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Blauregen

von

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Um exakt 22 Uhr 45 hielt Tatsumoto Katsuyas alten Nissan in einer kleinen Seitenstraße an. Die meisten Lichter hinter den Fenstern der im traditionell japanischen Stil erbauten Wohnhäuser waren längst erloschen, doch die Scheinwerfer des Wagens tauchten die schmale Gasse in grelles, unnatürliches Licht.

22 Uhr 46. In Katsuyas Kopf tickten die Sekunden. Er durfte auf keinen Fall zu spät kommen, so viel war klar, aber auch eine verfrühte Ankunft könnte den Unmut seiner Gastgeber auf sich ziehen – und das durfte er auf keinen Fall riskieren.

„Bist du sicher, dass du das schaffst?”

Tatsumoto hatte den Motor des Nissan abgestellt und bedachte Katsuya mit einem Blick, der ihn regelrecht zu durchleuchten schien.

Katsuya schnaubte.

„Keine Ahnung”, gab er wahrheitsgetreu zurück, bevor er die Beifahrertür aufstieß und sich aus dem Sitz schwang. „Bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als es auszuprobieren.”

Er versuchte, sich ein Lächeln auf die Lippen zu zwingen, doch es gelang ihm nicht.

„Ich halte mich einfach genau an den Plan, dann wird’s schon schief gehen.”

Tatsumoto wirkte nicht gerade überzeugt, doch er sagte nichts.

Katsuya warf einen kurzen Blick auf die silberne Armbanduhr, die er sonst nur zu besonderen Anlässen trug. Er hatte sie extra für diesen Abend aus ihrer samtausgeschlagenen Schatulle befreit und poliert. 22 Uhr 48.

Katsuya zupfte den Kragen seines frisch gestärkten Hemds zurecht.

„Es wird Zeit”, sagte er und Tatsumoto nickte.

„Viel Glück. Du wirst es brauchen.”

Damit drehte Tatsumoto den Schlüssel im Zündschloss des Wagens herum und startete den Motor. Katsuya beugte sich noch einmal in die Beifahrerkabine hinein und zog den schwarzen Aktenkoffer mit dem Zahlenschloss aus dem Fußraum hervor.

22 Uhr 49.

„Wir sehen uns später.”

Der dumpfe Knall der ins Schloss fallenden Beifahrertür hallte in der Gasse wieder und Katsuya wandte sich ab. Er konnte hören, wie der Nissan hinter ihm den Rückwärtsgang einlegte und auf die Hauptstraße zurück fuhr. Das Iwasaki-Anwesen lag zwei Kreuzungen weiter. Er musste sich beeilen.

22 Uhr 57. Katsuya trat mit dem Aktenkoffer in der Hand ins Licht der Straßenlaterne schräg gegenüber des Treffpunkts. Der feste Plastikgriff in seiner rechten Hand war nass von Schweiß. Er hatte nur diese eine Chance, nur diese eine. Er konnte sich keinen Fehler erlauben.

Noch einmal holte er tief Luft und schloss für zwei Sekunden die Augen. Er konnte spüren, wie sich seine innere Unruhe legte, wie sie einer Stille Platz machte, die so schwarz war wie die sternlose Nacht über den Dächern der umliegenden Häuser. Er sah Subarus Gesicht vor sich – fein geschnitten, viel zu schön für das eines Mannes – sah die völlige Leere, die Leidenschaftslosigkeit in seinem Blick. Subarus lächelndes Gesicht, er wollte es sehen. Sicher war es schöner als alles, was er sich vorstellen konnte. Er wusste nicht, ob er es ihm jemals zurückbringen konnte – doch er würde es versuchen, ganz gleich wie lange es dauern sollte, ganz gleich …

22 Uhr 58. Katsuya steuerte mit weiten, selbstsicheren Schritten auf das alte Eingangstor aus Holz und Papier zu, das von zwei breitschultrigen Männern in schwarzen Anzügen gerahmt wurde. Yakuza. Alles an ihnen schrie danach. Sie hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, zu versuchen, es zu verbergen. Der Hauptsitz der Matsuba-kai in Taitou war ein offenes Geheimnis – jeder wusste davon, doch niemand verlor darüber je ein Wort. Das war es, was Tokyo war – das war es, was die japanische Polizei war. Ein Loch voller Heuchler und Lügner. Unbewusst ballte Katsuya die freie Hand zur Faust.

„Halt.”

Einer der breitschultrigen Security-Gorillas trat einen Schritt vor, sobald Katsuyas Schuhspitze den Naturstein des kaum mehr als zwei Meter langen Weges berührte, der zum Haupttor führte. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, tastete er Katsuya von den Schultern zu den Knöcheln ab. Wie gut, dass er seinen Revolver letztendlich doch auf der Dienstelle zurückgelassen hatte, wo er hingehörte. Andernfalls hätte er es wohl nicht einmal über die Türschwelle geschafft. Das hätte er sich aber auch denken können.

Offensichtlich hatte der Gorilla nichts Verdächtiges gefunden, denn sobald er sich wieder aufgerichtet hatte, nickte er seinem Kollegen zu, der sofort einen Schritt zur Seite wich, um den Eingang zum Anwesen freizugeben.

„Der Boss erwartet Sie.”

Ohne ein Wort trat Katsuya auf die Tür zu und schob sie mit einem Handgriff zur Seite. Dahinter öffnete sich ein kleiner Eingangsbereich, der dazu diente, die Straßenschuhe zurückzulassen, bevor man die Stufe hinauf ins höher gelegene Innere des Hauses trat – doch von Schuhen war weit und breit keine Spur. Kein Wunder: das Haus wurde sicher schon lange nicht mehr privat genutzt.

Ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, stieg Katsuya in seinen blank polierten, schwarzen Lederschuhen die einzelne Stufe hinauf und fand sich einer Frau mittleren Alters in einem altmodischen Kimono gegenüber. Sie war nicht auffällig geschminkt – mehr eine Hausangestellte als eine Geisha. Als sie Katsuyas Blick bemerkte, verbeugte sie sich tief.

„Bitte folgen Sie mir.“

Sie führte Katsuya einen langen, schmalen Korridor entlang, von dem zur Rechten zahlreiche Türen abgingen, bis sie schließlich vor einer von ihnen Inne hielt und davor niederkniete.

„Ihr Besuch ist hier“, sagte sie mit lauter Stimme, ehe sie die Tür für Katsuya aufschob, ohne ins Innere des Raumes zu sehen. Es kam Katsuya beinahe so vor, als wäre er in der Zeit zurückgesprungen, als er über die Schwelle des Anwesens getreten war. Doch der Schein trog. Hinter der geöffneten Tür lag ein kleiner, mit Tatami ausgelegter Raum, dessen einziges Mobiliar ein niedriger, quadratischen Tisch war, um den herum sich einige Sitzkissen gruppierten. Dort, mit dem Gesicht zur Tür, saß ein Mann in einem offensichtlich teuren und höchst wahrscheinlich auch maßgeschneiderten Anzug im Schneidersitz, vor sich ein Becher Sake. Die Zeit hatte tiefe Furchen in sein Gesicht gegraben – Keisuke Iwasaki, das amtierende Oberhaupt der Matsuba-kai.

Unwillkürlich krampfte sich Katsuyas Hand fester um den Griff des Aktenkoffers. Sein Herz schlug so heftig in seiner Brust, als wollte es seinen Brustkorb sprengen und davon springen. Eine Chance; nur diese eine Chance …

„Setz dich.“

Iwasakis Augen hafteten auf Katsuyas Gesicht, als müsste er niemals blinzeln. Er war zweifellos ein kluger Mann. Er hatte diesen Blick; den Blick eines Adlers, der nur darauf wartete, seine Klauen in eine kleine, wehrlose Maus zu schlagen.

Als Katsuya sich nicht rührte, gestikulierte Iwasaki in Richtung des Sitzkissens an der ihm gegenüberliegenden Seite des Tisches – offensichtlich wiederholte er sich nicht gern – und endlich gelang es Katsuya, sich aus seiner Starre zu befreien. Nichts widerstrebte ihm mehr, als sich mit diesem Mann an einen Tisch setzen – doch was hatte er schon für eine Wahl?

Er glaubte, die Tatami-Matte unter seinen Füßen schreien zu hören, als sich die Solen seiner Schuhe in das weiche Reisstroh gruben, doch er ignorierte es.

Als er seine steifen Beine endlich dazu gezwungen hatte, auf dem Sitzkissen Platz zu nehmen, nickte Iwasaki, offensichtlich zufrieden mit ihm.

„Hanako, mehr Sake!“

Als Katsuya den Kopf ein Stück wandte, konnte er im Augenwinkel erkennen, wie sich die Silhouette der Dame, die sich durch die Papierwand abzeichnete, aus ihrer knienden Position erhob und dann lautlos verschwand.

„Du bist also gekommen, um etwas, das mir gehört, gegen etwas zu einzutauschen, das ebenfalls mir gehört."

Der jähe, scharfe Tonfall in Iwasakis Stimme ließ Katsuyas Kopf erneut herumfahren. Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Im Grunde genommen hatte Iwasaki die Situation ziemlich treffsicher auf den Punkt gebracht. Der erste Eindruck hatte nicht getäuscht – er war in der Tat ein sehr scharfsinniger Mann. Scharfsinnig und skrupellos – das waren die Attribute, die ein Oberhaupt der Yakuza ausmachten, wenn es seine Position länger als ein paar Wochen lang halten wollte. Und egoistisch und gnadenlos und grausam.

„Wie ist dein Name?“

Iwasakis Stimme riss Katsuya aus seinen Gedanken. Für den Bruchteil einer Sekunde frage er sich, ob er einen Namen erfinden sollte …

„Ichiro Katsuya“, sagte rasch und auf Iwasakis Gesicht breitete sich ein schiefes Grinsen aus, das von Nikotin gelb gefärbte Zähne zum Vorschein brachte.

„Ich sehe, du bist ehrlich, Katsuya-san. Das gefällt mir.“

Katsuyas schloss die Augen, um seine Erleichterung vor Iwasaki zu verbergen, auch wenn er wusste, dass es keinen Zweck hatte. Im Stillen dankte er allen Göttern, dass er sich für seinen richtigen Namen entschieden hatte. So sehr er es auch hasste: Er war von Iwasakis Wohlwollen abhängig wie ein Kleinkind von seiner Mutter. Natürlich hatte das Oberhaupt der Matsuba-kai Nachforschungen angestellt. Mit seinen Verbindungen, die bis an die Spitze von Politik, Wirtschaft und sogar der Polizei reichten, hatte er dazu kaum eine Hürde überwinden müssen. Oder hatte er im Endeffekt einfach nur die Wahrheit von Katsuyas Gesicht abgelesen?

Als Katsuya die Augen wieder öffnete, begegnete er dem scharfen Blick des Adlers.

„Deinen Namen herauszufinden war leicht.“

Während Iwasaki sprach, trat Hanako mit einem runden Tablett auf dem Arm ins Zimmer und kniete an einer Seite des Tisches nieder, um Iwasaki aus einem neuen Sakekrug einzuschenken, ehe sie ihn zusammen mit einem ungebrauchten Becher auf der polierten Holzplatte abstellte. Iwasaki machte sich nicht die Mühe, seine Ausführungen zu unterbrechen, bis sie wieder verschwunden war.

„Meine Männer haben Subaru vor deinem Appartementhaus aufgegriffen. Auf den Überwachungskameras der Shoko Chukin Bank war dein Gesicht, auf der Außenkamera das Kennzeichen deines Wagens. Dir fehlt es an Geschick.“

Iwasaki griff nach dem Sakekrug und füllte den zweiten Sakebecher, bevor er ihm zu Katsuya hinüber schob.

„Trink.“

Es war kein Angebot, sondern ein Befehl. Die Augen noch immer fest auf Iwasakis Gesicht geheftet, griff Katsuya nach dem Becher und hob ihn an die Lippen. Er neigte ihn gerade so weit, dass die körperwarme Flüssigkeit gegen seine Unterlippe schwappte, doch er trank nicht. Es war nicht so, dass er glaubte, der Sake könnte vergiftet sein – nicht wirklich. Doch er musste sich einen klaren Kopf bewahren. Er war nie besonders trinkfest gewesen; er durfte nicht zulassen, dass der Alkohol seine Sinne verwirrte.

Iwasaki leerte seinen Becher in einem Zug und wie es die Sitte gebot, schenkte Katsuya ihm unaufgefordert nach.

„Du gefällst mir, das war mein Ernst. Für dich ist Platz in der Matsuba-kai. Du könntest dem Clan beitreten und ich vergesse diese ganze unangenehme Angelegenheit.“

Unwillkürlich ballte Katsuya die Hände zu Fäusten. Was ging nur im Kopf dieses Mannes vor? Er war gekommen, um Subaru abzuholen, ihn von seiner Last zu befreien; einer Last, die ihn an den Rand einer Autobahnbrücke getrieben hatte, vom Regen bis auf die Knochen durchnässt, mutterseelenallein. Einer Last, die ihm sein Lächeln gestohlen hatte …

Katsuya zwang sich, Iwasaki direkt in die Augen zu sehen.

„Nein, danke“, sagte er mit ruhiger Stimme, in der eine absolute Bestimmtheit mitschwang, die keinen Spielraum für Interpretationen ließ.

Iwasaki lachte. Es war ein bellendes, freudloses Lachen, das auf Katsuya herabzusehen schien wie ein Raubvogel von der Spitze eines mächtigen Felses.

„Subaru hat dich also wirklich um den Finger gewickelt. Er ist gut trainiert. Sein Verschwinden war ein schmerzhafter Verlust für mich. Du kannst dir vorstellen, wie erleichtert ich war, als eines meiner Vögelchen mir einen vielversprechenden Tipp zu gezwitschert hat.“

„Sie meinen, der Verlust des Schließfachschlüssels war ein schmerzhafter Verlust für Sie.“

Ein Krachen ließ Katsuya zusammenzucken. Iwasakis Faust war hart auf dem massiven Holz des Tisches aufgeschlagen und ließ den Sake über den Rand ihrer Becher schwappen.

Verdammt, wieso hatte Katsuya nicht einfach den Mund halten können? Bis hierher war alles wunderbar gelaufen, geradezu wie am sprichwörtlichen Schnürchen. Wieso zur Hölle konnte er sich nicht einmal in seinem Leben eine halbe Stunde lang zusammenreißen?

Um die Situation wieder in den Griff zu bekommen, griff Katsuya hastig nach dem Sakekrug und füllte Iwasakis Becher noch einmal bis zu zum Rand. Eine Sekunde lang geschah nichts. Eine weitere Sekunde. Dann gab das Oberhaupt der Matsuba-kai einen Laut von sich, der irgendwo zwischen Missfallen und Wohlwollen angesiedelt zu sein schien, schloss die Hand, die noch immer auf dem Tisch ruhte, um seinen Becher und leerte ihn in einem Zug.

„Ich habe Subaru aus einem Bordell freigekauft, als er gerade zwanzig war“, begann Iwasaki langsam, während Katsuya ihm hastig noch etwas Sake nachschenkte. „Er war ein interessanter Junge, schon damals gut, zweifellos. Aber nicht, dass es nicht noch einiges gegeben hätte, das ich ihm beibringen konnte. Ich habe ihn zu dem gemacht, der er heute ist.“

Iwasakis selbstzufriedenes Lächeln ließ noch einmal seine gelben Zähne hervorblitzen und Katsuya drehte sich der Mangen um.

„Dann bist du also ein Kurier.”

„Kein Kurier. Eher ein Hund.“

Die Worte hallten noch immer in Katsuyas Ohren nach – und mit einem Mal ergaben sie einen Sinn.

„Aber genug davon. Du hast mein Angebot gehört. Wenn du es ausschlägst, verlange ich meinen Koffer zurück“, schloss Iwasaki und leerte seinen Becher erneut.

„Erst will ich Subaru sehen.“

Katsuya glaubte so etwas wie Wut in Iwasakis Augen aufflackern zu sehen – doch der Funke verglomm so rasch wieder wie er entflammt war. Da Katsuya keine Anstalten machte, Iwasakis Becher nachzufüllen, griff er selbst zum Sakekrug, doch die wenigen Tropfen, die noch übrig waren, genügten kaum, den Boden zu benetzen. Zwischen Iwasakis Augenbrauen bildete sich eine tiefe Falte.

„Mein Haus, meine Regeln“, sagte er schließlich mit ruhiger Stimme und fixierte Katsuya mit einem durchdringenden Blick, der dem Polizisten einen kalten Schauder über den Rücken laufen ließ. Ich habe bereits so viele Leben genommen, eines mehr oder weniger – was macht das schon für einen Unterschied? Katsuya konnte die Worte beinahe hören, obwohl Iwasaki sie nicht ausgesprochen hatte. Es war mehr als klar, wie die Rollen in diesem ungleichen Kampf verteilt waren.

Ganz langsam legte sich Katsuyas Hand um den glatten Griff des Aktenkoffers, seines einzigen Trumpfes. Wenn er ihn verlor, gab es nichts, was er der Matsuba-kai noch hätte entgegensetzen können. Er war vollkommen unbewaffnet und mit Sicherheit waren die beiden Gorillas am Eingang nicht die einzigen gefährlichen Gesellen, die Iwasaki um sich geschart hatte. Auch er selbst war nicht zu unterschätzen. Er mochte ein wenig in die Jahre gekommen sein – aber er war immer noch unverkennbar ein Adler. Und er liebte es zu jagen.

Langsam hob Katsuya den Koffer auf die Tischplatte und schob ihn zu Iwasaki hinüber. Kaum dass sich seine Finger von dem weichen Leder lösten, zog Iwasaki den Koffer an sich und legte ihn auf die Seite. Das Zahlenschloss – das war sein Ziel.

Katsuyas Herz schlug so heftig, dass es ihm in den Ohren dröhnte, während sein Blick auf Iwasakis rechten Zeigefinger geheftet war, der eine sechsstellige Zahl in das elektronische Bedienfeld eingab.

I N V A L I D

Die digitalen Lettern auf dem kleinen Display über dem Zahlenschloss waren unverkennbar.

Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Katsuya einen Anflug von Ärger von Iwasakis Gesicht ablesen zu können, doch dann korrigierte er seine Miene zu einem kalten Lächeln.

„Du hast den Code geändert“, bemerkte er und lehnte sich zurück, beinahe so als würde er Katsuya zum ersten Mal in voller Gänze wahrzunehmen. „Du bist klug – für einen Polizisten.“

Katsuya presste die Kiefer zusammen. Iwasaki hatte in der Kürze der Zeit viel über ihn herausgefunden – zu viel.

„Ich hätte mir mein Hab und Gut jederzeit zurückholen können. Und doch habe ich es nicht getan. Du hast mein Interesse geweckt, Katsuya-san. Und wie ich sehe, habe ich mich nicht in dir getäuscht.“

Damit stemmte sich Iwasaki langsam auf die Füße. Es schien ihn einige Mühe zu kosten, sein Gleichgewicht zu finden – kein Wunder, er hatte fast den ganzen Sakekrug allein geleert. Daran gemessen musste Katsuya zugeben, dass er noch immer erstaunlich klar wirkte. Was für ein Pech.

Mit einer überraschend flinken Bewegung nahm Iwasaki den Aktenkoffer an sich.

„Du sollst bekommen, was du verlangst. Es wird dir helfen, dich für das Richtige zu entscheiden.“

Eine böse Vorahnung flammte in Katsuyas Brust auf, doch er zwang sich, sie abzuschütteln. Iwasaki hatte keine Wahl, er musste auf seine Förderung eingehen. Wenn er den Koffer öffnen wollte, blieben ihm genau zwei Möglichkeiten: den richtigen Code einzugeben oder den Koffer zu sprengen. Letzteres hätte zweifellos nicht nur den Koffer, sondern auch das wertvolle Kokain in seinem Inneren zerstört. Iwasakis plötzlicher Sinneswandel musste also noch lange kein schlechtes Omen sein – jedenfalls versuchte Katzuya sich das einzureden.

Er folgte Iwasaki den langen, schmalen Korridor entlang und durch eine Schiebetür hinaus in einen weiten Innenhof. Der japanische Garten mit seinen steinernen Laternen und akkurat geschnittenen Bonsai-Fichten war im Schein des durch die Fenster des Haupthauses einfallenden Lichtes gerade noch schemenhaft zu erkennen. In seiner Mitte stand ein hölzernes Teehaus, dessen Papierfenster und -Türen hell durch das Zwielicht schimmerten. Irgendetwas daran fühlte sich falsch an – und einen Augenblick später wurde Katsuya auch bewusst, was es war. Aus dem Teehaus drangen Stimmen hervor, tiefe Männerstimmen. Keine ruhigen, andächtigen Worte, sondern ausgelassenes Rufe, Gelächter. Und obwohl Katsuya die einzelnen Worte nicht verstand, schauderte es ihn bei ihrem Klang.

Iwasaki musste sein Zögern bemerkt haben, denn auf seinen Zügen breitete sich ein kaltes, selbstzufriedenes Lächeln, als er direkt vor dem Eingang zum Teehaus stehen blieb.

„Es wird dir gefallen, Katsuya-san.“

Dann stieß er das Tor zur Hölle auf. Einen Augenblick lang glaubte Katsuya, nicht mehr atmen zu können. Dort lag er, auf allen vieren, Knie und Ellenbogen auf den polierten Holzboden gestützt. Er hatte die Unterarme um den Kopf geschlungen, sein Gesicht fast zur Gänze dahinter verborgen und doch erkannte Katsuya ihn sofort: Subaru. Sein perfekter, schlanker Körper war vollkommen entblößt, die helle Haut, vor zwei Tagen noch so schön und makellos, mit dunkelroten und violetten Hämatomen übersät. Keine Faust konnte solche Spuren hinterlassen, nicht einmal die eines breitschultrigen Yakuza – man hatte auf ihn eingetreten. Doch das war nicht das schlimmste. Drei Männer in schwarzen Muskelshirts hatten Subaru umringt; ihre Arme bis zur Hemdsmanschette tätowiert. Sie feuerten ihren Kumpanen in der Mitte an, der seine Jeanshose ein Stück weit nach unten gezogen hatte. Er hielt Subarus Hüfte fest gepackt und trieb sein Geschlecht immer wieder bis zum Anschlag in seinen After ein. Doch ganz gleich wie schnell oder hart er sich Subarus wehrlosen Körper nahm – über Subarus Lippen drang kein einziger Laut. Es war, als wäre alles das Leben seinem Körper entwichen.

Stoß, Stoß, Stoß. In Katsuya brannte ein Feuer, das an seiner Vernunft fraß. Er musste all dem ein Ende setzen, jetzt sofort. Jeder Gedanke an die Konsequenzen verblasste. Er wollte losstürmen, wollte den Kerl am Kragen packen, ihn von Subaru wegzerren. Wollte auf ihn einschlagen, mit der Faust ins Gesicht, wieder und wieder und wieder …

„Das genügt.“

Iwasakis Befehl kam Katsuya zuvor. Als hätte jemand die Stop-Taste eines Kassettenrekorders gedrückt, verstummten die tätowierten Männer und begannen, sich zurückzuziehen. Der breitschultrige Kerl, der Subaru immer noch gepackt hielt, stieß sich noch ein, zwei Mal in ihn hinein, ehe er seinen Körper mit einem Ruck verließ.

Als hätte man die Fäden einer Marionette zerschnitten, sackte Subaru in sich zusammen; reglos, zerbrochen. Sperma tropfte aus seinem weit geöffneten After und die Innenseite seiner Schenkel hinab. Der Anblick peitschte einen kalten Schauder über Katsuyas Rücken. All seine aufgestaute Wut schwappte in Verzweiflung über, Hilflosigkeit. Er hatte in den zehn Jahren, die er nun bei der Polizei arbeitete viel erlebt, was er lieber vergessen hätte – doch nichts davon hatte je auch nur im Ansatz an die Grausamkeit dieses Schauspiels herangereicht. Gar nichts.

Katsuya bemerkte kaum, wie sich der letzte der Lakaien an ihm vorbei hinaus ins Freie schob. Sein Blick war fest auf Subarus nackten, zerschlagenen Körper geheftet. Er musste zu ihm, nach ihm sehen – doch gerade als er einen Fuß vorsetzte, schnellte ein Arm nach oben und versperrte ihm den Weg.

„Erst der Code für den Koffer.“

Iwasakis Stimme war so ruhig und komponiert, dass Katsuyas Wut ihn für den Bruchteil einer Sekunde erneut zu übermannen drohte. Über Iawasakis Arm hinweg konnte er sehen, wie Subarus rechte Hand sich zusammenkrampfte, sich entspannte, wieder zusammenkrampfte. Seine Augenlider flatterten. Er war also bei Bewusstsein. Der Gedanke war wenig tröstlich, doch er genügte Katsuya, Herr seiner Sinne zu bleiben.

„3725“, sagte er rasch, bemüht jeden Anklang von Zorn und Unsicherheit aus seiner Stimme zu verbannen – und im Augenwinkel konnte er sehen, wie sich Iwasakis Miene zu seinem typischen schiefen Grinsen verzog.

„Die Nummer des Bankschließfachs. Wie ich sehe, haben wir den gleichen Humor, Katsuya-san.“

Endlich zog sich Iwasakis Arm zurück. Katsuya unterdrückte den Drang, sofort an Subarus Seite zu eilen – stattdessen blieb er nahe bei Iwasaki, der in das Teehaus hineintrat und sich an der gegenüberliegenden Seite des Raumes niederließ. Ohne dem am Boden liegenden Subaru auch nur die geringste Beachtung zu schenken, machte er sich daran, den Code in das an der Oberseite des Koffers angebrachte Zahlenschloss einzugeben.

Katsuyas Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Alles oder nichts.

U N L O C K E D

Langsam, beinahe bedächtig, hob Iwasaki den Deckel an – und im flackernden Lichtschein der Kerzen, die sorgfältig hinter Glas verborgen den im traditionell japanischen Stil eingerichteten Innenraum des kleinen Teehauses erleuchteten, konnte Katsuya sehen, wie seine Gesichtszüge entgleisten.

Der Koffer war leer.
 

Ich habe etwas für dich. Wir treffen uns vor deinem Appartement.

Katsuya sah ihn schon von weitem. Er saß auf den untersten Stufen der metallischen Außentreppe des Appartementhauses, die in die oberen Etagen hinaufführte, die Arme vor der Brust verschränkt: Tatsumoto. Zu seinen Füßen stand ein schwarzer Aktenkoffer – und Katsuyas Herz schlug einen schnelleren Takt an. Das war völlig unmöglich. Der Koffer aus dem Schließfach der Shoko Chukin Bank lag noch unter dem Beifahrersitz seines Wagens. Er war heute früh damit zur Arbeit gefahren und hatte ihn erst Augenblicke zuvor auf dem der Privatparkplatz der Appartementanlage abgestellt. Wenn das da also nicht sein Koffer war – was für ein Koffer war es dann?

„Zum Verwechseln ähnlich, oder?“, sagte Tatsumoto anstelle einer Begrüßung, sobald Katsuya bei ihm angelangt war. Er wirkte recht zufrieden mit sich. „Es ist vielleicht nicht genau derselbe Koffer, aber er ist aus der gleichen Produktlinie. Meine Schwester arbeitet doch in diesem großen Kaufhaus in Ginza, sie hat mich ein bisschen beraten. Ich glaube nicht, dass jemand den Unterschied bemerkt.“

Katsuya starrte seinen Kollegen an, unfähig eine passende Antwort zu finden. Das war einfach genial. Riskant – aber genial. Er kannte Tatsumoto schon so viele Jahre lang, wieso hatte er nie bemerkt, wie verschlagen er eigentlich war? Er hatte immer den Eindruck gemacht, als würde er seine Arbeit nicht wirklich ernstnehmen – und vielleicht tat er das auch nicht. Zu Recht, wie Katsuya jetzt einräumen musste – ein Mann mit solchen Fähigkeiten hatte im Streifendienst wirklich nichts verloren. Was für eine Verschwendung …

„Ich habe schon einen Code eingegeben: 3725. Diese Bande von Yakuza wird ziemlich überrascht sein, wenn sie den Koffer plötzlich nicht mehr aufkriegen. Vielleicht wird dir das noch nützlich sein.“

Katsuyas Mundwinkel kräuselten sich zu einem leichten Lächeln. Vielleicht hatte er kein Backup – aber dank Tatsumoto hatte er jetzt einen Trumpf.
 

„Du verdammter …!“

Iwasakis Gesicht war eine wutverzerrte Grimasse. Mit einer blitzschnellen Bewegung zog er eine Pistole unter dem Jackett hervor. Colt M1911, .45er Kaliber. Die Kennzahlen schwebten unwillkürlich vor Katsuyas innerem Auge auf und ab und verschleierten ihm die Sicht. Die Mündung der Waffe richtete sich auf seine Brust und obwohl nicht mehr als ein Herzschlag verging, konnte er tausend Gedanken auf einmal denken. Subaru, das Kokain, der Koffer, Tatsumoto, Blauregen, Subaru. Adrenalin. Iwasakis Finger am Abzug zuckte. Er würde schießen, gleich, gleich …

Doch Katsuya war schneller. Präzise, als hätte er sein Leben lang nur auf diesen einen Augenblick gewartet, schlug er Iwasaki die Pistole aus der Hand. Sie schlitterte über den blank polierten Holzboden und stieß auf Widerstand. Weich, lebendig, menschlich. Subarus nacktes Knie.

Die Zeit schien einen Augenblick lang stillzustehen. Wann hatte Subaru sich aufgesetzt? Katsuya war so auf die Pistole fixiert gewesen, dass er es nicht bemerkt hatte.

Da saß er nun, die Augen weit geöffnet, unmöglich zu sagen, ob hellwach oder in eine Traumwelt abgeglitten. Keiner seiner Muskeln regte sich. Er starrte einfach nur auf die Waffe neben seinem Knie hinab, als wäre sie das einzige, was er um sich her wahrnehmen konnte, als wäre er mit ihr allein, eingesperrt in einer Welt, die nur er sehen konnte … Dann griff er zu.

Der Lauf der Waffe richtete sich auf Iwasaki. Subaru war nicht mehr als ein Kind, das mit einer Spielzeugpistole Räuber und Gendarm spielte. Er wusste nicht damit umzugehen, nicht zu zielen, sie nicht zu halten, und doch klammerte er sich an ihr fest, als wäre sie sein letzter Anker in dieser kranken Wirklichkeit. Seine Hände zitterten. Dann drückte er ab.

Der Rückschlag riss Subarus Arme nach oben. Die Kugel hätte nicht treffen können, sie hätte nicht treffen dürfen.

Katsuyas Sicht flackerte. Da war überall Blut. Auf dem Boden, an den Wänden, an seinen Kleidern, überall. Statt seine Brust zu durchstoßen, hatte das Projektil Iwasakis Gesicht zerschlagen. Ihm blieb nicht einmal die Zeit zu schreien. Sein Körper sackte stumm in sich zusammen wie ein Turm, dessen Fundament sich von einer Sekunde zur nächsten in Luft aufgelöst hatte.

Dann war es still. Nur der Schuss dröhnte noch in Katsuyas Ohren nach. Er würde die Aufmerksamkeit der Matsuba-kai auf sie lenken, doch in Katsuyas Kopf war kein Platz für Gedanken an die Zukunft. Sein Blick war auf Subarus Gesicht geheftet, eben und ausdruckslos. Da war keine Spur von Befriedigung oder Triumph, keine Verzweiflung oder Hass – einfach nichts. Und obwohl er noch immer aufrecht saß, war es Katsuya, als wäre ein Teil von ihm gestorben.

Ganz langsam ging er auf Subaru zu. Er wollte ihn berühren, seine Arme um ihn legen, ihn zurück ins Leben reißen wie schon einmal, wie in dieser regnerischen Nacht, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren.

„Kommen Sie nicht näher.“

Subaru riss die Arme nach oben, die Mündung der Pistole zielte auf Katsuyas Brust, seine Pupillen geweitet, unmöglich zu sagen, ob er Katsuya erkannte oder nicht, doch Katsuya blieb nicht stehen. Er war viel zu weit gekommen, um jetzt noch umzukehren, hatte viel zu viel riskiert. Wenn es hier und heute enden sollte, wenn seine Mission wirklich zum Scheitern verurteilt war, dann war er auch bereit, den Preis dafür zu zahlen. Das war er von Anfang an gewesen, seit dem Augenblick, da er das Foyer der Shoko Chukin Bank betreten hatte, seit er den Schlüssel ins Schloss des Schließfachs mit der Nummer 3725 geschoben hatte, seit jenem Augenblick.

Noch drei Schritte.

Die Mündung der Pistole glitt zur Seite. Für den Bruchteil einer Sekunde wallte Erleichterung durch Katsuyas Brust, doch die Bewegung der Waffe brach nicht ab. Sie beschrieb einen Halbkreis, vollführte eine Drehung, weiter, immer weiter, zu weit, viel zu weit.

Noch zwei Schritte.

Das kalte Metall grub sich in Subarus Schläfe und das Blut in Katsuyas Adern gefror. Ihre Blicke kreuzten sich. Subaru sah ihn an, er sah ihn wirklich an – nicht an ihm vorbei, nicht durch ihn hindurch, zum allerersten Mal. Eine einsame Träne löste sich aus seinem Augenwinkel. Es war als würde er sich auflösen, die Fassade, das Konstrukt Subaru, das er für sich erschaffen hatte, ohne das er in dieser Welt nicht existieren konnte. Sein Finger am Abzug zuckte.

Noch ein Schritt.

Katsuyas Hand schloss sich um Subarus Unterarm und drückte ihn zur Seite. Er sank auf die Knie, schlang den freien Arm um Subarus Rücken, presste den schlanken, zerbrochenen Körper an sich wie ein Kind sein kaputtes Spielzeug, von dem es sich nicht verabschieden konnte. Warm, so warm.

Subarus Schultern bebten. Hilflos, verzweifelt, zerschunden, gebrochen trugen seine Tränen all das in die Welt hinaus, was er so lange in seiner Seele eingeschlossen hatte. Sie durchnässten Katsuyas Hemd, bis er sie auf der Haut spüren konnte, bis sie sein Herz berührten als wären es seine eigenen. Er ließ den zitternden Körper nicht los. Er würde ihn nie wieder loslassen, nie wieder, und wenn sie beide hier heute ihr Ende finden sollten.

Und in der Ferne schrillten Sirenen.



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