Zum Inhalt der Seite

Blauregen

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Katsuya dachte oft an diesen Tag zurück. Ihm war, als könnte er noch immer das Blut riechen, die Verzweiflung auf der Zunge schmecken, Subarus zitternden Körper an die Brust gepresst. Die Bilder mochten nicht verblassen – und das war auch gut so. Er trug sie mit sich, Tag für Tag, wie eine Narbe aus einer ruhmreichen Schlacht. Einer Schlacht, die niemand gewonnen hatte.

Der kleine Zeiger der Wanduhr rückte auf die Vier und Katsuya stütze die Ellenbogen auf den Counter. Es war still in der Stadt, die niemals schlief. Obwohl der Kombini vierundzwanzig Stunden geöffnet hatte, verirrten sich unter der Woche nur noch wenige Kunden zu dieser Zeit hierher. Ein ruhiger, fast schon langweiliger Job. Die Bezahlung hätte besser sein können, aber im Grunde genommen konnte Katsuya sich nicht beklagen. Nachdem er im Sommer vom Dienst suspendiert worden war, wäre ihm so ziemlich alles recht gewesen. Und wieso dann nicht im Schichtbetrieb arbeiten? Schließlich hatte er sein Leben lang nichts anderes getan. Er brauchte kein Gehalt, mit dem er schöne Damen beeindrucken und den Ansprüchen konservativer Schwiegerväter gerecht werden konnte. Das alles war ihm nicht wichtig – jetzt nicht mehr.

Im Augenwinkel bemerkte Katsuya, wie jemand eines der fertigen Bentos aus dem Kühlbereich vor ihm auf dem Counter ablegte. Er hatte überhaupt nicht bemerkt, wie der Kunde den Laden betreten hatte – dabei war die elektrische Türglocke doch eigentlich kaum zu überhören.

„Darf ich es Ihnen aufwärmen?“, fragte Katsuya automatisch und strecke die Hand nach der durchsichtigen Plastikschachtel aus.

„Nicht nötig.“

Katsuyas Augenbrauen zogen sich zusammen. Er kannte diese Stimme ...

„Habt ihr etwa schon Schichtwechsel, Tatsumoto?“

„Ach was. Hab mich vorm Berichtschreiben gedrückt.“

Unwillkürlich verzogen sich Karsuyas Mundwinkel zu einem wissenden Schmunzeln.

„Du hast dich echt überhaupt nicht verändert.”.

Es war ein angenehmes Gefühl zu wissen, dass es immer noch Dinge gab, die immer dieselben blieben, Menschen, auf die man sich verlassen konnte, Menschen so wie Tatsumoto.

„Dafür bist du ein respektabler Kerl geworden“, bemerkte Tatsumoto, wobei es ihm irgendwie gelang, das Kompliment wie eine Beleidigung klingen zu lassen.

Katsuya schnaubte.

„Du übertreibst.“

Einen kurzen Augenblick lang schwiegen sie. Sie waren einander immer so nahe gewesen, hatten sich blind verstanden, stumm – doch nun, da sie keine Kollegen mehr waren, schien eine unsichtbare Mauer sie voneinander zu trennen. Sie lebten in verschiedenen Welten – Tatsumoto in der des glänzenden Staatsdieners und Katsuya in der eines einfachen Mannes, der nichts zu verlieren hatte, und der sich nicht darum scherte, was andere von ihm dachten. Irgendetwas an daran wirkte merkwürdig verdreht …

„Besuchst du ihn noch?“

Tatsumotos Stimme war gedämpft als er wieder zu sprechen begann, ernster dieses Mal, und Katsuya konnte seine Sorge beinahe körperlich spüren, doch er brachte es nicht über dich, ihn zu belügen.

„Jeden Tag.“

Er machte eine kurze Pause und ließ den Blick hinüber zum Schaufenster wandern, durch das sich die nächtlich beleuchtete Straße abzeichnete. Einen Herzschlag lang glaubte er dort draußen das kleine Teehaus zu sehen, durch dessen Papierfenster und -türen der flackernde Schein von Kerzen drang. Schatten von Männern, seltsam verzerrt, zu Geistern, Dämonen …

„Danke, dass du damals nicht auf mich gehört hast.“

Tatsumoto kratzte sich am Kopf, schwer zu sagen, ob er sich schämte oder verlegen war.

„Als ob ich einfach wegfahren und so tun könnte, als wäre nichts gewesen, während du russisches Roulett spielst.“

Poker hätte es besser getroffen, doch Katsuya sagte nichts. Er wusste nicht, ob seine Entscheidung damals richtig gewesen war. Subaru auf eigene Faust retten zu wollen war mehr als nur eine riskante Unternehmung gewesen. Seine Ideale, seine Zukunft, seine Träume – alles hatte er dafür über Bord geworfen, und letztendlich hatte es ihn all das gekostet. Ein Wunder, dass er mit dem Leben davongekommen war. Das Geräusch der Polizeisirenen hallte noch immer in seinen Ohren nach; der süßeste Klang, den er je gehört hatte.

„Als du nach über einer Stunde immer noch nicht wieder draußen warst, könnte ich einfach nicht anders, als die Kollegen zu rufen … Ich muss mich immer überall einmischen, das hat meine Frau immer an mir gehasst“, fuhr Tatsumoto fort, den Blick an Katsuyas Kopf vorbei und auf die Mikrowelle im Regal hinter ihm geheftet. Er sah durch sie hindurch, als läge dahinter eine Wahrheit, die nur ihm allein nicht verborgen blieb.

Katsuya runzelte die Stirn.

„Es ist gut, dass du bist wie du bist.“

„Poetischer bist du auch geworden.“

Beide lachten, doch die Heiterkeit war nur von kurzer Dauer. Die Realität holte sie viel zu früh, viel zu schnell wieder ein. Im Grunde genommen hatten sie beide keinen besonders guten Grund zu lachen.

Rasch machte sich Katsuya daran, den Preis von Tatsumotos Bento einzubonnen.

„Ich hole ihn heute ab“, sagte er, die Augen auf die Tasten der modernen Registrierkasse gesenkt. Er konnte Tatsumotos Blick im Nacken spüren, doch er antwortete nicht. Vielleicht zweifelte er daran, dass Katsuya den richtigen Weg eingeschlagen hatte – oder vielleicht verurteilte er ihn sogar dafür. Ganz sicher aber hielt er ihn für völlig übergeschnappt, darin bestand wohl kein Zweifel.

„Macht dann 520 Yen“, sagte Katsuya in professionellem Tonfall, um das entstandene Schweigen zu füllen – erst dann hob er den Kopf. Und was er sah, überraschte ihn mehr als alles, was er in den letzten Monaten erlebt hatte. Tatsumoto lächelte. Er stand einfach nur da, die Hände lässig in die Hosentaschen geschoben, und lächelte ihn an – so als würde er sich für ihn freuen. Und das bedeutete Katsuya mehr als alles, was er hätte sagen können.

Tatsumoto legte einen 1.000-Yen-Schein in die kleine Plastikschale auf dem Counter und Katsuya tauschte ihn gegen das passende Wechselgeld. Dann schob er das Bento in eine weiße Plastktüte und reichte sie seinem Freund.

„Ruf mich mal wieder an. Ich bin beleidigt, wenn du mich nicht auf dem Laufenden hältst“, sagte Tatsumoto und Katsuya verdrehte die Augen. „Außerdem bist du ohne mich doch sowieso aufgeschmissen, oder?“

Das stimmte allerdings. Doch noch ehe Katsuya etwas erwidern konnte, hatte Tatsumoto bereits auf dem Absatz Kehrt gemacht und war durch die große Schiebetür in die Nacht hinaus verschwunden. Zurück blieb nur das schrille Läuten der digitalen Türglocke im Eingangsbereich.

Katsuya seufzte leicht und ließ seinen Blick wieder hinauf zu der großen Uhr wandern.

In 6 Stunden war es soweit. Dann endlich würde er bekommen, worauf er so lange gewartet hatte. Bei dem Gedanken daran schlug sein Herz einen nervösen Takt an. Endlich würde er wieder diese Wärme spüren, diese Geborgenheit. Und dieses Mal wollte er sie ganz für sich allein.

Noch 6 Stunden …

Warte auf mich, Subaru.
 

Weiße Laken, weiße Decke, weiße Wände – das ist meine Welt. Drei Schritte zum Fenster, vier bis zur Tür. Ein Heim, ein Käfig, immer verschlossen. Wann hat die schwarze Welt sich weiß gefärbt? Ich erinnere mich nicht mehr.

Gitter vor dem Fenster schneiden das Draußen in Streifen. Krank, verstümmelt liegt es da; wie ein schauriges Gemälde. Soll es weinen, soll es schreien. Das geht mich nichts an, jetzt nicht mehr …

Die Tür zu meiner Linken öffnet sich mit einem Klacken. Da kommt er, ich erkenne ihn an seinen Schritten. Ich höre seine Stimme. Belanglos, was er sagt, die Worte ein Rauschen in meinen Ohren, doch obwohl ich ihm nie antworte, spricht er weiter, immer weiter – wie jedes Mal, wie jeden Tag.

Seine Wärme hüllt mich ein. Er ist das einzig Schöne in dieser Welt aus Weiß. Ich muss mich nicht nach ihm umsehen, ihn nicht berühren. Seine Stimme streichelt meine Haut. Vielleicht ist es das, was man „Glück“ nennt.

„Lass uns gehen.“

Stille. Seine letzten Worte hallen durch mein leeres Herz und etwas verschiebt sich. Als ich den Kopf zur Seite wende, sehe ich ihn. Groß und breitschultrig und muskulös. Er streckt mir die Hand entgegen, sieht mich an, als würde er auf etwas warten. Nie habe ich ihm eine Antwort gegeben, nie. Und doch steht er hier, wartet er immer noch.

„Wir gehen nach Hause.“

Nach Hause. Ich kann meinen Herzschlag spüren, zum ersten Mal nach so langer Zeit, nach Ewigkeit. Er hat Recht, dieser Käfig ist nicht mein Heim. Ich bin Zuhause, wo er Zuhause ist, überall wo er ist, da ist mein Heim.

Ich strecke die Hand aus und lege sie in Seine. Aus meinem Rücken sprießen Schwingen. Sie tragen mich über den Horizont.

Die Welt ist voll von toten Menschen. Nur er ist so lebendig wie ich.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück