Liebesbeweise
„Warum musst du ausgerechnet heute frei haben?“, stöhnte Etsuko genervt und machte ein paar Getränke fertig.
„Du weißt doch, dass ich heute eine Verabredung habe“, antwortete sie ein wenig empört und betrachtete ihr schickes Sommerkleid.
Etsuko verrollte nur die Augen, stolzierte mit den Getränken an ihr vorbei, um einen Augenblick später an die Bar zurückzukehren.
Sie verschnaufte kurz und sah verschmitzt zu Mimi, die verträumt auf ihre Armbanduhr schielte.
Tai würde bald auftauchen und gemeinsam mit ihr ins Theater gehen. Er hatte tatsächlich Karten für Alice im Wunderland besorgt und wollte anschließend bei ihr übernachten, weil ihre Mutter auf einer Fortbildung war.
„Ich freue mich wirklich für dich“, sagte Etsuko auf einmal und wischte über die Theke.
„Danke“, murmelte sie und schielte augenblicklich zu Daigo, der nur ein paar Meter von ihnen entfernt stand. Auch Etsuko warf ihm einen kurzen Blick zu, wandte sich aber verhältnismäßig schnell wieder von ihm ab, was Mimi stutzig werden ließ.
Sie beugte sich ein wenig vor und sah Etsuko fragend an. „Wie läuft es denn bei euch?“
Ihre Augen huschten von Daigo hin und zurück, sodass sie verstand wen sie mit „euch“ meinte.
Etsuko lächelte nur verhalten, bis sich eine verbitterte Miene auf ihr Gesicht schlich.
„Ich glaub‘ ich bin nicht so der Beziehungsmensch“, antwortete sie nur und ließ das Unverständnis in Mimi wachsen.
„So ein Quatsch, was redest du dir da ein?“, hakte sie argwöhnisch nach, blickte kurz zu Daigo, der den beiden Mädchen ein zaghaftes Lächeln schenkte. „Hast du das gesehen? Er steht voll auf dich!“
„Das weiß ich auch“, knurrte sie und klang genervt.
„Und warum schlappst du ihn dir nicht einfach?“ Das Unverständnis war aus ihrer Stimme herauszuhören.
„I-Ich…ach keine Ahnung“, redete sie sich heraus und strich ein paar Strähnen ihres pinken Haares hinter die Ohren.
Verständnislos runzelte die Mimi die Stirn und wollte gerade etwas sagen, als sie spürte wie sich zwei starke Arme um sie legten.
Etwas erschrocken fuhr sie zusammen, lächelte aber, als sie Tais Gesicht erblickte.
„Hey, du hast mich ganz schön erschreckt“, tadelte sie ihn, sah ihn allerdings liebevoll an, als er ihr einen Kuss auf die Wange hauchte.
„Was denn, ich wollte dich nur überraschen“, meinte er und kitzelte sie leicht.
Mimi begann zu kichern, als Etsuko nur einen genervten Laut von sich gab. „Könnt ihr nicht woanders süß sein? Mein Mittagessen wandert schon nach oben.“
Mimi warf ihr einen giftigen Blick zu, den sie jedoch nur traurig erwiderte. Sie wurde auf einmal ganz nachdenklich, besonders als Taichi ihr ins Ohr flüsterte, was mit Etsuko heute los war.
Sie konnte sich selbst keinen Reim darauf bilden. Nur ein einziges Mal hatte sie sie so komisch erlebt…
„Na los, geht schon! Das war nicht so gemeint! Habt Spaß“, sagte sie schnell und legte ein gequältes Lächeln auf.
Mimi löste sich aus Tais Umarmung und ging auf Etsuko zu. „Wenn dich etwas bedrückt, kannst ruhig mit mir reden. Ich weiß, dass ich nicht Noriko bin, aber ich kann gut zuhören“, schlug sie ihr vor und legte ihre Hand auf ihre.
„Danke“, flüsterte sie ihr entgegen und zog sie etwas näher an sich heran. „Er sieht heute echt verdammt gut aus. Ich hoffe, ihr habt einen wundervollen Abend.“
Mimi lächelte, sah kurz zu Tai, der auf sie wartete.
Etsuko hatte Recht. In seinem weißen Hemd und der engen schwarzen Jeans sah er einfach zum Anbeißen aus.
„Wir sehen uns“, verabschiedete sich Mimi zwinkernd und eilte zu Tai, der sofort ihre Hand nahm und seine Finger mit ihren verschränkte.
Gerade als sie aus der Tür hinausgingen, blieb Mimi nachdenklich stehen und erhaschte so Tais Aufmerksamkeit.
„Hast du drinnen etwas vergessen?“, fragte er nach, doch Mimi schüttelte den Kopf.
Sie verfestigte den Griff um seine Finger, presste angespannt die Lippen aufeinander und sah ihn erwartungsvoll an. „Können wir noch einen kleinen Zwischenstopp einlegen?“
_
Eine unangenehme Stille breitete sich aus, als beide auf das vor ihnen liegende Grab starrten.
Mimi hielt seine Hand fest umschlossen, erinnerte sich daran, dass sie schon eine Ewigkeit nicht mehr hier gewesen war.
Sie umfasste mit der anderen Hand ihre Herzkette, die sie heute bewusst angezogen hatte.
„Du vermisst sie sicher“, durchdrang seine tiefe Stimme die Stille.
„Mehr als ich jemals erwartet hätte“, antwortete schwach und spürte wie er ihre Hand losließ, um sie in den Arm zu nehmen.
Er hauchte ihr einen Kuss auf die Schläfe, während sie sich an ihm anlehnte.
Tai gab ihr den nötigen Halt, den sie brauchte, um nicht zusammenzubrechen. Mimi war schon länger nicht mehr an ihrem Grab gewesen, da sie es nicht ertrug zu wissen, dass sich ihre Schwester, ihr eigen Fleisch und Blut, unter der Erde befand. Nur noch Staub und Knochen war und lediglich in ihrer Erinnerung existierte.
Je länger sie den Grabstein anstarrte, desto bewusster wurde ihr, dass sie weg war. Dass sie nie wiederkommen würde und sie verlassen hatte.
Ein unbeschreiblicher Schmerz fuhr durch ihren Körper, als sie bei ihrem Namen hängen blieb.
Noriko Tanaka.
Sie presste schmerzerfüllt die Lippen aufeinander, erinnerte sich daran als Norikos Mutter von der Hochzeit erfahren hatte.
Sie war nicht böse geworden, schien lediglich nur überrascht zu sein. Ayame erzählte, dass sie ihren Wunsch kannte, einmal in ihrem Leben heiraten zu wollen. Dass sie im Kindergarten schon oft Braut und Bräutigam spielte und erzählte, dass sie mal eine wunderschöne Braut sein wollte.
Sie war dankbar, dass sie Norikos Herzenswunsch erfüllt hatten, sodass sie Chiaki ebenfalls einen Wunsch erfüllte.
„Noriko und Chiaki haben kurz nach seinem achtzehnten Geburtstag geheiratet, weil sie es sich so sehr gewünscht hatte“, schwelgte sie verträumt in Erinnerungen, wirkte aber gleichzeitig verbittert.
„Sie sah unfassbar schön aus, auch wenn wir kein richtiges Hochzeitskleid gefunden hatten. Sie war einfach glücklich und hatte bis über beide Ohren gestrahlt.“
Tai verstärkte den Griff um sie und blickte nachdenklich nach vorne. „Steht deswegen Tanaka auf ihrem Grabstein? Du meintest ja mal, dass sie Yamaguchi hieß.“
Mimi lächelte milde und strich sich ein paar aufkommende Tränen aus dem Gesicht.
„Ihre Mutter meinte, sie hätte es sicher so gewollt.“
„Sie hat ihn wirklich geliebt, oder?“, hakte Tai nach.
„Mehr als alles andere auf der Welt. Sie waren wirklich ein süßes Paar und er…“, sie stoppte abrupt, als sie daran dachte, dass Chiaki mit dem Verlust nur sehr schwer zurechtkam. „Er…er wird sie immer lieben.“
Tai sah sie einen kurzen Moment intensiv an und schien nicht wirklich zu wissen, was er darauf antworten sollte. „Ich…“
Er setzte an, brach jedoch nach wenigen Sekunden wieder ab. Er schüttelte den Kopf, während Mimi verwirrt dreinblickte.
„Was ist denn?“, fragte sie ihn, als sie sein gedankenverlorenes Gesicht bemerkte.
„Nichts…“, beeilte er sich zu sagen und wandte den Blick von ihr.
Er ließ sie nicht los, doch etwas schien ihn zu bedrücken. Es irritierte sie, dass er sich auf einmal so komisch verhielt, während sie über ihre Schwester sprachen.
Er hatte sie doch nur einmal gesehen. Oder gab es etwas, was sie noch nicht wusste?
Hatte Noriko vielleicht doch irgendwie ihre Finger im Spiel gehabt?
_
Auch wenn ihre Stimmung einen kleinen Dämpfer erhielt, schafften sie es noch rechtzeitig ins Theater. Allmählich hob sich ihre Laune wieder, auch wenn Mimi Noriko immer noch im Hinterkopf hatte.
Sie fragte sich, ob sie genau in diesem Moment hier war und sich gemeinsam mit ihnen das Theaterstück anschaute.
Auch wenn es auf Englisch war und Tai so seine Schwierigkeiten hatte, alles zu verstehen, verbrachten sie eine wundervolle Zeit zusammen.
Die Geschichte der Heldin ihrer Schwester wurde weitererzählt und zeigte nun eine viel ältere, aber immer noch genauso neugierige Alice, die vieles von damals vergessen hatte.
Gemeinsam mit dem verrückten Hutmacher und der Grinsekatze kämpften sie gegen die Herzkönigin, die die Macht an sich gerissen hatte.
Ein Abenteuer voller bunter Fabelwesen und der inneren Intension, niemals aufzugeben, zeigten Mimi, warum Noriko Alice so sehr bewunderte.
Vielleicht gab es auch einen Ort wie Wunderland, wo alle verrückten Träume und Wünsche wahr wurden. Vielleicht hatte Noriko ihn sogar gefunden.
Nach der Vorstellung machten sie sich sofort auf den Nachhauseweg, da Mimi bereits sehr müde war. Sie brauchten gut fünfundzwanzig Minuten mit der U-Bahn bis sie bei ihr zu Hause ankamen.
Mimi machte sich zuerst fertig, putzte ihre Zähne und schlüpfte in ihrem Schlafanzug, als sie danach langsam in ihr Zimmer trottete.
Tai begegnete ihr auf halbem Weg, drückte ihr einen kurzen Kuss auf den Mund und verschwand ebenfalls im Badezimmer.
Ausgelaugt kroch Mimi auf ihr Bett, legte sich auf den Bauch und kuschelte sich in ihr Kissen. Genüsslich schloss sie ihre Lider, während die schönsten Momente des Tages vor ihrem inneren Auge vorbeizogen und Glücksgefühle durch ihren Körper wandern ließen.
Sie kam langsam zur Ruhe, atmete entspannt und drohte schon einzunicken, als sie plötzlich einen dumpfen Schlag hörte und sich ein brennender Schmerz auf ihrem Po ausbreitete.
„Aua!“, brüllte sie und hielt sich den Hintern.
Wütend sah sie nach oben und bemerkte Tai, der sie keck angrinste und sich zu ihr aufs Bett warf.
„Du bist so ein Idiot“, giftete sie bedrohlich und setzte sich auf. „Das wird bestimmt rot.“
„Ganz ehrlich, du hast es herausgefordert“, erwiderte Tai nur grinsend, während Mimi auf einmal glockenhell wach war.
„Du…“
Doch weiter kam sie nicht, da er sich auf sie stürzte und wild anfing zu kitzeln. Mimi krümmte sich vor Lachen, da sie sehr empfindlich war. Sie strampelte heftig umher und versuchte sich zu wehren, doch er war viel stärker als sie.
„Tai…hör bitte auf…ich bekomme keine Luft mehr“, sagte sie unter Tränen, als er langsam von ihr abließ und sich neben sie legte.
„Du hältst auch nichts aus, Tachikawa“, spottete er überheblich.
„Das ist gemein, du hast mich einfach ohne Vorwarnung angegriffen“, schmollte sie, wie ein kleines Mädchen, was ihm ein Lächeln ins Gesicht trieb.
„Du bist so unglaublich süß, wenn du das machst“, sagte er nur und küsste sie unvermittelt.
Bevor sie den Kuss weiter intensivieren konnte, hatte er schon von ihr abgelassen und drückte seine Stirn gegen ihre.
„Mein Vater feiert bald seinen Geburtstag…“, begann er leise und schielte auf ihre Lippen, die er mit dem Daumen sanft berührte, „…ich würde dich echt gerne mitnehmen und dich offiziell vorstellen, also natürlich nur, wenn du willst.“
Etwas perplex starrte sie ihn an, lächelte aber sofort und schlang die Arme um ihn.
„Ich würde dich echt gerne begleiten“, sagte sie zaghaft und verdrängte das Gespräch, dass sie vor kurzem mit Yolei und Kari hatte. „Hast du ihnen denn schon von mir erzählt?“
„Natürlich“, raunte er und zog sie in eine liebevolle Umarmung.
„Was denn?“, wollte sie wissen und sah ihn erwartungsvoll an.
Sie spürte das Pochen ihrer beiden Herzen, so als würden sie im Einklang miteinander schlagen.
Sein Gesicht veränderte sich und seine Miene wirkte auf einmal sehr ernst, als er ihr ein paar Strähnen aus dem Gesicht strich.
„Erinnerst du dich an die SMS, die ich dir mal geschrieben, du aber nicht gelesen hast?“
Verwundert über seine Frage, nickte sie nur, konnte aber nicht ganz nachvollziehen, was er ihr damit sagen wollte.
„Ich musste vorhin irgendwie daran denken und das ich im Nachhinein ganz froh bin, dass du sie nicht gelesen hast“, meinte er nachdrücklich, während Mimi einen verwirrten Blick aufsetzte.
„Warum? Was hast du geschrieben? War es gemeiner, als die SMS davor?“
Sie erinnerte sich noch genau daran, was sie in diesem Moment gefühlt hatte. Wie sauer sie auf ihn war und wie sehr er sie verletzt hatte.
„Nein, das nicht. Aber es war unüberlegt, dass zu schreiben, weil es einfach nur verdammt unromantisch war und ich jetzt immer noch die Gelegenheit habe, es dir persönlich zu sagen.“
Mimi setzte sich auf und legte den Kopf schief.
„Du hast dich doch früher immer über Romantik beschwert“, unterstellte sie ihm, obwohl sie wusste, dass er sehr romantisch sein konnte.
„Ich weiß, aber das hat sich halt durch dich verändert“, druckste er herum, setzte sich ebenfalls auf und spielte an der Schleife ihres Oberteils.
„Was hast du denn damals geschrieben?“, bohrte sie nach, da es sie einfach nicht losließ.
Tai senkte den Kopf und nuschelte etwas vor sich hin, was sie allerdings nicht verstand, weshalb sie etwas näher an ihn heranrutschte.
„Was hast du gesagt?“
Er hob sofort den Kopf an und war prompt rot angelaufen. „Ich…ach verdammt. Hör auf mich so anzugucken“, meinte er wehleidig.
„Ach, stell‘ dich nicht so an. Ich gucke doch immer so.“
„Aber, dass macht es nicht leichter“, grummelte er etwas genervt und fuhr sich durch seine wilde Mähne.
„Tai…“
„Ich habe damals geschrieben, dass ich dich verdammt nochmal liebe“, platzte aus ihm hervor, als er gleichzeitig peinlich berührt den Kopf senkte.
Mimi klappte der Mund auf, als eine Welle der Gefühle auf sie zugesteuert kam, die sie nicht kontrollieren konnte. Er hatte gerade gesagt, dass er sie liebte.
„Es war so unpassend, da ich es dir lieber persönlich sagen wollte, aber an dem Tag hatten wir uns gestritten, wie so oft…und als wir vorhin am Grab gestanden haben, ist mir eingefallen, dass ich es mich bisher noch nicht getraut habe zu sagen. Ich weiß auf nicht warum. Irgendwie fühlt man sich dabei so nackt“, murmelte er vor sich hin.
Liebevoll sah sie zu ihm, presste ihre Lippen aufeinander, um sie ein wenig zu befeuchten, als sie sich in seine Arme legte und ihm einen emotionsgeladenen Kuss auf die Lippen hauchte.
Er konnte nicht ahnen, wie glücklich er sie damit machte.
Natürlich wollte sie diese drei Worte von ihm hören, jedes Mädchen wünschte sich das.
Doch es war schwer den richtigen Zeitpunkt abzuwarten. Sie spürte, dass ihre Gefühle im Einklang miteinander waren, dass er nur Augen für sie hatte, aber es zuhören, machte es nochmal besonders schön.
Schwer atmend löste sie sich von ihm, als sie zaghaft über sein markantes Gesicht strich.
„Ich liebe dich, so sehr“, murmelte er und legte seine Lippen wieder auf ihre.
Mimi krallte ihre Finger in sein T-Shirt und legte sich über ihn, als die puren Glücksgefühle durch ihren Körper tanzten. Sie lächelte in ihre Küsse, konnte den Blick nicht von ihm wenden und schmiegte sich fest an ihn.
„Ich liebe dich auch“, nuschelte sie gegen seine Lippen, als er etwas von ihr abgelassen hatte.
Doch ihr Geständnis veranlasste ihn dazu, sie noch näher an sich zu drücken. Er vertiefte den nächsten Kuss, indem er sanft mit seiner Zunge in ihre Mundhöhle glitt und seine Hand hinter ihrem Nacken vergrub.
Mimi war wunschlos glücklich. Nach diesem Abend standen sie sich noch näher als zuvor. Sie liebte ihn bedingungslos, sodass sie froh war, es ihm endlich auch ohne Bedenken sagen zu können.