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Bruderliebe

von

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„Später“, lenkte ich ein, da ich nicht wusste, als was ich Carsten vorstellen sollte und mich auch nicht traute. So zog ich ihn spontan in mein Zimmer und schloss hinter mir die Tür. Er sah mich nur an, sagte aber nichts dazu. Ich hingegen, was mir durchaus bewusst war, hatte meine Mitbewohner einfach mit fragenden Gesichtern stehen gelassen.

„Jaden, alles klar bei dir?“, fragte er mich dann doch nach einer Weile, da er beobachtet hatte, wie ich ziemlich aufgeregt die wenigen Sachen zusammenpackte.

Alles in Ordnung?

Nein, ich war alles andere als in Ordnung; ich war durcheinander, zudem weil ich wusste, dass mein Verhalten eben nicht richtig war. Darum war ich Carsten auch dankbar, dass er vor meinen Bewohnern nicht nachgefragt hatte, warum ich so wenig von uns preisgab.

„Nein, nichts ist klar, ich hätte ihnen sagen sollen, wer du bist“, gab ich nervös als Antwort. Der Drang nach einer Zigarette war wieder allgegenwärtig. Einfach an einem Glimmstängel ziehen und das Nikotin auf sich wirken lassen. Zwar rauchte ich nicht mehr, aber manchmal überkam es mich und ich wünschte mir eine her, aber davon wusste Carsten nichts.

„Du wirst noch den richtigen Zeitpunkt dafür finden. Lass uns weitermachen, okay!“, wirkte er beruhigend auf mich ein und erreichte es tatsächlich immer wieder bei mir, dass ich mich besser fühlte.

Dankbar nickte ich. „Okay.“

Als wir fertig waren, stellte Carsten die kleine beigefarbene Tasche, die er extra dafür mitgenommen hatte, im Flur ab, während ich mich ein letztes Mal in meinem ehemaligen Zimmer umsah. Ein eigenartiges Gefühl überkam mich auf einmal. Mein Jahr in Hamburg mit einem gewissen Abstand zu betrachten, mich an die Stunden vor meinem Selbstmord zu erinnern, oder wie Sabine und Ina sich unterhalten hatten und das Wort ‚Schwuchtel‘ zwischen ihnen gefallen war, all diese Dinge strömten auf mich ein. Warum ausgerechnet ich mich jetzt an all das Negative erinnern musste – keine Ahnung? Meine Gedanken führten ein Eigenleben. Ich konnte es nicht steuern, es war einfach so.

Meine Laune sank auf den Nullpunkt, und ich wollte hier weg, raus aus dem Zimmer, fort aus der Wohnung. Die innere Unruhe nahm zu.

Carsten, der ins Zimmer reinkam, hielt mich auf. „Was ist los?“, fragte er sofort. Sorge lag in seiner Stimme. Ich wollte schon den Kopf schütteln, doch er ließ es nicht zu. „Du bist so weit gekommen? Was ist los?“ Er hatte die Tür hinter sich geschlossen, damit die anderen nichts mitbekamen. Sie waren zwar alle in der Küche versammelt und tuschelten, doch Carsten wollte sichergehen, schließlich wussten sie nichts von meinem gescheiteren Selbstmordversuch.

Ich vertraute mich Carsten schließlich an, als ich seine warme Hand auf meiner Schulter spürte, gab sie mir gewissen Halt.

„Ich hatte etwas mit angehört, an dem Tag, du weißt schon. Das hat mich gekränkt. Ich hab es die ganze Zeit aus meinem Gedächtnis verbannt gehabt. Keine Ahnung, warum es gerade jetzt an die Oberfläche kommt. Warum erst jetzt, und nicht schon beim letzten Mal, als wir hier waren?“

„Du beginnst langsam, all das zu verarbeiten.“

„Meinst du?“

„An was hast du dich erinnert?“, hakte er nach.

„Ach, nichts Wichtiges“, wollte ich schon abwenden, aber Carsten ließ nicht locker.

„An was, Jaden?“ Er blieb beharrlich.

„Ina … Sabine ... an ihr Gespräch, was ich zum Teil belauscht hatte.“

„Und?“

Ich schluckte. „Da war unter anderem das Wort ‚Schwuchtel‘ gefallen. Sie hatten mich gemeint“, gab ich traurig von mir.

Carsten sah mich zuerst ernst, dann nachdenklich an. „Glaubst du das wirklich?“, meinte er. Ich hob die Schultern als Antwort. „Vielleicht hatten sie das aus einer ganz anderen Situation heraus gesagt und es hatte noch nicht einmal etwas mit dir zu tun. Sie wissen doch nicht, dass du homosexuell bist, oder?“

„Nein, wissen sie nicht.“

„Siehst du!“

„Aber wen sollten sie gemeint haben?“, fragte ich schärfer als beabsichtigt.

Carsten schüttelte den Kopf.

„Das glaube ich nicht, schau dir die beiden einmal an, sie waren kurz vorm Weinen, als du gesagt hast, dass du ausziehst. So etwas bekomme ich sofort mit. Ich denke nicht, dass sie dich in ihrem Gespräch damit gemeint hatten. Was hast du denn wirklich gehört?“ Carsten hatte, für mich unverständlicher Weise, die Tür geöffnet. Und als ob er es geahnt hatte, standen Sabine und Ina plötzlich im Flur neben der abgestellten Tasche und unterhielten sich leise. Ich sah, wie sie ihre Köpfe drehten und in unsere Richtung schauten. Ihre Gesichter wirkten tatsächlich traurig. Da wurde mir erst richtig bewusst, dass ich damals vielleicht doch etwas in den falschen Hals bekommen hatte.

Was hatte ich denn wirklich von dem Gespräch mitbekommen? Carsten hatte recht. Beschämt wandte ich den Blick von ihnen ab.

„Sorry, ich neige anscheinend dazu, einiges falsch zu verstehen“, sprach ich im Flüsterton zu Carsten, da ich nicht wollte, dass sie mir zuhörten.

„Nein, bei dir ist nur so viel Angriffsfläche gewesen, das ist alles“, flüsterte er genauso leise. Dann küsste er mich flüchtig auf die Wange, als die Frauen weiter in ihrer Unterhaltung vertieft waren.

Kurz blühte eine Hitze auf meinem Gesicht und mein Herz schlug schnell. Es war ein Gefühl, als ob Carsten und ich etwas Verbotenes getan hätten. Rasch sah ich mich um. Sabine und Ina wirkten nicht so, als hätten sie uns beobachtet, sondern waren weiter in ihr Gespräch vertieft.

„Komm, lass uns gehen“, überspielte Carsten das Ganze. Ich nickte und versuchte, nicht mehr ganz so erhitzt zu wirken. Ina und Sabine drehten sich zu uns, als sie merkten, dass wir zu ihnen kamen.

„Jaden, hast du fertig gepackt?“ In Inas Augen las ich aufrichtige Traurigkeit und abermals kamen Schuldgefühle auf.

Wie konnte ich beide nur so verdächtigen? „Ja, habe ich.“ Beschämt senkte ich mein Haupt und wir gingen in die Küche zu den Anderen. Carsten ließ die Tasche weiterhin im Flur stehen. Sabine bestand drauf, uns zum Abschluss einen Kräutertee zuzubereiten. Wie konnte ich da ablehnen.

„Na gut“, sagte ich schließlich, als wir in der Küche Platz nahmen. So tranken wir einen Kräutertee. Jeder hing seinen Gedanken nach. Keiner traute sich so recht zu fragen, was wirklich passiert war. Warum ich hier mit einem Mann auftauchte, oder woher ich die Miete zahlen konnte? Warum ich darauf verzichtete, bis Ende des Monats noch hier zu wohnen.

All diese Fragen jedoch standen in ihren Gesichtern geschrieben, auch bei den Männern, Benjamin, Daniel und Hagen. Auch sie sahen mich nur stumm an.

Carsten und ich standen von unseren Plätzen auf, als wir den Tee ausgetrunken hatten.

„Danke für den Tee“, bedankte sich Carsten höflich in die Runde.

„Willst du schon gehen, ohne uns eigentlich zu sagen, was los ist?“, fragte endlich einer der Männer. Erstaunt sah ich zu Hagen.

„Ich würde es auch gerne wissen, Jaden“, sprach Ina so leise, dass man sie kaum verstand.

Auf widersprüchliche Art und Weise empfand ich Glücksgefühle, dass ich meinen Mitbewohnern doch nicht egal war. Betroffen sah ich sie alle an. Ina wandte ihr Gesicht ab. Sie hatte Tränen in den Augen. Am Telefon war es ihr nicht anzumerken gewesen, doch hier und jetzt war es deutlich zu sehen. Sabine nahm Ina in den Arm und in diesem Moment konnte ich nicht anders und trat auf Ina zu. Sie war sprachlos über die Nähe, die ich zuließ, als ich sie spontan umarmte, sogar an mich drückte. Gerade ich, der die Nähe die ganze Zeit gemieden hatte, weil ich mir wie ein Stück Dreck vorgekommen war. Ich konnte es auf einmal, weil ich es wollte.

„Ina … ich …“ Meine Stimme versagte. Wir ließen uns los und sie rückte etwas von mir ab.

„Jaden, wir wissen gar nichts über dich! Ein Jahr warst du bei uns und keinen hast du an dich herangelassen“, meinte sie traurig. „Du warst und bist ein Buch mit sieben Siegeln.“

„Da muss ich Ina recht geben, Alter, keiner weiß wirklich was über dich und nun tauchst du auf und willst aus heiterem Himmel ausziehen“, sprach nun Benjamin und wieder erstaunte mich die Reaktion. Mich überkam das Gefühl, reinen Tisch machen zu müssen, das Gefühl, zu sagen, wer ich wirklich war – mich nicht zu verstecken.

Ohne darüber nachzudenken, was für Konsequenzen es hätte, outete ich mich schließlich.

„Ich bin schwul“, sagte ich gradeheraus. „Das war ich schon immer. Ich kam nur selbst nicht damit zurecht, und darum band ich es keinem auf die Nase.“ Dass ich mich in diesem Moment so stark fühlte, hatte ich Carsten zu verdanken, der neben mir stand und mir mit warmen Blicken Mut zugesprochen hatte. Der Spruch: Blicke sprechen Bände!, war hier angebracht und traf voll auf den Nagel. Das Überraschende daran war, es war nicht abgesprochen gewesen, das musste es auch nicht. Ich sah es an seinen Augen, dies hier war richtig. Der richtige Zeitpunkt. Ich sah meinen Retter an, dann in die Runde, in ihren sprachlosen Gesichtern entdeckte ich hier und da gewisse Gefühlsregungen, aber keine negativen.

„Das nenne ich eine Überraschung“, sagte Ina, aber nicht im Bösen.

„Wo wirst du wohnen, bei ihm?“, meldete sich nun Sabine zu Wort, die bis jetzt nicht viel gesagt hatte und an ihren blonden Haaren verlegen herumspielte.

 „Ja, ich ziehe zu ihm – zu meinem Retter.“ Nur warum er mein Retter war, darüber konnte ich noch nicht reden. Das war eine andere Baustelle und hatte mit meinem Outing nichts zu tun.

Carsten lächelte die beiden Mädels und die verdutzten Männer an, die uns weiterhin ansahen, als wenn wir von einem anderen Planeten hierher geschickt worden wären. Besonders als mich Carsten kurz in den Arm nahm, was wir in der Öffentlichkeit bis jetzt vermieden hatten. Ich nahm Carstens Hand, als er mich losgelassen hatte, und drückte sie.

„Also, das freut uns, ähm wirklich – ähm hatte das schon so im Verdacht … Wir bleiben doch in Kontakt?“ Ina sah mich erstaunt aus ihren großen Augen an.

Ja, Frauen konnten einen tatsächlich überraschen, auch wenn aus ihren Mündern immer der Satz: „Ich hatte das alles gewusst“ kam, da waren sie alle gleich und doch war ich mir sicher, dass sie es nicht geahnt hatten, denn dazu waren ihre Gesichter doch zu verblüfft.

„Würde uns freuen, wenn du ab und an mal anrufst und so?“, schloss sich Hagen dazu und beide Männer nickten als Bestätigung und hoben nun die Hand zum Abschied.

„Das bleiben wir.“ Wer hätte das gedacht, dass ich wirklich Kontakt halten würde. Ausgerechnet mit Hagen, der mir nun die Hand schüttelte, mit seiner stattlichen Größe musste ich ziemlich zu ihm aufschauen. Ich drückte noch kurz Sabine, die immer noch ziemlich mitgenommen aussah. Carsten gab jedem still die Hand, hatte sich bewusst dezent zurückgehalten.

Wir verließen meine ehemalige Wohngemeinschaft. Ich hatte ein gutes Gefühl, auch wenn ich ein klein wenig traurig war, so wenig von meinen Mitbewohnern zu wissen.

Was habe ich eigentlich ein Jahr lang gemacht, dass ich nicht merkte, dass ich so etwas wie Freunde hatte? Ich war wirklich tot gewesen.

Verdammter Darian, du hast mir so viel kaputtgemacht.

Auf der Straße nahm mich Carsten sofort in den Arm. Er hatte keine Hemmungen mehr, es zu tun. Es sah für Außenstehende eher nach einer freundschaftlichen Umarmung aus. Man musste nichts heraufbeschwören, die Umwelt reagierte immer noch sehr verhalten darüber, das war auch mir klar.

„Es ist besser gelaufen, als ich dachte“, sprach ich freudig zu Carsten und fühlte mich in seiner Umarmung sehr wohl. Wir ließen uns los und stiegen ins Auto. Ich hatte das Gefühl, in Watte gepackt zu sein. Einerseits war alles noch so unrealistisch, auf der anderen Seite fühlte ich mich super, und gestärkt.

„Dass du dich geoutet hast, obwohl du ausgezogen bist, war ein richtiger Schritt. Ich bin sehr stolz auf dich.“

„Danke, ohne dich ...“ Carsten ging dazwischen, wehrte ab.

„Viele Menschen bekommen eine zweite Chance. Man muss sie nur ergreifen.“ Er startete den Wagen und ich sah nur in seine blauen Augen und lächelte.

 

 

©Randy D. Avies 2012

 



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Veri
2015-08-25T13:13:04+00:00 25.08.2015 15:13
Wow! Ich wünschte, ich hätte das damals auch so sagen können, das ich bisexuell bin !
Das war für mich auch eine harte Sache, traute mich auch nie wirklich was zu sagen, bis ich quasi "erwischt" wurde mit einer Frau (eher einem Mädchen, war damals auch noch nicht so alt :D)
Schönes Kapitel, danke sehr ! :3
Antwort von:  randydavies
25.08.2015 17:43
Oh je, da kann ich mir vorstellen, dass das für dich nicht gerade angehm war, will man es doch irgendwie selbst sagen, wenn man so weit ist und nicht erwischt werden.

Dankeschön! Ich muss nur immer mal schauen, was jetzt genau am Kapitel nochmal war, da ich nur immer schaue ob es ein Adult.Kapitel wird oder nicht... denn diese Geschichte ist schon lange fertig... ;) Bei TC sieht es anders aus, da schreibe ich momentan die Kapitel neu... das wirft einen zurück zumal ich eignetlich an einer Fantasystory schreibe und an einer Entzeitstory und an einer.... nun ja... :D halt an vielem, nur nicht mehr an TC, dachte ich... :)


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