einiger Entfernung ließ sie zusammenzucken. Jemand hatte den Friedhof betreten und sie hörte, dass Schritte näher kamen. Sie versteckte sich schnell hinter dem Stamm eines großen Ahorns und spähte dann vorsichtig um den Baum herum. Als sie George erkannte, stand er bereits genau an der Stelle, an der Angelina selbst gerade einmal zwei Minuten zuvor selbst gestanden hatte. Irgendetwas hinderte sie daran, zu ihm zu gehen. Sie verharrte in ihrem Versteck und wagte kaum zu atmen. Er hatte sie nicht bemerkt.

 

Sie sah, wie George sich bückte und etwas auf das Grab legte und es einige Sekunden in die richtige Position brachte. Genau konnte sie es nicht erkennen, da die Blumen und Kränze ihr die Sicht versperrten. Dann zückte er seinen Zauberstab und schwang ihn einmal kurz, bevor er wieder aufstand. Er berührte das Holzkreuz und blickte einige Minuten stumm auf die Erde hinab.

 

Dann blickte er plötzlich auf und seine Lippen verzogen sich zu dem typischen weasleyschen Grinsen, das sie so sehr liebte, wenn es auch seine Augen nicht vollkommen erreichen konnte. Er begann leise, beinahe im Flüsterton, zu sprechen. Der Sommerwind trug seine Worte zu Angelina. Sie konnte ihn so deutlich hören, als stünde sie neben ihm.

 

Hey Freddie, wie geht’s dir heute? Vermutlich langweilst du dich tierisch, ist ja nicht viel los hier… Wie hältst du das nur aus?“ 

 

Er grinste noch etwas breiter, dann wurde George wieder ernst.

 

„Ich hab heute noch etwas mitgebracht, ich denke, du wirst nichts dagegen haben wenn es hier steht und brennt. Ist ja genug Platz für euch beide, nicht wahr?“

 

George schluckte schwer. Es dauerte einige Sekunden, bevor er weiterreden konnte.

 

„Weißt du, Bruderherz, die Wohnung ist immer noch verdammt leer ohne dich. Ich hab keine Ahnung, was ich mit all dem Platz machen soll. Und alleine zu trinken ist auf Dauer auch keine Lösung… Noch dazu kann ich mit deinem widerlichen Gin einfach nichts anfangen, wie kriegst du dieses Zeug nur runter?

Tja, ich hatte gehofft, es würde mit der Zeit besser werden, aber bisher tut sich wenig. Du würdest sagen, dass ich mich nicht so anstellen soll, ich weiß. Aber es ist verdammt schwer so verdammt alleine auf der Welt zu sein, Fred. Einfach richtig beschissen. Du hast dich klammheimlich aus dem Staub gemacht, und ich kann jetzt sehen was ich mache. Das ist wirklich nicht die feine Art von dir. Mom und Dad und der Rest schauen mich immer noch jedes Mal so an, als wäre ich gestorben und nicht du. Und glaub mir, es gibt sie immer noch oft genug, diese Momente, in denen ich mir wünsche es wäre so.“

 

Er machte eine kurze Pause und holte Luft.

 

„Ich weiß, ich wollte gestern schon vorbeischauen, aber ich hatte etwas zu erledigen. Hör zu, Freddie, ich muss dir was gestehen und das hätte ich schon vor Jahren tun sollen. Aber es war einfach unmöglich damals. Ich erinnere mich noch an den Tag als wäre es gestern gewesen. Sie hat so gestrahlt als du sie zum Ball geführt hast, als sie die Treppe herunter kam in diesem atemberaubenden Kleid und dir in die Arme gefallen ist. Als du mir am nächsten Morgen mit diesem breiten Grinsen im Gesicht erzähltest, dass du sie endlich erobert hättest, wie hätte ich dir sagen können, was dabei in mir vorging? Ich wollte nur, dass sie glücklich ist. Schon seit ich sie kenne wollte ich das.

Und dann warst du derjenige von uns, der sie glücklich gemacht hat. Wer wäre ich gewesen, euch im Weg zu stehen? Also hab ich mich schließlich damit abgefunden, dass sie niemals mir gehören würde. Und wenn es in meiner Macht stünde, ich schwöre es dir bei meinem Leben, ich würde mit dir tauschen, damit ihr beide wieder eine Zukunft hättet.

Doch schau dir an, was von mir übrig ist. Ein Häufchen Elend bin ich. Du bist fort und alles, was mir jemals wichtig war, erscheint mir jetzt so nichtig, so banal. Ich hab einiges versucht, um mich abzulenken, aber keine der Ablenkungen war gut genug als dass ich hätte vergessen können, Bruderherz.“

 

George lächelte, denn er wusste genau was Fred dazu sagen würde.

 

„Jaja ich weiß, ich soll hier nicht so gefühlsdusselig rumschwafeln. Übrigens, der Laden läuft so perfekt wie eh und je, keine Sorge. Ron macht sich erstaunlich gut im Verkauf. Allerdings ich kann einfach nichts Neues fürs Sortiment mehr entwickeln. Ich krieg das nicht ohne dich hin, Freddieboy. Es ist alles eine verdammte Scheiße!

Ich weiß, dass du mich wahrscheinlich auslachen würdest, weil ich mir so einen Kopf mache. Du warst schließlich noch nie der nachtragende und schwermütige von uns beiden…

Wie auch immer, ich komme vom Hundertsten ins Tausendste… Hör zu, Freddie, in den letzten Wochen ist mir bewusst geworden, dass mir von all den Dingen in meinem erbärmlichen Leben nur eines immer noch wirklich wichtig ist.

Ich möchte immer noch, dass sie glücklich ist.

Ich möchte sie wieder lachen sehen, unbeschwert, so wie früher. Verdammt, Freddie, ich kann nicht ertragen wie sie leidet! Ich hoffe, du kannst mir verzeihen, wenn ich versuchen werde, ihr ihr wundervolles Lächeln wieder ins Gesicht zu zaubern.

Ich brauche sie mindestens genauso sehr, wie du sie gebraucht hast, großer Bruder. Ich habe lange mit mir gekämpft und ich glaube nicht mehr, dass du etwas dagegen haben würdest. Allerdings kannst du ja von hier auch kaum etwas dagegen tun, nicht wahr, alter Junge? Naja, du könntest dafür sorgen, dass mich der Blitz trifft.“

 

Ganz kurz blitze der alte schelmische Ausdruck in Georges Augen auf, bevor er sich räusperte und das Holzkreuz losließ.

 

„Ich hoffe, du bist ok, Freddie. Sei nicht zu streng mit mir. Ich hab wirklich getan, was ich konnte, und das waren auch einige ziemlich dämliche Dinge, aber ich kann sie einfach nicht vergessen. Ich zeige es dir.“

 

Mit diesen Worten schwang er kurz wortlos seinen Zauberstab und in silbrig-weißen Schwaden brach etwas aus der Spitze hervor. Langsam sank der weiße Nebel zu Boden und nahm Gestalt an. Ein großer, ehrwürdig aussehender Tiger schlich auf leisen Tatzen um das Grab herum und blickte majestätisch in die Ferne, bevor er sich neben George setze und sich nicht mehr rührte.

 

„Du siehst, ich kann es nicht verleugnen. Aber ich bin sicher, du kannst mich verstehen, schließlich kennst du sie mindestens genauso gut wie ich, nicht wahr?“

 

Angelina war erstarrt, als der Patronus Gestalt angenommen hatte. Sie traute ihren Augen nicht. Georges Patronus war immer eine Hyäne gewesen, der von Fred ein Kojote.

 

Wie in einer Art Trance begann ihr Körper, aus seiner Starre zu erwachen und sich zu bewegen. Während sie aus ihrer Deckung hervortrat, bewegte sich ihr Zauberstab wie von selbst und eine elegante Tigerin brach daraus hervor, die bedächtig neben ihr herging und ihre Katzenaugen unverwandt auf George gerichtet hatte. Endlose Sekunden lang sah sie in seine tiefblauen Augen, während sie auf ihn zuging. Er brach ihren Blickkontakt nicht ab, obwohl er ziemlich geschockt schien, sie zu sehen. Er hatte wohl mit vielem an diesem Ort gerechnet, aber am wenigsten mit ihr.

 

Als sie neben ihm zum Stehen kam, war sie immer noch unfähig etwas zu sagen. Ihre Tigerin umkreiste lautlos Georges Tiger und schmiegte dann ihren Kopf an dessen Schnauze, woraufhin der Tiger die Augen schloss. Sekundenbruchteile später waren die beiden Patroni verschwunden; nur noch George und Angelina standen sich still gegenüber, in den Augen des jeweils anderen gefangen.

George hob langsam die Hand und berührte ihre Wange. Angelina schloss die Augen für einen Moment. Als sie sie wieder öffnete, fiel ihr blick auf das Grab. In der Mitte hatte George die Blumen und Kränze beiseite geräumt.

An der Stelle, an der auch ihr Liebesknoten liegen musste, waren jetzt Vergiss-mein-nicht eingepflanzt. In ihrer Mitte brannte eine kleine, filigrane Kerze, umfasst von den blauen Blüten der Blume. Als sie auf das marmorierte Wachs der brennenden Kerze blickte, verlief es ein wenig und ein Schriftzug entstand in glühenden Buchstaben auf der Außenseite.

 

* 02. Mai 1998 †

 

In Angelinas Augen sammelten sich erneut Tränen. Sie war völlig überwältigt.

 

„Keine Angst, Angie, nur du und ich können es sehen.“

 

Jetzt liefen ihr die Tränen stumm über die Wangen. Was sie in diesem Moment empfand, die tiefe Dankbarkeit für das, was er gerade für sie getan hatte und die Fülle an Gefühlen, die sie für ihn hegte, machte sie unfähig, irgendetwas zu tun oder zu sagen.

George trug ihr Geheimnis mit ihr. Sie war nicht mehr alleine.

George verstand sie und er kämpfte sich durch dieselbe dunkle Nacht wie sie. George liebte sie.

 

Sie hätte all das niemals in Worte fassen können. Aber sie war sich sicher, dass er all die Dinge, die sie ihm hätte sagen wollen, in ihren Augen lesen konnte, denn er lächelte.

Ganz langsam stellte sie sich schließlich auf die Zehenspitzen und wie in Zeitlupe näherte sie ihre Lippen seinem Gesicht. Als sie sich endlich berührten, fühlte sich Angelina wie eine Ertrinkende, die endlich den Strand einer rettenden Insel im weiten Ozean vor sich sehen konnte. Sie legte ihre Arme um seinen Hals und George zog sie eng an sich.

 

Endlich, nach drei endlosen Monaten in der Dunkelheit, zog die Dämmerung wieder herauf und färbte Angelinas Horizont mit strahlendem Morgenrot.

 

~~~

Epilog

                                                     ~5 Jahre später~

 

- Loch Coruisk, Schottische Highlands –

 

„George Weasley, verdammt nochmal, hilf mir jetzt in die dämlichen Schuhe, schließlich ist es deine Schuld, dass ich mich vor lauter Rückenschmerzen nicht mehr bücken kann. Wir kommen noch zu spät.“

 

George lachte und kam aus dem Badezimmer, während er im Gehen immer noch seine Fliege richtete. Der dunkelblaue Frack stand ihm ausgezeichnet. Er trat zu Angelina, die in einem bodenlangen Traum aus roter Seide mit grimmig funkelnden Augen auf dem Bett saß und hob belustigt die schwarzen High Heels auf, die neben ihr auf dem Boden lagen. Er kniete sich vor sie, schob nacheinander ihre beiden Füße in die Riemen der Schuhe und schloss sie sorgfältig. Als er fertig war, richtete er sich auf und legte seine Hände auf ihren gewölbten Bauch, während er ihn sanft küsste. Er zog eine Augenbraue hoch, sah nochmals auf die Schuhe herab und schaute seine Freundin  skeptisch und immer noch belustigt an, während er ihr auf die Beine half.

 

„Selbst anziehen kannst du diese Mörderhacken nicht mehr, ja? Aber trotzdem willst du heute den ganzen Tag darauf durch die Gegend stöckeln? Nicht, dass du mir noch umkippst in deinem Zustand.“

 

Angelina streckte ihm die Zunge heraus.

 

„Ich bin nur schwanger, nicht sterbenskrank, George. Zu diesem Kleid kann man eben keine flachen Schuhe tragen, du Banause. Auch die Brautjunger muss an so einem Tag perfekt aussehen, genauso wie der Rest dieses Tages einfach perfekt sein muss. Es ist schließlich meine beste Freundin, die heute heiratet.“

 

Sie beugte sich vor und küsste ihn auf die Nasenspitze. Er lachte und reichte ihr den Arm.

 

„Na dann, du Königin der Highlands. Lass uns gehen.“

 

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„Angie, verdammt wo warst du so lange! Wir müssen uns noch um den Feinschliff am Brautstrauß kümmern, das weißt du doch.“

 

Alicia stand kopfschüttelnd auf der satt grünen Wiese direkt am Ufer des Loch Coruisk. Sie trug ebenfalls bereits ihr Brautjungfernkleid und auch ihr schmeichelte die rote Seide. Sie sah mit ihren aufgesteckten Locken hinreißend aus. Alles war über und über mit bunten Blumen in den verschiedensten Gestecken arrangiert worden und mitten auf der Wiese standen der Brautbogen und die Stühle für die Gäste bereit. Der schottische Highlandsommer zeigte sich heute von seiner besten Seite, denn ausnahmsweise strahlte die Sonne vom Himmel und tauchte den See in ein ungewohnt warmes Licht. Der Loch lag ruhig da und am Horizont konnte man das Meer erkennen. Im Hintergrund erhob sich Castle Minginish, der Familiensitz der Flints. Auch das uralte Schloss strahlte in neuem Glanz und trug zur Feier dieses Tages Blumenschmuck auf seinen Jahrhunderte alten Zinnen.

Angelina lächelte entschuldigend und nickte in Richtung ihres Bauches.

 

„Georges Entscheidungsunfähigkeit, was seine Fliege anging, und mein Rücken, Alicia. Du weißt doch ganz genau wie das ist, oder muss ich dich daran erinnern wie sehr du mir vor zwei Jahren damit in den Ohren gelegen hast?“

 

Alicias Gesichtsausdruck wurde versöhnlich. In diesem Moment trat Viktor Krum zu ihnen, auf seinem Arm die eineinhalb jährige Rajna, die fröhlich gluckste, als sie ihre Mutter erblickte, und küsste Alicia lachend auf die Lippen.

 

„Lass sie wenigstens verschnaufen, bevor du sie zu eurem nächsten Einsatzgebiet hetzt, Bubo. Du warst selbst ausgesprochen wehleidig damals, das kannst du ihr wirklich nicht vorwerfen. Außerdem ist wirklich noch genug Zeit bis zur Trauung und das werte Brautpaar ist noch lange nicht in Sicht.“

 

Alicia wurde leicht rot, als er ihren Kosenamen einfach so vor den anderen benutzte. Es war das bulgarische Wort für Seidenraupe und sonst benutze er es nur in äußerst intimen Momenten, wenn sie zu zweit alleine waren. Aber sie konnte es ihm nicht verdenken, heute war anscheinend auch ihr sonst so zurückhaltender Viktor übermäßig entspannt und gut aufgelegt. Schließlich war heute Katies großer Tag, auf den ihre beste Freundin so sehnsüchtig all die Jahre hatte warten müssen. Marcus Flints Scheidung von Iphigenie war im Januar dieses Jahres rechtskräftig geworden.

Alicia küsste Angelina entschuldigend auf die Wange und legte ihr eine Hand auf deren leicht gewölbten Bauch. Die beiden Frauen lachten beide gleichzeitig los. Heute konnte nichts ihre Laune trüben, jeder schien die euphorische Stimmung des Brautpaars zu teilen.

 

„Na dann los, Feldmarshall Spinnet. Lassen wir die Blumen nicht noch länger warten. Lee müsste gleich hier sein, Jungs, ihr denke zu dritt schafft ihr es bestimmt, mein Patenkind solange zu unterhalten, bis wir zurück sind, oder?“

 

Viktor zog eine Augenbraue nach oben und George lachte spöttisch, bevor er einen nicht ganz ernstgemeinten Kussmund in Richtung seiner Freundin warf.

 

„Gerade eben so, werte Damen. Los, geht schon.“

 

Lachend griff Angelina Alicias Hand und zog sie in Richtung Festzelt davon.

 

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Die untergehende Sonne tauchte das gegenüberliegende Seeufer in tiefes Rot und der Abendwind löste einige Strähnen aus Angelinas Lockenpracht. Sie stand etwas abseits der anderen Gäste direkt am Ufer, ihre Schuhe in der Hand. Das weiche Gras kitzelte sie an den Zehen. Sie wollte ein paar Minuten für sich selbst genießen und das Gefühl für immer in ihrem Herzen festhalten. Zwei ihrer besten Freunde hatten heute geheiratet und damit ihre kleine „Familie“ noch ein wenig näher zusammengebracht, die vor knapp eineinhalb Jahren schon durch die kleine Rajna, deren Patentante sie war, ergänzt worden war. Bald würde ihr eigenes Kind hinzukommen. Georges Sohn. Sie hatte ihm noch nicht verraten, dass sie das schon wusste. So viel Glück erschien ihr beinahe so unglaublich, dass es eigentlich nicht wahr sein konnte.

 

Vor einigen Minuten hatte das strahlende Brautpaar den Hochzeitstanz eröffnet und tanzte jetzt, begleitet von vielen anderen Paaren, eng umschlungen und ineinander versunken zu den Klängen, die Lee dem Flügel und Marcus jüngere Schwestern  einem Cello und einer Violine entlockten.

Bevor sie ihn sehen konnte, spürte Angelina, wie sich Georges warme Arme von hinten um sie legten und vorsichtig ihren Bauch umfassten. Sie musste leise lachen.

 

„Vor dir kann ich mich nirgendwo verstecken, richtig?“

 

Er grinste, das konnte sie spüren, während er sein Gesicht in ihren Haaren vergrub, aber er antwortete nicht auf ihre Frage.

 

„Darf ich um diesen ersten Tanz bitten, Madame?“

 

Sie lächelte und drehte sich zu ihm um. Auffordernd breitete sie ihre Arme aus und er begann lachend, sie langsam im Kreis zu drehen, so dass ihr Kleid leicht im Wind wehte.

 

„Du bist die bezauberndste Frau heute hier, Angie, weißt du das? Da kann nicht mal die Braut mithalten.“

 

„Du bist ein alter Charmeur, George Weasley. Lass das ja nicht Katie hören.“

 

Nach einigen weiteren Drehungen zog er sie zu sich heran und sie legte ihren Kopf an seine Schulter, während sie langsam weiter tanzten.

 

„George, was würdest du davon halten, wenn wir unseren Sohn Fred nennen?“

 

Er blieb stehen, hob ihr Kinn zu sich nach oben und schaute sie ungläubig und erstaunt an.

 

„Wir bekommen einen Jungen?“

 

Sie lächelte nur und begann zu grinsen, als sie sah, wie Georges Augen zu funkeln begannen und sich Stolz und Freude darin wiederspiegelten. Er zog sie lachend an seine Brust und küsste sie auf die Stirn.

 

„Das ist eine gute Idee, Angie. Eine fabelhafte Idee.“

 

 

~*~*~


Nachwort zu diesem Kapitel:
So, wir haben es geschafft :) Finito!

Mit diesem Kapitel ist Vergissmeinnicht beendet, es folgt noch der Epilog (in ein paar Tagen).
Eine kurze Anmerkung: Ich weiß, dass J.K. Rowling in einem Interview erklärt hat, George wäre nie
mehr in der Lage gewesen, einen Patronus zu erzeugen. Aber ich fand, dass es hier so wunderbar
gepasst hat, dass ich nicht darauf verzichten wollte :) Ich bin ansonsten immer (zumindest nach bestem Gewissen) Canon-treu geblieben und lege auch Wert darauf.

Ich hoffe, es hat euch gefallen und sage noch einmal ganz dick Danke fürs Lesen. Vielleicht mag ja noch der
ein oder andere Leser seine Meinung kundtun ;) Ich wünsche euch tolle Feiertage und eine schöne Restadventszeit.

Vielleicht bis zum nächsten Mal,

eure Nubes Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von:  Kurli
2021-01-29T20:42:18+00:00 29.01.2021 21:42
Vielen Dank für diese schöne Geschichte. Sie war intensiv und einfühlsam... Ich habe mitgelitten. Ich habe auch mitgefiebert und hätte gern noch mehr aus dieser kleinen Welt gelesen.. Aber so wie sie ist, ist sie rund! :)
Von:  Vilja
2015-12-07T16:16:17+00:00 07.12.2015 17:16
Hallöchen :)

Das Thema, an welches du dich heranwagst, ist ziemlich schwer und muss gut durchdacht werden, damit es nicht gezwungen wirkt. Bisher meisterst du diese Schwierigkeit super, Hut ab!
Ich stimme dir auch zu, dass dieses Pairing ziemlich unterschätzt wird, umso mehr freue ich mich, dass sich jemand an diese Schwierigkeit heranwagt. :)

Die Ideen wirken in sich sinnig, nichts wirkt gehetzt oder aus der Luft gegriffen. Ich mag, dass Angelina, wie auch George, mit ihren Gefühlen kämpfen, diese realisieren und diese vor allem akzeptieren lernen. Die Entwicklung beider Charaktere, wie insbesondere der Zusammenhalt der gesamten Clique, ist schön beschrieben.
Sehr ansprechend finde ich auch, dass du aus dem Buch unliebsame Charaktere (wie Mr. Flint ;) ) genommen und ihnen endlich eine zweite Seite gegeben hast.

Aber was nützt eine gute durchdachte Geschichte ohne den passenden Schreibstil? Die Gefühle sind schön rüber gebracht, das Lesen geht flüssig und alles ist verständlich. Du hast eine schöne Art zu schreiben, vor allem, wenn die Charaktere ihre Schwierigkeiten mit sich selbst ausmachen müssen. Die Szene mit Angelina, als diese nach dem Stelldichein mit George aufgewacht ist, fand ich persönlich am besten beschrieben.

Liebe Grüße :)
Das Meerschwein
Antwort von:  Nubes
13.12.2015 21:04
Hallo Ella,

hach, mein erster Kommentar hier auf Animexx :) Danke dafür! Ich freu mich sehr,
dass ich Rückmeldung bekomme.
Danke für das Lob, ich freue mich, dass es dir so gut gefällt. Da werd ich doch jetzt gleich das neue
Kapitel hochladen! Ich mag auch Angelinas Morgen danach sehr gerne :) Diese Szene ging mir flüssig
von der Hand und ich hab ziemlich mit ihr gelitten.
Nochmal vielen Dank für den lieben Kommentar,
ich hoffe du bleibst bis zum Ende dran! Jetzt kommt ja nur noch ein Kapitel und dann
die nächsten Tage noch der Epilog!

Viele Grüße und einen schönen restlichen zweiten Advent,
Nubes


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