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Down Hill 1: Arrival

Welcome to Hell
von

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Erinnerung

Ein leises Schluchzen war zu hören. Das Weinen eines Kindes… Was? Ein Kind? Ach so, ja… das war ja der Neue, der erst gestern angekommen war und der schon seit seiner Ankunft nachts keine Ruhe gab. Müde rieb er sich die Augen und tastete blind nach der kleinen Nachttischlampe auf der Kommode neben seinem Bett. Nach einer Weile fand er sie auch und schaltete sie ein, woraufhin sein Zimmer mit einem etwas gedämpften gelben Licht erfüllt wurde. Ans Weiterschlafen war sowieso nicht mehr zu denken. Bei dem Geschluchze bekam er eh kein Auge zu. Müde rieb er sich die Augen und versuchte sich wieder ans Licht zu gewöhnen, damit er wenigstens die Augen aufmachen konnte, um zu sehen, was genau los war. Er setzte sich schließlich auf und sah Matt auf der Seite liegen, zusammengekauert und einen wirklich bemitleidenswerten Anblick bietend. Er hatte sein Kissen wie ein Kuscheltier an sich gedrückt und schluchzte leise. Vermutlich versuchte er möglichst ruhig zu sein, um seinen Zimmergenossen nicht aufzuwecken. Nun, was das anbetraf, hatte er es jedenfalls nicht geschafft. Er war etwas klein geraten, etwas zu dünn für sein alter und gerade mal elf Jahre alt. Na in dem Alter konnte man es ja noch verzeihen, wenn man nach dem Tod der Familie so eine Heulsuse war. Und das war es auch, was Mello davon abhielt, ein Theater zu machen, weil der Neue ihn mit seiner Flennerei um den Schlaf brachte und ihn wach hielt. „Mum…“, hörte er Matt leise schluchzen. „Dad… Theo…“ Es war wie ein leiser verzweifelter Ruf nach der Familie. Einer Familie, die man sehr geliebt hatte und die einfach so genommen worden war. Man selbst war ins kalte Wasser gestoßen worden, in die reißenden Fluten der Einsamkeit und musste zusehen, wie man klar kam. Entweder ging man unter, oder ein Rettungsboot fand sich, an welchem man sich festhalten konnte. Mello hatte das Glück gehabt, dass er seiner Familie eh nicht sonderlich nahe stand und gut damit leben konnte, dass sie nicht mehr da war. „Hey…“ Matt schreckte hoch und setzte sich ruckartig auf. Seine Augen zeugten von Angst. Nicht vor Mello, sondern von etwas anderem. Nämlich der KEE, die seine Familie auf dem Gewissen hatte. Immer noch waren die Erinnerungen so präsent, dass er mit der Angst lebte, dass sie ihn holen kommen würden. Ganz offensichtlich war er ein Traumaopfer, wie so manch andere im Waisenhaus. Hastig wischte sich Mellos neuer Zimmergenosse die Tränen weg, aber er konnte trotzdem nicht aufhören zu weinen. „Entschuldige, ich kann nicht… ich kann…“ Es klopfte an der Tür und leise öffnete sie sich. Es war Near. Er wirkte ein klein wenig verschlafen und rieb sich die Augen. „Ich hör euch nebenan. Könntet ihr die Lautstärke ein wenig senken? Ich schreib morgen einen Aufsatz.“

„Verpiss dich Near“, giftete Mello ihn an. „Ist ja nicht jeder so ein Eisklotz. Er ist erst

gestern angekommen, also lass ihn doch.“

„Es ist fast ein Uhr und wir haben morgen wieder Unterricht.“

„Mach dir Ohrenstöpsel rein und fertig aus. Also raus hier!“ Damit verschwand Near und schloss die Tür hinter sich. Allein wenn er Near sah, konnte er ausrasten und am liebsten hätte er dieser kleinen Albinoratte den Hals umgedreht. Naja, jetzt war der erst mal weg und nun konnte er sich um Matt kümmern. Langsam ging Mello zu ihm hin und fragte „Du vermisst deine Familie, nicht wahr?“ Ein stilles Nicken kam zur Antwort. „Ich durfte nicht mal ein Foto behalten. Nicht mal das Bild, wo wir als Familie drauf sind. Ich hab Angst, dass ich mich eines Tages nicht mehr erinnern kann, wie sie aussahen.“

„Man gewöhnt sich hier recht schnell dran“, erklärte Mello und setzte sich zu ihm. „Und weißt du… du hast Glück, dass du hier gelandet bist. Hier hast du mehr Freiheiten, als in einem anderen Waisenhaus und man das machen, was einem Spaß macht. Da wo ich herkomme, herrschen da ganz andere Regeln.“

„Wo kommst du her?“

„Aus Brooklyn. Ich hab vor dem Tod meiner Familie im Ghetto gelebt und kam dann in ein Waisenhaus. Es war echt beschissen dort, aber dann kam Watari und hat mich hergebracht. Im Grunde genommen ist der Laden hier gar nicht mal so übel. Und ignorier diesen Blödmann Near einfach. Seit er hier ist, ist er ein total eiskalter Einzelgänger und redet kaum mit jemandem. Der nimmt sowieso keine Rücksicht, also lass dir von ihm nichts sagen. Wenn du wegen deiner Eltern heulen willst, dann mach es doch. Linda hat zwei Wochen gebraucht, um damit klar zu kommen.“

„Und du?“

„Ich hatte nie wirklich einen Bezug zu meiner Familie. Mein Vater war ein Junkie, meine Mutter starb als ich drei war und meine Schwester war eine Nutte. Also nicht gerade die Traumfamilie. Mein Alter hat sich nie für mich und meine Schwester interessiert, also hat sie mich stattdessen großgezogen. Aber so wirklich viel hat sie mir jetzt auch nicht bedeutet.“

„Das muss sicher traurig gewesen sein, oder?“

Mello sagte nichts dazu, denn er hasste es, über seine Familie oder über seine Gefühle zu reden. In seinen Augen war das Schwäche und er wollte auch nicht wie ein Mädchen erscheinen. Matt schien zu merken, dass sein Zimmergenosse nicht weiter auf das Thema eingehen wollte und ließ es deshalb, weiter nachzufragen. Stattdessen legte er sich wieder hin und zog die Decke fest vollständig über den Kopf. „Nachts, wenn ich Alpträume hatte oder nicht schlafen konnte, ist Theo immer zu mir ins Bett gekommen und hat mich getröstet.“

„Theo?“

„Mein großer Bruder.“

Mello dachte kurz nach, dann schließlich hob er die Bettdecke an und kroch zu Matt ins Bett. Dieser war mehr als verwirrt darüber und verstand nicht, was das plötzlich zu bedeuten hatte. Dieser Junge kannte ihn doch erst seit drei Tagen und so wie er gehört hatte, war er manchmal ein echter Rowdy. Und jetzt auf einmal legte er sich zu ihm ins Bett. „Was… was machst du da?“ „Wenn ich bei dir liege, kannst du dann schlafen?“

„I-ich kann’s versuchen“, murmelte Matt und wischte sich die Tränen weg. „Und du bist sicher, dass…“ „Frag nicht so blöd und schlaf, bevor ich es mir anders überlege.“ Matt konnte es immer noch nicht glauben, aber er war in diesem Moment wirklich sehr glücklich darüber, dass Mello das für ihn machte. Und vielleicht half ihm das ja auch, nicht mehr diese schrecklichen Alpträume zu haben, als die KEE ihr Haus gestürmt und das Feuer eröffnet hatte. Wie er und Theo weggerannt waren und sein Bruder ihm gesagt hatte, er solle allein weitergehen. Es war das Letzte, was Theo zu ihm gesagt hatte, bevor die Kugel ihn in den Rücken traf. Das Blut und die Schreie seiner Eltern… seine Flucht durch die Straßen und die Ängste, die er ausgestanden hatte… Der schreckliche Gedanke daran, dass die KEE auch ihn holen würde. Es war die Hölle gewesen und so wirklich konnte er noch nicht glauben, dass er tatsächlich jetzt in Sicherheit war. L hatte ihn gerettet, ihn hierher gebracht und ihm gesagt „Du brauchst keine Angst zu haben. Hier an diesem Ort kann dir nichts passieren“. L hatte ihn gerettet und er brauchte sich nicht mehr davor zu fürchten, dass die KEE ihn finden und ebenso töten konnte. „Wie ist deine Familie gestorben?“

„Meine Mutter ist an Krebs gestorben, meine große Schwester wurde von ihrem Zuhälter abgeknallt, nachdem mein Alter an einer Überdosis verreckt ist. Danach bin ich in ein Waisenhaus gekommen, aus dem mich L und Watari schließlich rausgeholt haben.“ Mello merkte, wie Matt deutlich ruhiger wurde und schließlich die Augen schloss. Scheinbar half es tatsächlich, wenn jemand bei ihm im Bett lag und er sich nicht so allein fühlte. Na wenigstens half es… zumindest ein bisschen. „Warum machst du das für mich?“ fragte Matt schließlich nach einer kurzen Weile, doch so wirklich wusste Mello auch keine Antwort darauf. Er wunderte sich ja selbst, warum er so etwas tat. Seit er hier war, hatte er sich nie die Mühe gemacht, die anderen Waisenkinder zu trösten, oder ihnen diese Nähe zu geben. Deshalb antwortete er auch ganz einfach „Keine Ahnung.“ Zugegeben, es fühlte sich auch nicht sonderlich schlecht an, als er so bei Matt lag und diesen warmen Körper an dem seinen spürte. Es hatte wirklich etwas Beruhigendes an sich und gab ihm irgendwie das Gefühl von… Geborgenheit… Wann hatte er das letzte Mal so ein Gefühl gehabt? Das musste gewesen sein, als sein Vater ihm den Arm gebrochen hatte, als er mal wieder auf einem seiner Drogentrips war. Deborah hatte ihn ins Krankenhaus gefahren und ihn im Arm gehalten, als er aufgrund der starken Schmerzen geweint hatte. Da musste er sechs Jahre alt gewesen sein. Das war das einzige Mal, soweit er sich erinnern konnte, dass ihn jemand im Arm gehalten oder ihm anderweitig diese Nähe gegeben hatte. Und nun… jetzt war es ein Junge, den er erst seit gestern kannte.

Mello spürte, wie er langsam müde wurde und dabei war, einzuschlafen. Doch da fragte Matt ihn „Mello?“

„Ja?“

„Wie heißt du eigentlich mit richtigem Namen?“ Mello überlegte kurz, ob er es wirklich sagen sollte. Roger hatte ihnen allen immer wieder eingeschärft, dass sie niemals ihre wahren Namen preisgeben sollten. Ihre ganze Vergangenheit war ausgelöscht worden, seit sie in Wammys House waren. Sie alle waren Phantomkinder ohne Identität und so sollte es bleiben. Doch dann entschied er sich, diese eine heilige Regel von Wammys House zu brechen. „Mihael Keehl.“ „Mihael“, murmelte Matt und lächelte müde. „Ein schöner Name. Zumindest… ist er besser als Mail Jeevas.“

„Ach was. Sieh es doch mal so: unsere Vornamen fangen beide Mit M an und hören mit einem L auf. Und unsere Nachnamen haben beide zwei E’s hintereinander.“

„Stimmt, jetzt wo du es sagst. Das ist schon wirklich ein komischer Zufall. Nur komme ich nicht aus Brooklyn wie du, sondern aus New Orleans.“

„Naja, aber es ist immer noch Amerika.“

„Auch wieder wahr. Du sag mal… wenn wir doch eh schon im selben Zimmer sind… wollen wir nicht vielleicht Freunde sein?“

„Klar, kein Problem. Aber nur, wenn du das hier niemandem erzählst, dass ich hier bei dir liege. Ansonsten hau ich dich windelweich!“ Matt versprach es und er schien tatsächlich ein klein wenig glücklicher zu sein. Und so dauerte es nicht lange, bis er eingeschlafen war. Und kurz darauf schlief auch Mello ein. Er schlief so tief und fest, dass er am nächsten Morgen den Wecker gar nicht hörte und er stattdessen von Near geweckt wurde, der sich offenbar gefragt hatte, wieso die beiden noch nicht beim Frühstück waren. „Was liegt ihr beide da im Bett?“ fragte er etwas ungläubig und sofort war Mello hellwach. „Das geht dich einen Scheißdreck an, Near. Und ich schwör dir eines: wenn du das irgendjemandem sagst…“ „Es ist mir eh egal, was ihr da macht“, erklärte der 10-jährige trocken und wandte sich um. „Ich bin auch nur hier, weil Amanda mich geschickt hat. Ihr solltet euch besser beeilen, bevor das Frühstück vorbei ist.“ Damit verließ Near das Zimmer und Matt und Mello beeilten sich, dass sie noch rechtzeitig in den Speisesaal kamen. Tatsächlich schafften sie es noch, schnell etwas zu essen, bevor der Unterricht losging und sie zum Chemiesaal gehen mussten. Da Matt sich nicht im Waisenhaus auskannte, begleitete Mello ihn und erklärte ihm auch unterwegs einiges. Sie setzten sich schließlich gemeinsam an einen der Tische und warteten auf Frau Doktor Bloom, die sie als Biologie- und Chemiedozentin hatten. Sie war eine nette und verständnisvolle Frau und wusste, wie sie mit den einzelnen Kindern umzugehen hatte. Sie war die beste Lehrerin, die Mello je gehabt hatte und er mochte sie irgendwie auch. Nur als Lehrerin versteht sich.

Der Unterricht begann mit der Überprüfung der Hausaufgaben, danach eröffnete ihnen Frau Bloom „Heute werden wir ein neues Thema anfangen. Nämlich das Thema Vererbungslehre. Wer weiß denn, was wir zum Beispiel für Eigenschaften vererben oder vererbt bekommen?“ Ein paar Hände wurden hochgestreckt, auch Mello meldete sich, doch dabei entging ihm nicht, dass Matt auf seinem Platz zusammensank und er den Blick senkte. Er sah aus, als würde er gleich wieder in Tränen ausbrechen. Und das merkte auch Dr. Bloom. „Stimmt etwas nicht?“ „Das ist der Neue“, erklärte Randy, mit dem Mello des Öfteren Fußball spielte. „Er ist erst seit Montag hier.“

„Oh“, rief die Doktorandin und verstand schon, was los war. Sie sah kurz auf ihrer Liste nach und fand den Namen des neuen Mitschülers. „Matt, wenn es zu viel für dich wird, kannst du gerne nach draußen gehen, oder mit einem der Sozialpädagogen sprechen, okay? Wenn es dir nicht gut geht, musst du nur Bescheid sagen.“ Er nickte nur stumm, blieb aber sitzen. Er versuchte, sich zusammenzureißen, doch Mello sah, wie sein Sitznachbar litt. Ausgerechnet jetzt das Thema Vererbungslehre durchzunehmen, wenn die Familie vor den eigenen Augen abgeknallt wurde, war nicht gerade das ideale Timing, aber daran ließ sich jetzt auch nichts ändern. In der Mittagspause ging Mello schließlich in den Speisesaal zusammen mit den anderen. Eigentlich rechnete er damit, dass Matt ebenfalls mitkommen würde, doch dieser verschwand einfach und kam auch nicht mehr zum Unterricht zurück. Er blieb den ganzen Tag verschwunden und selbst zum Abendessen tauchte er nicht auf. Nun, sonderlich neu war so ein Verhalten bei einem Neuankömmling nicht. Viele verkrochen sich in den ersten paar Tagen, um sich die Zeit zu nehmen, den Schock über den Verlust ihrer Familien zu verarbeiten und deshalb ließen auch die Lehrer sehr viel Rücksicht walten. Es war ohnehin vorgesehen, dass die Kinder Stück für Stück in den Alltag des Waisenhauses integriert wurden und dabei auch psychologisch begleitet wurden. Grund dafür war ein Waisenkind vor einigen Jahren, welches Selbstmord begangen hatte, nachdem es den ganzen Leistungsdruck nicht mehr ausgehalten hatte. Solch einen Vorfall wollte man nicht noch einmal haben, weshalb die Kinder in der Anfangszeit psychologisch betreut wurden und danach noch die Hilfe von Sozialpädagogen in Anspruch nehmen konnten. Natürlich gab es einige Kinder, die gut damit umgehen konnten. Near zum Beispiel besaß genug innere Stärke, um mit seinem Dasein als Waise zurechtzukommen, nachdem er sich dazu entschlossen hatte, seine Gefühle zu verschließen und von nun an nur noch rein objektiv zu denken und zu entscheiden. Jeder hatte für sich einen Weg gefunden, um damit klar zu kommen und Matt würde seinen Weg auch noch finden.

In den nächsten Tagen ließ sich Matt kaum noch blicken. Meist verschwand er für mehrere Stunden spurlos und tauchte wenn überhaupt nur zum Abendessen oder zum Frühstück auf. Höchstens am Wochenende kam er aus seinem Schneckenhaus raus und ging mit Mello zusammen in die Stadt. Es war Sommer und sie gingen zusammen ein Eis essen, dann schauten sie beim Game Store vorbei, wo Matt sich neue Videospiele und Konsolen ansah, danach kamen sie an einem Geschäft für Sportausstattungen vorbei. Dabei fiel Matt etwas auf und er blieb am Schaufenster stehen. Mello tat es ihm gleich und fragte „Was ist los?“ Er bemerkte, dass Matts Blick an der Schaufensterpuppe hängen blieb, die aussah wie ein Fallschirmspringer. Sie trug eine Fliegerbrille mit gelbfarbenen Gläsern. Der Elfjährige antwortete nicht auf Mellos Frage, sondern starrte nur auf diese Fliegerbrille. Offenbar erinnerte sie ihn an etwas Bestimmtes, was vermutlich mit seiner Familie zu tun hatte. Dann aber schüttelte er nur den Kopf und meinte „Ach nichts“ und ging weiter. Und kaum, dass sie wieder zurück waren, zog sich Matt wieder komplett zurück und ließ sich kaum noch blicken. Auch den Unterricht schwänzte er. Irgendwann reichte es Mello und so nutzte er die Pause zwischen den Unterrichtsstunden, um nach seinem Zimmergenossen zu suchen. Und er hatte auch eine Idee, womit er seinen neuen Freund vielleicht aufmuntern konnte. Er suchte das Waisenhaus Stück für Stück ab und fand den Rotschopf schließlich in der Bibliothek in der ersten Etage. Zusammengekauert saß er auf dem Boden in einer Ecke und spielte auf einem Nintendo. „Hey“, rief Mello ihm zu und mit einem trüben Blick in den Augen hob Matt den Kopf. Er sah aus, als hätte er wieder geheult. „Was sitzt du hier so rum und versteckst dich? Oder ist es dir peinlich, wenn dich jemand beim Heulen sieht?“

„Ich wein doch gar nicht“, gab Matt zurück, aber man hörte allein schon aus seiner Stimme, dass er gerade noch heftig geweint hatte. „Ich hatte nur was im Auge.“ Die Ausrede hörte Mello nicht zum ersten Mal. Inzwischen waren schon zwei Wochen vergangen und Matt war immer noch eine Heulsuse. Mello seufzte und zerrte ihn hoch. Dann holte er eine Fliegerbrille mit gelbfarbenen Gläsern hervor, die er Matt kurzerhand aufsetzte. Es war jene Fliegerbrille, die Matt bei ihrem Stadtbummel im Schaufenster gesehen und angestarrt hatte. „So“, sagte er schließlich. „Jetzt kriegst du nichts mehr ins Auge. Also hast du auch keinen Grund mehr, Trübsal zu blasen und zu weinen. Also was ist? Gehen wir zusammen in den Speisesaal? Heute ist Pizzatag und so wenig wie du gegessen hast, musst du doch fast verhungert sein.“ Matt sagte nichts, sondern wirkte eher, als könne er nicht verstehen, was da gerade passiert war. Seine Augen wurden groß und mit einem Male war auch diese tiefe Traurigkeit verschwunden, die sich darin widergespiegelt hatte. „M… Mihael…“ „Keine Ahnung, was diese Brille für dich bedeutet hat, als du sie so im Schaufenster angestarrt hast. Aber wenn es dir damit besser geht, dann nimm sie ruhig.“ Immer noch war Matt vollkommen sprachlos und ließ sich von Mello mehr oder weniger mitzerren, der die Bibliothek verließ und den Speisesaal ansteuerte. Doch dann blieb Matt stehen und rief „Warte!“ Abrupt blieb der Zwölfjährige stehen und fragte natürlich „Was ist denn?“ Daraufhin legte Matt eine Hand auf seine Schulter und dann… gab er ihm einen Kuss. Das war nun endgültig zu viel für Mello. Er lief rot im Gesicht an und rief „Was soll der Scheiß? Wieso… das war mein erster Kuss, du Arschloch!!!“ Doch Matt lächelte nur und erklärte „Das war ein Dankeschön.“

„Indem du mir meinen ersten Kuss klaust, du Blödmann? Du hast sie doch nicht mehr alle!“ Normalerweise wäre Mello komplett ausgerastet und hätte ihm eine reingehauen. Ja er hätte ihn ordentlich vermöbelt für diese Unverschämtheit, doch er kam gar nicht erst auf den Gedanken. Das alles war so verwirrend für ihn und er verstand auch gar nicht, was das alles zu bedeuten hatte. Seit wann küsste man sich denn? Oh Mann… entweder war dieser verdammte Matt in einer echt schrägen Gegend aufgewachsen, oder er hatte nicht mehr alle Latten am Zaun. Der war doch echt vollkommen durchgeknallt. Und vor allem verstand er nicht, wieso er auch noch dabei so rot im Gesicht wurde. Als ob es ihm jemals gefallen würde, dass ihn ein Junge küsste. Wenn schon, dann hätte es ein Mädchen sein sollen. Ja genau, ein Mädchen. Doch Matt schien das alles recht locker zu sehen. „Dann sieh es einfach als Freundschaftskuss an. Und der zählt nicht als erster Kuss.“

„Echt jetzt?“

„Klar. In Russland haben sich die Kommunisten doch auch immer gegenseitig geküsst und es hat nicht gezählt.“

„Also gut. Aber mach so etwas nie wieder, klar? Ich meine, das ist doch ekelhaft!“

„Wenn du meinst“, meinte Matt nur mit einem Achselzucken und folgte Mello in den Speisesaal. Von dem Tag an hatte Matt nie wieder geweint oder sich verkrochen. Zwar schwänzte er hin und wieder mal den Sportunterricht und saß lieber im Haus und spielte Videospiele, anstatt draußen mit den anderen zu spielen. Das änderte aber nichts daran, dass er sich weiterhin an Mello hielt. Sie teilten sich ein Zimmer, sie lernten zusammen und saßen auch im Unterricht immer nebeneinander genauso wie bei den Mahlzeiten. Sie waren wirklich unzertrennliche Freunde geworden und auch wenn Matt sich mit diesem Kuss eine echt merkwürdige Aktion geleistet hatte, akzeptierte Mello ihn weiterhin als seinen besten Freund. Er versuchte es als einfachen Kuss unter Freunden abzutun und die Sache damit einfach zu vergessen. Aber komischerweise bekam er jedes Mal ganz merkwürdiges Herzklopfen, wenn er an den Kuss zurückdachte.



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