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Vergissmeinnicht

Angelina x George
von

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Dunkelheit

-St. Mungo’s Hospital -

 

Dumpfes Murmeln, eher ein unwirkliches Summen weit entfernt, war das Erste, das sich in ihr Bewusstsein drängte. Langsam kehrte Angelina in die Wirklichkeit zurück. Oder war es nur ein Traum? Vielleicht einfach nur ein schrecklicher Alptraum… Es wäre zu schön gewesen um wahr zu sein. Sie wusste nicht, wo sie war. Sie konnte nichts hören oder sehen. Erst langsam begannen ihre Sinne, zurückzukehren. Sie fühlte weichen Stoff unter sich. Ein Bettlacken. Sie versuchte, sich zu bewegen, was ihr gründlich misslang. Es verstrichen noch ein paar Minuten und das unverständliche Summen, das in ihren Ohren brummte, wurde klarer, deutlicher, bis sie eine Stimme vernahm, die leise mit einer zweiten sprach.

 

„Danke Miranda, ich denke, ich komme alleine zurecht. Sag den anderen Schwestern, sie sollen sich um die Schwerverletzten kümmern, gerade sind neue Patienten angekommen.“

„Sind Sie sicher, Miss Bell? Ihr Arm… er blutet immer noch. Soll ich nicht lieber schnell einen Kollegen holen?“

„Es gibt für dich wichtigeres zu tun, Miranda, bitte. Ich kann das auch selbst richten.“

„Natürlich, Miss Bell. Dann.. sehen wir uns später.“

 

Angelina hörte, wie jemand die Tür öffnete und das Zimmer verließ. Sie hörte Schritte näher kommen und zwei warme Hände nahmen ihre eigene. Sie versuchte noch einmal, die Augen zu öffnen und diesmal klappte es. Sie stöhnte, als ihr schmerzender Körper in ihr Bewusstsein zurückdrang und blickte in das zunächst verschwommene, dann immer klarer werdende Gesicht ihrer besten Freundin. Ein tiefer Kratzer zog sich über deren Hals und ihr linker Oberarm war bis über die Schulter in einen Verband gewickelt, durch den das Blut bereits bis durch den limonengrünen Umhang gesickert war. Unter diesem konnte Angie die Jeans und die Bluse erkennen, die Kathi schon in der Nacht der Schlacht getragen hatte, nur dass diese jetzt zerrissen und teilweise schwarz angekohlt waren.

 

„Katie…“

„Angie“, Katie unterdrückte ein Schluchzen, „endlich bist du aufgewacht!“

„Was ist passiert, Katie?“

„Du hast so viel Blut verloren, Angie, ich hatte Angst ich verliere dich.“

 

Sie nahm ihren Zauberstab aus dem Kittel und  murmelte ein paar Worte, und Angelinas Körper wurde augenblicklich angenehm taub.

 

Katie war Heilerin und arbeitete im St. Mungo’s als Spezialistin für Kopfverletzungen und neurologische Erkrankungen, hatte es sich aber nicht nehmen lassen, sich um Angelina selbst zu kümmern. Keiner der anderen Heiler hatte ihr widersprochen.  Direkt nach der Schlacht war sie ihren eigenen Verletzungen zum Trotz hier hereingestürzt und hatte sich nur unter Protest äußerst notdürftig von einer der Schwestern den Arm verbinden lassen, bevor sie in das Operationszimmer gestürzt war. Für einen Heilzauber hatte sie den anderen Heilern keine Zeit gelassen.

 

Sie hatte den ersten Grundausbildungsteil ihrer komplizierten Ausbildung zur Neuroheilerin erst in diesen Frühling beendet und war in den Rang einer Assistenzheilerin aufgestiegen, die aufgrund ihrer Fähigkeiten und schnellen Auffassungsgabe vom Stationsleiter der Neurologie, Hector Prewett, schon öfters zu komplizierten Eingriffen hinzugezogen wurde. Dennoch würde ihre Ausbildung noch weitere drei Jahre andauern. Gerade Zaubersprüche, die am Gehirn von Menschen Änderungen vornahmen, waren sehr heikel und bedurften langer Erfahrung und ausführlichem Hintergrundwissen.

 

„Hast du noch Schmerzen?“

„Jetzt nicht mehr.“ Angelina lächelte gequält, ihre Stimme kratze noch leicht. Dann wurde sie ernst.

„Sag mir was geschehen ist, Katie, und keine Beschönigungen oder Ausflüchte. Es kann nicht schlimmer werden als es schon ist. Ich habe nichts mehr zu verlieren und ich will es wissen.“

 

Sie blickte auf zu ihrer Freundin und sah erst jetzt, wie völlig erschöpft sie aussah. Ihre Augen waren rot geweint, sie hatte graue Schatten unter den Augen und sowohl der Arm als auch der Schnitt an ihrem Hals bluteten immer noch.  Vermutlich keine normalen Wunden, sondern Fluchtreffer. Katie schluckte und begann dann mit brüchiger Stimme zu reden.

 

„Wie ich schon sagte Angie, du… hast sehr viel Blut verloren. Dein Arm war bis zum Ellebogen aufgerissen und deine Radialisarterie war verletzt, sodass ich einige Ampullen des entsprechenden Heiltrankes gebraucht habe, bis die Wunde sich halbwegs geschlossen hatte. Und außerdem…“

 

Sie schluckte wieder und zwei Tränen liefen ihr über die Wangen. Katie drückte Angelinas Hand fester.

 

„Du hattest eine Fehlgeburt Angie… Du… Du warst erst in der 8. Woche,  aber der Stress… der Schock… das… war wohl alles zu viel heute Nacht; und du bist wohl gestürzt. Dabei hast du das Baby verloren und noch mehr Blut… Ich hab mein Bestes gegeben, aber ich konnte nichts mehr tun... Wenn er dich nicht gefunden hätte…“

 

Sie brach ab, ihre Stimme erstickt von Tränen. Angelinas Augen hatten sich geweitet, aber sie sagte kein Wort. Sie war schwanger gewesen… Das hatte sie nicht gewusst. Es war definitiv nicht geplant gewesen. Er wäre Vater geworden. Und er würde es nie erfahren.

Katie sprach jetzt sehr leise, aber wieder mit fester Stimme.

 

„Es war Freds Kind, nicht wahr?“

 

Angelina konnte nicht sprechen. Sie spürte die eisige Hand um ihr Herz noch fester zudrücken. In ihrem Kopf war nur Schwärze und sie zitterte wieder.  Sie drehte langsam den Kopf zu Katie und schaute ihr in die Augen. Das war Bestätigung genug. Katie sagte nichts, sie beugte sich lediglich nach unten und umschlang ihre Freundin mit beiden Armen. Angelina war immer noch starr vor Schrecken, aber sie wehrte sich nicht. Dennoch konnte die Wärme ihrer Freundin ihr keinen Trost spenden. Leere. Es dauerte mehrere Minuten, bis Angelina ihrer Stimme wieder mächtig wurde.

 

„Bitte Katie… behalt es für dich. Es würde ja doch nichts mehr ändern. Und es würde alles nur noch schwerer machen.  Ich bitte dich…“

 

Katie drückte sie fester an sich und ihr liefen stille Tränen über die Wangen.

 

„Natürlich… ich verspreche es.“

 

____________

 

- In der Nähe von Bukarest, Rumänien  - Juni 1998 -

 

Leise knackten ab und zu Zweige unter ihren Füßen. Beinahe lautlos und unsichtbar bewegte sich die kleine Gruppe Auroren durch den dichten rumänischen Wald. Es war schließlich ihr Job, unbemerkt zu bleiben.

Angelina und Lee Jordan hatten beide nach dem Abschluss in Hogwarts in der Aurorenausbildungszentrale des Ministeriums angefangen und unter der Leitung Kingsley Shaklebolts ihr Handwerk gelernt, der, wie sie erst viel später erfuhren, ein führendes Mitglied des Ordens war. Die Korruption innerhalb und Infiltration des Ministeriums durch die Todesser hatte bereits begonnen, aber die Auroren waren stets ein eingeschworenes Team geblieben. Oft waren sie auch in nicht autorisierten Operationen unterwegs gewesen und hatten heimlich und unauffällig unter Shaklebolts Führung versucht, so viele Verbrechen wie möglich, welche tagtäglich unter dem immer größer werdenden Einfluss des Bösen begangen wurden, zu verhindern. Sie alle bewunderten ihren Chef für sein risikoreiches doppeltes Spiel, mit dem er die korrumpierte Führung des Ministeriums an der Nase herumführte. Nachdem die Übernahme des Ministeriums durch Lord Voldemort nicht mehr zu verleugnen gewesen war, hatten die meisten verängstigten Zauberer und Hexen jeden Schutz, den sie bekommen konnten, dankend entgegen genommen. 

 

Jeder junge Auror konnte in diesen Zeiten Praxiserfahrung zu Genüge sammeln, denn Angriffe auf Zauberer und Übergriffe auf Muggel waren an der Tagesordnung. Oft hatten sie fast drei Tage am Stück gearbeitet, bevor sie völlig erschöpft ins Bett fallen konnten. Als sie sich das Vertrauen von Nymphadora Tonks, die ihre offizielle Teamleiterin gewesen war und Kingsley Shaklebolts erarbeitet hatten, waren sie auch selbst Mitglieder im Orden des Phönix geworden. Doch das hatte noch zusätzliche Arbeit bedeutet. Oft hatte Angelina Fred tage- bis wochenlang nicht gesehen. Es gab kaum etwas was sie heute, knapp fünf Wochen nach seinem Tod, mehr bereute. Der Schmerz war jetzt dumpfer, tief verschlossen in ihrem Inneren. Sie ließ ihn nur selten zurück an die Oberfläche kommen, denn sie konnte keine Tränen mehr vergießen. Aber er war kein bisschen erträglicher geworden.

 

Auch jetzt ließ ihr die Arbeit kaum Zeit im Selbstmitleid zu baden und das war gut so. Nach ihrer Entlassung aus St. Mungo’s nach einer Woche war sie zunächst zurück zu in ihr Eltern gezogen, die in Cornwall lebten. Aber das Herumsitzen in ihrem alten Kinderzimmer hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Realistischer, grausamer, unerträglicher. Sie sah ein, dass Ablenkung das Einzige war, was irgendwie helfen würde. Sie zwang sich, eine Maske der Gleichgültigkeit aufzusetzen, errichtete eine Mauer um ihr Herz und versuchte damit zu erreichen, sich möglichst nichts anmerken zu lassen. Es klappte erstaunlich gut. Nur ihre besten Freunde konnte sie damit nicht täuschen. Außer Katie, Alicia und Lee wollte sie niemanden sehen, den sie kannte. Auch die drei trauerten um ihren toten Freund und sie bedrängten Angelina nicht. Die drei Freundinnen und auch Lee hatten noch nie vieler Worte bedurft um sich gegenseitig zu verstehen. Angelina hatte zunächst daran gezweifelt, aber ihre Gesellschaft half ihr wirklich ein wenig, jeden Morgen wieder aufzustehen.

 

Am wenigsten wollte sie einem der Weasleys über den Weg laufen. Sie wusste, sie hätte ihnen nicht in die Augen sehen können. Vor allem nicht George. Er war der einzige Mensch, der ahnen konnte, was sie verloren hatte. Sie wusste einfach nicht, wie sie es ertragen sollte, ihn so zu sehen. Er hatte seinen Zwilling verloren, sein zweites Ich. Dagegen musste ihre Trauer klein und unbedeutend erscheinen.  In ihrem Inneren krampfte sich jedes Mal alles zusammen, wenn sie an George dachte. Sie war seit Jahren mit den Zwillingen befreundet, seit fast drei Jahren Dauergast in deren Wohnung gewesen. Auch George war ihr mittlerweile mehr als nur der Bruder ihres Freundes, mehr als ein gewöhnlicher Freund. Sein Verlust war nicht mit Worten zu beschreiben, doch sie konnte ihm keinen Trost spenden. Wenn sie den Schmerz in seinen Augen las, würde ihr ganzes Maskenspiel in sich zusammen- und sie auseinander brechen. Das konnte sie nicht noch einmal ertragen, nachdem sie sich so mühsam über die letzten Wochen wieder Stück für Stück zusammengesetzt hatte.

 

Während sie ungeduldig wartete, wieder arbeiten zu dürfen, hatte sie mit Katie bei der Pflege der schwerer Verwundeten geholfen. Es waren Freiwillige hierfür gesucht worden. Diese Zauberer und Hexen würden teilweise nie mehr gesund werden. Alles was sie für diese Menschen tun konnten, war ihr Leiden etwas zu lindern. Sie musste sich glücklich schätzen, dass sie mit ihrem nackten Leben davon gekommen war. Zumindest zwang sie sich immer wieder, das zu denken. Nach zwei langen Wochen konnte sie endlich an ihren Arbeitsplatz zurückkehren.  Sie nahm jede Ablenkung dankend entgegen, es gab viel zu tun und jede Hand wurde gebraucht. Niemand stellte ihr lästige Fragen und alle waren zu beschäftigt, um sich tiefergehend zu unterhalten. Gut so.

 

Es galt die letzten flüchtigen Todesser dingfest zu machen. Das hatte sie und ihr Team, bestehend aus ihrem engsten Vertrauten Lee und dem Dritten im Bunde, Blaise Zabini, in die Wälder Rumäniens verschlagen, wo sie Jagd auf die beiden Todesser Mulciber jr. und Selwyn machten.

Blaise, ein ehemaligen Slytherin, der Hogwarts nach dem Machtübernahme der Carrow-Geschwister aus Protest verlassen hatte, war eines Tages im Büro ihres Chefs gestanden und hatte sich beeindruckend ausdauernd um eine Aufnahme ins Trainingsprogramm beworben.  Angelina und Lee waren ihm zunächst skeptisch gegenüber gestanden. Aber Blaise hatte nicht locker gelassen und nach einiger Zeit konnte er Shaklebolt von seinen Absichten und Qualitäten überzeugen. Und diese Entscheidung war richtig gewesen.

 

Offenbar kam Blaise nicht nach seiner berühmt-berüchtigten Mutter, sondern war froh, sich endlich von seiner Familie distanzieren zu können. Er hatte sich als ganz und gar untypischer Slytherin herausgestellt und sich mehr als einmal als loyaler und findiger Teampartner erwiesen. Als sie Ende letzten Jahres in Wales in einen Hinterhalt geraten waren und sich von zehn Todessern umzingelt wiederfanden, hatte er den schwer verletzen Lee unter Einsatz seines eigenen Lebens in einem waghalsigen Manöver aus der Gefahrenzone befördert. Es hatte ihm eine tiefe, schmerzhafte Wunde im Bauchraum eingebracht, die er fast selbst mit seinem Leben bezahlt hätte. Angelina hatte die beiden nach Eintreffen der Verstärkung nebeneinander fast verblutet, aber lebendig auf dem Waldboden etwas abseits vorgefunden. Seit diesem Tag waren die beiden so etwas wie Blutsbrüder und vertrauten einander blind und auch Angelina hatte ihre Vorurteile gegen Blaise aufgegeben.

 

Die Reihen der Auroren hatten sich schmerzlich gelichtet. Tonks war tot, und auch viele der anderen erfahreneren Auroren, die Voldemort und seinen Jüngern schon im ersten großen Krieg die Stirn geboten hatten, hatten die Schlacht von Hogwarts und die Schreckensherrschaft zuvor nicht überlebt. Kingsley Shaklebolt war nun Zaubereiminister und hatte alle Hände voll zu tun, um den Scherbenhaufen, den er übernommen hatte, ansatzweise wieder in eine Richtung geordneter Realität zu führen. Aber er machte seine Sache bisher gut.

Harry Potter, Ron Weasley und einige andere ehemalige Hogwartsschüler, die in der Schlacht mitgekämpft hatten, waren zu ihrer erlesenen Truppe gestoßen und es waren große Umstrukturierungen im Gange. Es würde sich schon bald viel verändern.

 

Bisweilen war allerdings das Ziel, dass absolute Priorität hatte, all jene Anhänger des dunklen Lords, denen nach der Schlacht die Flucht gelungen war, dingfest zu machen.

Diese Aufgabe erfüllten die verbliebenen Auroren mit großer Entschlossenheit, getragen von ihrer Wut und ihrem Hass auf die Feinde. Fast jede Zaubererfamilie hatte in diesen schlimmen Zeiten Angehörige durch die Hand der Todesser verloren.

 

Vor allem Angelina, nach Tonks Tod und in Ermangelung erfahrenerer, älterer Auroren die Teamleiterin ihrer kleinen Dreiergruppe, war in den letzten Wochen gnadenlos gewesen und zeigte keinerlei Barmherzigkeit, wenn sie einen der Fliehenden dingfest gemacht hatten. Besondere Zeiten erforderter besondere Maßnahmen. Sie blieb zwar stets im Rahmen des Legalen, aber sie war hart, fast schon zu ruhig und grausam. Lee machte sich große Sorgen, aber er konnte es ihr nicht verdenken. An diese Kreaturen war jedes Mitleid verschenkt, dennoch war es eigentlich nicht Angies Art. Er kannte sie als das fröhliche, Quidditch-verrückte Mädchen, welches sie einmal gewesen war und er vermisste all die unbeschwerten Stunden. Aber der Krieg veränderte die Menschen.

Angelina war ihm gegenüber verschlossen und ließ ihn nicht mehr an sich heran, ganz anders als früher. Er spürte, dass die Last, die sie mit sich trug, sie zu ersticken drohte. Aber er wusste auch, dass er sie nicht zwingen konnte sich ihm zu öffnen. Auch er hatte mit Fred einen guten Freund verloren und er trauerte um ihn, doch Angelina war wie ausgewechselt und sie ließ sich nicht helfen.

 

Als es langsam dunkel wurde, beendeten sie die Verfolgungsjagd für diesen Tag. Sie wussten, sie waren auf der richtigen Fährte, aber es würde wohl noch ein oder zwei Tage dauern, bevor sie die beiden Todesser einkesseln konnten. Sie bereiteten ihr Lager mit den üblichen Vorsichtsmaßnahmen vor, verteilten Protego totalum-, Repello Muggeltum-, Salvio Hexia- und Muffliato-Zaubersprüche rings um ihren Aufenthaltsort und losten die erste Nachtwache aus. Die Wahl fiel auf Angelina und schon bald schlummerte Blaise friedlich neben ihrem magischen Feuer auf dem Waldboden. Lee schlief nicht, sondern starrte minutenlang schweigend in die Flammen. Dann beschloss er, dass er ein Gespräch nicht länger aufschieben wollte, stand auf und setzte sich leise neben Angelina, die etwas abseits mit gezücktem Zauberstab auf einem Stein saß.

 

„Äpfelchen, so geht es nicht weiter mit dir. Ich mache mir große Sorgen und du weigerst dich, mit mir zu reden. Was hab ich getan, dass du beschlossen hast mich nicht mehr in dein Leben zu lassen?“

 

Lee hatte sie absichtlich bei ihrem Kosenamen genannt. Einen, der nur er benutzte und nur er benutzen durfte. Eine Kindheitserinnerung, die ihre Freundschaft schon immer begleitete.

Als kleiner Bengel von fünf Jahren war Lee mit seinen Eltern in Cornwall im Urlaub gewesen und ihnen bei einem Spaziergang über die Klippen ausgebüchst. Lachend war er durch die schier endlosen Fallobstwiesen auf dem Hügel über dem Meer gelaufen, schelmisch froh über seinen Streich. An einem besonders knorrigen, alten Apfelbaum hatte er weit oben den perfekten Apfel entdeckt und dann todesmutig begonnen, den Stamm hinaufzuklettern. Plötzlich hatte ihn eine Stimme hinter ihm ärgerlich hinterher gerufen. Dies wären die Äpfel ihres Großvaters und er solle sich ja nicht einbilden, einfach einen zu klauen. Vor Schreck war er herunter geplumst und hätte beinahe angefangen zu weinen, als er ein etwa gleichaltriges Mädchen mit wilden braunen Locken und funkelnden Augen direkt vor ihm erblickte, das jetzt ein bisschen erschrocken aussah. Schnell biss er sich auf die Lippe, denn Jungen in seinem Alter weinten ja nicht und schon gar nicht vor einem Mädchen. Sie fragte ihn, ob er sich denn weh getan hätte, woraufhin er natürlich die Schultern straffte, verneinte und sich ihr brüsk vorstellte. Dann hatte sie kleinlaut gestanden, dass sie nicht gewollt habe, dass er vom Baum falle und gesagt, ihr Name sei Angie.

An diesem Tag hatte er Angelina Johnson das erste Mal getroffen und danach waren sie die restlichen drei Wochen seines Urlaubs unzertrennlich gewesen. Die folgenden Jahre schrieben sie sich lange Briefe und Lee verbrachte einige Sommerwochen auf dem Hof ihres Großvaters in Cornwall, sodass sich eine tiefe Freundschaft entwickelt hatte, die in Hogwarts noch enger geworden war. Er war ihr bester Freund und er liebte sie wie eine Schwester. Es tat weh, sie so einsam und gefangen in sich selbst zu sehen.

 

Dass er sie Äpfelchen genannt hatte machte Angelina schmerzlich bewusst, wer da neben ihr saß. Und ihr wurde klar, wie Recht er mit seinen Worten hatte. Nicht einmal mit ihrem besten Freund hatte sie die vergangenen Wochen viel geredet, geschweige denn über sie selbst gesprochen. Sie hatte sich eingeigelt und nicht ein Gespräch über Fred oder die Schlacht zugelassen. Das hatte er nicht verdient. Auch er trauerte, auch er machte eine schwere Zeit durch; sie hatte als beste Freundin auf voller Länge versagt.

Lee hatte von ihr und Fred natürlich gewusst, doch wie ernst es ihr mit ihm war und dass sie sich mit ihm ihr restliches Leben vorstellen konnte, hatte sie tief in ihrem Herzen verschlossen.  Vielleicht hatte es nicht mal Fred gewusst wie sehr sie ihn geliebt hatte. Hatte sie ihm das jemals gesagt? Sie war noch nie gut mit Worten gewesen, vor allem nicht in der Liebe. Und das Kind.. Freds Kind… darüber nachzudenken bedeutete, es real werden zu lassen. Angelina musste sich zusammenreißen, nicht von den Emotionen überwältigt zu werden und zu schreien. Sie brauchte einige Momente, bis sie sich wieder gesammelt hatte.

 

„Lee... verzeih mir, ich… ich bin eine erbärmliche beste Freundin. Ich wollte dir nicht auch noch meinen seelischen Trümmerhaufen aufbürden, ich weiß doch wie oft du bei den Weasleys vorbei schaust… je mehr ich darüber rede, desto realer wird es. Und ich würde so gerne aus diesem Alptraum aufwachen.“

 

Lee nahm sie seufzend in die Arme und küsste sie auf die Stirn.

 

„Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass man zu zweit weniger allein ist, Äpfelchen? Ich weiß, dass es dich von uns am härtesten trifft und ich verstehe, dass es für dich gerade kein Licht am Ende des Tunnels gibt. Wenn du nicht darüber sprechen willst, muss ich es akzeptieren, aber lass mich wenigstens bei dir sein und stoß nicht jede Hand, die sich dir reicht, wieder weg. Du musst da nicht alleine durch, ok? Wozu sind ich und die Mädels sonst da.“

 

Er lächelte sie an und Angelina fühlte sich zum ersten Mal seit Wochen nicht mehr völlig in der Dunkelheit gefangen. Sie schloss die Augen und lehnte sich an seine Schulter. Sie rang mit sich, ihn nach George zu fragen, wusste sie doch, dass er ihn regelmäßig besuchte und auch im Laden vorbeischaute, wann immer er Zeit fand. Er war nicht so feige und schwach wie sie selbst, wurde ihr brutal bewusst. Wie so oft zuvor in ihrem Leben schien Lee in ihren Gedanken lesen zu können.

 

„George hat sich genauso zurückgezogen wie du, er spricht mit niemandem über Fred, auch mit mir oder seiner Familie nicht. Aber er hat den Laden wieder aufgemacht, direkt am Tag nach der Beerdigung und es läuft so gut wie eh und je. Er hält sich im Hintergrund, macht Buchhaltungsarbeit und sowas, und lässt Ron den Verkauf leiten. Wie es ihm geht ist schwer aus ihm zu lesen. Er will jedenfalls kein Mitleid und geht seiner Familie gezielt aus dem Weg. Keine Gefahr also, Molly oder dem Rest zu begegnen, wenn du bei ihm vorbeischauen würdest.“

 

Angelina war während seines letzten Satzes zusammengezuckt.

 

„Doch, du kannst ihm in die Augen sehen, Angie. Du weißt genau, dass du ihn früher oder später treffen wirst. Und eigentlich willst du ihn sehen, mach dir nichts vor. Auch wenn es sicher schmerzhaft wird, ich bin mir sicher es ist wichtig für euch beide.

Er… er war es, der dich gefunden hat, Angie, damals am schwarzen See. Ich war zu dem Zeitpunkt noch mit Katie und Alicia im zerstörten Astronomieturm unterwegs. George hat dir das Leben gerettet und ist keine Sekunde von deiner Seite gewichen, bis Katie dich soweit zusammengeflickt hatte, dass du außer Lebensgefahr warst.“

 

Sie war verwirrt. George hatte sie gefunden? Er… er war sogar bei ihr geblieben? Sie konnte sich nicht erinnern. Angelina war völlig durcheinander. Dann senkte sich die Erkenntnis bleischwer auf sie. Er musste bemerkt haben, dass sie das Kind verloren hatte.  Sie konnte Lee nicht antworten, ihr Magen verdrehte sich schmerzhaft. Aber Lee hatte Recht.

Sie musste ihn sehen, es half alles nichts. Sie musste verdammt noch mal dringend mit George reden.



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