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Bevor er ging, um sich mit seinem Gast im Keller zu befassen, gab er ihr eine Vorlage und den Auftrag, sie möglichst detailgetreu auf eine Holzplatte zu sprühen. Sie sollte ihr Training nachholen. Dann ließ er sie allein. Normalerweise wäre Sakura froh darüber, doch im Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher als Gesellschaft zu haben. Sobald sie nämlich alleine war, kam die Angst. Die Angst und die Gedanken daran, was mit ihr passieren würde, nachdem sie die Pille geschluckt hatte. In ihrer schlimmsten Horrorvision war es Pain. Auch wenn sie Sasuke nicht zutraute, dass er ihren Verstand aufs Spiel setzen würde, blieb ein gewisser Restzweifel bestehen.
Sie versuchte sich zu beherrschen. So gut wie möglich nicht daran zu denken. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch begann sie damit, die Outlines auf das Holz zu übertragen. Damit sie nicht ständig auf dem Boden kauern musste, hatte sie es auf einer angenehmen Höhe an der Staffelei befestigt. Trotzdem fühlte sie sich irgendwie verkrampft. Mehr als sonst, bemühte sie sich, die Sprühdose nicht allzu lange auf eine Stelle zu halten und die Linien so gerade wie möglich zu ziehen. Wenn Sasuke zurückkommen würde und sie hatte Mist gebaut, würde er sie garantiert alles noch einmal von vorne machen lassen.
Während sie mehr oder weniger konzentriert arbeitete, hörte sie immer wieder die Schreie. Es waren jetzt mehr geworden, lauter und in kürzeren Abständen. Dass Sasuke sich zu den anderen in den Keller gesellt hatte, tat dem Gast nicht besonders gut. Was auch immer sie von ihm wollten, Sakura zweifelte nicht daran, dass sie es am Ende bekommen würden. Und je früher sie es bekamen, desto früher würde Sasuke wieder zurück zu ihr kommen. Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie seine Anwesenheit herbeisehnte oder doch lieber allein bleiben wollte. In der drückenden Stille, in der sie von ihren eigenen Gedanken immer mehr eingekreist wurde.
Ab und zu überlegte Sakura, ob sie Naruto eine SMS schreiben sollte. Vielleicht war er auch hier im Haus, immerhin hätten sie heute Nachmittag Unterricht gehabt, und vielleicht würde er ihr auch Gesellschaft leisten. Seine Anwesenheit beruhigte sie und er konnte bestimmt ihre Gedanken zerstreuen und sie ablenken, bis sie alles überstanden hatte. Allerdings wusste sie noch immer nicht, ob nicht Naruto höchstpersönlich sie bei Sasuke verpfiffen hatte. Sie hatte ihn schon einmal gründlich unterschätzt.
Die Zeit verging rasend und tropfte gleichzeitig unglaublich zäh dahin. Sakura wartete angespannt darauf, dass sich irgendetwas an ihrem Zustand verändern würde und das Warten zermürbte sie mit jeder Sekunde mehr. Immer wieder bildete sie sich ein, dass ihre Beine leicht zitterten oder dass ihr Puls deutlich erhöht war, doch das konnte sie genauso gut auf ihre Angst zurückführen. Sie hatte erbärmliche Angst.
Dann kam die Kälte. Das Zittern an ihrem Körper verstärkte sich immer mehr und sie war sich sicher, dass es nicht nur an ihrer Furcht lag. Sie fror. Ihre Finger fühlten sich eiskalt an und es wurde zunehmend schwerer die Sprühdosen zu halten. Der warme Strickpullover, den sie trug, reichte nicht aus, um die Wärme in ihrem Körper zu halten und auf ihrer Haut bildete sich eine Gänsehaut. Fest biss sie die Zähne zusammen, damit sie nicht klapperten. Das mussten die ersten Auswirkungen der Droge sein. Paradoxerweise war sie fast schon erleichtert, dass es endlich angefangen hatte.
Als sie das Gefühl hatte, es nicht mehr auszuhalten, stellte sie die Dose auf den Boden und rieb ihre Handflächen gegeneinander. Um sich aufzuwärmen hüpfte sie ein paar Mal auf der Stelle auf und ab und warf dabei immer wieder verstohlene Blicke zur Tür. Solange sie niemand sehen konnte, musste es ihr auch nicht peinlich sein. Viel Effekt erzielte sie dadurch jedoch nicht und schließlich gab sie es auf. Am besten, sie versuchte einfach schnell hier fertig zu werden, damit sie dann nach Hause und in ihr warmes Bett konnte.
Routiniert griff sie nach der Sprühdose und setzte sie erneut an. Es war schwierig ihre Hand ruhig zu halten, doch wenn sie sich konzentrierte, gelang es ihr. Sie versuchte alles auszublenden, die Angst, die Kälte, die Schreie und auch ihre Müdigkeit. Die ganze Zeit schon fühlte sie sich so unglaublich müde und nur das Adrenalin, dass durch ihren Körper schoss, seit Sasuke aufgetaucht war, hielt sie noch wach.
Als er schließlich wieder das Zimmer betrat, zuckte sie kurz zusammen. Sie hatte ihn nicht kommen hören, weil sie so sehr auf ihre Arbeit fokussiert war, um ja keine Fehler zu machen. Mittlerweile hatte Sakura schon mit dem Fill-in begonnen und sie sah deutlich, wie sein kritischer Blick über ihr Werk wanderte. Hier und da blieb er kurz hängen, stolperte über die Stellen, an denen sie zu lange verharrt oder an denen ihre Hand zu stark gezittert hatte. Ihm entging nichts, das wusste sie genau und doch sagte er kein Wort und sah ihr stattdessen nur weiter zu, wie sie ihre Arbeit machte.
Irgendwann raschelte es hinter ihr und als sie sich umdrehte, sah sie, dass er die Plane zur Seite geschoben hatte, um besser an die Heizung zu kommen. Er drehte den Temperaturregler ein Stück nach oben und ließ die Folie dann wieder sinken. Obwohl sie so gut es ging versucht hatte, vor ihm zu verbergen, wie sehr sie fror, hatte er es gemerkt. Dabei wollte sie vor ihm auf keinen Fall Schwäche zeigen. Sie würde das hier durchziehen und dann nach Hause fahren, wo sie hoffentlich die restlichen Auswirkungen der Droge irgendwie verschlafen konnte.
„Mir ist nicht kalt“, behauptete sie.
Ihr ganzer Körper war verspannt, so sehr bemühte sie sich, nicht zu zittern. Sasuke kam ein paar Schritte auf sie zu, bis er direkt vor Sakura stand und drückte ihr Kinn nach oben, sodass sie ihn ansehen musste.
„Du hast blaue Lippen“, sagte er knapp.
Seine Hand auf ihrer Haut brannte wie glühende Kohlen und sie entwand sich seinem Griff. Im Gegensatz zu ihr trug er keine Einweghandschuhe.
„Und wenn schon“, schnaubte sie.
Nachdem er ihr irgendwelche Drogen gegeben hatte, musste er jetzt nicht einen auf fürsorglich machen, darauf konnte sie wirklich verzichten. Von seinen Psychospielchen hatte sie genug und seine Berührungen fühlten sich unangenehm an. Viel zu warm. So als würde man einen Erfrierenden unter eine heiße Dusche stellen.
Sasuke zuckte mit den Schultern und trat zurück. Die Heizung ließ er trotzdem an und er sagte auch nichts mehr zu dem Thema. Stattdessen setzte er sich auf den einzigen Stuhl im Raum und begann zu zeichnen. Das tat er in letzter Zeit öfter und Sakura vermutete, dass es etwas mit dem bevorstehenden Wettbewerb zu tun hatte. Trotzdem spürte sie immer wieder seine Blicke im Rücken und er ließ sie niemals allzu lange aus den Augen. Sie hatte das Gefühl, dass er nicht den Fortschritt ihrer Arbeit überwachte, sondern viel mehr sie selbst. Als würde er auf etwas Spezielles warten. Wieder fragte sie sich, was er ihr gegeben hatte.
„Wird es mich abhängig machen?“, Sakuras Stimme zitterte.
Wenigstens das wollte sie wissen. Wenigstens das musste er ihr sagen. Sasuke sah nur kurz von seinem Block auf, dann widmete er sich wieder seiner Zeichnung.
„Nein.“
Erleichtert atmete sie aus. Sie wandte sich wieder der Holzplatte zu und trat einen Schritt zurück, um einen besseren Überblick zu haben. Es war nicht gut, allzu nah heranzugehen beim Sprühen, aber manchmal verlor sie sich einfach in den Details. Man konnte deutlich erkennen, welche Linien sie zuerst gezogen hatte und auch das Fill-in reichte nicht mal ansatzweise an die Qualität heran, die sie sonst zustande brachte. An einigen Stellen würde sie ausbessern müssen. Frustriert biss sie sich auf die Unterlippe.
Als sie diesmal die Sprühdose anhob, spürte sie plötzlich, dass es ihr unglaublich schwer fiel, den Arm oben zu halten. Es fühlte sich an als wären ihre Gelenke aus Pudding, ihre Muskeln nichts weiter als dehnbare Gummifäden und die Sprühdosen mit zentnerschweren Gewichten behangen. Vor Schreck hätte sie beinahe die Dose fallen lassen, doch im letzten Moment packte sie beherzt mit der rechten Hand zu und zwang sich, den Arm oben zu behalten. Er zitterte unkontrolliert und sie biss die Zähne zusammen. Noch eine weitere Auswirkung der Drogen also. Wie sollte sie so halbwegs ordentlich Farbe auftragen?
„Stimmt irgendwas nicht?“, erkundigte sich Sasuke scheinheilig und legte seinen Stift beiseite.
Mit Sicherheit wusste er genau, was nicht stimmte. Er konnte genau sehen, wie sehr Sakuras Arm zitterte, doch auch jetzt wollte sie nicht nachgeben.
„Nein, alles in Ordnung“, widersprach sie ihm knirschend.
Sogar das Sprechen bereitete ihr Probleme. Ihre Zunge fühlte sich seltsam schwer an und gleichzeitig irgendwie wie ein Fremdkörper, der nicht in ihren Mund gehörte. Allmählich breitete sich ein Kribbeln in ihren Fingerspitzen aus und sie schloss die Hand probehalber ein paar Mal zur Faust. Noch gelang es ihr, aber sie hatte den Eindruck, dass es mit der Zeit schwerfälliger wurde.
Eigentlich müsste sie die Farbe wechseln, aber die Verschlusskappen gingen schon so nicht besonders leicht auf. In ihrem Zustand würde sie das garantiert nicht schaffen, also griff sie erneut zu Dunkelrot. Das Ergebnis würde ein wenig abweichen von der Vorlage, die ihr Sasuke gegeben hatte, aber bisher hatte er sich noch nicht beschwert. Wahrscheinlich interessierte er sich gerade sowieso mehr für den Entwurf, den er nun schon seit einer Weile auf seinem Block skizzierte.
Wieder hob sie den Arm an und wieder war er so verdammt schwer. In dem Moment wo sie den Sprühkopf betätigte, verließ sie ihre Kraft und die Dose fiel mit einem lauten Klappern zu Boden, wo sie direkt vor Sasukes Füße rollte. Ihre Atmung ging immer schwerer und sie fühlte sich ausgelaugt wie nach einem Marathon. Schwach. So unglaublich schwach. Dabei wollte sie ausgerechnet vor ihm keine Schwäche mehr zeigen. Sasuke griff nach der Sprühdose und hielt sie einen Moment lang betrachtend in den Händen. Dann legte er den Block beiseite und kam auf sie zu.
Sakuras Beine wurden weich. Das kribbelnde Gefühl breitete sich rasend schnell in ihrem Körper aus und wurde mehr und mehr zu einem Gefühl der Taubheit. Sie hatte das Gefühl jegliche Kontrolle über ihre Muskeln zu verlieren und griff schnell nach der Staffelei, um sich daran festzuhalten. Das Holz entglitt ihren Fingern, die sich gar nicht wirklich geschlossen hatten und sie schwankte. Es lag nicht an ihrem Gleichgewichtssinn, der war völlig intakt. Es waren ihre Beine, die sich plötzlich anfühlten wie Wackelpudding und sich strikt weigerten ihren Befehlen zu gehorchen.
Wenige Sekunden lang gelang es ihr noch, sich aufrecht zu halten, dann gaben sie nach. Ohne etwas dagegen tun zu können, sank Sakura plötzlich nach vorne auf die Knie und hätte Sasuke nicht in dem Moment genau vor ihr gestanden und sie an den Schultern gepackt, wäre das eine außerordentlich unangenehme Kollision mit dem Boden geworden.
„Alles in Ordnung, hn?“, schmunzelte er.
Sakura konnte nicht verhindern, dass ihr Tränen in die Augen traten. Sie fühlte sich so unglaublich hilflos und erbärmlich. Er wusste, dass sie schwach war, es war nicht mehr zu übersehen, und sie hatte es nicht mehr länger geschafft sich zusammenzureißen. Jetzt wollte sie wenigstens nicht auch noch vor ihm anfangen zu weinen.
„Tut mir Leid Sakura, Strafe muss sein“, raunte er.
Sein Blick war ungewöhnlich sanft, fast schon zärtlich. Im Gegensatz dazu hielt er sie fest gepackt, da ihr ganzes Körpergewicht nun auf ihm lastete. Sie hatte die Kontrolle über sämtliche Muskeln verloren und war ihm dadurch komplett ausgeliefert. Würde er sie loslassen, würde sie fallen.
Doch das tat er nicht. Er legte sich einen ihrer Arme über die Schulter und griff dann unter ihrem anderen Arm hindurch. Auf diese Weise schleifte er sie hinüber zu dem Stuhl, auf dem er vor wenigen Sekunden selbst noch gesessen hatte und ließ sie vorsichtig darauf sinken. Es fühlte sich komisch an, wenn die eigenen Füße einfach nur noch wie Klötze hinter einem hergezogen wurden.
Obwohl Sakura nicht in der Lage war, sich eigenständig zu bewegen, spürte sie alles. Er war ihr so nah. Und sie hasste es, dass es sie nicht einfach völlig kalt ließ. Sie hasste es und sie hasste ihn. Vor allem aber hasste sie sich selbst für ihre Schwäche. Noch einmal nahm sie all ihre Kraft zusammen und versuchte, ihren Arm anzuheben, doch es hatte keinen Sinn. Nichts passierte. Es war als würden die Kommandos an ihre Muskeln nie dort ankommen.
Allmählich machte sich Panik in ihr breit und sie schloss voller Entsetzen die Augen. Wie lange würde dieser Zustand anhalten? Würde sie sich überhaupt wieder bewegen können? Im Grunde genommen war sie Sasuke völlig ausgeliefert und er konnte mit ihr machen, was er wollte. Wenn sie nur an die Schreie von dem Typen aus dem Keller zurückdachte, wurde ihr schlecht. Was hatten sie ihm angetan? Würde er ihr das gleiche antun?
Entgegen ihren Erwartungen entfernte Sasuke sich von ihr, als er sie einigermaßen stabil hingesetzt hatte und sich sicher sein konnte, dass sie nicht mehr vom Stuhl rutschen würde. Aus dem Augenwinkel konnte sie sehen, dass er drauf und dran war den Raum zu verlassen und sie wollte schreien. Das würde sie nicht ertragen. Jetzt hier alleine zu sein, möglicherweise stundenlang auf diesem Stuhl zu sitzen, ihr unfertiges Werk anzustarren und keinen Finger rühren zu können. Der Ton blieb ihr im Hals stecken. Nicht einmal schreien konnte sie.
„Sasuke“, hauchte sie flehend.
Er drehte sich noch einmal zu ihr um und warf ihr einen seltsamen Blick zu, den sie nicht definieren konnte. Dann ging er durch die Tür und sie war tatsächlich alleine. Wieder sammelten sich Tränen in ihren Augen, doch auch diesmal gelang es ihr, sie zurückzukämpfen. Es hatte keinen Sinn, jetzt zu weinen. Sie hatte ja noch nicht einmal die Kraft um sich die Tränen anschließend wegzuwischen. Wenn sie sich vorstellte, dass Suigetsu sie so sehen könnte. Der würde definitiv seinen Spaß daran haben und sie diesen Moment nie wieder vergessen lassen.
Sakura versuchte sich auf ihre Wut zu konzentrieren, da sie feststellte, dass es ihr dabei half, die Panik im Griff zu behalten. Wie eine Ertrinkende klammerte sie sich daran fest. Ihre Atmung beruhigte sich ein bisschen, doch gleichzeitig trat auch wieder die Kälte mehr und mehr in den Vordergrund. Sie fror. Obwohl Sasuke die Heizung hochgestellt hatte und es in diesem Raum wahrscheinlich viel zu stickig sein musste, fror sie noch immer.
Sakura hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war. Fünf Minunten, zehn Minuten oder sogar dreißig Minuten. Sie hatte ihr Zeitgefühl völlig verloren und war nur noch darauf fokussiert, nicht vollkommen auszurasten. In ihrem derzeitigen Zustand war sie der Situation vollkommen ausgeliefert und konnte sowieso nichts dagegen unternehmen. Als sie ein Geräusch hörte, versuchte sie trotz besseren Wissens den Kopf zu drehen, um zu sehen, wer da den Raum betrat.
Erst als er sich ihrem Blickfeld näherte, erkannte sie, dass es Sasuke war und schluchzte erleichtert auf. Auf der einen Seite war er der Letzte, den sie sehen wollte, auf der anderen Seite war sie so unendlich froh darüber, dass er zurückgekehrt war. Sie hielt es nicht mehr aus alleine. Keine Sekunde länger. In der linken Hand hielt er eine Decke, die er nun vorsichtig über ihren Schultern ausbreitete, wobei er ihren Oberkörper leicht nach vorne gegen seine Brust lehnte. Er fühlte sich noch immer warm an, aber diesmal war es eine willkommene Wärme, keine unangenehme. Sie wollte sich noch dichter an ihn drängen, es war ihr sogar egal, dass es sich um Sasuke handelte, aber nur wenige Augenblicke später lehnte er sie wieder zurück und zog die Decke vor ihrer Brust zusammen.
„Du bleibst heute Nacht hier“, verkündete er.
Sakuras Augen weiteten sich vor Schreck und wieder versuchte sie zu sprechen, doch es kam nur ein undefinierbarer Laut aus ihrer Kehle. Wenn sie die ganze Nacht alleine auf diesem Stuhl verbringen musste, würde sie noch den Verstand verlieren. Sasuke bemerkte ihren erschrockenen Gesichtsausdruck und fügte noch hinzu: „Naruto wird dich nachher auf ein Zimmer bringen.“
Naruto. Also war er wirklich hier. Ein weiterer kleiner Lichtblick, an den sie sich klammern konnte und sie hoffte nur, dass er sich nicht zu viel Zeit lassen würde. Hoffte, dass sie sich bis dahin wenigstens ein bisschen wieder bewegen können würde und dieser Albtraum endlich ein Ende hatte. Denn genau das war es, ein wahrer Albtraum.
Sasuke ging hinüber zur Staffelei und nahm die Holzplatte ab. Ein dicker dunkelroter Strich verlief quer durch das Logo, an der Stelle, wo ihr die Sprühdose abgerutscht war. Er stellte die Platte in eine Ecke des Raumes mit der bemalten Fläche zur Wand. Scheinbar wollte er sie auch nicht mehr sehen.
„Das muss besser werden“, sagte er dann. „Ich weiß nicht, was ihr die ganze Zeit über gemacht habt, aber das reicht bei weitem nicht.“
Sakura musste plötzlich daran denken, dass er gehört hatte, wie Ino von ihr und Naruto als Paar gesprochen hatte. Sollte seine Aussage eine Anspielung darauf sein? Und glaubte er wirklich, dass die beiden etwas miteinander hatten? Wenn ja, könnte das unter anderem eine Erklärung dafür sein, dass er sich dazu entschieden hatte, sie ab jetzt selbst zu unterrichten, statt es weiterhin Naruto zu überlassen.
Ein heftiger Schüttelkrampf überkam Sakura, sodass die Decke wieder von ihren Schultern rutschte. Sofort spürte sie, wie die Kälte wieder in ihren Körper drang und konnte doch nichts tun, um sich dagegen zu schützen. Sasuke kam auf sie zu und rückte die Decke wieder zurecht. Auf eine verquere Art und Weise war sie ihm dankbar dafür, dass er ihr zur Seite stand, aber auf der anderen Seite hasste sie ihn, weil er für ihren Zustand verantwortlich war. Die ganze Zeit über musterte er sie, ließ sie für keine Sekunde aus den Augen.
Irgendwann ließ er sich schließlich neben sie auf den Boden sinken, den Oberkörper gegen die Wand gelehnt und ein Bein locker angewinkelt. So saßen sie da und schwiegen. Warteten. Diesmal hatte sie das Gefühl, dass die Zeit irgendwie schneller verging. Seltsamerweise beruhigte seine Präsenz sie. Nicht so, wie es bei Naruto meistens der Fall war, sondern auf eine andere Art und Weise, die sich mehr wie Kapitulation anfühlte. Die Erkenntnis, dass sie an ihrer Lage sowieso nichts ändern konnte, brachte sie dazu, ihren Kampf aufzugeben und sich dem Schicksal zu fügen. Müde schloss sie ihre Augen.
Sie wurde davon wach, dass sie plötzlich eine leichte Auf- und Abbewegung registrierte. Sakura hatte überhaupt nicht gemerkt, dass sie eingeschlafen war und erschrak erst einmal, als sie feststellte, dass sie ihren Körper noch immer nicht bewegen konnte. Erst langsam kamen die Erinnerungen an den gestrigen Abend zurück und an die Pille, die sie genommen hatte, um Ino zu schützen. Sie spürte allerdings auch, dass sie nicht mehr auf dem Stuhl saß. Jemand trug sie auf seinem Arm.
„Fuck Sasuke, das war zu hart“, erkannte sie Narutos Stimme. „Was sollte das? Was wolltest du damit testen?“
Er sprach die Fragen laut aus, es klang jedoch nicht so, als würde er tatsächlich eine Antwort erwarten. Eher so als würde er mit sich selbst sprechen. Bei jedem seiner Worte spürte sie die Vibrationen in seiner Brust. Also war er derjenige, der sie trug. Sie blinzelte und öffnete dann schwerfällig die Augen, versuchte gleichzeitig mit einem undefinierbaren Geräusch auf sich aufmerksam zu machen. Naruto erschrak sich so sehr, dass er sie beinahe fallen gelassen hatte.
„Sakura verdammt, erschreck mich doch nicht so“, fluchte er, bemüht sein Gleichgewicht wiederzufinden.
Sie standen in einem der Gästezimmer, die sich ebenfalls im ersten Obergeschoss des Hauses befanden. Naruto ließ sie vorsichtig auf eines der beiden Betten sinken und sah sie eine Weile lang einfach nur an. Dann trat plötzlich ein schmerzvoller Ausdruck auf sein Gesicht.
„Warum zum Teufel hast du mir nicht Bescheid gesagt? Ich hätte dich doch gedeckt, wenn ich es früher gewusst hätte. Sasuke stand plötzlich in der Tür und scheiße man, mir ist auf die Schnelle einfach keine gute Ausrede eingefallen. Ich hab kompletten Mist gelabert und er hat mich voll durchschaut. Und warum hast du dieses Zeug geschluckt? Sasuke würde niemals… er hätte das nicht tun dürfen.“
Er redete so schnell, dass Sakura Mühe hatte, jedes einzelne Wort zu verstehen. Seine Stimme klang rau und gleichzeitig voller Verzweiflung. Noch nie hatte sie ihn schlecht über Sasuke reden hören, doch gerade schien er seine Wut nur mit aller Kraft unterdrücken zu können. Wut. Anspannung. Verzweiflung. Sakura konnte in seinem Gesicht nur allzu deutlich sehen, dass er sich selbst die Schuld an dem gab, was passiert war. Wie hatte sie nur eine Sekunde lang glauben können, dass er sie ans Messer geliefert hatte?
„Es tut mir Leid“, flüsterte sie und versuchte sich an einem Lächeln.
Tatsächlich gehorchten ihr die Muskeln in ihrem Gesicht zumindest zu einem kleinen Teil wieder. Noch immer fühlte sie sich schwach. Erschöpft. Hilflos. Aber jetzt war zumindest Naruto hier und der konnte ihr ein Stückchen von ihrer Kraft zurückgeben. Mit ihm an ihrer Seite würde sie das hier durchstehen. Dieses Martyrium, das Sasuke ganz speziell für sie ausgewählt hatte. Sie würde es durchstehen, um ihm zu zeigen, dass sie nicht schwach war. Sie würde es Ino zuliebe durchstehen. Und sie würde es um ihrer selbst willen durchstehen.
Aber eines stand dennoch fest: Sie würde nie wieder in ihrem Leben Drogen anrühren. Nie wieder.