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Under your wings

von

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Prolog

Er hatte sich leise in den Trainingsraum geschlichen und sich auf die Bank gesetzt, die für Besucher reserviert war. Die Luft hier im Raum war stickig, warm und roch nach Schweiß und anderen Dingen, die er nicht definieren konnte. Es war das erste Mal, dass er nun hier war. Aber er hatte seiner Schwester versprochen, sie nach dem Training abzuholen. Seitdem dieses neue Sportsstudio aufgemacht hatte – Material Arts – verbrachte sie beinahe jede freie Minute hier. Er hatte von ihr gehört, dass der Trainer zwar ein Arschloch, aber ein verdammt guter Lehrer sei.

Eren hatte sich nie etwas darunter vorstellen können, aber jetzt wo er hier war, die vielen Menschen in diesem Raum sah und Teil der Atmosphäre war, verstand er, was sie meinte. Hier herrschte Disziplin. Keine lauten Worte und Tiefschläge. Für einen Kampfsportverein war es sogar recht ruhig hier.

Es dauerte einige Momente, bis er Mikasa unter all den anderen ausgemacht hatte. Sie war mehrere Jahren Mitglied in einem Muai-Thai-Club gewesen und hatte vor drei Jahren auch mal Kendo begonnen. Doch letztlich war sie hier gelandet, nachdem diese Örtlichkeit vor zwei Monaten ihre Pforten geöffnet hatte. Eigentlich hatte Eren schon früher einmal hierher kommen wollen – um seiner Schwester beim Training zuzusehen und sie letztlich nach Hause zu fahren. Aber es hatte wegen der Schule nie geklappt.

Eren lehnte sich zurück, überschlug die Beine und ließ seinen Blick durch den Raum gleiten. Es war so etwas wie eine alte Lagerhalle. Man gelangte hierher, wenn man zwischen den Häusern einen schmalen Pattweg lief. Die damalige Einfahrt war inzwischen mit Doppelgaragen zugebaut worden, da der Lebensmittelladen nicht mehr existierte, der diese Halle genutzt hatte. Eren kannte den Laden noch, war er doch damals mit seiner Mutter immer hierher gefahren, um den Wocheneinkauf zu erledigen. Aber dann hatte ein großer Discounter im Herzen der Stadt aufgemacht und die kleinen Läden in der Umgebung somit zur Schießung gezwungen. In dem Ladengeschäft war nun ein Modeladen mit Designerklamotten und die Halle war von jemanden gemietet worden, der erst seit kurzem hier in der Stadt war.

Eren kannte den Kerl nicht. Er hatte es eben nur von der Hausbesitzerin gehört, die die Halle vermietet und eine gute Familienfreundin war und eben von Mikasa.

Ein heller Pfiff riss ihn aus einer Gedankenwelt und er bemerkte, dass alle im Raum Anwesenden ihre Tätigkeiten einstellten und sofort ihre Köpfe in Richtung des Pfiffs drehten. Eren lehnte sich etwas zur Seite, um auch einen Blick auf die Person zu erhaschen und hob die Augenbrauen. Ein, im Vergleich zu den anderen im Raum, kleiner Mann um die fünfundzwanzig – so schätzte Eren ihn altersmäßig ein – begann durch die Reihen zu laufen, die sich bildeten. Die Atmosphäre wandelte sich. Disziplin hing noch immer im Raum, aber die unglaubliche Dominanz des Mannes webte sich dazwischen. Die körperliche Größe schien hier kein Problem zu sein. Allein die Körperhaltung sagte so einiges über den Trainer dieser Schule aus. Das schwarze Haar mit dem Undercut wirkte auf den ersten Blick militärisch, aber Eren wusste, dass die Marines und auch jede andere Einheit der Armee definitiv derart langes Haar nicht zulassen würde. Zwar reichte es gerade über die Ohren, aber es fiel in die Stirn und Eren wusste, wie es in der Armee zuging. Er hatte sich selbst gemeldet, war aber aus mehreren Gründen ausgemustert worden. Wahrscheinlich eher wegen seinem Vater – als Arzt hatte dieser sicherlich ein paar Dinge gedreht…

Erens Blick glitt über die drahtige Gestalt des Mannes. Das schwarze Tanktop spannte über die Brust und unter dem dünnen Stoff erkannte man die definierte Brust- und Bauchmuskulatur, und auch die Arme des Mannes wiesen daraufhin, dass man sich mit ihm definitiv nicht anlegen wollen würde. Die weiße Jogginghose hing tief auf der schmalen Hüfte und war an den Knöcheln umgeschlagen, da sie scheinbar zu lang war. Eren schätzte Mikasas Trainer auf etwas um die eins sechzig, vielleicht mehr, vielleicht etwas weniger. Und als der für ihn Fremde vor seiner Schwester stehen blieb, musste dieser sogar zu ihr aufsehen. Es fielen ein paar leise Worte und er erkannte, wie sich das Gesicht seiner Schwester verzog und so etwas wie Wut über ihre Augen huschte, doch sammelte sie sich schnell wieder und ließ sich nichts anmerken. Erst dann drehte sich der Mann wieder um, schritt nach vorn und stellte sich vor dem Karree auf, die Arme hinter dem Rücken verschränkt.

„Wenn ich noch einmal jemanden von euch erwischte, der sich vor meiner Halle prügelt, der wird den nächsten Tag nicht erleben“, hallte es dunkel durch den Raum und eine dumpfe Stille legte sich daraufhin über die Anwesenden. Selbst Eren bekam ein flaues Gefühl in der Magengegend.

„Ihr könnt euch im Ring auf den Wettbewerben und den Turnieren schlagen, bis die Knochen brechen. Das ist mir scheiß egal. Aber wenn einer von euch dämlichen Blagen meint, mir die Bullen auf den Hals zu hetzen, weil meine Vereinsmitglieder einander tot schlagen, dann hole ich euch persönlich aus der Hölle zurück um euch erneut hineinzuschicken, haben wir uns da verstanden?“

Ein eingeschüchtertes, aber einsichtiges: „Ja“ ging durch die Reihen und doch behielt der Trainer diesen stoischen Ausdruck auf dem Gesicht.

„Geht.“

Die Reihen lösten sich langsam und verteilten sich in die Seitenräume, die jeweils mit D-Kabine und H-Kabine gekennzeichnet waren. Nur Mikasa nahm ihr Handtuch vom Seitenrand, hängte es sich über die Schultern und trat auf Eren zu.

„Hallo.“

„Hi“, kam es lässiger von Eren zurück, als er aufstand. Er wollte die schlechte Laune von seiner Adoptivschwester irgendwie heben. Immerhin spürte er, dass was auch immer ihr Trainer ihr gesagt hatte, an ihr nagte. Und auch ihre Art ihn zu begrüßen war etwas steif.

„Ackermann.“ Mikasa wandte den Blick über die Schulter und schien sich ein Seufzen zu verkneifen. Ihr Trainer wirkte nicht mehr ganz so missstimmt, wie noch gerade bei der kurzen Aufstellung, doch diese dunkle, schwere Aura umgab ihn noch immer.

„Eren, das ist Levi Rivaille. Levi, das ist mein Bruder Eren.“

„Das?“ Levis Blick glitt an Eren runter und wieder hoch. „Aha.“ Eren hingegen hielt streckte die Hand aus. „Freut mich, Sie kennen zu lernen.“ Er hatte immerhin Umgangsformen gelernt, an die er sich halten wollte, um seine Schwester hier nicht vor diesem fast schon unheimlichen Typen zu blamieren.

„Lass den Quatsch.“ Dennoch ging Levi auf die Geste ein und erwiderte den Händedruck mit einer solchen Intensität, dass Eren glaubte, sein Handknochen würde brechen. Nur versuchte er keine Miene zu verziehen. „Levi.“

Eren sah zu dem anderen hinunter. Er selbst war nun eins achzig und Levi reichte ihm gerade bis zur Schulter. Oh er ist winzig. Damit hatte er eigentlich nicht gerechnet und unter anderen Umständen hätte er sogar zu lachen begonnen. Aber jetzt traute er sich nicht einmal einen Blick zu lange auf Levi zu legen, da er glaubte sonst dem Schöpfer persönlich gegenüber treten zu müssen.

„Was wolltest du von mir?“, wandte sich Mikasa jedoch an Levi um eine weitere, vielleicht doch peinliche Situation zu vermeiden.

„Du warst heute nicht bei der Sache.“

„Ich habe mich bereits entschuldigt“, kam es recht düster von seiner Schwester und Eren konnte nicht anders, als zwischen diesen beiden hin und her zu blicken. Sie wirkten auf den ersten Blick wie … Verwandte. Die dunklen, schwarzen Haare und derselbe harte Blick.

„Du sollst mit mir reden, wenn etwas ist.“

„Ich rede mit meiner Familie über meine Probleme und nicht mit meinem Trainer.“ Damit wandte sie sich ab, deutete mit der gehobenen Hand an, dass sie nur fünf Minuten bräuchte und ließ Eren dann mit Levi allein. Schweigen legte sich über die beiden und Eren war am überlegen, ob er nicht lieber vor der Halle warten sollte oder einfach so tun, als wäre Levi nicht da. Letzteres wäre aber unglaublich unhöflich und … das wollte er nicht. Aber auf der anderen Seite wollte er einfach nur weg von hier. Die Gegenwart des anderen Mannes machte ihn nervös – jedoch auf eine Art und Weise, die der Angst nicht gerade fern war. Für ihn war es grauenvoll, neben jemanden zu stehen und nichts zu haben, über das man reden konnte. Bei Mikasa war es anders. Sie kannte er mehr als sein halbes Leben und wusste, wie sie war. Er kannte sie eben. Bei seinen Freunden waren Schweigeepisoden auch kein Problem, aber bei einem völlig Fremden, dessen ganze Haltung pure Abweisung zeigte war Eren unsicher. Und das hasste er wie nichts anderes. Unsicherheit, Versagen und unnützlich sein waren die schlimmsten Dinge, die ihm passieren konnten. Er war ohnehin nie ein Meister darin, mit unbekannten Situationen klar zu kommen und diese gerade überforderte ihn auch.

Abgesehen davon fragte er sich ohnehin, warum Levi noch hier war und sich nicht selbst in die Umkleide begab. Es war bald sechs Uhr durch.

„Warum bist du hier?“

„Hm?“

Ein genervtes Seufzen kam von Levi zurück. „Ich fragte, warum du hier bist.“

„Ich wollte Mikasa abholen“, gab er ehrlich zurück und machte einen kleinen Schritt zur Seite, um mehr Abstand zwischen ihn und Levi zu bringen. Bei dessen Tonlage glaubte er, dass der Trainer nicht gerade geduldig schien. Zumindest nicht heute. Der erwähnte Zwischenfall hatte wohl an dessen Geduld gezogen und gezerrt. Allein der Gesichtsausdruck und der Blick verrieten, dass falsche Worte heute eventuell tatsächlich tödlich sein könnten.

Bis zum heutigen Tag hatte er nie solchen Respekt einer einzigen Person gegenüber empfunden. Nicht einmal seinem eigenen Vater gegenüber.

„Aha. Also kein Interesse an einem Beitritt?“

„Ich glaube es gibt bereit genug Mitglieder.“ Abgesehen davon hatte er keine Lust, sich hobbymäßig den Kopf einschlagen zu lassen. Da hatte er dann doch schmerzfreiere Vorstellungen von Freizeitgestaltung.

„Eren.“

„Ich muss. Man sieht sich.“ Hoffentlich nicht wieder. Vor allem war Levi die Art von Mensch, der man nicht nachts allein in einer Gasse begegnen wollte. Auf ihn wirkte Mikasas Trainer wie Massenmörder, ein Foltermeister, ein Dämon … Alles, aber auf jeden Fall nichts Gutes. Mit einem kurzen Handheben wandte er sich von Levi ab und folgte Mikasa durch den Hauptausgang und zwischen den Häusern her, bis sie vor einem schwarzen Audi stehen blieben. Per Fernbedienung öffnete Eren den Wagen und zog die Kofferraumhaube auf, damit Mikasa ihre Tasche hineinlegen konnte. „Kleiner Wichser.“

„Was?“

„Nicht du“, kam es schnell von ihr zurück und sie schenkte ihm einen entschuldigenden Blick.

„Levi“, schlussfolgerte Eren und schloss den Kofferraum, ehe er zur Fahrerseite ging und die Tür aufzog.

„Ja. Dieser Winzling!“

„Dieser Winzling hätte mir fast die Hand gebrochen! Abgesehen davon, warum bist du noch da, wenn er dir so auf die Nerven geht?“, wollte er von ihr wissen und sah noch ihr Schulterzucken, ehe sie sich auf den Beifahrersitz sinken ließ. Eren fuhr sich durch die Haare. Wollte er wissen, ob sie immer so eine Laune hatte, wenn sie vom Training kam? Oder ob es jedes Mal so ablief? Wenn nicht, dann warum heute?

„Was war los?“, wollte er wissen und setzte sich selbst. „Stress auf der Arbeit?“ Mikasa arbeitete in einem angesehenen und gut besuchten Frisörsalon der Stadt. Aber bisher hatte sie sich nie beschwert oder auch nur eine Klage fallen lassen. Eigentlich hatte er sogar den Eindruck gehabt, sie würde gern dort arbeiten. Vor allem, da die Bezahlung nicht so schlecht war, wie es bei vielen anderen Salons der Fall war.

„Nein.“

„Was dann?“

„Nichts.“

„Mikasa“, mahnte er sie und startete den Wagen, ehe er aus der Parklücke herausfuhr und den Weg nach Hause einschlug. Doch anstatt zu antworten, schüttelte sie nur den Kopf und strich sich ein paar schwarze Strähnen aus der Stirn.

Für ein paar Augenblicke schwieg er. „Dieser Typ … Was ist mit dem?“

„Er ist ein Ex-Marine. Dreizehn Jahre Dienst.“

„Hm, das erklärt eine Menge“, meinte Eren und setzte den Blinker.

„Er hat die Halle gemietet und zwei Leuten von uns einen Schlüssel gegeben. Die Halle ist nahezu die ganze Woche geöffnet.“

„Was macht er nebenbei?“

„Dieser neue Sicherheitsdienst“, meinte sie und sah aus dem Fenster. „Wing-Security oder so. Der Inhaber – Smith – er ist ewig im Fernsehen. Du wirst Captain America sicherlich schon einmal auf der Mattscheibe gesehen haben“, hängte Mikasa unbeeindruckt hinterher und lehnte die Stirn gegen das Fenster.

„Woher weißt du das? Levi erschien nicht so gesprächig.“

„Know your enemie, Eren.“

„Du siehst deinen Trainer als deinen Feind?“, wollte er überrascht wissen und sah kurz zur Seite. Es war so eigenartig. Warum blieb sie in diesem Verein, diesem Club oder was auch immer, wenn sie Levi nicht einmal wirklich leiden konnte? Vielleicht war es aber auch einfach nur dessen Art, diese Strenge und die Härte in dessen Augen. Vielleicht war Levi einfach zu sehr Mikasa und anders herum war es genau so. Vielleicht fasste das Sprichwort wirklich? Gegensätzliche Pole ziehen sich an, gleiche Pole stoßen sich ab. Eigentlich war es Physik, aber Eren hatte alles, was mit der Schule zutun hatte, gleich nach den Prüfungen und den Ergebnissen aus seinem Gedächtnis gelöscht.

„Nicht wirklich.“

„Warum dann?“

„Lassen wir das Thema.“

„Ok.“

Eren fuhr auf die gepflasterte Auffahrt und stellte den Wagen vor der geschlossenen Garage ab. Darin stand der Wagen seines Vaters, den dieser jedoch nicht nutzte. Auf Geschäftsreise ging es immer nur mit dem Firmenwagen, mit dem Flugzeug oder der Bahn. Er stellte den Motor ab und stieg aus dem Wagen. Vor ihnen ragte das riesenhafte Haus im Jugendstil auf. Mit einem hübschen, halbrunden Balkon, der auch gleichzeitig als Vordach der Haustür diente. Das Cremeweiß würde demnächst übergestrichen und durch ein zartes Blau ersetzt werden. Die Farbe, die dieser Altbau einst besessen hatte. Auf da Gerüst und die Maler im Garten freute er sich gar nicht. Den Schlüssel für die Haustür ab Bund suchend ging er bereits vor und schob das Gartentor auf. Sie lebten hier sehr ruhig. Die Häuser waren nicht Haus an Haus gebaut, gute drei Meter lagen auf jeder Seite zwischen den Grundstücksgrenzen. Eren blieb vor der Haustür stehen und sah zu dem Haus zu seiner Rechten. Es stand seit guten zehn Jahren leer. Er selbst lebte seit seinem vierten Lebensjahr hier in dieser Gegend, als er sechs war, war die alte Frau verstorben, die dort gelebt hatte. Das Haus war danach von dem oder der Erben vermietet worden, aber die Mieter waren recht schnell wieder ausgezogen und seitdem stand das Gebäude leer. Eigentlich schade, wie er fand.

„Soll ich heute kochen?“ Mikasa stand plötzlich neben ihm und nahm ihm den Schlüssel aus der Hand.

„Ja. Wär wunderbar.“

„Wir können Armin anrufen. Vielleicht mag er auch mal wieder vorbei kommen“, schlug sie vor und schloss die Tür nun endlich auf.

„Eine gute Idee. Wir haben ihn lange nicht mehr gesehen…“

„Eine Woche, Eren.“

„Lange – sagte ich doch.“

„Er wird bald noch länger weg sein. Wie war das? Auslandsjahr in Frankreich?“

Erens Laune schoss bei dieser Information sofort gen Null. Er hatte zu gern verdrängt, dass sein bester und einziger Freund für eine solch lange Zeit außer Landes sein würde. Warum ausgerechnet Frankreich? Warum wollte Armin überhaupt weg von hier? Hier war es schön und … ok. Sie hatten bis auf ein paar Baggerseen kaum nennenswerte Gewässer und er wusste wie sehr Armin das Wasser – das Meer liebte. Deswegen vielleicht? Côte d’Azur war natürlich eine schöne Wahl und sie hatten immerhin beide die Möglichkeit ihn in den Ferien beziehungsweise dem Urlaub zu besuchen. Armin hatte das bereits jetzt mit seiner Gastfamilie abgesprochen und … vielleicht wäre das auch mal eine willkommene Abwechslung.

„Vor allem sollte ich dich fragen, was los ist.“

„Hm?“

„Du wirkst heute sehr zerstreut.“

„Ja.“ Er lachte etwas unbeholfen und schloss die Tür hinter sich, kratzte sich dann jedoch verlegen am Hinterkopf. „Weiß auch nicht.“

„Ich schon.“

„Was denn?“, hakte er nach. Wusste sie mehr über ihn als er selbst wusste?

„Dich macht die Trennung zu dieser Pferdefresse noch immer zu schaffen.“

„Jean? Fuckface“, knurrte er nur und ließ das Thema somit sofort fallen. Darüber sprach er nun überhaupt nicht gern. Eigentlich wollte er dessen Namen noch irgendeinen anderen Namen je wieder hören, der mit dieser Person in Verbindung gebracht werden könnte. „Ok? Lassen wir das.“

„Also hatte ich recht“, hörte er Mikasa noch murmeln, als er die Treppe zu seinem Zimmer hinauflief. „Ich rufe dich, wenn das Essen fertig ist. Ich versuche auch Armin ans Telefon zu kriegen!“, rief sie ihm noch hinterher, doch hatte er bereits seine Tür geschlossen. Wenn Mikasa nicht mit ihm über ihre Probleme sprach, warum sollte er dann immer über die seinen reden? Vor allem war das schon längst … vergessen….

Kapitel 1

Es war die zweite Woche im Oktober, die ihn zurück auf die Schulbank zwang. Ganz bei der Sache war er während der ersten Sitzungen seiner Unikurse nicht. Eigentlich sollte er die Informationen in sich aufsaugen, wie ein trockener Schwamm, aber das tat er nicht. Er wusste, dass Armin jetzt in einem Flieger Richtung Frankreich saß und er ihn nicht einmal mehr persönlich hat verabschieden können. SMS’ hatten sie getauscht, bevor Armin sein Handy für den Flug ausgestellt hatte.

Ein tiefes Seufzen verließ seine Lippen, während er in der vorletzten Reihe des Hörsaals saß und mit dem Kuli spielte, der vor ihm lag. Vorn sprach ein Professor von den Formalitäten für die Scheine und sonstige Dinge, doch flossen die Worte so dahin und blieben nicht in Erens Gedächtnis hängen. Was war das hier? Die Vorlesung zur Bio-Technik? Ja, richtig… Zukunftsforschung…

Warum auch immer er gerade diese Vorlesung gewählt hatte, wusste er nicht. Er studierte Biologie und Informatik auf Lehramt. Nicht, weil er unbedingt Lehrer werden wollte, sondern weil es die einzige Möglichkeit gewesen war, beide Fächer unter einen Hut zu bekommen. Denn entscheiden wollte er sich nicht. Zwar war ihm bereits jetzt zu viel Fachdidaktik mit eingebunden, aber er würde sich auch damit arrangieren können. Abgesehen davon war die Zukunft dann nicht so brotlos wie mit Kunst… Nicht, dass er sich für Kunst interessiert hätte. Seit dem erstklassigen Biologieunterricht und seiner Neigung zur Technik und Computern, hatte es sich einfach angeboten, die beiden liebsten Fächer und Richtungen einzuschlagen – nicht? Wenn man das Hobby zum Beruf machen konnte, ging für jeden ein Traum in Erfüllung. Eren war zwar noch gute sechs Semester bis zum ersten Ziel entfernt, aber zu träumen war ja nicht verboten.

Armin hatte immerhin auch schon konkrete Zukunftspläne und machte das Auslandsjahr in Frankreich nicht ganz ohne Hintergedanken. So weit Eren wusste, war es möglich, sich das Auslandsjahr irgendwie anrechnen zu lassen und Armin wollte unbedingt Französisch zu studieren – wie auch immer die Kombination mit Meeresbiologie da zusammenpassen sollte… Aber vielleicht war es an der Uni, an welcher sein blonder Freund sich bewerben wollte, ja anders als diese. Die Shiganshina University lag in der nächsten Stadt, etwa eine Stunde mit dem Auto entfernt und Armins erwählte Uni. Sie hatten zuvor gemeinsam die Schule besucht und ihren Abschluss gemacht. Mikasa war vor dem höchsten schulischen Abschluss abgegangen, hatte ihre mittlere Reife gemacht und war bei dem Frisörsalon gelandet. Eren hatte sich mit Armin bis zum Schluss durchgekämpft und jetzt trennten sich ihre Wege wegen der Uni. Nicht, dass es ihre Freundschaft zerstören könnte. Wie auch? Sie waren seit Kindertagen befreundet – sie drei. Und er hatte Armin versprochen, Zeit für Skype-Gespräche einzuräumen. Auch wenn das Studium ab jetzt seine komplette Zeit in Anspruch nehmen würde. Gerade Informatik war ein Fach, das nicht für einen Spaziergang ausgelegt war.

Als jedoch alle ihre Sachen zu packen begannen, nahm auch Eren sein Zeug vom Tisch, klappte diesen hoch und nahm seine Tasche vom Boden auf, ehe er sich erhob. Den anderen aus dem großen Raum folgend sah er sich um. Hier niemanden zu kennen, war merkwürdig. Und es schien ihm auch nicht so, als wären die Menschen hier besonders aufgeschlossen und freundlich. Die Trost University of Science war nicht gerade dafür bekannt, besonders herzlich zu sein. Aber standen die Absolventen dieser Uni bei jedem Arbeitgeber gleich in der engeren Auswahl und allgemein war die Abschlussrate der Studenten unglaublich hoch. Die Arbeitsmoral gab wohl vor, zum Einzelkämpfer zu werden. Jedoch war das keine Wahl für Eren. Er hasste es, allein zu sein. Er brauchte seine Leute um sich herum. Viel zu gern sprach er über einfach … alles!

Er nahm die schwarze Brille von der Nase und klappte diese zusammen. Er hatte bereits jetzt das Gefühl, hier zwischen all die abweisenden Nerds fehl am Platz zu sein. Auch wenn er vielleicht den Eindruck erregte, äußerlich dazu zupassen, fühlte es sich nicht gerade so an, als sei er hier richtig. Vom Fach her – sicherlich. Aber nicht von der Einstellung. Die Elite war nun einmal nicht warmherzig.

Wie sehr hatte Eren kämpfen müssen, um den Schnitt zu erreichen, den man brauchte, um hier zugelassen zu werden. Und wie hatte er geschwitzt, als er nicht alle Antworten für die Fragen des Tests wusste, den er zur Aufnahme hatte machen müssen. Und wie hatte er sich gefreut, als der Bescheid kam, dass er angenommen war!

Und jetzt?

Jetzt fragte er sich, ob er hier jemals jemanden finden würde, mit dem er zu Mittag essen könnte, mit dem er einfach nur … reden konnte. Die Tage hier an der Uni waren lang. Die meisten Kurse begannen um sieben in der Früh und der letzte war manchmal erst um zwanzig Uhr zu Ende. Und in all der Zeit nur schweigen und zuhören? Das konnte er nicht. Allein jetzt verspürte er schon den Drang, seine ersten Eindrücke mit jemanden zu teilen.

Normalerweise war Armin dann zu seiner Seite, aber dieser hatte ja unbedingt nach Frankreich fliegen wollen!

Irgendwann blieb er stehen, sah auf seinen Stunden- und dann auf den Lageplan der Gebäude des Campus’.

„Grundlagen der Biologie“, murmelte er für sich und sah sich hilflos um. So viel zu der vermeintlichen Übersichtlichkeit des Campusgeländes. Bisher hatte er immer Ewigkeiten zu jedem Raum gebraucht, weil die Wege so verschlungen waren und man von mehreren Seiten des Geländes zum Ziel kam.

„Bei Dr. Zoe?“ Eine Stimme drang an sein Ohr und er wandte sich um. Vor ihm stand eine brünette Frau mit Brille. Eren sah ihr sofort an, dass es sich hierbei um keine Studentin handeln konnte. Doch fehlte es dieser Person auch an Autorität, um als Dozent durchzugehen.

„Ja…“, gab er deswegen leise zurück und musterte seine Gesprächspartnerin. Ihre brauen Augen fixierten ihn und ein unheimlicher Glanz lag in diesen. So freundlich und sympathisch sie auf den ersten Blick war, so creepy war sie in dem nächsten.

„Wunderbar. Einer meiner Studenten! Erstsemester nehme ich an?“, folgte die überschwängliche Frage und eine Hand landete auf seiner Schulter.

„Ja. Erster Tag.“ Und dieser erste Tag war verwirrender als alle Schultage, die er bisher in seinem Leben gehabt hatte.

„Dann sind Sie…“

„Hanji Zoe. Dr. in Biologie und Chemie.“

Wie konnte es sein, dass die Dozenten freundlicher und offener als die Studenten waren? Oder handelte es sich hierbei um eine Ausnahme? „Und du?“

Eigentlich galt zwischen Studenten und Dozenten stets das Sie. Nur hier … nicht.

„Eren Jäger“, stellte er sich vor und konnte sich nicht gegen ihre Schieberei in die Richtung des Lesesaals wehren.

„Jäger…“ Sie schien zu überlegen, strich sich ein paar Strähnen des langen Ponys beiseite und sah dann zu ihm. „Ich habe deine Testergebnisse bearbeitet.“

Trocken schluckte er. Das heißt nie etwas Gutes, dachte er sich, während er auf die Antwort wartete, die ihrer Aussage folgten müsste.

„Das war nicht schlecht. Aber ich glaube, da steckt noch mehr in deinem Köpfchen.“

„Frau…“

„Nenn mich Hanji.“

„O-okey“, gab er nun noch verwirrter zurück. Das war … neu. Das war vor allem anders und irgendwie … gefiel ihm die ungezwungene Art zwischen ihr und ihm.

„Du studierst Informatik und Bio auf Lehramt.“

„Ja… Das ist richtig.“

Hanji drückte in diesem Moment eine Tür auf und sie standen im nächsten Augenblick am hinteren Ende eines gigantischen Hörsaals, der jedoch nur zu vier Reihen besetzt war.

„Die wenigstens belegen Grundlagen-Vorlesungen. Vor allem nicht im Wintersemester, da die meisten Kurse auf Sommersemester-Einsteiger ausgelegt sind“, erklärte Hanji seufzend und lief die Treppe hinunter, während Eren ihr langsam folgte und sich in der vierten Reihe ganz am Rand niederließ und seine Sachen auf den ausklappbaren Tisch legte. Sein Blick folgte der Dozentin, die an die Tafel schritt und nach einem Stück Kreide griff. Noch bevor sie den Kurs begrüßte, schrieb sie ihren Namen und ihre E-Mail-Adresse an die Tafel und wandte sich erst dann an den Kurs.

„Hallo, meine Lieben!“, grölte sie nahezu durch den Raum. Die Akustik war der Horror… Wenn der Saal voll wäre, würde man kaum ein Wort ohne ein Mikro verstehen.

„Mein Name ist Hanji Zoe und ich werde die nächsten Semester euer wandelnder Alptraum werden. Ihr werdet mich nicht mehr los. Meine Wenigkeit wird die meisten Basisseminare und Übungen in der Biologie übernehmen. Ich sage das jedes Jahr, aber ich werde es immer wieder sagen müssen: Ihr kommt mit mir klar, oder ihr kommt nicht mit mir klar. Ich behalte es mir vor, auszusortieren, so wie es mir gefällt. Ihr habt einen Test abgelegt – schön. Der sagt über euer Schulwissen etwas aus. Aber er sagt nichts darüber aus, ob ihr in der Lage seid, bei mir die Klausuren zu bestehen.“

Das leichte Lächeln verließ nicht einen Moment ihre Lippen und ihre fröhliche Ausstrahlung flutete den Raum. Trotz der harten Worte. Aber das war die Universität. Das Eierschaukeln war hier endgültig vorbei. Wer etwas erreichen wollte, musste sich während dieser Zeit auf den Arsch setzen. Nichts war wie im Fernsehen. Die Uni-Partys gab es auch hier, sicherlich. Aber sie waren nicht so exzessiv wie in den Filmen. Und man konnte sich auch nicht hochschlafen. War eine Prüfung nicht bestanden, half auch eine erotische Einladung an den Dozenten nicht. Und Eren bezweifelte, dass das bei Hanji ziehen würde. Sie wirkte zwar wie die verrückte Wissenschaftlerin, aber sie war sicherlich härter als sie aussah.

Erneut verließ ein leises Seufzen Erens Lippen und er kramte die Brille wieder aus dem Etui. Zum Glück war er kein permanenter Brillenträger und musste sie nicht beim Autofahren tragen, aber Lesen? Tz, das war die reinste Hölle ohne Sehhilfe. Abgesehen davon sah er laut Armin ‚intelligent’ aus… Aber zwischen intelligent aussehen und es auch tatsächlich sein, lagen ganze Welten und im Moment zweifelte Eren ohnehin an seiner Intelligenz… Spätestens nach den ersten Klausuren wäre diese Frage geklärt.

Eren wandte den Blick von ihr ab, während sie erklärte und gleichzeitig den Beamer einstellte. Die Formalitäten des Studiengangs waren ihm klar und welche Scheine er machen konnte, wusste er auch inzwischen. Diese Einführungsstunden waren so langweilig, wie sie es auch damals in der Schule gewesen waren. Man hörte den ganzen Tag lang dieselben Dinge, bekam sie immer und immer wieder vorgekaut, bis in der zweiten Woche endlich der Ernst des Uni-Lebens begann. Und Eren hoffte inständig, dass er in der Lage wäre, hier mitzuhalten… Jetzt wo Armin nicht mehr anwesend war, um ihm sofort Fragen zu stellen, war Eren erst einmal auf sich allein gestellt.

Das laute Donnern einer zugeschlagenen Tür hallte durch den nahezu leeren, großen Raum und Eren sah wieder nach vorn. Ein junger Mann in schwarzer Uniform und grünem Barett betrat den Raum. Die schwarze Lederjacke war nicht geschlossen und ließ einen Blick auf die Schulterholster erhaschen, in welchem wirklich Waffen steckten. Selbst am rechten Oberschenkel war ein Waffenholster samt Waffe befestigt. Schwere Armeestiefel hinterließen bei jedem Schritt ein dumpfes Geräusch auf dem Boden und Eren zog die Augenbrauen zusammen.

„Hanji. Auf ein Wort.“

Er hatte die Stimme nicht oft gehört, doch war sie so markant, dass er sie sofort wieder erkannte. Und da er in der vierten Reihe und somit sehr weit vorn saß, erkannte er auch endlich das Gesicht, als der Gast seinen Blick durch die Reihen wandern ließ.

„Ich habe gerade eine Vorlesung, Levi!“, hörte er seine Dozentin leise zischen und sie schien nicht sonderlich erfreut darüber zu sein, dass Levi hier auch noch in voller Montur auftrat.

„Das sollte dir egal sein, wenn du nicht willst, dass deine Haustiere ums Leben kommen, Vierauge. Schwing deinen Arsch ins Auto.“

„Warum?“ Der Raum hüllte sich in ein eisiges Schweigen. Niemand wagte es auch nur zu atmen, wie es schien. Levis Aura füllte den Raum nun mehr als noch vor wenigen Sekunden.

„Es wird eine Sprengung einer 2,5-Tonnen Bombe durchgeführt. Man kann sie nicht transportieren“, folgte die sachliche, kühle Erklärung. „Die Bewohner werden evakuiert. Du bist eigentlich in Sicherheit, aber ich habe keine Lust auf deine Heulkrämpfe, wenn deine Viecher verrecken, weil dein Wohnhaus einstützt.“

„Aber hier…“

„Hanji!“

„Was hast du damit zutun?“

„Nichts. Ich hab’s nur gehört. Nur meine Wenigkeit kann dich durch die momentane Sperrzone bringen. Also beweg deinen Arsch!“

Hanji wirkte verstört und begann panisch ihre Sachen zusammenzusammeln, ehe sie auf den Ausgang des Hörsaals zustürmte. Levi wandte sich zu ihnen um. „Geht nach Hause, Kinder. Schule fällt aus.“ Und mit diesen Worten wandte sich auch er ab.

Auf dem Rücken der Lederjacke, zwei überkreuzte Flügel – schwarz und weiß. Darunter: ‚Fügel der Sicherheit & Freiheit – Wing-Sec’.
 

Nur sechs Stunden später klingelte sein Handy, als er mit dem Bus auf dem Weg nach Hause war. Man hatte bisher noch keine Explosion gehört. Zwar wusste Eren nicht, in welcher Entfernung sich der Bombenfund ereignet hatte, aber selbst in den lokalen Nachrichten hatte man nichts gehört.

„Ja?“

„Eren? Alles ok bei dir?“

„Ja. Warum nicht?“

„Ich wollte nur wissen, ob alles ok ist.“ Mikasa kümmerte sich immer zu sehr um ihn. War immer zu besorgt um sein Wohl. „Ich bin zu Hause.“

„Warum?“

„Man hat den Frisörsalon evakuiert. Wegen des Bombenfundes heute um kurz vor zehn“, erklärte sie ihm. Also in der Gegend.

„Ich hab davon gehört… Meine Dozentin musste deswegen weg.“

Irgendwie war die Vorstellung, dass Hanji mit Levi in irgendeiner Weise in Beziehung stand, unheimlich. Die beiden haben trotz der so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Freunde gewirkt. Gruslig, dachte er sich dabei und sah aus dem Fenster.

„Die Armee war da. Sprengkommando. Wir wurden von der Security evakuiert.“

„Von Levi?“

„Ein absoluter Auflauf von Armee, Polizei und privater Sicherheit. Der Bereich ist um die vier oder fünf Kilometer abgesperrt.“

„Aber dir geht’s gut?“

„Sicher geht’s mir gut. Kommst du jetzt heim?“

„Ja. Bin in zehn Minuten zu Hause.“

Als er jedoch nach Hause kam, fand er die Zimmer leer vor. Nur eine Nachricht hing am Kühlschrank. ‚Bin im Dojo’ stand darauf und ein leises Seufzen verließ seine Lippen. Wahrscheinlich stand das Essen in der Mikrowelle und er müsste allein essen und heute Abend wieder bis neun oder vielleicht sogar zehn Uhr einsam und verlassen auf der Couch sitzen und fernsehen. So, wie er es immer tat …

Damals, als er noch in einer Beziehung war, hatte fernzusehen wesentlich mehr Spaß gemacht. In trauter Zweisamkeit einen schlechten oder langweiligen Film ansehen, Popcorn oder Chips, das ein oder andere Bier und die Wärme des jeweils anderen spüren. Das wäre wunderbar – auch jetzt im Moment. Nur … leider hatte er niemanden, mit dem er die Couch teilen konnte. Vor allem war die letzte Zeit nicht mehr ganz … so schön gewesen. Jean und er waren anfangs nicht gut miteinander klargekommen, aber es war zwischen ihnen wie man es stets sagte: ‚Gegensätze ziehen sich an’. Wie oft hatten sie sich die Fresse poliert? Es war Wahnsinn, dass sie es tatsächlich geschafft hatten, in eine Beziehung zu schlittern. Mit Romanik, Liebe, Fluff und Normalität. Und dann war alles den Bach runter gegangen. Alles war aus ihren Händen geglitten und es war angeblich alles seine Schuld gewesen. Seine Schuld…

Die Mikrowelle aufmachend seufzte er erneut, als er die Fischstäbchen sah und schloss das Gerät gleich wieder, nahm sich nur den O-Saft aus dem Kühlschrank und gleich durch in das Wohnzimmer. Er ließ sich auf die Couch fallen, legte die Füße über den Sofabock und griff nach den Fernbedienungen.
 

„Heute um zehn Uhr am Abend konnte die aus dem zweiten Weltkrieg stammende Bombe entschärft und abtransportiert werden. Die Bewohner konnten daraufhin wieder in ihre Wohnungen und Häuser zurückkehren…“ Eren wurde langsam wach, hörte die Nachrichten nur mit halbem Ohr, während er sich über die Augen rieb. Wie spät war es überhaupt? Müde setzte er sich auf und sah sich um. Es war dunkel um ihn herum. Lediglich der Fernseher warf ein blaues Licht in den Raum, doch schaltete Eren das Gerät nur wenig später aus und erhob sich vom Sofa. Die Anzeige des Recievers verriet ihm, dass es kurz nach zwölf war und er schleppte sich müde die Treppe hinauf und in sein chaotisches Zimmer. Er war nicht dafür bekannt, überaus ordentlich zu sein. Aber der Zustand seines Zimmers grenzte selbst für ihn schon am Abnormalen. Bevor sein Vater von der Reise nach Hause kehren würde, müsste er hier definitiv Grund rein bringen…

Mit einem großen Schritt stieg er über ein paar alte Hosen und dreckige Socken hinweg, schob die Tür hinter sich ins schloss zurück und ließ sich in sein Bett fallen. Er knipste das Licht neben einem Bett an, drehte sich auf den Rücken und zog sich die Hose von den Hüften, ließ sie einfach zu all dem anderen Zeug auf dem Boden fallen, ebenso die Socken und den Pulli den er trug. Erst dann kroch er unter die Decke, schüttelte noch schnell das Kissen auf und drehte sich auf die rechte Seite, langte nach dem Lichtschalter und ragte dabei all die Bücher und die Bilderrahmen auf seinem Nachttisch runter. „Scheiße“, fluchte er leise für sich und setzte sich erneut auf. Er lehnte sich vor, suchte das Grobe vom Boden und legte es ungeordnet zurück auf den Tisch. Die Bilder, die er als Lesezeichen nutzte, nahm er auch noch vom Boden auf und öffnete eines der Bücher in der Mitte. Die anderen Bilder hineinlegend nahm er ein anderes gleichzeitig heraus und seine Gesichtszüge verhärteten sich sofort. Jenes Bild zeigte ihn und Jean. Jean lehnte an seiner Schulter, war eingeschlafen, während der Controller der Playstation noch immer in Jeans Händen lag. Eren erinnerte sich an diesen Moment, obwohl er recht weit am Anfang ihrer Beziehung passiert war. Damals, als noch alles ok gewesen war. Er hatte Jean damals nicht wecken wollen. Sie hatten einen Film gesehen, welchen wusste Eren nicht mehr genau, aber es musste einer gewesen ein, den Jean bereits gekannt hatte. Armin hatte das Bild gemacht. Sie hatten damals einen ‚Männerabend’ gemacht, sie drei – Armin, Jean und er. Es war nicht so, als hätte es jemals die klischeebehafteten Rollenverteilungen in ihrer Beziehung gegeben, auch wenn Jean sich später so aufgeführt hatte, als wäre es so gewesen. Immer hatte Jean ihn als Weichei und Mädchen bezeichnet, als Nichtskönner und Loser. Als Untergebener, Unterwürfiger… Dabei wusste er bis heute nicht, woran diese extreme Wandlung in Jeans Verhalten gelegen hatte. Natürlich hatte er seine Vermutungen gehabt und hatte sie noch heute…

Eren zerriss das Bild nur wenig später und ließ die Schnipsel seiner Vergangenheit auf den Boden rieseln. Er würde es morgen ohnehin aufkehren oder wegsaugen, wenn er sein Zimmer aufräumen würde. Also brauchte er sich nicht die Mühe machen, zum Mülleimer zu gehen.

Das Licht nun doch ausknipsend legte er sich zurück und zog die Decke wieder über sich, ehe er sich einrollte. Der Wecker war ohnehin gestellt, so musste er doch jeden Morgen um dieselbe Uhrzeit aufstehen. Dienstag, dachte er sich und fragte sich im selben Moment, ob er auch am kommenden Tag Kurse hatte, die von Hanji gegeben wurden. Viel Auswahl hatte Eren nämlich nicht gehabt, was die Kurse angingen. Das meiste war vorgeben, sodass er es wirklich hoffte, dass Dr. Zoe die meisten seiner Kurse gab. Er mochte sie irgendwie. Ihre aufgedrehte Art beruhigte ihn. Und wahrscheinlich war er wirklich der einzige Mensch, der eine aufgewühlte Person als beruhigend empfand. Mikasa war zwar auch sein Ruhepol, wenn er selbst völlig durch den Wind war und jemanden brauchte, der ihn auf dem Boden zurückholte. Aber Menschen wie Hanji – sie waren erfrischend und interessant. Vielleicht lag es daran, dass er sie … als angenehm empfand. Anders als Levi.

Ein Schauer lief über seinen Rücken. Noch nie waren eins sechzig so unheimlich und Respekt einflößend gewesen. Und wenn er Mikasas Trainer im ‚Dojo’ als unheimlich bezeichnet hatte, so war er in Uniform definitiv mehr als nur das. Eine solch kräftige Aura musste man erst einmal besitzen. Vor allem brauchte man aus Selbstbewusstsein. So aufzutreten, so selbstsicher … das war der Wahnsinn. Irgendwie bewunderte er ihn auch. Ihm selbst fehlte es manchmal am eben genannten Selbstbewusstsein. Zwar war er selbst nie ganz unten, aber er zweifelte manchmal schon an dem, was er tat. Aber wer konnte von sich behaupten, niemals an sich zu zweifeln?

„Du musst schlafen“, murmelte er für sich selbst und zog die Decke über den Kopf. Wie konnte er sich nun über so etwas Banales Gedanken machen?

Kapitel 2

Sein Handy klingelte um drei am Samstag. Das Gerät unter all den Unterlagen hervorkramend, die auf seinem Schreibtisch verbreitet lagen, da er versuchte sich vorzubereiten, nahm er den Anruf von Mikasa entgegen.

„Hm?“ Eren klemmte sich den Bleistift hinter das rechte Ohr und stützte sein Kinn auf die Handfläche, als er hinaussah. Es regnete in Strömen und sicherlich wollte eine Schwester, dass er sie abholte…

Kannst du mich abholen?“

Er hatte es gewusst.

„Ja. Sofort?“

„Bin noch in der Umkleide. Gleich also.“

„Fahre jetzt“, gab er zurück und beendete das Telefonat. Die Brille und den Stift zurück auf den Schreibtisch legend knipste er die Lampe auf dem Tisch aus und verließ das Zimmer. Er eilte in die Garage, öffnete das Tor per Kopfdruck und ließ sich auf den Fahrersitz fallen. Er brauchte nicht lange bis in die Stadt. Der Verkehr hielt sich bei einem solchen Wetter stets in Grenzen, denn die, die nicht raus mussten, blieben zu Hause. Die Scheibenwischer kamen gegen den vielen Regen gar nicht an und Eren war froh, den Wagen am Straßenrand abstellen zu können. Ein Blick kurzer Blick auf die Uhr am Armaturenbrett verriet ihm, dass es kurz nach sechs war. Die Beifahrertür wurde nur wenig später aufgezogen und Mikasa ließ sich ins Auto fallen, legte den Regenschirm im Fußraum ab und schenkte ihm einen kurzen Blick.

„Yo, Eren.“ Levi lehnte sich in den Wagen, sah über Mikasa hinweg zu ihm. Die Haare trieften bereits vor Nässe und auch die andere Kleidung die er trug, schien durchnässt zu sein.

„Er fragte, ob wir ihn mitnehmen können.“

„Und?“ Eren war nicht so unbedingt erpicht darauf, einen Dämon durch die Stadt zu fahren.

„Ich meinte, es läge an dir… Du fährst und das Wetter ist echt…“, erklärte Mikasa.

„Für’n Arsch, ich weiß. Aber bis hier ein Taxi hinkommt.“

„Hast du keinen eigenen Wagen?“ Eren blickte in Levis stahlgraue Augen.

„Hätte ich. Wäre der Scheißkarren nicht am laufen Band im Arsch.“

„Herzallerliebst. Steig ein.“ Er war ja nun auch kein Unmensch. Vor allem wunderte es ihn, dass Mikasa überhaupt auch nur in Erwägung gezogen hatte, Levi eine Mitfahrgelegenheit zu ermöglichen. Die hintere Tür auf Mikasas Seite wurde geöffnet und Levi ließ sich auf den Rücksitz fallen. „Lederausstattung. Reichen Daddy, was?“

„Gleich kannst du doch laufen“, murrte Eren nach hinten. Ihm gefiel der Tonfall des anderen nicht. Er setzte jedoch den Blinker. „Wo wohnst du?“

„Maria Avenue, Ecke Sina-Street. Neben dem Wing-Sec-Hauptgebäude“, kam die knappe Antwort auf seine Frage.

„Workaholic, hm?“ Eren warf einen Blick durch den Rückspiegel und erkannte Levis unbewegten Gesichtsausdruck. Irgendwas an diesem Mann war definitiv unheimlich. Und eine Antwort blieb aus. Sie brachten den Rest des Weges schweigend hinter sich. Mikasa schien allein aus dem Grund zu schweigen, weil sie einen Gast im Wagen hatten. Eren hielt am Seitenrand und ließ Levi aussteigen. Auf ein Danke wartete er jedoch vergeblich. Es schien nicht in Levis Natur zu liegen, freundlich zu sein… Zumindest wuchs dieser Eindruck jedes Mal mehr, wenn er Levi sah. Der Morgen im Hörsaal war auch nicht von freundschaftlicher Wärme gefüllt gewesen. Eher war Levi ein wandelnder Eisklotz, hinter dessen Fassade man kaum oder gar nicht blicken konnte.

„Warum hast du es ihm angeboten?“ Allein an Mikasas Körpersprache konnte er ablesen, wie ungern sie ihn im Auto gehabt hatte. Zwar waren ihm die Umstände noch immer nicht klar, unter welchen dieses verzerrte Verhältnis der beiden zustande gekommen war, doch wollte er wenigstens diese Frage von ihr beantwortet haben. Sie ging ihm die ganze Zeit schon aus dem Weg. Immer wenn er wissen wollte, wie ihr Tag war, wich sie aus. Wenn er wissen wollen, wie es ihr denn ging, blockte sie ihn ab. Und wenn er sich einfach nur abends zu ihr setzte, ohne auch nur die Intention einer weiteren Runde zu haben, stand sie auf und ging. Es war, als habe sie Geheimnisse vor ihm. Aber wehe er sagte ihr nicht alles oder wollte nicht über seinen Tag reden. Da brach für Mikasa dann beinahe eine Welt zusammen. Sie war einfach so ‚overprotective’, wenn es um ihn ging. Dabei war er erwachsen und konnte inzwischen sehr gut auf sich selbst aufpassen. Da brauchte er ihre schützende Hand nicht immer über ihm. Abgesehen davon wusste sie auch nicht alle von ihm. Vieles hatte er ihr verschwiegen. Gerade im Bezug auf Jean. Sie hatte ihn immer als nervig und schrecklich abgestempelt und es nicht gerade gern gesehen, dass Eren mit ihm zusammen war. Und wenn er ihr mehr gesagt hätte, als das, was sie nun einmal jetzt weiß, würde Jeans bereits unter der Erde weilen.

Das war das Problem wenn man eine Adoptivschwester hatte, die sich mehr als eine Mutter als eine Schwester aufführte. Er wusste ihre Aufmerksamkeit zu schätzen, natürlich. Aber auf der anderen Seite war er manchmal einfach nur angenervt von ihrer Behandlung. Er war verdammt noch mal kein Kind mehr. Und deswegen sollte sie auch langsam ehrlich zu ihr sein.

„Er hat mich gefragt.“

„Und du hast gesagt, ich solle entscheiden?“

„Du bist der Fahrer und es regnet wie aus Eimern.“

„Und genau deswegen hätte ich auch nie gesagt, er solle laufen“, meinte er mit einem Seufzen. Eren hatte die Angewohnheit, zu hilfsbereit zu sein. Selbst bei Menschen, die er eigentlich nicht mochte, konnte er ein Auge zudrücken und einen Gefallen erledigen. Selbst wenn er wusste, er hätte von der anderen Person niemals etwas im Gegenzug zu erwarten, würde er nicht einfach Nein sagen, wenn es um etwas gehen würde, bei dem er helfen könnte. Es war einfach ein Teil seiner Persönlichkeit.

„Was ist zwischen euch? Warum diese Ablehnung?“

„Frag ihn.“

„Was ist los? Weich mir nicht immer aus!“ Er fuhr auf einen verlassenen Parkplatz und stellte den Motor des Wagens ab. Das Gute an dem Umweg zum Wing-Sec-Gebäude war der Fakt, dass sie noch eine Strecke zu fahren hatten. Und im Auto konnte Mikasa nicht aufstehen und gehen. Sie konnte ihm keine Tür vor der Nase zu schlagen.

Eren betätigte die Zentralverrieglung des Autos, verhinderte so, dass Mikasa vielleicht doch in den strömenden Regen fliehen würde.

„Eren. Fahr weiter.“

„Nein. Ich will wissen, was mit dir los ist!“

Ihr Blick war eiskalt, als sie ihn ansah. Was er ihr getan hatte, wusste er zwar nicht, doch erwiderte er diesbezüglich nicht mit Worten. Er war nicht bereit, ihren Launen immer nachzugeben. Sie hatten nur einander und da war es unmöglich, eine derart dunkle Stimmung von ihr immer zu ertragen.

Doch dann sah sie zur Seite. „Er ist besser als ich.“

„Ach?“, hakte er beinahe lachend nach. „Das ist alles?“

„Du verstehst das nicht, Eren!“, zischte sie nun. „Es ist so viel mehr als nur das. Wenn du dich immer zur Höchstleistung antreibst und doch immer wieder runtergemacht wirst…“

„Deswegen bist du sooft im Dojo.“

„Ja. Ich will nicht immer einen drauf bekommen, weil ich eventuell einen Fehler machen…“

„Mikasa.“

„Nein! Ich bin es leid, immer unterschätzt und stets berichtigt zu werden. Es kommt nicht einmal ein Lob.“

„Du brauchst Bestätigung? Seit wann denn das?“, wollte Eren wissen und lehnte sich im Sitz zurück, während sein Blick auf ihr ruhte. „Vielleicht will er nur, dass du die Beste aus dem Dojo wirst?“

„Keine Ahnung“, gab Mikasa dann kühl von sich und rieb sich über die Arme.

„Er ist ein Ex-Militär, daher wird der Hang zur Perfektion kommen. Abgesehen davon … was weißt du schon groß über ihn? Außer eben das?“

„Nichts… Aber er kotzt mich allein mit seiner Anwesenheit inzwischen an.“

„Dann verlass das Dojo.“

„Kommt gar nicht Frage!“ Scheinbar war ihr Kampfgeist mehr erwacht, als jemals zuvor. Scheinbar wollte sie Levi beweisen, was alles in ihr steckte. „Aufgeben ist keine Option. Und es war noch nie eine Option für dich gewesen“, erklärte Mikasa sich und Eren nickte leicht. Das lag dann wohl in der ‚Familie’. Es gab kein Aufgeben, denn wer aufgab gestand sich ein, seine eigenen Grenzen nicht überschreiten zu können. Und dazu waren sie beide in der Lage. Sie waren beide in der Lage, über sich hinauszuwachsen und er glaubte daran, dass irgendwann ein Lob fallen würde. Sie war einfach großartig in dem, was sie tat.
 

Genetik …

Eren zog die Augenbrauen leicht zusammen, als er die Seite des Buchs noch einmal las. Er hatte Hausaufgaben zu erledigen, aber im Moment schienen all die Buchstaben, Zahlen und Abbildungen dieser Seiten keinen Sinn zu ergeben. Er hatte zwar schon sein eigenes Zimmer verlassen, hatte versucht einen klaren Kopf zu bekommen und saß nun erneut hier auf dieser Besucherbank im Dojo. Die Atmosphäre war zwar angespannt, aber nicht so stark, wie das letzte Mal, als er hier zum Ende des Trainings gesessen hatte. Heute war es irgendwie … angenehm hier zu sitzen. Zwar war es vielleicht nicht der perfekte Ort für Biologiehausaufgaben, aber es war besser als zu Hause zu sitzen und Löcher in die Fenster zu starren.

„Eren.“ Levis kalte Stimme schnitt durch den ruhig gewordenen Raum und er sah über den Buchrand hinweg. Es hatte sich ein Kreis in der Mitte der Halle gebildet. „Hm?“

„Komm her.“

„Was?“

„Komm her“, forderte Levi ihn erneut, jedoch strenger als das erste Mal, auf. Eren legte daraufhin zwar das Buch beiseite und nahm die Brille von der Nase, jedoch erhob er sich noch nicht. Vor allem weil er Mikasas skeptischen Blick bemerkte.

„Warum?“

„Ich brauche jemanden der größer ist, als der Durchschnitt hier.“ Eren ließ seinen Blick über die Anwesenden gleiten. Sie alle hatten etwa Mikasas Größe, also durchschnittlich eins siebzig. „Und jemanden von deiner Statur.“

Was war denn nun mit seiner Statur? Er war ja nicht einmal im Training! Dennoch stand er lieber auf, als er sah, dass Levi die Augenbrauen hob und die Arme vor der Brust verschränkte. Wenn jetzt noch ein ungeduldiges Tippen mit dem Fuß folgen würde, würde Eren zu laufen beginnen. Er wagte es jedoch auch nicht, Levi noch länger warten zu lassen. Also zog er noch schnell die Sweatjacke aus und trat auf den Kreis zu. Ihm wurde etwas Platz gemacht und er blieb vor Levi stehen. „Und jetzt?“

„Standardausweichschritt.“

Eren antwortete nicht. Ausweichschritt? Er wusste was das war, nur konnte er nicht abschätzen, was auf ihn zukommen würde, würde er jetzt tun, was von ihm verlangt werden würde. Mikasas Blick bohrte sich derweil in seinen Rücken und er hoffte, sie würde Levi nicht töten, nach was auch immer gleich passieren würde.

„Bist du taub, wandelndes Vakuum? Sieh zu!“ Er schluckte trocken und kam der Aufforderung nach. Levi tat daraufhin einen Schritt zur Seite, trat ihm leicht in die Kniekehle des vorn stehenden Beines.

„Das ist die Ausgangsstellung eines jeden, wenn er nicht der Verteidigende ist“, erhob Levi das Wort erneut und umrundete Eren dabei einmal. Seine Tonlage veränderte sich bei der Erklärung jedoch nicht ein bisschen. Nüchtern und emotionslos führte Levi seine Erklärung weiter aus. „Es ist wichtig, dass ihr einen festen Stand habt.“ Eren bekam daraufhin einen Stoß gegen die Schulter und kam etwas ins Wanken. Ein leichter Tritt gegen seinen Unterschenkel des hinteren Beins folgte und er setzte den Fuß etwas weiter nach außen. Erneut ein Stoß gegen die Schulter und er stand fester.

„Achtet drauf, sonst funktioniert es nicht. Später im Ring habt ihr dazu nicht die Zeit. Aber zu Übungszwecken ist es unumgänglich, dass ihr drauf achtet.“ Gar gelangweilt klang Levi in seinen Ohren und sah auch genauso aus. Eren sah ihm dabei zu, wie die Hose etwas höher gezogen und die Beinsäume noch einmal umgeschlagen wurden. Levi ging einige Schritte zurück, nahm für irgendwas Anlauf. Und dann ging alles ganz schnell. Eren spürte gerade noch, dass Levi einen Fuß auf seinen Oberschenkel setzte, da lag er schon auf dem Boden. „Fuck!“, zischte er leise, als er den Schmerz in seiner Schulter bemerkte und aus dem Augenwinkel sah, dass sein Angreifer sich wieder auf die Beine brachte. „Was war das?“ Noch immer auf dem Boden liegend hoffte er, dass man ihm wenigstens die Hand anbieten würde. Gott! Das würde er morgen noch spüren!

„Ihr seid alle zueinander gleich groß und bekommt es nicht geschissen? Er ist ein beschissener Riese im Gegensatz zu mir.“ Levi deutete mit dem Finger auf ihn, während Eren noch immer auf dem Boden lag und zu verstehen versuche, wie Levi ihn so schnell von den Beinen hat holen können. „Steh auf.“

Mit einem leisen Knurren richtete sich Eren wieder auf. Er war verdammt noch mal kein Mitglied dieses Vereins! Warum sollte er leiden, während die anderen einfach nur zusahen? „Ausgangsstellung.“

„Noch mal?“, fragte er verzweifelt nach.

„Ausgangsstellung.“ Levis kühler Blick allein ließ ihn tun, was man von ihm wollte.

„Ihr nehmt den Schwung mit, der euch zur Verfügung steht. Ackermann.“

„Levi?“

„Komm her.“ Sein Ton war befehlend und Eren sah über die Schulter hinweg zu seiner Schwester, die sich aus dem Kreis löste. Zwar tat sie das überaus widerwillig, aber sie tat es. „Er ist dein Bruder. Wenn du Kontaktprobleme bei anderen hast, dann vielleicht nicht bei ihm.“

„Ich will ihn aber nicht verletzen.“

„Der Kleine ist robuster als du vielleicht meinst“, kam es jedoch trocken von dem Trainer zurück und er bekam einen entschuldigenden Blick von Mikasa. Er wusste, dass sie ihm nicht wehtun würde und abgesehen davon wusste er auch, dass es nicht in Frage für sie kam, abzulehnen. Also trat auch sie ein oder zwei Schritte zurück und tat exakt dasselbe, was Levi zuvor getan hatte. Er spürte, wie sich ihr Fuß auf seinem Bein absetzte und ebenso spürte er, dass sich ihr Bein über seine Schulter bewegte. Aber mehr konnte er nicht erfassen, da er bereits erneut auf dem Boden lag und ein leises Keuchen nicht vermeiden konnte. Ohne eine eventuell gelernte Technik zum Abfangen eines Falls tat der Stürzt verdammt weh. „Geht doch.“

Das kam wohl einem Lob am nächsten. Mikasa hielt ihm im nächsten Moment die Hand hin und half ihm auf.

„Ich bin aber jetzt nicht hier der Punshingball für all deine Mitglieder!“, meinte Eren und richtete sich das T-Shirt.

„Das hat keiner gesagt, Kleiner.“
 

„Er ist wahnsinnig schnell.“ Mikasa stand hinter ihm im Bad und besah sich die Schulter, auf die er gefallen war.

„Und zu grob. Du hast einen blauen Fleck“, kam es nur von ihr und ihre kühlen Finger trugen eine schwellungslinderde Salbe auf die Stelle auf.

„Ich versterbe nicht an einem blauen Fleck.“

„Es war dennoch unnötig. Jeder andere hätte es auch getan. Warum du?“

„Ich bin größer und ich wiege mehr, als du oder die anderen.“

„Lernt man so etwas bei der Armee?“

„Warum?“

„Ich denke nur öfters darüber nach.“ Ihr Blick begegnete dem seinen durch den Spiegel hinweg. „Und bin dankbar dafür, dass sie dich ausgemustert haben…“

„Mikasa.“

„Ich will nur nicht, dass dir etwas passiert, Eren.“

„Mir kann sogar auf der Uni etwas passieren.“

„Sag so etwas nicht.“

Er antwortete daraufhin nicht. Eine Diskussion darüber loszubrechen war bestimmt das Letzte, was er nun wollte.

„Hanji ist eine absolut tolle Dozentin“, meinte er stattdessen und wechselte das Thema. „Ich mag ihren Unterricht total gern.“

„Die mit der Brille, deren Bild du mir gezeigt hast?“

„Ja. Sie ist total nah an den Studenten, nicht so abgehoben wie all die anderen Dozenten und sie bringt einem den Stoff einfach total gut bei.“ In ihren Vorlesungen saß er am liebsten. Selbst in ihren Übungen schlief er nicht ein. Während der Informatikvorlesungen tat er das regelmäßig. Der Stoff dieses Fachs war einfach für ihn. Technik war etwas, mit dem er umgehen konnte. Wahrscheinlich war das genauso sein Gebiet, wie der Kampfsport es für Mikasa war.

„Und Informatik?“

„Läuft“, sagte er daraufhin nur und zuckte leicht die Schultern, ehe er das Shirt wieder überzog. „Ist einfacher als ich dachte“, gab Eren dann zu und fuhr sich durchs Haar. „Du weißt wie mir das von der Hand geht.“

„Besser als Bio?“

„Viel besser. Aber Bio ist interessant.“

„Wegen Hanji?“

„Auch. Ich finde die Themen interessant. Abgesehen davon ist es eine Herausforderung.“

„Hmm…“ Mikasa begann in einer der Kisten zu kramen und zog ein Haargummi hervor, band sich das Haar zusammen und setzte sich dann auf den Wannenrand. „Du solltest auch in den Verein kommen.“

Überrascht von der Aussage, wandte er sich zu ihr um und lehnte sich an das Waschbecken. „Warum?“, wollte er wissen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich habe keine Ahnung davon. Ich kann gut fallen, aber das scheint das einzige zu sein, was ich beherrsche“, lachte er und versuchte die Spannung im Raum zu lösen. Sie hatten ihre merkwürdigsten Gespräche immer auf dem großen Bad des Hauses. Andere Familien klärten Probleme am Küchentisch oder auf der Couch. Aber er und Mikasa – sie klärten Wichtiges auf dem Bad. Wie es dazu kam, wusste er nicht. Aber sie taten es einfach.

„Einfach nur … weil …“

„Warum?“

„Du hast im Moment so etwas wie eine soziale Durststrecke, Eren. Du hängst nur in deinem Zimmer rum oder in Gesellschaft mit zueinander anonymen Studenten, die sich zwar sehen und einen Hörsaal teilen aber nicht miteinander sprechen. Mit wem isst du in den Mittagspausen zu Mittag?“

„Mit …“

„Mit?“, hakte sie nach und schenkte ihm ihren besten, mit Sorgen getränkten Blick.

„Allein.“

„Warum? Du hast doch sonst keine Probleme, mit Leuten ins Gespräch zu kommen. Erinnere dich nur an Connie und Sascha, die in der Neunten zu uns kamen. Oder Christa. Du kamst sogar mit ihrer Freundin Ymir auf einen grünen Zweig, während andere einen Bogen um sie gemacht haben. Oder Annie und ihre beiden Kumpel. Eren… Was ist los?“

„Das war die Oberschule, Mikasa. Diese Leute in den Studiengängen sind Einzelgänger… Es ist nun einmal so. Sie wollen keine Freunde, sind mit ihrem Schreibtisch verlobt und haben eine Affäre mit ihren Büchern.“

„Fühlst du dich wohl? So?“

„Ich gehe nicht zur Uni, um Freunde zu finden. Ich gehe zur Uni, um einen Abschluss zu machen“, meinte er und überspielte damit geschickt das Gefühl, dort noch immer fehl am Platz zu sein. Und das nach inzwischen einem Monat, den er dort verbracht hatte. Aber es war ok so. Er hatte immerhin einen straffen Stundenplan und war selbst kaum in der Mensa. Viel eher verbrachte er seine Mittagspause in der Bibliothek. Aber auch das sagte er ihr nicht. Noch mehr Sorge wollte er in ihren Augen nicht sehen müssen Es reichte bereits jetzt schon…
 

Levi

Er saß auf einem der beiden neuen, nach Kunstleder riechenden Sesseln in dem großen Büro mit Blick auf die Parkanlage hinter dem Gebäude. Die Beine überschlagend blickte er auf die Uhr und seufzte.

„Entschuldige, dass ich dich habe warten lassen.“

Eine angenehm ruhige Stimme dran an seine Ohren, nur machte er sich nicht die Mühe, sich zu bewegen. Seine Finger tippten viel eher einen imaginären Rhythmus auf die Armlehne des Sessels, als eine groß gewachsene, blonde Person in sein Blickfeld trat. Breitschuldig und mit unglaublich buschigen Augenbrauen. Doch gerade das passte so sehr in dieses markante Gesicht seines Vorgesetzten.

Levi nahm das grüne Barett vom Kopf, legte es auf sein Knie und fuhr sich durch das schwarze Haar. „Du wolltest mich sprechen, Erwin.“

Erwin Smith war der Eigentümer der Sicherheitsfirma und hatte inzwischen in zwei anderen Städten einen Standpunkt aufgebaut. Sie waren für ihr schnelles und präzises Handeln bekannt. Man konnte sich auf sie verlassen. Vor allem da ihr Angebot von der Kindergeburtstagsparty bis zum Präsidentenempfang reichte. Levi konnte nicht sagen, dass er gern hier arbeitete, aber es war besser, als an der Front in einem aufgewühlten Land zu stehen und Kameraden und Freunde sterben zu sehen. Als er das letzte Mal von einem Auslandseinsatz zurückkam, war er verdammt froh, dass er seine Zeit bei der Armee erfüllt hatte. Er hatte zwar nie geglaubt, dass er einer der Soldaten werden würde, die unter der Last der Ereignisse und Erinnerungen fast zusammenbrechen würde, aber es wäre beinahe so weit gewesen. Daher kam das Angebot Erwins damals zum perfekten Zeitpunkt. Zwar hatte er seine sandfarbene Uniform gegen eine schwarze eingetauscht, aber die Bedingungen waren bessere.

„Wann beginnst du mit dem Umzug?“

„Wenn ich umziehe“, gab er zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich werde dafür keinen Urlaub beantragen.“

„Solltest du aber.“

„Was? Willst du mir etwa helfen?“

Er vertraute seinem Vorgesetzten – vielleicht vertraute er ihm sogar blind. Aber sie waren keine Freunde. Nicht mehr. Sie waren nur noch Kollegen, die zusammen arbeiteten und mehr war da nicht. Daher sollte Erwin es langsam verstehen, dass diese Art der Annährung sinnlos war.

„Ich habe tatsächlich daran gedacht.“

„Vergiss es. Nicht bei deinem Alter“, gab er nüchtern zurück und bekam einen undefinierbaren Blick als Antwort, während sich der Hauch eines Lächelns auf Erwins Lippen legte.

„Du hast mir von diesem Mädchen erzählt…“

„Mikasa Ackermann.“

„Ja. Richtig. Rekrutieren wir sie?“

„Sie ist Frisörin.“

„Sie verdient hier besser“, lautete Erwins Antwort und Levi erlaubte es sich, die Augenbraue minimal als Ausdruck seiner Meinung zu heben. Er hatte Erwin nicht von ihr erzählt, weil er ihn dazu bewegen wollte, ihr eine Vorladung zu schreiben. Sie war nichts für diese Firma und erst recht nicht mit diesen Kollegen.

„Sie würde nicht ohne ihren Bruder gehen“

„Den hat sie auch?“

„Bringt nichts. Mehr Probleme als Lösungen. Der Typ ist ein wandelndes Chaos, schwer von Begriff – ausgemustert worden. Was willst du mit einem Kind?“

„Viele Worte, Levi.“

„Du kapierst es sonst nicht, Erwin. Meine Worte gehen zwar auch jetzt nicht in deinen dämlichen Brägen rein, aber ich habe die Hoffnung noch nicht aufgeben.“

Und wäre er jeder andere nur nicht er selbst, hätte Erwin ihn spätestens jetzt nach Strich und Faden zusammengefaltet und aus dem Büro geworfen. Ihm war klar, dass Erwin begabt war. Vor allem taktisch begabt. Einer der schlausten Männer, denen er jemals begegnet war. Aber dennoch wollte er nicht, dass Erwin über seinen Kopf hinweg entschied und am besten noch Vorladungen in seinem Namen verschickte. Die Beziehung zwischen ihm und Mikasa war ohnehin wacklig. Ihm lag nicht viel an zwischenmenschlichen Beziehungen, aber Erwin sollte keinen Ärger zwischen seinen Schülern schüren und darauf würde es hinauslaufen. Mikasa war der Ruhepol, die Boje im Dojo geworden und er konnte sich auf sie verlassen.

„Ach, Levi. So elegant wie ein Elefant im Porzellanladen.“

„Ich nehme das als Kompliment. Sonst noch was?“, gab er bissiger zurück als er es vielleicht wirklich gewollt hätte.

„Ja. Allerdings.“

„Was denn?“ Eine dunkelgrüne Akte flog auf den Tisch und Levi lehnte sich vor, nahm sie vom Tisch und schlug sie auf.

„Eren Jäger. Im dritten Monat des ersten Semesters an der Trost Univerity of Science. Der Junge ist ein Genie. Ich will ihn als Teilzeitkraft für die IT-Abteilung.“

Levi jedoch sagte nichts, starrte nur auf das Bild das der Akte beigefügt war. Biologie und Informatik Student.

„Rekrutier ihn.“

Eren

Anfang November wurde er von dem lauten Piepen geweckt. Es war Samstag, da stand er eigentlich nicht vor ein Uhr auf. Doch quälte er sich jetzt um halb neun aus dem Bett und schob die Gardine beiseite. Er hatte ein großes Zimmer mit zwei Fenstern. Das eine war nach vorn gerichtet und gab den Blick auf die Einfahrt frei, das andere ging nach rechts raus und ließ ihn direkt in den verwucherten Garten des verlassenen Nachbarshaus blicken.

Ein blauer Absetzer einer Entsorgungsfirma fuhr auf das Grundstück und stellte zwei größere Mulden nahe dem Haus ab, während Gerüstbauer damit beschäftigt waren, das Haus einzurüsten.

„Das Haus scheint verkauft zu sein.“ Mikasa kam durch seine Zimmertür auf ihn zu. Sie trug noch ihre kurze, schwarze Schlafshorts und das weite T-Shirt, was bedeutete, dass sie auch gerade erst aufgestanden war. „Hm. Scheint so… Dann warten wir mal ab, was für ein Arschloch von Nachbar diesmal dort einzieht.“ Die, die vor Jahren in diesem Haus zur Miete gewohnt hatten, waren die wohl schlimmsten Nachbarn gewesen, die Eren hier jemals erlebt hatte. Wenn im Sommer eine Blume über den Zaun hing, klingelten sie. War das Gras zu hoch, klingelten sie. Egal was es war, irgendwas haben diese Menschen von Nebenan immer gefunden. Selbst die Polizei war ständig für Nichtigkeiten anrufen worden. Etwa, wenn der Nachbar von der anderen Straßenseite am Samstag den Rasen mähte – dabei war es überhaupt kein Problem. Der Samstag galt als ganz normaler Arbeitstag. Und Eren hoffte, dass es dieses Mal nicht wieder so ein kleinkarierter Wichser sein würde… Darauf konnte er nämlich gut verzichten.

Die Gardine nun ganz aufziehend schlüpfte Eren in seine Hausschuhe und ging an Mikasa vorbei. Jetzt noch ins Bett zugehen und versuchen wieder einzuschlafen war sinnlos. „Ich mach Frühstück“, meinte er und lief die Treppe hinunter.

Ihre Küche war eine dieser großen, hellen Landhausküchen mit weißen Möbeln und einer gemütlichen Sitzecke neben der Gartentür. Eren mochte die Küche. Nicht nur, weil sie schon seit Ewigkeiten so war, wie sie jetzt war. Seine Mutter hatte sie damals ausgesucht. Zumindest hatte sein Vater ihm das gesagt. Als sie hier eingezogen waren, war Eren gerade vier Jahre alt geworden, daher erinnerte er sich nur an das Wenigste, was damals passiert war. Eren öffnete den großen Kühlschrank, nahm ein paar Eier heraus und Sahne. Kochen war zwar nicht seine größte Stärke – vor allem weil er das Aufräumen hinterher hasste wie die Pest – Mikasa war das besser als Hausfrau geeignet.

„Das hat Jean auch an mir gehasst“, murmelte er leise für sich, während er die Pfanne auf den Herd stellte und Öl hineinlaufen ließ.

Jean hatte es immer gern gehabt, wenn man ihm alles an den Arsch getragen hatte. Und kochen … das hatte Eren eigentlich nur wegen seinem Ex einigermaßen gelernt. Er hatte Jean immerhin … geliebt und hatte es ihm stets recht machen wollen. Und was tat man nicht alles, wenn man die Welt nur durch die rosarote Brille sah? Richtig! Nahezu alles. Leider.

Er und Jean waren beide nicht gerade die ordentlichsten Menschen gewesen und auch hatten sie beide einen sehr komplizierten Charakter. Nur sein Ex … war komplizierter, schwieriger und  … chaotisch gewesen. Es war klar gewesen, dass sie nicht lange miteinander auskommen würden. Allein wegen ihrer Vorgeschichte und alle dem. Wie es überhaupt zu einer Beziehung zwischen ihnen kommen konnte, die auf gegenseitigen Gefühlen für einander beruht hatte, konnte er sich noch immer nicht erklären.

„Eren. Gleich gibt’s Butter, wenn du die Sahne weiterhin so schlägst. Lass mich.“ Mikasa drängte ihn beiseite, nahm ihm den Schneebesen und die Schale aus der Hand und machte an seiner Stelle die Omeletts fertig. Hatte er seine Wut wirklich so sehr nach außen getragen?

„Jean.“

„Ja“, seufzte er und fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. Es war zu früh, er war müde und im Moment kam all das von damals immer wieder hoch. Er war nun schon etwas mehr als ein Jahr wieder single und doch nagte es immer wieder an ihm. Die Worte, die damals gefallen waren, hatten sein Selbstwertgefühl mächtig angegriffen und Eren hatte noch immer die Befürchtung, dass er sich davon noch immer nicht erholt hatte. Er hatte Angst, wenn er eine neue Beziehung in Erwägung ziehen würde, alles wieder so enden würde. Er wäre zu anhänglich, zu kuschelig, zu liebesbedürftig. Er würde keinen Raum zum atmen lassen, sei aber auf der anderen Seite zu ichbezogen und schlecht im Bett…

Jean war nicht seine erste Liebe gewesen und erst recht nicht der erste Mensch mit dem er zusammen war. Aber Sex war immer … ein Muss gewesen. Bisher hatte er es noch nicht erlebt, dass er sich freute, mit jemanden zu schlafen. Diese Art der körperlichen Nähe war stets ein Muss in der Beziehung gewesen und später bei Jean nur noch … Zwang. In all den Büchern oder in all den Filmen hatte es immer so schön ausgesehen, wenn die Paare zusammen waren und auch wenn es nur Filme gewesen waren, hatte die Harmonie gestimmt. Und nach all den Pornos, die er sich angesehen hatte, hatte er gedacht, dass mit ihm irgendwas nicht stimmte. Er hatte diese Anziehung nie gespürt. Allein bei dem Anblick des Freundes Lust auf mehr zu empfinden… Er kannte das gar nicht.

„Vergiss ihn. Es ist lang genug her, Eren. Er hat dich gar nicht verdient…“

Der Geruch von Zwiebeln füllte den Raum, zusammen mit dem typischen Geruch von gebratenen Eiern und Tomaten. „Irgendwann kommt jemand, der bereit ist, dich auch auf Händen zu tragen. Du hast Jean lang genug den roten Teppich zu deinem Leben ausgerollt. Es reicht langsam….“

Und erneut war er froh, dass Mikasa nicht alles wusste. Und sie würde auch nie alles erfahren. Wahrscheinlich würde sie dann jetzt sofort mit dem größten Messer aus dem Messerblock lospreschen und Jean noch auf der Ladentheke des Musikgeschäfts die Kehle aufschlitzen. Sie war so. Mit ihrem extremen Beschützerinstinkt und ihrer enormen Kraft, war sie die perfekte Kampfmaschine. Und Eren wusste, dass sie alles für ihn tun würde, wenn es heißen würde, dass er endlich wieder glücklich und ehrlich lachen würde.
 

Eren parkte den Wagen, als er vom Einkauf zurückkam, vor der Garage und wurde bereits von seiner Schwester erwartet. Lautes Donnern war hier zum stetigen Hintergrundsgeräusch geworden. Dachziegel flogen von oben in die Mulden und zerbrachen. Das ging inzwischen schon seit zwei Stunden so. Als er gefahren war, hatte es angefangen und jetzt war er wieder da und es war nicht gerade viel vom alten Dach verschwunden.

„Levi.“

„Hm?“ Zwei Einkaufstüten aus dem Kofferraum des Audis nehmend sah er am Auto vorbei zu seiner Schwester. Doch deutete sie nur auf die Person auf dem Dach des Nachbarhauses. „Levi“, wiederholte sie und Eren folgte ihrem Blick. Von hier konnte er zwar kaum erkennen, um wen es sich dort handeln sollte, aber er glaubte seiner Schwester. Mikasa hatte ihm immerhin noch nie irgendeinen Schwachsinn erzählt.

„Hat er den Beruf gewechselt oder was?“

„Keine Ahnung. Ich habe ihn kurz bevor du wieder gekommen bist, im Garten herumlaufen sehen.“

„Ist er allein dort oben?“

„Ja. Scheint so. Ich habe keine andere Person gesehen.“

Das Dach ließ man eigentlich ab- und dann neudecken. Dafür gab es Firmen. An ihrem Haus war bisher noch nichts in Eigenregie passiert.

„Warum kauft man eine solch derart abrissfällige Bude?“ Zwar war es ein schönes Haus, aber an all die Arbeit in diesem Altbau wollte Eren gar nicht denken… Er war einfach nur froh, dass ihr Vater stets für Renovierungen und dergleichen Leute kommen ließ. Er war einfach kein Freund von Tapeten und Kleister oder Wandfarbe. „Meinst du wir sollten…“

„Nein.“

„Mikasa. Er wird unser neuer Nachbar.“

„Nein. Ich rede mit dem nicht mehr als nötig.“

Eren warf selbst nur noch einen kurzen Blick auf die Person auf dem Dach und nahm dann die Einkaufstüten vom Boden auf, schloss den Kofferraum und folgte seiner Schwester ins Haus.

„Vielleicht hilft er auch nur einem Freund.“

„Als ob der Freunde hätte.“

„Na ja…“ Hanji schien zumindest dieser Bezeichnung am nächsten zukommen. Warum sollte er sonst in ihre Vorlesung kommen und ihr von der Bedrohung ihrer Tiere erzählen?

„Was?“ Mikasa schien auf das Thema ‚Levi’ genauso aggressiv zu reagieren, wie Eren auf das Thema ‚Jean’ reagierte.

„Ich glaube, er ist zumindest mit Hanji befreundet.“

„Mit deiner Dozentin? Dann kann die Frau auch nicht ganz sauber sein.“

„Ich habe nie behauptet, dass Hanji alle Tassen im Schrank hat, Mikasa. Niemand, der Bio studiert ist normal.“

Zumindest war das seine Ansicht. Oder besser gesagt, jeder der an der Trost Uni studiert, war nicht ganz normal. Und abgesehen von den Kunststudenten an der Shingashina war die Trost Uni eine Ansammlung von Irren und Wahnsinnigen, die mit ihrem Leben nichts anzufangen wussten. Es gab die Nerds, die Technik-Freaks, die Chemiker – das war eine ganz eigene Spezies Mensch. Zumindest wenn man von der Trost Uni ausging. Eren hatte keine Vergleiche zu Hand, aber die Chemiker waren ihm irgendwie unheimlich. Wenn sie mit ihren weißen Laborkitteln durch die Uni-Flure huschten als seien sie Geister. Eren selbst bezeichnete sich als nichts von alle dem. Zwar gehörte er offiziell zu der Fraktion Info-Streber, aber das war eine andere Geschichte.

„Ach so. Hier. Das ist für dich gekommen.“ Mikasa hielt ihm einen weißen Umschlag hin, auf dem nur seine Adresse stand. Die Augenbrauen zusammenziehend riss er die Lasche auf und faltete den Brief auseinander. Er trug das Symbol von Wing-Sec.

„Und?“

„Jobangebot“, meinte er nur, als er die Worte überflog und dabei nicht überraschter drinblicken könnte. „Mr. Smith hat mich zum Gespräch vorgeladen… Als Teilzeitkraft im IT-Sektor…“

Mikasa nahm ihm den Schrieb aus der Hand.

„Sehr geehrter Herr Jäger, aufgrund Ihrer außerordentlichen Leistungen der vergangen Wochen an der Trost University of Science würde ich Sie gern zu einem Gespräch einladen. Wir unterhalten eine enge Zusammenarbeit der Universität, welche Sie besuchen und erhalten bei Zeiten Empfehlungen von Studenten, die kurz vor dem Abschluss, dem Exam stehen. Sie befinden sich derzeit noch weit von einem Abschluss entfernt, jedoch sind Ihre Leistungen hervorragend, sodass ich Ihnen eine Stelle als Unterstützung unseres IT-Sektors anbieten möchte. Ich erwarte Ihre Nachricht. Gezeichnet E. Smith“, las Mikasa den kurzen Inhalt des Briefes laut vor und machte dabei den Eindruck, als wolle sie das Papier gleich zerreißen oder zerknüllen. „Du hast gar keine Zeit für einen Job!“, zischte sie, dabei hatte Eren nicht einmal gesagt, ob er dieses Angebot überhaupt in Erwägung ziehen würde. „Du studierst. Das ist schon ein Vollzeitjob!“, hängte sie wütend hinterher und warf den Brief auf die Anrichte. „Was erlaubt der sich?“

„Mikasa… Es ist doch nur ein Angebot…“

„Denken die überhaupt nicht nach?“

„Mikasa“, versuchte er es noch einmal und legte ihr die Hände auf die Schultern. „Und ich habe nicht gesagt, dass ich annehmen werde.“

Wobei das Angebot an sich schon verlockend klang. Und irgendwie löste es auch ein wenig Stolz in ihm aus… Ein Empfehlungsschreiben von der Trost Uni. Da musste er aber tatsächlich aufgefallen sein…

„Was hast du gemacht, dass du ein Empfehlungsschreiben bekommst?“, wollte sie wissen und sah ihn an. Ihr Blick bohrte sich beinahe in seine Augen und suchte nach einem eventuell versteckten ‚Mit dem Professor geschlafen’. Doch da konnte sie noch so lange suchen.

„Zwei Kurse für höhere Semester belegt. In der Revisionsphase. Ich saß in meinen Basiskursen, langweilte mich und belegte zwei Kurse aus den Aufbaumodulen für Viertsemester. Heißt zwar zwei Klausuren mehr in den Semesterferien aber…“ Er hatte gedacht, dass Informatik komplizierter werden würde. Aber er hatte ein Händchen dafür. Er verstand es einfach, konnte mit Programmen umgehen. Zwar war es für viele nicht verständlich, wie er in Mathe einige Defizite haben konnte, jedoch in der Welt der Bits und Bytes derartige Bestleistungen ablieferte. Ehrlich gesagt: Eren verstand es selbst nicht. Es war für ihn wie Atmen. Das war genauso, als würde man einen Linguisten fragen, wie es ist, zu schreiben und zu sprechen…

„Scheiß Streber“, meinte sie dann und er nahm die Hände von ihren Schultern, als er ein leises Lächeln auf ihren Lippen erkannte.
 

„Levi.“

Eren fing ihm am Eingang der Halle ab. So hatte er doch extra gewartet, bis der Trainer hier war. Anfangs hatte er nur Mikasa herfahren wollen, aber jetzt hatte er die Möglichkeit gesehen, mit Levi über den erst gestern erhaltenen Brief von Erwin Smith zu reden. Vielleicht wusste Levi etwas davon.

„Was ist?“ Es klang bereits jetzt genervt. Wahrscheinlich hatte Eren ihn auf dem falschen Fuß erwischt und doch würde er fragen.

„Ich habe eine Vorladung von Mr. Smith bekommen.“

„Hast du das.“ Es war keine Frage, eher eine Feststellung und das mit einem solch nüchternen Tonfall, dass Eren sich zu wundern begann, woran das lag.

„Halt das.“ Ihm wurde eine große, schwarze Sporttasche gegen die Brust gedrückt und Levi wandte sich von ihm ab, zog noch in der Drehung das Handy aus der Hosentasche und entfernte sich ein paar Schritte von ihm. Eren konnte beobachten, dass Levi das Gerät ans Ohr hielt und die freie Hand schob er in die Tasche der schwarzen Armeehose. Die Holster fehlten, doch ansonsten trug Levi das komplette Outfit der Wing-Securtiy. Er konnte nicht verstehen, was der Ältere sagte, aber allein die Körpersprache verriet, dass es kein sehr erfreuliches Gespräch war. Lange dauerte das Telefonat jedoch nicht an und Eren stand einfach nur da, hielt die Tasche fest, die ihm übergeben worden war.

„Vergiss den Wisch.“

„Warum?“, wollte er wissen und reichte dem anderen die Sporttasche.

„Fehler der dämlichen Tippse.“

„Ach so…“ Eren war die Enttäuschung durchaus anzumerken. Er hatte gedacht, er könnte mit anderen, höheren Semestern der Uni mithalten. Und mit dieser Mitteilung und der daraus folgenden Erkenntnis, noch immer auf dem niedrigen Niveau herum zu schwimmen, sank auch seine Laune als auch sein Selbstbewusstsein wieder auf ein Minimum.

„Enttäuscht?“

Eren zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. Er hatte genug Übung darin, ein falsches Lächeln echt wirken zu lassen. „Nein. Ich hatte mich schon gewundert, warum ein Erstsemester wie ich zu dieser Ehre komme“, log er deswegen schnell und winkte das Thema durch, als habe es ihn überhaupt nicht berührt. Dabei hatte es doch ein paar Kratzer auf seinem Lack hinterlassen. Levis Blick jedoch schenkte ihm nur einen kurzen Blick, schien die Lüge zu erkennen, beließ es jedoch dabei und ging an ihm vorbei. „Fahr nach Hause.“

Er sah ihm hinterher. Es fiel ihm schwer, den anderen zu duzen oder den Vornamen zu benutzen. Ihm war klar, dass Levi es ihm angeboten hatte und die distanzierte Anrede nicht zu mögen schien. Und das obwohl er bei der Armee war und sie zueinander fremd waren. Nur Eren war es gewohnt, Älteren mit dem gebürtigen Respekt zu begegnen. Selbst bei Hanji … Er adressierte sie trotzdem mit dem formalen Sie oder der Anrede Dr. Zoe. Es kam ihm einfach falsch vor. Und bei Levi … Er kannte ihn nicht und es kam ihm einfach zu vertraut vor, ihn zu duzen und doch tat er es. Nur, um nicht den harten Blick zu sehen, der ihm bei ihrem ersten Aufeinandertreffen zuteil worden war.

Den Schlüssel aus der Hosentasche ziehend begann er damit zu spielen. Er überlegte, ob er reingehen und zusehen sollte, oder ob er heimfahren sollte. Doch entschied er sich letztlich dazu, zum Auto zugehen und heim zu fahren. Es war Sonntag, daher hatte er zwar auch Zuhause nichts zutun, aber vielleicht könnte er sich dazu aufraffen, wenigstens etwas für die Uni zutun.
 

„Eren?“

„Hm?“

Er sah in Hanjis große, braune Augen, als er aufblickte. Sie stand vor seinem Tisch in dem Seminarraum und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Sie wirkte verwundert, aber auch besorgt. „Du bist abwesend.“

„Entschuldigen Sie.“ Er nahm die Brille von der Nase, rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über den Nasenrücken.

„Worüber haben wir gesprochen, bevor du abgedirftet bist?“

Diese Bloßstellung konnte er jetzt echt nicht gebrauchen, aber er beließ es dabei und beschloss, nicht ganz zuzumachen und Hanji abprallen zulassen. Das war etwas, das er gut konnte. Doch konnte er es sich nicht leisten, den einzigen Dozenten zu verärgern, der einigermaßen was auf ihm zu halten schien.

„Mutationen in der Genetik“, antwortete er und hoffte, dass es richtig war.

„Ja. Und jetzt sprechen wir über Genommutation. Was kannst du mir dazu sagen?“

„Es gibt zwei Arten der Genommutation. Und sie wird mit der Chromosommutation zu Chromosomaberrationen zusammengefasst…“, begann er und versuchte zwischen all den wirren Gedanken die richtigen Informationen herauszupicken.

„Das ist immerhin schon einmal ein Anfang.“ Sie sah sich um und nahm jemanden aus dem Raum dran, der Erens Ausführung präzisierte, ehe sie sich zu ihm hinunterlehnte. „Mein Büro. Um eins. Bring zwei Kaffee mit.“ Es war keine Einladung auf ein Gespräch, es war ein freundlicher Befehl und Hanji schenkte ihm noch ein kurzes Lächeln, ehe sie wieder nach vorn an die Tafel schritt.
 

Irgendwie schaffte er es, zu klopfen. Die beiden großen Becher Kaffee stapelte er übereinander, als er ein Herein hörte und die Klinke hinunterdrücken musste.

Hanji saß in einem schwarzen, bequem wirkenden Bürostuhl, der Monitor zeigte irgendwelche Tabellen und Grünpflanzen versperrten beinahe die Sicht aus den großen Fenstern. Sie hatte das Büro für sich allein. Andere Dozenten teilten sich die Räume. Aber scheinbar hatte man als ‚Doktor der Biologie und der Chemie’ Sonderrechte an der Uni. Eren stellte die Kaffeebecher auf dem chaotischen Tisch ab und ließ sich selbst auf den Stuhl für Besucher fallen. Seine Tasche auf dem Boden absetzend sah er sich um. Hanji sagte nichts, ließ ihn einfach machen und ein unangenehmer Schauer lief über seinen Rücken, als die Wand mit den Terrarien erkannte. In einem kroch eine handflächengroße Vogelspinne herum. Eren konnte es nicht verhindern, dass er erschauderte. Diese Viecher waren ihm einfach unheimlich… Und mit einem derart großen Exemplar in einem Raum zu sein…

„So, Eren.“

Sein Blick schoss zurück zu Hanji. „Was ist los?“, fragte sie und lehnte sich zurück, überschlug die Beine und nahm ihre randlose Brille von der Nase, um die Gläser mit einem Tuch zu reinigen.

„Es ist nichts Wichtiges.“

„Wenn du so derart in einer anderen Welt verschwindest, ist es etwas Wichtiges.“

„Verzeihen Sie, dass ich unaufmerksam war. Es kommt nicht mehr vor.“

„Ich habe dir gesagt, du sollst mich Hanji nennen.“

„Es kommt mir falsch vor“, antwortete er ehrlich. Zwar sprach er zu Hause immer von Hanji, aber er würde sie niemals so nennen können. „Wir sind keine Freunde, keine Bekannte. Sie sind meine Dozentin. Es ist nicht richtig.“ Er hatte es von seiner Mutter über all die Jahre beigebracht bekommen und es war schwer, mit Angewohnheiten zu brechen. An der Schule war es normal und hier war es das ebenso. Zwar war er für sein loses Mundwerk und seine manchmal raue Art bekannt gewesen, aber dennoch würde es ihm im Traum nicht einfallen, einen Vorgesetzten zu duzen. Und Hanji war eben das. Jemand, der im Rang weit über ihm stand.

„Dann lass uns Freunde sein, Eren. Ich merke doch, dass dich etwas belastet.“

„Nein. Mich belastet nichts.“

Dabei war das die größte Lüge, die er in den letzten Jahren erzählt hatte.

„Hm. Du lügst“, folgte Hanjis nüchtere Antwort und sie schob die Brille zurück auf die Nase. „Was ist los?“

Er konnte ihr nicht von allem erzählen. Und auch nicht von gestern. Und …

„Erzähl ruhig. Ich höre dir zu. Deswegen habe dich hergebeten.“ Sie langte nach einem der Kaffeebecher, nahm den Plastikdeckel ab und zog eine Schachtel mit Zuckerwürfeln aus einem Regel hinter ihr. „Ich möchte, dass meine Studenten in einwandfreier Verfassung sind. Noch ist es das erste Semester. Aber die Schonfrist wird bald zu Ende sein, Eren. Dann brauchst du deine volle Konzentration.“

„Ich weiß“, meinte er kleinlaut und erkannte sich selbst nicht wieder. Er war ohnehin nicht er selbst seit einigen Monaten.

„Also?“

Eren begann mit dem Saum seines Shirts zu spielen und richtete den Blick zu den Terrarien zurück. In einem konnte er eine Echse erkennen, die sich gerade mühsam auf einen der Stämme quälte und sich dann gemütlich dort niederließ, wo es am wärmsten war. Jetzt gerade wünschte er sich, mit diesem Tier zu tauschen. Er wollte sich auch einfach nur auf einen Stamm legen und keine Sorgen mehr haben müssen. „Ich bin gestern Blumen kaufen gegangen. Meine Schwester, Mikasa, hat die Chance bekommen auf eine Meisterausbildung. Sie ist Frisörin und ich dachte, ein paar Blumen wären nicht verkehrt. Sie mag keine Schokolade“, begann er dann einfach und beobachtete die Tiere in ihren gläsernen Heimen. „Ich bin in den Blumenladen an der Ecke. Der, mit der schönen Schaufensterdekoration und wollte ihr einen Strauß mit blauen Iris zusammenstellen lassen. Ich kenne den Besitzer vom sehen und die Angestellten auch. Und Marco, einer der bereits ausgebildeten Floristen ist ein echt netter Kerl. Sympathisch, zuvorkommend und hilfsbereit – der Inbegriff eines Sunnyboys. Ich mochte ihn von Anfang an. Er war den Tag auch da, freundlich wie immer und hat gleich gefragt, was ich wollte. Es lief alles so wunderbar, bis die Tür erneut aufging und Jean herein kam. Jean ist …“ Konnte er das jetzt sagen? Aber sicherlich wäre Hanji die letzte, die ihn deswegen verurteilen würde, oder? „Er ist mein Ex. Und plötzlich war die Stimmung in dem eigentlich gemütlichen Laden völlig dahin.“ Ein tiefes Seufzen verließ seine Lippen und er schüttelte leicht den Kopf. „Ich sollte Ihnen das nicht erzählen.“

„Doch!“ Es klang ein bisschen zu interessiert und als Eren zu ihr zurück sah, erkannte er tatsächlich ein interessiertes Funkeln in diesem dunklen Braun ihrer Augen. „Erzähl ruhig.“

„Schreiben Sie eine Doktorarbeit in Psychologie oder so ähnlich?“

„Nein. Ich könnte, aber ich will nicht. Aber erzähl ruhig.“ Sie nahm einen großen Schluck des Kaffees und nickte ihm dann zu.

„Ok…“

„Jean. Was ist mit ihm? Warum habt ihr die Beziehung beendet?“

„Letztes Jahr hat es … einfach nicht mehr gepasst.“

„Letztes Jahr? Und du – Was ist passiert?“

Er wusste, dass es für die meisten nicht verständlich war, warum dieser Name noch immer eine solch große Wirkung auf ihn hatte. Und auch Hanji war da keine Ausnahme. Aber sie wusste auch nicht, wie er selbst früher war. Sie kannte nur sein jetziges Ich.

„Ich habe noch mit niemanden darüber gesprochen. Nicht einmal mit meiner Schwester…“

„Scheinbar wird es aber Zeit dazu, wenn es dich noch immer belastet.“

„Zu Beginn konnten wir uns nicht ausstehen. Wir gingen zusammen in die Mittelschule, er hatte damals die Schule gewechselt und kam zu uns in die Klasse. Wir waren wie Feuer und Wasser. Ein blaues Auge nach dem anderen – Sie kennen das bestimmt. Zwischen Jungs ist das nun mal so. Man kann einander einfach nicht ab. Und irgendwann, er kam eigentlich um meine Schwester zu sehen – ein Vorwand wie ich später merkte, um mich zu sehen. Ich habe keine Ahnung, wann wir diese Gefühle für einander entwickelt hatten, aber sie waren dann einfach da. Am Anfang der Beziehung war auch alles ok, es war wie jede normale Beziehung eben sein sollte.“

„Aber?“

„Der Sex.“ Eren spürte, wie seine Wangen heiß wurden. Er sprach nicht gern darüber, fühlte sich dann schwach und angreifbar. Es war ihm nicht direkt peinlich, aber es war einfach … ein unangenehmes Thema. „Er war nicht mein erster Freund, natürlich nicht. Ich hatte meine erste Beziehung mit fünfzehn, mein erstes Mal im selben Alter. Ich kam mit Jean zusammen, als wir beide beinahe siebzehn waren. Dazwischen hatte ich den ein oder anderen Versuch einer Beziehung, die jedoch alle den Bach runter gingen. So auch mit Jean. Er entwickelte sich zu dem Klischeebild eines Machos, dabei war klar dass ich über ihm stand. Er wusste das auch. Er fühlte sich in meiner Gegenwart klein, das meinte zumindest meine Schwester. Ich machte den besseren Schulabschluss, hatte die besseren Noten und war … beliebter als er.“

„Und wie hat sich seine Veränderung noch geäußert?“

„In Gewalt… Ich war nie der Typ der gleich losschlug, er war es immer gewesen, von dem die körperliche Gewalt ausgegangen war. Schon damals in der Schulzeit, vor der Beziehung. Er versuchte mich mit Worten fertig zu machen, mein Ego war zu der Zeit etwas stabiler. Und als es nicht klappte, wurden aus Worten Schläge. Und um zum … Problem zurückzukommen…. Ich habe Sex nie als … gut empfunden. Es hat … mir nie Spaß gemacht und ich habe mich nie … von meinem Partner angezogen gefühlt…“

„Wie kam es?“

„Dieser Zwang, dieses Muss. Man muss Sex haben, um eine Beziehung funktionsfähig zu halten. Beim ersten Mal kam es so abrupt und ich hatte meinen Freund nicht enttäuschen wollen, hatte ihn nicht verlieren wollen, weswegen ich einfach zugesagt hatte. Und … es war der reinste Horror…“ Eren biss sich auf die Unterlippe. Er hatte nicht die Chancen gehabt, einen Orgasmus zu faken – Frauen hatten es da einfacher. Aber es hatte seine Partner nie interessiert. Die einzigen Höhepunkte hatte er, wenn er sich selbst befriedigt hatte und das war traurig genug. „Und auch bei Jean … Er hat es irgendwann realisiert und begonnen, mich damit nieder zu machen. Wie genau – das möchte ich nicht erzählen.“ Die Erinnerung daran tat schon weh genug. „Er hat’s geschafft, mich auf den tiefsten Punkt meines Selbst zu bringen und mich dort zu halten. Ich begann nach seiner Pfeife zu tanzen, zu laufen, wenn er nur schnippte und …“

„Dein Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein hat einen mächtigen Knacks bekommen. Das kann man sehen. Du zögerst, wenn du im Unterricht etwas sagt. Du stellst dich selbst mit allem in Frage, selbst wenn die Antworten richtig sind. Die Beziehung zu diesem Jungen hat dich … gebrochen.“

„Ich weiß.“ Zu lange hatte er sich von Jean hin und her schubsen lassen, bis er nicht mehr wusste, wer er eigentlich selbst war. Und selbst jetzt wusste er noch nicht. Manchmal fühlte er sich selbst gegenüber fremd. Es war bei Gott kein schönes Gefühl. „Es hat mich so verletzt, dass er dann einfach gegangen war… Und dann fand ich heraus, dass er mich über drei Monate hinweg mit einem anderen betrogen hatte. Mit …“

„Dem Floristen.“

„Mit Marco. Ja. Und zu sehen, wie liebevoll Jean mit ihm umging… Gestern …“

Eine Taschentuchpackung erschien in seinem Sichtfeld und erst da realisierte er, dass ihm Tränen über die Wangen liefen.

„Entschuldigung“, meinte er nur, zupfte ein Tempo heraus und wischte die Tränen schnell weg. Das war ihm genauso peinlich wie die ganze Geschichte an sich. Männer weinten nicht. Es war ein Zeichen für Schwäche und er wollte verdammt noch mal nicht mehr schwach sein!

„Das macht doch nichts, Eren.“ Hanji klang immer so verständnisvoll. Wie eine Mutter, oder eine Kindergärtnerin, die die Kinder tröstete. Er fühlte sich irgendwie wohl in ihrer Nähe. Ihre Art beruhigte ihn…

„Und dann noch … Am Samstag bekam ich eine Vorladung von Erwin Smith. Er hat mir eine Stelle im IT-Sektor der Firma angeboten…“

„Einem Erstsemester? Dann musst du gut sein.“

„Nein.“ Eren biss sich auf die Unterlippe, fixierte einen Punkt im Raum und versuchte den Kloß in seinem Hals hinunterzuschlucken. „Ich habe mit Levi gesprochen.“

„Levi Levi?“, hakte sie nach und Eren nickte.

„Der, der den Tag hier war. Wegen Ihren Tieren…“

„Woher kennst du ihn?“

„Er ist der Trainer meiner Schwester – Matial Arts…“

„Ach. Also was war mit dem Gespräch?“

„Ich weiß, dass er bei Wing-Sec arbeitet. Ich habe ihn gefragt, wegen des Briefs und er hat sofort bei jemanden angerufen. Es war … nur ein Fehler der Sekretärin. Ich hatte den Brief niemals bekommen dürfen.“

„Hey, Eren. Das sagt doch nichts darüber aus, ob du etwas kannst oder nicht?“

„Informatik ist das einzige, was ich richtig kann. Ich liege in den Kursen der höheren Semester im ersten Drittel… Ich…“

„Eren.“ Ihre Hand legte sich auf seine, als er begann das Tempo in kleine Stücke zu zerpflücken. „Setz dich nicht selbst so sehr unter Druck.“

„Ich will aber beweisen, dass ich…“

„Dass du doch für etwas zu gebrauchen bist?“, hakte sie nach und traf damit den Nagel auf den Kopf.

„Ich will etwas wert ein, Doc. Ich will … endlich wieder etwas wert sein.“

Er schluckte trocken, spürte, wie seine Kehle sich zuschnürte. „Ich habe Angst, zu versagen und ich … ich will das nicht…“

„Eren. Hey, Eren!“ Sie stand auf und trat auf ihn zu. Ihre warmen Hände legten sich an seine Schultern und sie zog ihn an sich. Und aus einem Reflex heraus schlang er die Arme um ihre schmale Hüfte, hielt sich in dem Stoff ihres Pullovers fest.

„Alles wird gut“, flüsterte sie und er spürte Hanjis Finger, die durch sein Haar glitten.
 

Er stand an seinem Fenster und starrte hinaus auf das Grundstück nebenan. Das Dach des Hauses war vollkommen abgedeckt und ein großer LKW lieferte gerade palettenweise schwarze Dachziegel. Er konnte Levi dort stehen sehen. Die Arme vor der Brust verschränkt, beäugte sein zukünftig neuer Nachbar die Taten des Lieferanten. Zwei weitere Männer mit grauen Arbeitsklamotten standen ebenso da. Wahrscheinlich professionelle Dachdecker. Von der Statur her, konnte es hinkommen. Erens Blick glitt zum Haus. Es war ein neuer Dachstuhl gezimmert worden. Da helle Holz strahlte beinahe und das trotz des tristen Wetters. Darunter war grüne Plane angebracht worden. Eren hatte keine Ahnung davon. Er wäre überhaupt keine Hilfe bei solchen Angelegenheiten.

Der Fahrer des LKW stieg vom Kran, schritt zu Levi und den beiden anderen. Es schienen ein paar Worte zu fallen, dann folgte ein lässiger Handschlag zwischen dem Fahrer und Levi, ehe ersterer wieder in das Fahrerhaus verschwand und davon fuhr. Als der Ex-Militär sich jedoch in die Richtung seines Hauses wandte, blieb sein Blick an Erens Fenster hingen und Eren verschwand schnell zur Seite. Er wollte nicht spannen oder so etwas in der Art. Er hatte nur nichts zutun, war allein zu Hause. Drei seiner Professoren waren krank, weswegen der komplette Donnerstag für ihn ausfiel. Und Mikasa war noch arbeiten. Warum Levi um diese Uhrzeit – zwölf Uhr am Mittag – frei hatte, wusste er nicht. Aber auf der anderen Seite hatte es ihn auch nicht zu interessieren, was?

Er entschied sich, sich umzuziehen und Mikasa im Salon einen kurzen Besuch abzustatten. Es dauerte nicht lange, bis er dort angekommen war, wo er hinwollte. Um diese Zeit waren die Busse leer und die Haltestellen reduzierten sich auf ein Minimum. Als er ausstieg und die wenigen Meter bis zum Salon lief, erkannte er bereits die beiden Aufsteller des Ladens. Der Salon an sich hatte ein angenehmes Ambiente. Rote Wände ließen den großen Raum gemütlich und warm wirken, der Tresen für die Termine und das Kassieren war direkt in der Mitte aufgestellt und aus weißem Holz gefertigt. Die Stühle waren weiß, die Spiegelhalterungen ebenso. Es war dieser Kontrast zwischen den Farben, der einfach alles angenehm werden ließ.

„Eren?“

„Hi“, meinte er nur und setzte eines seiner Lächeln auf, als eine Kollegin Mikasas auf ihn zukam. Mina war eine der wenigen Auszubildenden hier im Betrieb. Schwarzes Haar, dunkle Augen – eine unspektakuläre, fast langweilige Ausstrahlung. Sie war uninteressant. Vielleicht war das der Grund, warum sie selten Kunden hatte. Ihre Kopfmassage war grauenhaft, ihr Typverständnis immer daneben und sie machte dennoch weiter. Obwohl der Job nichts für sie war, war sie noch immer hier. Bewundernswert. „Ist Mikasa da?“

„Ja. Moment.“

Sie verschwand für den Bruchteil einer Minute und kam mit seiner Schwester zurück. Sie schien gerade Pause gemacht zu haben. „Stör ich?“

„Nein. Ich habe nur meine Sachen in die Spülmaschine geräumt. Hätte ohnehin weitermachen müssen. Was gibt’s?“, wollte sie wissen und schwang den Gürtel um die Hüften, in welchem sich Rasiermesser, Kämme und Scheren befanden. „Kannst du daran was ändern?“ Er nahm eine längere Strähne seines braunen Haars und hob sie an. Sein Haar war inzwischen bis auf die Schultern gewachsen und sah einfach nur schwachsinnig aus, wenn keine Form darin war. Er hatte zwar schon versucht, der ganzen Masse selbst Herr zu werden, nur war es ihm nie gelungen. Eigentlich hatte er Mikasa nie fragen wollen, aber jetzt reichte es ihm doch langsam. Er passte diesbezüglich perfekt in die Informatiker-Gruppe, aber er trug nicht durchgehend Bandshirts und gab etwas auf Körperhygiene. Daher wollte er nicht wie ein Möchtegern-Metalhead wirken.

„Kurz? Wie früher?“, fragte sie und deutete in die Richtung der Waschbecken.

„Ich dachte an etwas, das nur ein bisschen kürzer ist, aber mehr Stufen hat…“, erklärte er dann. Eigentlich wollte er eine dieser momentan modernen Herrenfrisuren mit längerem Haar. Ganz kurz würde ihn nur wieder wie ein Kind wirken lassen. „Ok… Vielleicht ein paar hellbraune Strähnen…“, schlug seine Schwester vor. „Um es etwas frischer wirken zu lassen.“ Er ließ sich auf den Stuhl vor dem Waschbecken sinken und lehnte den Kopf zurück. „Hat es irgendeinen Grund?“

Eren musste an die Unterhaltung mit Hanji vor zwei Tagen denken und gab deswegen ein angedeutetes Nicken als Antwort.

„Mach dich wieder interessant. Verändere das, was dich selbst an dir stört. Geh vorwärts, ohne zurückzusehen und denk an das, was du kannst. Denk an das, was du wirklich kannst. Lass dich nicht von Worten runterziehen, die nur dazu gedacht waren, dich zu verletzen, dich zu zerstören. Du bist du. Du gehörst nur dir. Denk immer daran.“

Das Gespräch mit Hanji hatte ihm etwas gegeben, was ihm nicht einmal ein Gespräch mit Mikasa hätte geben können. Mikasa war so alt wie er, hatte dieselben Lebenserfahrungen wie er. Aber Hanji war älter, hatte mehr erlebt, mehr Jahre gesehen als er. Und es hatte … gut getan, darüber zu reden ohne einen mit Sorgen getränkten Blick zusehen oder Morddrohungen zu hören.

„Ein Neuanfang.“ Zumindest hoffte er auf einen Neuanfang.

Kapitel 4

Anm.: Hallo, little cupcakes! Ich hab hier eine neue Version von Kapitel 4. Habe ein paar Fehler entdeckt gehabt, die ich beseitigen wollte. Zudem gibt's 'ne neue Version von Levis Wagen. Ich habe euch den Link mitgebracht: http://image.hotrod.com/f/9270498/113_0703_10_z%25201969_camaro_rs%2520front_view.jpg

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Eren

„Irgendwas ist anders.“ Er saß vor seinem Monitor und sah dem lächelnden Gesicht Armins entgegen. Das hier war das erste Skype-Meeting, das sie seit einer Woche hatten und umso erleichterter war er jetzt, Armin zu sprechen.

„Deine Haare… Du siehst nicht mehr aus wie ein Pudel.“

„Danke. Du bist zu herzlich, Armin.“ Armin selbst band sich ein paar Strähnen seines blonden, inzwischen auch sehr lang gewordenen Haar nach hinten und zuckte die Schultern. Immerhin wirkte sein bester Freund jetzt nicht mehr wie einer der Beatles mit seinem Pilzschnitt… Abgesehen davon ließ es Armin auch nicht femininer wirken. Der Junge hatte zwar sehr weibliche, feine Züge, aber gerade das lange Haar machte das irgendwie wett. Warum konnte Eren sich nicht erklären.

„Wie war dein Tag?“, fragte er und hörte Armin seufzen.

„Stressig“, kam es zurück. „Die Kinder sind hyperaktiv. Glaube mir! Die sind nicht kaputt zu kriegen. Ich war nach der Schule mit den Jüngsten noch am Strand – Wahnsinn, was die für eine Energie haben!“

Eren lächelte – ein ehrliches Lächeln. Es klang anstrengend, aber scheinbar mochte Armin es da. Allein an dessen funkelnden, blauen Augen konnte man das sehen. Der Blonde war dafür gemacht, auf Kinder aufzupassen, draußen zu sein… Der perfekte Lehrer. Nur wie Meeresbiologie da hineinpasste… Eren konnte es noch immer nicht begreifen.

Im Hintergrund öffnete sich eine Tür. „Où sont mes clés?“

„Près du tableau des clés“, folgte die Antwort Armins und Eren hob nur die Augenbrauen. Er wusste ja, dass Armin Französisch sprach, aber dass es sich wirklich so flüssig und … echt anhörte, hatte er beinahe vergessen. Armin hatte diese Sprache in ihrer Gegenwart nie gesprochen, weil niemand ihn verstanden hätte.

Die Tür wurde wieder geschlossen und Armin wandte sich wieder der Kamera zu. „Und bei dir? Alles ok?“

„Sicher“, meinte er und zuckte die Schultern. Das letzte was er wollte, war Armins sorgenvoller Blick. Also war alles ok. „Was sollte nicht ok sein?“

„Studium?“

„Erste Sahne.“

„Das freut mich. Wen kennengelernt?“

„Nein.“

„Schade“, kam es von Armin zurück.

„Und du? Eine fesche Französin aufgerissen?“

„Wo denkst du hin? Ich komme von hier nicht weg, es sei denn ich hab die Kinder dabei.“

„Kinder ziehen Frauen für gewöhnlich an. Du kannst sie als Köder benutzten.“

„Sagt der hochgradig schwule Kerl auf der anderen Seite der Leitung.“

Eren konnte offenes Lachen daraufhin nicht zurückhalten. Allein Armins Ausdruck und dessen nüchterner Tonfall war genug, um ihn beinahe vom Stuhl kippen zu lassen. „Fängst du deine Affären auch so?“

„Klar. Ich leihe mir dafür regelmäßig Kinder aus dem Kindergarten in der Nähe. Wie kommt es nur, dass du das nicht wusstest, Armin?“, lachte Eren und wischte sich ein paar Tränen aus dem Augenwinkel. Er vermisste die Gespräche mit Armin. Sie konnten stundenlang so sitzen und nur reden – egal welches Thema. Selbst der größte Mist konnte zu einem interessanten Thema wachsen. Es gab nie eine unangenehme Stille zwischen ihnen… So wie es bei besten Freunden eben der Fall sein sollte. Und Eren fühlte sich bei niemanden so wohl und verstanden wie bei Armin.

„Läuft denn auf der Uni nichts rum, das in dein Beuteschema fällt?“

„Nein. Leider nicht. Ich gebe viel auf Körperhygiene. Die meisten aus meinen Kursen tun das nicht.“ Es war ein gängiges Klischee, dass Studenten der Naturwissenschaft nicht gerade ordentlich waren und leider bestätigte sich dies mehr und mehr.

„Wirklich schade. Und Mikasa?“

„Sie ist eisern wie immer. Es liegt nicht an der Nachfrage. Sie ist zu wählerisch.“

„Ach. Hm. Kann man nichts machen.“ Sie kannten Mikasa einfach zu gut. Sie würde niemals einen x-beliebigen Typen nehmen, der ihr Rosen und Pralinen schenkte. „Aber vielleicht wird’s was mit einem aus dem Kurs.“

„Welcher Kurs?“

„Dieser Kampfsportkurs bei dem Ex-Militär. Da läuft ein so’n Typ rum – zumindest manchmal – der ihr eindeutige Blicke zuwirft und den sie nicht gleich tötet.“

„Oh, das ist in der Tat ein Fortschritt.“

Eren warf einen Blick nach draußen, als lautes Scheppern und ein ebenso lautes Fluchen selbst durch die geschlossenen Fenster zu ihm ins Zimmer drang.

„Was war das?“

„Wir haben einen neuen Nachbarn, der das alte Haus auf der rechten Seite von unserem gekauft hat.“

„Und ich dachte schon, es spukt bei euch…“, seufzte Armin erleichtert und sah auf den unteren Bildschirmrand. „Ich muss Schluss machen. Ich schreib dir, wenn ich wieder Zeit habe, ja.“

„Yo. Alles klar.“

„Ok. Mach’s gut, Eren!“

User disconnected.

Eren schaltete den Rechner aus und öffnete das Zimmerfenster. Sich vorlehnend erkannte er das Übel auf dem anderen Grundstück. Eine zerbrochene Fensterscheibe. „Levi!“, rief er aus dem Fenster und strich sich den fransigen Pony aus der Stirn. Der Blick des anderen hob sich sofort. Ach, er vergaß – Levi wusste noch nicht, wer seine Nachbarn waren… Sie hatten sich meistens elegant versteckt, weil Mikasa eine Interaktion mit Levi hat vermeiden wollen.

„Du wohnst da?“

Levi hob die Hand, deutete auf das ganze Haus und wirkte nebenbei so genervt und dämonisch, als sei er gerade aus der Hölle gekrochen.

„Ja?“

„Scheiße.“

„Warum?“

„Was willst du?“ Die Arme zur Seite fallen lassend verdrehte Levi wohl die Augen, nur das konnte Eren auf diese Entfernung nicht sehen.

„Kann man dir helfen?“

„Was?“

„Ob du Hilfe brauchst.“

„Von dir?“ Es klang ungläubig und beinahe schon spöttisch. „Ganz sicher nicht. Lass deinen Studentenarsch bloß da, wo er jetzt ist.“ Scheinbar war Levis Meinung von ihm echt hoch. Und Eren hatte genug damit zutun, diese Anmerkung nicht gleich wieder zu tief vordringen zu lassen.

„Dir ist gerade eine Fensterscheibe zerbrochen.“

„Ich weiß das“, kam es bissig zurück.

„Ich komm rüber.“

„Bleib weg!“

Doch er schloss das Fenster, zog sich schnell etwas Altes über, das ruhig dreckig werden konnte und huschte aus dem Haus und über den maroden Zaun. „Gott, womit habe ich das nur verdient?“, war Levis Begrüßung.

„So etwas wie Freude kennst du wohl nicht, was?“

„Seh ich so aus? Ich kann niemanden gebrauchen, der zu dämlich ist, sich allein den Arsch abzuwischen. Also was willst du hier?“ Sein Gegenüber fasste den Saum des dicken, grünen Pullis, der eindeutig das Zeichen der Sicherheitsfirma trug, und zog sich das Kleidungsstück über den Kopf. Darunter trug Levi nichts weiter als ein schwarzes Tanktop und Eren bekam allein bei dem Anblick schon Schüttelfrost und Fieber. Es war November! Mitte November sogar. Es begann nachts zu frieren und Levi zog einfach … den Pullover … aus? Es war schweinekalt!

„Hey, ich bin nicht völlig unnütz. Alles klar? Also lass mich mit anpacken. Ich bin wohl der einzige Nachbar, der dir Hilfe anbieten wird.“

„Du gehst mir auf die Eier“, folgte jedoch nur der nüchterne Kommentar und doch wurden ihm ein paar Arbeitshandschuhe gegen die Brust geworfen. „Machst du was kaputt, töte ich dich auf der Stelle.“

„Alles klar.“

Gemeinsam nahmen sie den zuvor umgekippten Fensterrahmen wieder hoch. Die Scheibe war definitiv hin, der Rahmen jedoch nicht einmal angekratzt. „Wohin?“

„Auf den Schrott? Diese beschissenen Scheiben kosten mehr als ein ganzes Fenster.“

„Oh.“ Er hatte wenig Ahnung von solchen Dingen. Auch wenn er die Familienfinanzen im Blick hatte, waren ihm solche Sachen jedoch fremd. „Hast du das Haus gekauft?“

„Geerbt.“

„Dann gehörte es jemanden von deiner Familie?“

„Interessiert dich nicht.“

Sie stellten den eigentlich neuen Rahmen in einen der vor kurzem erst gelieferten Container und nahmen einen anderen vom Transporter. „Machst du alles allein?“

„Ja? Arbeiter kosten zu viel Kohle und auf die Arschlöcher kannst du dich auch nicht verlassen.“

Welch hohe Meinung über die Dienstleister, ging es Eren durch den Kopf, als er Levi ins Innere des Hauses folgte und das Fenster in einem großen Raum abstellte, der nach hinten hinaus zeigte. Das alte Fenster war bereits ausgebaut und stand an einer Wand, wartete darauf, entsorgt zu werden. Ihm wurde ein Werkzeug entgegen gehalten, kaum dass sie das Fenster komplett auf dem Boden abgesetzt hatten. „Flügel abmontieren. Kannst du das?“

„Ja…“

„Ja oder nein?“

„Ja.“ Eren nahm den Schraubendreher entgegen und öffnete das Fenster, nahm wenig später den ersten Flügel ab.

„Wunderbar. Das machst du bei allen Fenstern draußen.“

„Aber…“

„Hier.“ Ihm wurde ein roter Folienstift entgegen gehalten. „Wenn dein Spatzenhirn sich nichts merken kann, markier die Teile.“

Eren verkniff sich jedes Wort, welches sich daraufhin über seine Lippen quälen wollte und nahm den Stift, ehe er wieder hinausging.
 


 

„Bist du allein zu Hause?“

Eren saß auf einem alten Kissen von einer alten Couch aus dem Keller und sah zu Levi hoch, der sich auf den Fenstersims gesetzt hatte. Das Fenster fehlte jedoch noch und es waren fünf Meter die zwischen Levi und dem Erdboden waren. Nur schien es diesem nichts auszumachen. „Mikasa ist auf einem Ausflug – Betriebsausflug. Keine Ahnung. Irgendeine Messe“, meinte er und nahm mit den Stäbchen ein Stück Hühnerbrust aus dem weißen Karton des chinesischen Lieferdienstes. Levi hatte bei dem Chinesen der Stadt bestellt – so viel, dass es eine ganze Familie hätte versorgen können.

„Versteckt ihr euch?“

„Vor dir? Mikasa … ja“, gestand er dann und zuckte die Schultern. „Sie geht dir aus dem Weg.“

„Hm.“ Es klang nicht enttäuscht oder so etwas in der Art. Eher so, als habe er damit bereits gerechnet und sich damit abgefunden.

„Was ist das zwischen dir und ihr?“, wollte Eren wissen. Aus Mikasa selbst würde er niemals eine Antwort herausbekommen.

„Sie kann mehr als sie zeigt.“

„Das ist alles?“

„Scheinbar hat sie ein Problem mit Druck und Strenge“, erklärte sich Levi mit einem nüchternen Tonfall und einem desinteressierten Gesichtsausdruck.

„Und warum bist du so streng mit ihr?“

„Ich plane eine Teilnahme an einem internationalen Wettbewerb nächstes Jahr im Frühling. Sie hat Chancen, ganz oben zu stehen nur sie ist zu schlampig.“

„Sah für mich nicht so aus.“

„Sie ist es. Perfektion ist das größte Maß. Und nur eine beschissene Technik kann dir den Sieg kosten.“

„Geht es hierbei um Mikasa, deinen Verein oder deine Reputation als Trainer?“

„Reputation. Wie gehoben“, wurde es ihm beinahe vor die Füße gespuckt. „Du redest genau wie sie.“

„Hanji?“

„Verbringst zu viel Zeit mit ihr.“

„Ich bin ihr SHK“, verteidigte er sich. Seit letzter Woche hatte er die Pflege für ihre Reptilien – natürlich nicht der Spinne! – übernommen, weil sie für eine Woche außer Haus war. Und so hatte er wenigstens eine Aufgabe… Zwar war er sich nicht sicher, ob sie ihm die Aufgabe nicht aus Mitleid gegeben hatte, aber immerhin hatte er nun etwas zutun.

„Sag ich doch. Zu viel Zeit mit Hanji.“

Eren wollte etwas erwidern, doch klingelte sein Handy in exakt diesem Moment. „Sorry“, murmelte er und stellte den Pappkarton auf den Boden, erhob sich und zog das Handy aus der Hosentasche. Unbekannte Nummer. „Jäger“, meldete er sich und entfernte sich aus dem Raum, in welchem er sich befunden hatte.

„Smith. Eren Jäger?“

Eren hielt die Luft an, fasste sich in den Nacken, weil er nicht wusste, was er mit der freien Hand tun sollte. „Ja… Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte er und warf einen Blick über seine Schulter zu Levi, der noch immer dort saß und in den Garten hinaussah.

„Ich habe die Handynummer von einer guten Bekannten.“

„Hanji, nehme ich an“, gab Eren zurück und versuchte gleichzeitig eine Verbindung zwischen den Dreien zu ziehen.

„Richtig. Es geht noch immer um das Jobangebot.“

„Ein Fehler – ich verstehe schon.“

„Kein Fehler. Ich würde mich noch immer gern mit dir unterhalten.“ Wo war das formale Sie hin? Die Distanz schrumpfte auch hier gerade auf ein Minimum. Nur dass er sich hier überhaupt kein Du über die Lippen quälen konnte. Erwin Smith klang sogar am Telefon überlegen. „Ich weiß nicht, was mein Kollege dir erzählt hat, aber ich würde dir die Stelle doch gern noch einmal näher bringen.“

„Warum bin ich so interessant für Sie?“ Er verstand es einfach nicht! Was war an ihm so anders? Jeder Student eines höheren Semesters könnte eventuell anfallende Aufgaben einfacher und schneller lösen. Warum also er? Ein Erstsemester?!

„Deine Fähigkeiten sind selten.“

„Welche Fähigkeiten?“

„Du hast ein Gespür für dieses Gebiet. Viele müssen kämpfen, müssen lernen – und ich will dich.“

„Ich fühle mich sehr geehrt, Mr. Smith. Leider habe ich bereits eine andere Stelle angenommen, die ich ungern kündigen würde.“

„Das ist sehr schade.“

„Allerdings. Ich hielt es für ein Missverständnis und hatte den anderen Job bereits in Aussicht gehabt. Daher – Entschuldigen Sie.“

„Dann kann man nichts daran ändern.“

Eren hörte daraufhin nur das penetrante Geräusch am anderen Ende und legte selbst auch auf. Er betrat das Zimmer, ließ sich wieder auf das Kissen sinken.

„Erwin.“

„Äh … ja…“

„Bastard.“ Überrascht sah er zu Levi hoch, doch trug dieser noch immer seine eiskalte Maske. Unbewegt und unbeeindruckt.

„Ihr seid per du?“

„Der Wichser war mein Ausbilder. Ich kenne ihn. Wir haben einander des Öfteren den Arsch gerettet.“

„Wie kam er an die Firma?“

„Sein Alter – zumindest ist das die offizielle Version. Keine Ahnung.“

„Warum arbeitest du für ihn, wenn er dir auf den Sack geht?“

„Bezahlung. Weniger Berufsrisiko.“ Levi schwang die Beine über den Sims, stand wieder auf festem Boden und irgendwie beruhige es Eren, den anderen nicht mehr auf diesem dünnen Sims sitzen zu sehen…

„Darf ich fragen-“

„Nein. Darfst du nicht. Du kannst die Fresse halten, wenn es um mich geht. Alles klar?“

„Entschuldigung.“

„Und hör auf dich für jeden Scheiß zu entschuldigen.“

Beinahe wäre ihm erneut eine Entschuldigung über die Lippen gepurzelt, doch verkniff er es sich gerade noch so, leerte den Pappkarton schnell und folgte Levi dann wieder raus.

„Kannst du Wände verputzen?“

„Ich … keine Ahnung. Ich verputze so selten Wände…“

Levi schwieg daraufhin. Scheinbar war das die falsche Antwort gewesen…
 

Levi
 

„Du rufst ihn an?“

„Bitte, Levi. Tritt doch ein.“ Er war mit der Tür beinahe in das Büro gefallen. Noch immer hatte er Holzspäne und anderen Staub im Haar, Dreck an den Händen, an der Hose und im Gesicht. Eigentlich sah er aus wie jeder Typ, der auf dem Bau arbeitete. Der grüne Pulli war auch siffig. Und eigentlich war es gar nicht sein Stil, so eingedreckt irgendwo hinzugehen. Er war jedoch gewohnt, Tage lang im Dreck zu kriechen und seitdem er für Erwin arbeitete, kroch er durch die tiefste Scheiße, in der er jemals gesteckt hatte. Also was machte es für einen Unterschied?

„Du rufst ihn an?“, wiederholte er seine Frage bissig und baute sich vor dem Schriebtisch auf. Unter anderen Umständen hätte es vielleicht lächerlich gewirkt. Nur nicht jetzt. Seine Laune war nahe dem Gefrierpunkt.

„Du kannst es nur nicht ertragen, dass ich in einem ‚Nichtsnutz’ wie du ihn mir beschrieben hast, Potential sehen. Abgesehen davon, woher weißt du davon?“

„Er hat mir mit den Fenstern geholfen.“

„Ach? Also doch mehr Lösung als Problem, der Junge.“

„Erwin“, kam es warnend zurück und Levi lehnte sich vor, platzierte beide Hände auf dem massiven Schreibtisch. „Lass es. Du versaust den Jungen nicht mit deinen düsteren Machenschaften.“

„Bist du jetzt unter die Moralapostel gegangen, Levi?“ Erwins Augenbrauen hoben sich und hätte Levi es nicht besser gewusst, hätte er ein spöttisches Lächeln auf den Lippen des Blonden vor ihm gesehen.

„Das hat damit nichts zutun. Ich folge dir, das weißt du. Du hast mein Vertrauen, meine Loyalität. Und wenn du das nicht weißt, dann tust du mir wirklich leid. Nur lass die Flossen von den beiden. Weder Mikasa noch Eren – haben wir uns verstanden?“

„Mikasa hat sehr viel Potential. Sie würde gut in der Uniform aussehen.“

„Erwin. Das sind Kinder.“

„Wir brauchen mehr Personal, Levi. In allen Bereichen.“

„Du planst nicht die beschissene Weltherrschaft – also warum die Reihen aufstocken? Nimm Leute aus anderen Sicherheitsfirmen oder räum auf dem beschissenen Arbeitslosenmarkt auf und hol dir ausgebildete Leute ins Boot. Aber nicht die beiden. Ich fass es nicht, dass Hanji-“

„Hanji hat mir die Nummer nicht gegeben.“

„Was?“ Das warf ihn dann doch etwas aus der Bahn.

„Ich habe auch andere Genies in den Reihen der IT.“

„Das ist illegal.“

„Hat dich das je gestört? Du hast unter meinem Befehl so einige illegale Dinge getan, Levi. Vergiss das nicht.“

„Lass die beiden einfach. Die haben hier nichts verloren.“

„Hm. Schade.“

„Du bedauerst es nicht ein bisschen. Du suchst jetzt schon nach einem Weg an mir vorbeizukommen“, meinte Levi und ließ sich dann in einen der Sessel fallen. Er schob die Ärmel des Pullis hoch und massierte das rechte Handgelenk. Es war vielleicht doch ein bisschen viel gewesen. Und er musste sich doch eingestehen, dass er ohne Erens Hilfe nicht so weit gekommen wäre heute. Dass der Junge überhaupt rüber gekommen war und es die ganze Zeit mit ihm ausgehalten hatte… Oder es war einfach nur wegen der Leere im eigenen Wohnhaus gewesen. Ach, was wusste er denn schon. Er wollte nur einfach keine Kinder in den Reihen der Wing-Sec sehen. Vor allem keine Kinder, die eine Zukunft hatten, die ohne das hier auskam. Studium und eine erstklassige Ausbildung – auch wenn es nur beim Frisör war. Er konnte nicht zulassen, dass Erwin alles zerstörte. Wie viele hatte Levi schon unter Erwins Kommando gehen sehen? Oder sterben? Kinder standen damals jedoch nicht auf der Abschussliste…
 

Eren
 

„Wo willst du hin?“

Freitagnachmittag des folgenden Tages.

„Ähm…“ Er schob die Ärmel des alten Pullis hoch und kratzte sich dann am Hinterkopf.

„In diesem alten Fummel? Eren?“

„Rüber?“

„Wohin rüber?“, hakte sie nach und stand mit in die Hüfte gestemmten Händen im Türrahmen zur Küche. Die geblümte Schürze die sie trug, konnte ihrem herrischen Auftreten auch keinen Abbruch tun. Trocken schluckte er. Würde sie ihn umbringen, wenn er sagen würde, er ginge zu Levi rüber? Klar, er hatte selbst gesagt, dass Levi irgendwie unheimlich sei und dieser Meinung war er noch immer. Aber immerhin hatte so eine Antwort auf dieses verdrehte Verhältnis zwischen seiner Schwester und dem Ex-Militär bekommen. Und Levi schien gar nicht so verkehrt zu sein, wie man auf den ersten Blick vermuten wollte. Vielleicht steckte hinter der kühlen, harten Fassade doch ein ganz netter Kerl. Wunschdenken, dessen war sich Eren auch im Klaren. Nur irgendwie hatte er sich den ganzen Tag schon drauf gefreut, wieder rüber zu gehen. Zwar war er nie ein Freund von dieser Art Arbeit gewesen, weil man ihn nie hat etwas machen lassen. Und wie gesagt – Tapeten, Kleister und Eren würden niemals Freunde werden. Aber alles andere…

„Zu … Levi?!“

„Was machst du da?“ Oh ihr Blick wurde kühler, bedrohlicher und beinahe tödlich.

„Ich … helfe?“

„Hat er gefragt?“

„Nein. Ich hab’s ihm angeboten.“

„Hm.“

Damit wandte Mikasa sich von ihm ab und beließ es dabei. Eren selbst nahm dies als Zeichen dafür, dass er gehen konnte und verließ das Haus durch die Vordertür. Ein schwarzer Chevrolet Camaro … RS. Die Karre kostet mehr als ein paar Fenster, überlegte Eren und wagte es, sich dem Wagen zu nähern und einen Blick hinein zuwerfen. Schwarze Volllederausstattung. Der Wagen verfügte über eine manuelle Schaltung. Eigentlich hatte er gedacht, es wäre ein Automatikwagen… Aber es war ein Import aus den USA. Das Lenkrad war auf der falschen Seite, wenn man es auf die englischen Verhältnisse übertrug… Wie gern würde er diesem Wagen unter die Haube sehen… Einen 1969 Camaro sah man nicht oft. Und dann auch noch in der 396 Version. 330 PS… Da wird’s einem ganz warm ums Herz…

„Yo, Eren.“ Er schreckte zurück und hob die Hände.

„Ich habe nichts angefasst!“, beteuerte er seine Unschuld und lief den Schotterweg zur Tür hoch. Levi lehnte im Türrahmen, die Arme verschränkt und die Augenbrauen gehoben. „Ist das deiner?“

„Ja. Schrotthaufen. Richtige Montagskarre.“

„Die hat auch Lederausstattung. Reichen Daddy, was?“, wiederholte er Levis Worte von vor wenigen Wochen und erhielt einen beinahe tödlichen Blick, nur ließ er dies nicht an sich herankommen. Viel eher redete er sich ein, dass er mit Levis Art irgendwann auf einen grünen Zweig kommen würde.

„Verdien’ du erstmal eigenes Geld, kleiner Wichser.“

„Danke – zu herzlich.“

„Eimer, Kelle. Auf geht’s.“ Ihm wurden die Gegenstände in die Hand gedrückt.

„Wie …“

„Du kannst doch lesen?“

„Ja.“

„Dann tu es. Wasser ist in der Küche.“

„Und du…“

„Ich fahre eben in den Baumarkt.“

„Du lässt mich allein?“

Eren war überrascht, dass Levi ihm scheinbar so weit vertraute, dass er ihn allein hier ließ.

„Die Bude kannst du kaum einreißen.“

„Und wo…“

„Fang einfach an. Stell nicht so viele dämliche Fragen.“
 

„Eren“, zirpte Hanji ihm ins Ohr, als er gerade das Wasser in einem der Terrarien wechselte. Er verbrachte seine Mittagspause seitdem er bei ihr als SHK angestellt war, eigentlich immer in ihrem Büro. Der Raum war so groß und gemütlich und Hanji war nur selten da. Sie verbrachte ihre Mittagspause in der Regel mit Kollegen in der Uni-Mensa. Und da er sonst nichts zutun hatte, war er eben hier. Manchmal nutzte er die Zeit auch einfach und machte Hausaufgaben oder erledigte das, was liegen geblieben war – über das Wochenende oder weil er keine Zeit gehabt hatte. Er hatte sogar die Erlaubnis, ihren Rechner zu benutzen, weswegen die Hausaufgaben im Fach Informatik auch von hier zu erledigen waren.

Hanji war inzwischen wirklich mehr als eine einfache Dozentin für ihn geworden. Sie verstanden sich recht gut, was Eren selbst eigentlich nicht gedacht hatte.

„Hm?“

„Hast du Lust, mir bei einem Experiment behilflich zu sein.“

„Explodiert dabei irgendwas?“, hakte er gleich nach und wandte sich zu ihr um. Ihr engelsgleiches Lächeln verriet ihm, dass es nicht ganz außer Frage stand.

„Es ist Chemie. Da kann etwas explodieren, wenn man es falsch macht.“

„Aber du machst es richtig?“ Das wäre beruhigend, wenn sie ihm das bestätigen könnte…

„Mal sehen. Ich will den Versuchsaufbau für ein Praktikum anbieten. Und ich bräuchte eine Hand, die mir hilft.“

„Ja … Also, warum nicht? Ich habe keine Ahnung von Chemie – aber gut.“

Er hatte immerhin einen Biologie-Leistungskurs belegt und Chemie somit endlich aus seinem Stundenplan streichen zu können. Aber vielleicht würde es mit Hanji ja ganz lustig werden.

„Keine Angst. Ich werde dafür sorgen, dass du ganz bleibst. Wer soll sonst unserem Gremlin helfen?“

Eren lachte etwas hilflos und blickte Hanji leicht verstört an.

„Ach Eren.“ Ihre Hand legte sich auf seine Schulter und sie drückte ihn in Richtung der Tür. „Levi und ich kennen uns seit Ewigkeiten. Denkst du er erzählt mir nicht, dass der Wichtel von nebenan hilft?“

„Wichtel?“

„Eigentlich ‚Kleiner Wichser’ oder ‚Der Bengel der mir auf die Eier geht’, aber ich wollte es freundlicher umschreiben…“ Sie schenkte ihm ein Lächeln, als sie die Flure entlang schritten, bis sie im Keller der Universität ihr Ziel fanden. „Es ist beinahe Dezember, Eren. Und ich muss sagen, seit dem Gespräch und deiner Zusammenarbeit mit Levi … hast du dich positiv verändert.“

„Denke ich nicht“, gab er ehrlich zu und zuckte die Schultern, hielt aber auch gleichzeitig die Luft an, als Hanji den Raum öffnete und der verhasste Geruch von Chemikalien um ihn strömte. Er hasste diesen Geruch mehr als alles andere. „Glaub mir, es ist so. Siehst du in ihm vielleicht so etwas wie einen Bruderersatz?“

„Ich …“ Darüber hatte er noch gar nicht nachgedacht. Er hatte nur festgestellt, dass es ihm gefiel, wenn man ihm auch mal etwas überließ, das nicht nur mit einem Telefonat zutun hatte. Sein eigener Vater hatte ihn stets in Watte gepackt. Und selbst Mikasa hatte sein Vater stets in dicke Tücher gehüllt – wahrscheinlich wollte er seine Kinder nur von der Außenwelt schützen. Aber eher das Gegenteil war eingetreten. Aber Eren hatte nie einen großen Bruder oder eine große Schwester vermisst. Er war immer so zufrieden gewesen, wie es gewesen war.

„Er traut mir was zu.“

„War nicht immer so.“

„Ich weiß“, seufzte er. Wahrscheinlich war er in Levis Augen noch immer ein Kind. Vielleicht vom Alter her als Erwachsener zu bezeichnen, aber wenn Levi ihn ansprach, klang es immer so, als würde der Ältere nur einen dummen Jungen in ihm sehen. Auch wenn er ihm Aufgaben auftrug, ihn allein arbeiten ließ, sich sozusagen auf ihn verließ – dennoch änderte es nichts an der Tatsache, dass er ein Kind in den Augen des anderen war. So sahen ihn ohnehin viele. Zerbrechlich, zu nichts zu gebrauchen, kindlich. „Er wollte ja auch erst gar nicht, dass ich überhaupt rüberkomme…“

„Er hat’s mir erzählt.“ Hanji nahm zwei Kittel vom Haken, ebenso Schutzbrille und dicke Gummihandschuhe aus einem Wandschrank. „Ich bin die einzige, die alles über ihn weiß. Nicht einmal Erwin weiß so viel über ihn wie ich. Wir sind beste Freunde, auch wenn man kaum vermuten mag, dass Levi Freunde hat.“

„Er sorgt sich aber um dich“, meinte Eren und nahm ihr den Kittel ab, streifte ihn sich über, als auch Hanji sich den ihren überzog. „Er kümmert sich auf seine eigene, verdrehte Weise um die Menschen, die ihm wichtig sind.“

„Wie um Mikasa…“

„Er will nur, dass sie mehr als nur ihre mittelmäßige Leistung bringt. Er hat diese seltene Gabe. Nur wenige Menschen sind in der Lage, das Potential eines anderen zu erkennen. Levi kann das. Wenn du ihm vertraust, und wenn du ihn so weit hast, dass er dir auch vertraut, dann würde er sich ein Bein ausreißen, nur um dich zu schützen. Ich weiß das. Man sieht es ihm nicht ab, aber ist eine sehr fürsorgliche Person.“

„Kaum zu glauben.“ Für Eren war es irgendwie befremdlich hinter der dämonisch kalten Maske dieses Menschen Wärme zu sehen.

„Aber dräng dich nie auf. Lass ihm Platz, wenn er ihn will. Und lass ihn in Ruhe, wenn er auf hundertachtzig ist. Es passiert schnell, dass Levi an die Decke geht, da musst du aufpassen und die Zeichen zu deuten lernen.“

„Aber wie?“ Er hatte schon manchmal das Gefühl, dass er Levi mächtig auf den Sack ging. Aber wenn er meinte, er ginge lieber, warf Levi ihm irgendwas hinterher und drohte ihm ihn abzustechen, wenn er jetzt ginge.

„So eine kleine Falte zwischen den Augenbrauen.“ Hanji deutete mit ihren eigenen Zeigefinger zwischen ihre Augenbrauen. „Wenn die sich bildet, halt lieber die Klappe.“

„Und sonst noch?“

„Er trägt ein Messer an der linken Hüfte.“

„Ja…“ Das war ihm bereits aufgefallen. Levi kam nach der Arbeit immer direkt zum Haus, trug noch die Uniform – nur ohne die Holster. Doch das Messer hing immer an seiner Seite… Jetzt wurde es Eren doch etwas mulmig. Levi könnte die Drohung mit dem Abstechen ohne Probleme wahr machen…

„Sollte das irgendwann mal in einer Wand oder in einem Stück Holz stecken, geh. Geh und komm den Tag nicht wieder.“

„O-okay…“

„Er ist eine Kampfmaschine. Seit der Kindheit. Ich weiß, es ist nicht meine Aufgabe, dir das zu erzählen, aber ich will dich lebend und in einem Stück in meinen Kursen sehen. Und in den Einsätzen in den Krisen- und Kriegsgebieten … Levi tötet mit bloßen Händen, Eren. Also sei vorsichtig was du sagst und wie du es sagst…“

„Jetzt habe ich wieder Angst.“

„Du hattest Angst vor ihm?“

„Er war mir anfangs unheimlich“, gestand Eren ihr. Aber inzwischen hatte sich das gelegt. Zwar empfand er noch immer größten Respekt vor dem Älteren, aber hatte aufgehört sich in dessen Gegenwart klein und verängstig zu fühlen. Doch jetzt? Jetzt wusste er nicht, ob er lieber die ganze Zeit schweigen sollte, wenn er Levi bei den Umbauarbeiten zur Hand ging…

„Aber Levi zu beruhigen kann auch einfach sein.“

„Hm?“

Hanji stellte ein paar Reagenzgläser bereit, kleine Dosen und Fläschchen von Chemikalien, andere Gläser und Wasserbehälter. „Er ist Teetrinker. Kaffee nur bei Überstunden. Schwarzer oder grüner Tee. Wenn du bei ihm verschissen haben solltest – irgendwann – dann koch Tee. Aber nicht den billigen Scheiß aus dem Supermarkt. Teebeutel sind mist“, erklärte sie und setzte dann die Schutzbrille über ihre eigene und sah zu ihm. „Herr Assistent – reichen Sie mir doch bitte das dritte Gefäß von rechts im obersten Regal.“ Eren wandte sich um und sah an den langen Regalen entlang, die sich hinter ihm befunden hatten. Ohne Probleme kam er an den gewünschten Gegenstand und reichte ihn an Hanji weiter.

„Was wird das?“

„Ein Experiment für angehende Lehrer. Es ist wie eine Geschichte aufgebaut und soll die Kinder später für Chemie begeistern.“

„Hm. Alles klar.“

„Aber um auf’s Thema zurückzukommen: Wir haben hier einen Teeladen. In der Kernstadt. Da gibt’s einen Darjeeling. Er ist in einer roten Papiertüte abgepackt. Ich glaube die Tüte kostet um die fünf Pfund, also kein Halsbruch. Aber glaub mir, den Gesichtsausdruck ist es definitiv wert.“ Sie schüttelte irgendwas zusammen und erhielt ein weiß rauchendes Etwas in einem der Gläser. „Du sowie er können Freunde gebrauchen. Ich weiß, dass du hier eher der Einzelgänger bist und es wohl auch bleiben wirst – Freundschaft an dieser Uni ist echt verdammt schwer. Selbst die Dozenten sind untereinander wie Kriegsfeinde. Aber außerhalb wäre es nicht schlecht. Zwar liegt ein nicht zu übersehender Altersunterschied zwischen euch, aber dein jugendlicher Leichtsinn kann gut für ihn und seine kalte, erwachsene Art kann ebenso gut für dich sein. Das Schicksal spielt mit merkwürdigen Karten, aber wir müssen sie so hinnehmen.“

„Du glaubst an Schicksal?“

„Ja?! Warum nicht?“ Sie sah ihn an und griff nach einem anderen Behälter. „Man muss nicht alles immer erklären können. Und warum sollte dir so etwas passiert sein, wie es passiert ist, wenn nicht aus irgendeinem Grund? Für etwas Besseres in der Zukunft? Glaub mir, ich bin auch durch die größte Scheiße geschwommen, bis ich hier gelandet bin. Manchmal braucht man ein Loch in das man fällt, um sich durch eigene Kraft wieder auf die Beine zu ziehen und hinauszuklettern.“ Hanji zuckte die Schultern. „Ich erzähle dir auch nicht irgendeinen … Bullshit, Eren. Ich mag dich ganz gern und noch mehr mag ich es, das Glänzen in deinen Augen zu sehen. Und ein Lächeln stet dir besser, als dieser emotionslose Ausdruck auf dem Gesicht.“

Kapitel 5

Eren

Ich habe etwas zu Hause liegen lassen, hat er gesagt, wiederholte Eren die Worte und sah auf die Wohnungsschlüssel in seiner Hand. Fahr eben rüber, hat er gesagt, ging es ihm weiter durch den Kopf und er nahm den silbernen Schlüssel zwischen die Finger, schob ihn in das Schloss der Tür, auf der die Nummer 104 stand. Er befand sich im vierten Stock des zweiten Wohngebäudes, welches noch auf dem Grundstück der Wing-Security stand. Mit einem zarten Klicken öffnete sich das Schloss und Eren schob die Tür nach innen auf.

Der Geruch von frischem Tee kam ihm entgegen, wehte um ihn herum und Eren betrat die Wohnung. Ein merkwürdiges Gefühl machte sich in ihm breit. Wie lange kannte er Levi jetzt? Ein paar Monate – nicht einmal so lange, wie Mikasa ihren Trainer kannte. Alle zwei Tage, oder zumindest dann wenn Eren Zeit hatte, war er drüben. Selbst wenn es inzwischen sehr schnell dunkel wurde, ging er noch rüber. Manchmal sogar nach dem Abendessen. Und wenn es nur ein paar Kleinigkeiten waren, die er mit Levi in dem noch immer sehr baufälligen Haus erledigte. Eren wusste nicht, wie er es beschreiben sollte. Sie waren keine Freunde – man wusste nichts von dem jeweils anderen, was über das standardisierte Maß der Infos hinausging. Name, Beruf, Alter. Mehr wussten sie von einander nicht und Eren wagte es auch nie, nachzufragen.

Aber jetzt hier im Heiligsten einer Person zu stehen… Die eigenen vier Wände, in denen ein Mensch jeden Tag lebte, Emotionen freien Lauf lief und einfach nur … man selbst war. Zwar glaubte Eren nicht daran, dass Levi irgendwie Emotionen besaß, die über Wut, Frustration, Genervtheit und Ekel hinausgingen, aber die Möglichkeit bestand. Nach dem Chemieaufbau mit Hanji hatte sich nichts geändert. Sie meinte zwar, dass Levi eine ganz herzliche Person war, doch glaubte Eren wenig daran. Man sah es nicht. Man spürte es nicht einmal. Es war nicht so, dass Levi ihm gegenüber fies war. Klar, irgendwie schon, aber es war nicht wegen ihm. Es war einfach Levi. Das war dessen Charakter, dessen Art. Und Eren hatte sich inzwischen daran gewöhnt. Man konnte trotz allem recht gut mit dem Älteren arbeiten und er tat es wirklich gern.

Wenn er abends den Dreck unter seinen Nägeln wegkratzte und sich den Staub aus dem Haar wusch, wusste er wenigstens, dass er etwas getan hatte. Zwar war er manchmal echt fertig, wenn er nach acht oder zehn Stunden von der Uni heimkam, aber irgendwie war es entspannend, noch etwas anderes zu tun. Inzwischen verstand er Mikasa. Er verstand es, warum sie nach Feierabend noch in die Stadt fuhr oder ging und sich im Dojo noch einmal richtig verausgabte. Hin und wieder hatte er sich sogar dabei erwischt, darüber nachzudenken, selbst auch seinen Arsch dorthin zu bewegen, eine Anmeldung auszufüllen und Teil des Vereins zu werden. Mikasa schien mehr und mehr begeistert zu sein. Es schien mit einem Mal aufwärts zu gehen. Ihm war nicht klar, ob Levi mit ihr gesprochen hatte, aber Mikasa war nicht mehr so angenervt, wenn sie nach einer Trainingseinheit nach Hause kam, an der Levi selbst teilgenommen hatte.

Eren schloss die Wohnungstür hinter sich, legte den Schlüsselbund auf eine weiße Kommode, die an der rechten Wand stand. Daneben waren Haken an der Wand angebracht, an welchen die Lederjacke der Uniform hing oder ein schwarzer Wintermantel, eine dünne Sommerjacke… Er sah vier Paar Sicherheitsstiefel darunter, Sniker von Nike und Laufschuhe derselben Marken. Die Wände waren dunkelblau. Es wirkte kühl, ließ den eigentlich schmalen Flur jedoch größer wirken. Zu seiner Linken war eine weiße Tür. Eren hatte keine Ahnung wo sich das befand, was er suchte, weswegen er die Tür öffnete und in einem kleinen, beinahe beengenden Bad stand. Das sind nicht einmal sechs Quadratmeter. Und selbst jemand wie Levi, der zwar nicht gerade groß war, konnte sich kaum in dieser Enge wohl fühlen.

Also schloss Eren diese Tür, öffnete die nächste auf der rechten Seite, die sich neben der Kommode an der Wand befand und betrat ein großes Wohnzimmer mit großen Fenstern.

Werkzeugkasten. Groß und schwarz und nicht leicht, hat er gesagt. Doch auch hier im Wohnzimmer fand er das nicht. Ein großer, schwarzer Fernseher hing an der Wand, darunter ein schwarzes Sideboard mit zwei etwas höheren Schränken daneben. Die Couch war ebenso schwarz, der Teppich auf dem er stand war hingegen so weiß wie die Wände. Schwarze Vorhänge vor den Fenstern, keine Bilder an der Wand, nur grüne Blumen auf der langen Fensterbank. Ein hohes, langes Regal befand sich am Ende des Raums, war voll gestellt mit Büchern und DVDs. Aber es war keine Spur von dem, was er suchte.

Die Küche befand sich gegenüber dem Wohnzimmer – klein, steril und schwarz-weiß. Kaum der Rede wert – nicht einmal gemütlich. Scheinbar war Levi eher der sterile Kerl. Die Wohnung war genau so kalt wie sein Charakter…

„Schlafzimmer“, murmelte Eren, als er die Klinke der letzten Tür in der Hand hielt und  … hinunterdrückte. Er fand ein großes, schwarzes Futonbett vor, schwarze Schränke vor einer weißen Wand. Es war exakt wie im Wohnzimmer und das einzige, was diese Wohnung auch bewohnt erscheinen ließ, war der Geruch von Tee, Waschmittel und … Levi. Neben der Balkontür erkannte Eren das Gesuchte und nahm den metallenen Koffer vom Boden auf. Es klirrte darin und das Gewicht war definitiv nicht zu verachten.

„Was muss er für ein einsamer Mensch sein“, überlegte er. Nicht ein einziges Bild befand sich in den Räumen. Die Wände waren kalt und nackt und der einzige Farbklecks war der Flur. Alles andere war so schrecklich monochrom. Eren fühlte sich hier überhaupt nicht wohl.

Er nahm den Schlüssel wieder zur Hand und verließ die Wohnung so schnell, wie es ihm möglich war. Er lief die Treppen hinunter, drückte die Haustür auf und öffnete den schwarzen Chevrolet per Knopfdruck der Fernbedienung. Eren öffnete den Kofferraum und stellte die Kiste hinein, ehe er einstieg und den Motor startete. Es zumindest versuchte. Es kam nur ein leises Ächzen als Antwort und er ließ den Kopf in den Nacken sinken. So viel dazu. Er hätte sein eigenes Auto nehmen sollen. Wahrscheinlich hat Levi ihn deswegen mit diesem Wagen fahren lassen. Weil dieser Karre so gut wie nie richtig lief! Erneut versuchte er es, den Wagen zu starten. Einmal, zweimal und dreimal und er war kurz davor, auf das Lenkrad einzuschlagen. Er hatte doch kein Licht angelassen. Es war alles ok. Levi hat gesagt, er habe erst getankt…

„Scheißkarre“, knurrte Eren und lehnte sich im Sitz zurück. Er hatte nicht einmal Levis Handynummer, also konnte er ihn auch nicht anrufen und fragen, was mit dem Wagen los war. Er könnte natürlich ins Hauptgebäude gehen, doch …

Diesen Gedanken verwarf er noch im selben Augenblick wieder und versuchte es noch einmal. Dieses Mal sprang der Motor tatsächlich an, schien jedoch im nächsten Moment wieder ausgehen zu wollen. Eren setzte den Wagen in den Leerlauf, trat das Gaspedal ein paar Mal durch, ehe er hörte, dass der Motor rund zulaufen begann und das dunkle Knurren des Wagens zu hören war. Beinahe hätte Eren erleichtert aufgeseufzt, doch fiel die Drehzahl sofort wieder gen Keller. Etwas Gas gebend hoffte Eren, dass er hier heute noch wegkommen würde. Es würde Ewigkeiten dauern, bis er zu Fuß in seiner Gasse ankommen würde. Doch konnte er dann tatsächlich losfahren, nachdem sich der Wagen endlich gefangen hatte. „Der zieht irgendwo Luft oder eine Dichtung oder … Scheiße, das könnte alles sein…“, murmelte er für sich selbst und fuhr in die Richtung, in welcher er wohnte.

Er parkte den Wagen an der Straßenseite, öffnete jedoch die Motorhaube, ehe er ausstieg und klappte das Ding hoch.

„Hat gedauert.“ Levi kam aus dem Haus auf ihn zu, als Eren sich gerade über den Motor lehnte und sich die Sache ansah.

„Ja, er wollte nicht“, erklärte er und sah, dass einer der Schläuche nicht richtig festsaß. Die Schelle hatte sich gelöst. „Hast du einen Kreuzschlitz?“

Wortlos reichte Levi ihm einen Schraubenzieher und Eren schob alles wieder zurecht, drückte die Schelle mit schnellen Bewegungen, der Hitze wegen, zurecht und zog die Schraube fest.

„Er hat Luft gezogen. Deswegen springt er nicht richtig an.“

„Und das weißt du woher?“

„Ich kann lesen.“ Es blieb ihm nichts anderes über. „Mein Vater hat uns den Audi hier gelassen gehabt vor ein paar Monaten, jedoch nicht genug Geld für eine Reparatur. Internet.“

„Aha.“ Es klang nicht einmal beeindruckt. Doch Eren störte es nicht. Technik war das einzige, das ihm lag. Er war auch fähig, das Steuergerät eines Autos auszulesen und das Programm zu überschreiben. Informatiker eben. Zu irgendwas musste das ja auch nutze sein.

„Deine Wohnung ist echt … ungem-“

Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden. Den Blick, den Levi ihm auf diese Bemerkung hin schenkte und die Falte zwischen den Augenbrauen ließen ihn schweigen. Er erinnerte sich an Hanjis Worte. „Schon gut.“

„Ist auch besser für dich.“ Die Kofferraumklappe wurde etwas zu hart zugeschlagen, ehe Levi mit dem Werkzeug davon ging. Eren schluckte trocken. Da hatte er doch einen Fehler gemacht. Und eigentlich hatte er gedacht, wenigstens irgendwas sagen zu dürfen. Aber scheinbar war alles was Levis Person betraf, kein Thema.

„Levi – es tut mir leid. Ich hätte das nicht sagen-“

„Halt’s Maul, Eren. Das ist alles, was du machen musst.“

„Soll ich gehen?“

„Ja. Hau ab, wenn du unbedingt willst. Geh einfach.“

„Oh … okay“, meinte er leise und irgendwie traf es ihn härter, als er gedacht hatte. Eigentlich hatte er selbst geglaubt, dass Levis kühle Art langsam nicht mehr so schwer zu ertragen wäre.

„Hey, kann ich rein kommen?“ Mikasas Stimme hallte auf einmal durch das leere Untergeschoss es Hauses und Eren als auch Levi wandten überrascht die Köpfe zum Flur.

„Was?“, knurrte Levi jedoch nur und schien noch genervter zu sein, als vorher.

„Ich habe gekocht.“ Sie kam mit einem Wäschekorb in den Händen zu ihnen in das vordere, linke Zimmer und stellte ihr Mitbringsel ab. Teller, Besteck, zwei Thermoskannen und drei große Töpfe wurden auf den Boden abgestellt, ehe sie den Korb umdrehte. „Ich dachte, ihr habt vielleicht Hunger.“

„Mikasa – was…“ Sie legte jedoch nur ihren Zeigefinger auf ihre Lippen, bedeutete ihm, nicht mehr weiter nachzufragen. „Ich hol die Couchkissen…“, meinte er deswegen und verschwand im Keller.
 

Levi

Er sah die junge Frau nur ausdruckslos an, während sie auf dem Boden kniete und die Teller auf dem umgedrehten Wäschekorb abstellte. „Was willst du hier?“

„Habe ich bereits gesagt.“

„Und der wahre Grund?“

„Ich habe gekocht“, wiederholte sie und brachte seine Wut damit nicht gerade auf ein erträgliches Maß zurück. Im Moment wollte er weder sie noch Eren hier haben und beide auf einmal hier zu wissen, war sicherlich nicht sein größter Wunsch. „Ist was passiert zwischen euch?“

„Nein. Meine Geduld ist nur heute sehr kurz bemessen“, teilte er ihr mit und verschränkte die Arme vor der Brust, während sein Blick auf ihr lag.

„Was ist los?“

„Job?“, hakte er bissig nach.

„Erzähl es mir.“

„Sind wir jetzt Kaffeekranzschwestern oder was?“, wollte Levi wissen und schenkte ihr einen bitteren Blick. Sie sollte ihn nicht wie ihren Bruder behandeln. Sie hatten nichts gemeinsam und dass ihr Verhältnis nach einem kurzen Gespräch nach einer Trainingseinheit langsam locker zu werden begann, hieß nicht, dass sie ihn wie Eren behandeln konnte. Er war nicht so simple gestrickt wie der Biologie-Student, der in den Tiefen seines Kellers verschollen schien.

„Wenn du Eren von der Seite anfährst, dann interessiert es mich. Ansonsten kannst du deinen Scheiß für dich behalten.“

„Hm. Interessant. Ein loses Mundwerk hast du da, Mädchen.“

„Tz.“ Er sah ihr dabei zu, wie sie aufstand und auf ihn zukam. „Ich bin bereit, mit dir klarzukommen. Ich bin es wirklich.“

„Ist das so?“ Ihre ganze Art beeindruckte ihn wenig. Auch hinter ihrem harten Panzer steckte nur ein kleines Mädchen, das sich zu verstecken versuchte. Es gab kaum etwas, das ihn beeindrucken konnte.

„Ja“, gab sie zurück. „Weil ich sehe, dass du meinem Bruder irgendwie gut tust. Du und Hanji.“

Er hob die linke Augenbraue und wartete auf weitere Worte. Hanji tat Eren definitiv gut. Seitdem der Junge bei ihr arbeitete und seine Zeit mit der verrückten Wissenschaftlerin verbrachte, hatte sich sein ganzes Auftreten positiv verändert, das war sogar ihm aufgefallen. Nur er konnte da kaum etwas zu beigetragen haben.

„Guck nicht so arrogant. Du weißt wovon ich rede“, meinte sie kühl und stemmte die Hände in die Hüften. Ein leises Seufzen verließ seine Lippen. Sie versuchte so sehr ihn einzuschüchtern. Da mussten aber ganz andere Personen kommen. Auch wenn er ihr nicht auf Augenhöhe begegnen konnte, wusste er, dass er ihr in beinahe allen Bereichen überlegen war.

„Was soll ich damit zutun haben?“

„Du gibst ihm die Aufmerksamkeit, die ihm fehlt.“

„Ach?“

Dass er nicht lachte! Aufmerksamkeit! Eren war hierher gekommen, hatte beinahe gebettelt helfen zu dürfen. Der Junge war nicht ausgelastet genug und um nicht von ihm genervt zu werden, gab ihm etwas zutun. Scheinbar hatte der Vater da versagt. Wo er gerade daran dachte: Er hatte den Vater des Bengels schon lange nicht gesehen. Scheinbar war dieser für längere Zeit außer Haus. Ein Wunder, dass die beiden noch am leben waren. Eren schien auf ihn nicht gerade ein Überlebenskünstler zu sein.

„Tu ihm nur einfach nicht weh.“

„Mikasa.“

„Ich töte dich, wenn du ihm wehtust, Levi. Verlass dich drauf. Er ist meine einzige Familie.“

„Hm. Toll.“ Es interessierte ihn nur nicht. Er hatte nicht vor, irgendein Ersatz für Eren zu sein. Und ebenso wenig hatte er vor, irgendein Vorbild zu werden. In dieser Position versagte er nämlich immer. Er war niemand, den man sich als Beispiel nehmen sollte.

„Ich meine es ernst.“

„Versuch es, wenn du meinst, dass du es tun musst.“ Sie amüsierte ihn mit ihrer Art nicht einmal. Eigentlich waren es gerade solche Personen, die wenigstens ein höhnisches Lächeln auf seine Lippen zaubern konnten. Doch dafür hatte er heute nichts über.

„Er ist für dich nur eine günstige Arbeitskraft, oder?“

„Habe ich das gesagt?“

Er sah, dass Mikasa noch etwas sagen wollte, doch erschien Erens Gestalt in dem Moment im Raum. Drei alte, grüne Kissen im Arm und starrte zwischen ihnen hin und her. „Alles klar?“

„Aber natürlich“, kam es von Mikasa, doch klang es so sarkastisch, dass Levi ein misstrauisches Funkeln in Erens Augen erkennen konnte. Nur ersparte Eren ihnen nervige Fragen diesbezüglich.
 

Mit verschränkten Armen stand er vor dem großen Fenster des Büros und sah hinaus. Erwin ließ es einreißen, zu spät zu kommen, wenn er ein Meeting mit ihm angesetzt hatte. Und es kotzte ihn an. Warten war nicht seine Stärke. Vor allem nicht, wenn der Befehl einer Unterhaltung nicht von ihm sondern von Erwin ausging. Er wollte so wenig Zeit mit ihm verbringen müssen, wie es nur möglich war.

„Nächste Woche haben wir die Sicherheitsverantwortung für das Gipfeltreffen.“

„Hm.“ Die Tür war noch nicht einmal ins Schloss gefallen. Er hörte Erwins schwere Schritte auf ihn zukommen, doch regte er sich nicht. Warum umdrehen, wenn Erwin auch so weiter reden würde?

„Am Wochenende steht eine Hochzeitsparty an – dreihundert Gäste.“

„Hm.“

„Du bist nicht gerade gesprächig heute.“

„Spuck aus, was du zu sagen hast und lass mich in Ruhe.“ Er hatte noch genug Papierkram auf seinem eigenen Schreibtisch liegen. Zudem hatte er noch drei Bewerbungsgespräche, die er hinter sich bringen wollte. Am besten schnell, bevor er die Bewerber aus dem Fenster werfen würde. Wenn sie sich mit Heldentaten brüsteten und sich als Superman persönlich aufspielten, schloss Levi die Bewerbungsmappe ohne ein Wort und ließ die Leute von der Sekretärin hinausführen. Solche Leute standen in Levis Gunst ganz weit unten.

„Wie läuft es mit dem Umbau?“

Er spürte, dass sein Vorgesetzter nahe hinter ihm stehen blieb. Beinahe konnte er den Atem des anderen in seinem Nacken spüren.

„Wunderbar“, folgte die nüchterne Antwort und eine Hand legte sich auf seine Schulter, fuhr über sein Schulterblatt und über seinen Rücken. „Erwin“, warnte er ihn kühl, doch die Hand verschwand nicht und strich viel eher über die Gurte des Holsters.

Es klickte und ein schabendes Geräusch ging durch den stillen Raum. Nur wenige Sekunden später hob Erwin die Hände. Die Klinge eines scharfen Messers lag an dessen Kehle und Levi war bereit, den letzten Schnitt jetzt sofort zutun. „Wenn du deine dreckigen Wichsgriffel nicht von mir lässt, schlitz ich dir die Kehle auf“, drohte er ihm in einem solch emotionslosen Ton, dass man seine Worte tatsächlich als eine Möglichkeit ansehen konnte. Er wartete schon so lange darauf, dem anderen die Lichter auszuknipsen.

„Es gab eine Zeit, da hat dir das gefallen.“

„Vor Jahren“, folgte die Antwort Levis und Erwin trat dann einen Schritt zurück, brachte somit Abstand zwischen sich und die Klinge.

„Hast du wen anders?“

„Interessiert es dich?“ Levi ließ das Messer mit geübter Manier zurück in die Scheide wandern.

„Ja. Es interessiert mich.“

„Sonst noch was?“

„Hast du gefallen an dem Jungen fallen? An Eren Jäger?“

Levi hob seine Augenbraue, ließ so etwas wie ein Lachen über seine Lippen kommen. „Wärst du etwa eifersüchtig, wenn es so wär?“ Er konnte sehen, wie sich der Ausdruck der blauen Augen Erwins veränderte. Und scheinbar schien tatsächlich so etwas wie Eifersucht in den blauen Seen zu schwimmen. „Und tu nicht immer so, als hätte ich den Scheiß damals verbockt. Das kannst du dir allein in die Schuhe schieben.“ Damit schritt Levi auf die Tür zu. „Wenn dir noch etwas Geistreiches einfallen sollte, ruf mich an und komm bloß nicht vorbei.“

Irgendwann, schwor er sich. Irgendwann.

In seinem Leben hatte er bereits viel durchmachen müssen, aber Erwin war bisher einer der schlimmsten Nervenkriege überhaupt gewesen. Zwar vertraute er noch immer in Erwins Führungsqualitäten und deren Qualifikation als Firmenoberhaupt. Aber das war es auch an Vertrauen. Wenn es aus dem Beruflichen hinausging, war Erwin für ihn ein toter Mann. Alles was er sagte, von wegen Vertrauen und Loyalität – das bezog sich alles ausnahmslos auf den Job. In seinem fast non existenten Privatleben gab es Erwin nicht mehr. Und es würde ihn nie wieder geben. Er hatte dem anderen vor einiger Zeit zu viel Macht über sich selbst gegeben. Das hatte irgendwann ein Ende haben müssen.
 

„Was machst du hier? In Sportklamotten?“

Sein Blick wanderte skeptisch an Eren runter und wieder hoch. Der Junge war gerade in der Lage, nicht über die eigenen Füße zu stolpern und nun fand er ihn hier vor in einem roten Trainingsanzug?

„Mikasa meint, ich brauche mehr soziale Kontakte.“

„Ach? Springst du auch von der Brücke, wenn sie meint, du müsstest mehr schwimmen?“, wollte er wissen und sah Mikasa nicht weit von ihnen entfernt mit zwei weiteren Sportlern eine Unterhaltung führen.

„Ich … habe selbst darüber nachgedacht gehabt…“

„Was ist das nur mit dir und deinem Stottern, wenn man dich was fragt“, meinte er und blickte Eren kurz nachdenklich an, ehe er sich abwandte. „Schuhe aus. Jacke aus. Frieren wirst du nicht.“

„Ok…“

Er sah dem Jüngeren dabei zu, wie dieser die Schuhe und Socken von den Füßen zog und letztlich die Jacke von den Schultern streifte. Er hatte Eren stets für dürr gehalten. Und die weiten Pullis oder die viel zu weiten Jeanshosen, die von den schmalen Hüften zu rutschten drohten hatten das Bild nicht gerade ins bessere Licht gerückt. Doch jetzt sah er tatsächlich den Ansatz eines definierten Körpers. Zwar konnte Eren sich nicht mit den anderen jungen Männern des Vereins messen, da zwischen ihn und den anderen ein Unterschied wie Tag und Nacht lag, aber sollte Eren es tatsächlich in Erwägung ziehen, regelmäßig hier zu sein, würde sich schon bald vieles ändern. Muskelaufbau war in dieser Sportart nämlich nicht ganz nebensächlich. Ohne Muskeln keine Kraft. Ohne Kraft kein Ok im Ring. Es war einfach und Eren hatte die besten Voraussetzungen dafür.

„Damit kann man immerhin arbeiten“, meinte er und wandte sich von Eren ab.
 

Eren
 

„Gott, ich bin so tot.“ Seine Klamotten waren schweißnass, seine Haare klebten im Nacken und ihm war so unglaublich warm! Er begann Körperstellen zu spüren, von denen er vorher geglaubt hatte, dort keine Muskeln zu besitzen. Mikasa bedachte ihn nur mit einem milden Lächeln. Eines der wenigen, die sie mal zeigte. Ein Handtuch flog ihm ins Gesicht und er war dankbar für den weichen Stoff. Auch wenn seine Schwester ihn das nicht unbedingt ins Gesicht hätte werfen müssen. „Das war nur der Anfang“, meinte sie und er seufzte. Wollte er das wirklich tun? Wollte er … wirklich?

„Du bist steif wie’n beschissenes Brett.“

„Sorry. Kann ja nicht jeder vorher Ballett belegt haben“, gab er zischend zurück, als er Levis Kommentar gehört hatte. Er legte sich das Handtuch über die Schultern und sah zu dem Älteren hoch, der schräg neben ihm stand, während er selbst auf der Bank saß.

„Ballett? Sonst geht’s noch, ja?“

„Hm, weiß nicht.“

„Wo hast du diese große Fresse her?“

„Die hatte er schon immer“, beantwortete Mikasa Levis Frage und ließ sich neben Eren auf die Bank fallen.

„Wann?“

„Vor deiner Zeit, alter Mann“, stichelte Eren weiter und kassierte seinen Schlag an den Hinterkopf.

„Alter Mann am Arsch, kleiner Wichser.“

„Immer wieder gern.“

„Du kommst hier nicht mehr her. Dein Ego scheint hier irgendwas zu bekommen, was ihm nicht gut tut.“

„Aufmerksamkeit“, erhob sich Mikasas Stimme erneut und ein undeutbarer Blick wurde zwischen den beiden geteilt. Eren hob die Augenbrauen und lehne sich zurück, schob die Ärmel des Shirts hoch und krempelte sie an den Schultern um. Er bräuchte dringend eine Dusche – nur nicht hier… So viel stand fest.

Mikasa und Levi schienen wie Sonne und Mond, dabei waren sie wie Sterne. Der eine brauchte den anderen nicht und doch leuchteten sie nebeneinander. Eren konnte es sich nicht erklären, aber die beiden ergänzten sich auf eine absurde Art und Weise. Zwei Teile eines Ganzen. Allein wie sie es schafften, einander immer höher zu schaukeln, war faszinierend. Er hatte noch nie jemanden kennen gelernt, der es schaffte Mikasa aus der Ruhe zu bringen. Und es gab Tage, da reichte die alleinige Erwähnung des Namens schon aus, um seine Schwester auf die Palme zu bringen und an anderen Tagen konnte man mit ihr wieder ganz normal über alles reden. Selbst über Levi.

„Bist du auch in Hanjis Gegenwart so?“

„Wie so?“

„Vorlaut.“

„Sie hat sich noch nicht beschwert.“

„Tz.“ Levi wandte sich ab. „Geht duschen.“

„Ich dusch zu Hause“, teilte sich Eren mit und hörte noch ein leises: „Eklig“ von Levi, ehe dieser in der Herrenumkleide verschwand.

Für eine Weile hörte man nur die Stimmen der anderen aus den Umkleidekabinen, ehe Mikasa meinte: „Und? Kommst du öfters her?“

„Ich glaube schon.“ Eren streckte die Arme über den Kopf. „Ist gar nicht so übel.“

„Warte den Vollkontakt ab.“

„Hm.“ Er zuckte die Schultern. Er bräuchte sich nur eine einzige Person vor Augen halten und würde schon genug Kraft und Technik aufbringen, seinen Gegner auszuknocken.

„Marco war heute im Salon.“

„Klasse.“ Seine Laune sank auf den Nullpunkt. Wenn Marcos Name fiel, konnte Jean nicht weit sein. Aber langsam schlitterte Eren auf den Punkt zu, dass er nichts weiter als Hass Jean gegenüber empfand. Sie hatten bald Dezember. Der erste Advent war nicht mehr ganz so weit entfernt und es war gut einen Monat her, als er mit Hanji darüber gesprochen hatte. Seitdem hatte sie ihm immer wieder eingebläut, dass Jean sein Leben nicht weiter bestimmen dürfte und dass er sein Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl nur wieder finden müsste. Und er glaubte inzwischen selbst, dass es ihm langsam gelang. Hanji hatte des Öfteren erwähnt, dass er sich etwas verändert hätte und es war scheinbar sogar Levi aufgefallen und diesen kannte er ja nun wirklich nicht so lange. Hanji zwar auch nicht – aber mit ihr verbrachte er wesentlich mehr Zeit, als mit dem Ex-Militär.

„Jean war auch da.“

„Ich hab’s geahnt. Und? Sind die beiden glücklich?“, wollte er fast schon zynisch wissen, als er sich vorlehnte und die Socken über seine Füße streifte, die Schuhe wieder überzog und schnürte.

„Ja… Er scheint sehr glücklich mit Marco und ich finde das nicht fair… Dich hat er behandelt, als wärst du der letzte Dreck ge-“

„Es ist ok, Mikasa. Das Thema ist durch.“ Er würgte sie zwar einfach aber, er wollte nichts weiter davon hören. „Ich bin durch mit ihm.“

„Ehrlich?“ Sie klang verwundert und hob sogar überrascht die Brauen, als er seinen Blick zu ihr wandte.

„Ja“, verließ es fest seine Lippen. Er wollte endlich nach vorn sehen, anstatt sich an allem festzuhalten, was ihn runter zog.

„Ok. Das … Ok. Das ist toll.“ Ein ehrliches, glückliches Lächeln legte sich auf ihre Lippen und ihre Hand fasste die seine. „Das ist wirklich schön“, hing sie noch hinterher, ehe sie aufstand und ihre Sachen aus der Umkleidekabine holte.

Kapitel 6

Mitte Dezember begann es zu schneien. Und zwar richtig zu schneien. „Ich will mit Armin reden“, seufzte er leise, als er mit Mikasa an einem Samstag auf der Couch saß und einen Film sah, den sie vor wenigen Wochen erst im Fernsehen gesehen hatten. Er vermisste die Gespräche mit seinem blonden Kumpel. Die Leichtigkeit, die Ernsthaftigkeit – er vermisste einfach alles. Es war so einfach mit Armin über alles zu reden. Und Armin wusste auch auf alles eine Antwort.

„Er hat doch gesagt, dass er sich meldet, wenn er Zeit hat.“

„Ja, das war bisher nur drei Mal der Fall gewesen.“ Und er hasste es. Er wollte so gern über einfach alles reden. Es war immerhin so viel passiert. Aber wenn Armin dann mal Zeit hatte, waren es vielleicht dreißig Minuten, ehe der andere wieder offline ging und dann für die nächsten Wochen nicht mehr erreichbar war. Und das Gefühl, den besten Freund auch noch zu verlieren, ertrug Eren im Moment gar nicht.

„Er arbeitet. Kinder sind ein Fulltime-Job. Rund um die Uhr…“, versuchte Mikasa ihm die Sache klar zu machen. Dabei hatte Eren es schon verstanden. Nur störte es ihn unglaublich. Eigentlich hatte er gedacht, dass es an ihm liegen würde, dass sie kaum miteinander sprechen könnten. Doch das Gegenteil war der Fall. „Musst du nicht zur Uni?“

„Es ist … Scheiße.“ Er hatte noch einen Haufen Bücher auf dem Tisch liegen, die er noch zurückbringen musste. „Fuck!“

„Du bist eindeutig zu viel mit Levi zusammen“, kommentierte Mikasa seine Wortwahl recht nüchtern, als er aufsprang und hoch in sein Zimmer sprintete. Es wurde schon langsam dunkel draußen. Um fünf Uhr war es meistens schon stockduster… Er steckte die Bücher in die Tasche, zog sich schnell etwas über und sprintete aus dem Haus. Der letzte Bus in die Richtung war bereits abgefahren, weswegen er gezwungen war, den Wagen zu nehmen. Er warf die Tasche auf den Rücksitz und setzte sich selbst. Der Motor schnurrte auf, als er den Zündschlüssel drehte und er parkte letztlich aus. Er konnte von Glück reden, dass die Uni nur zehn Minuten von seinem Haus entfernt lag – zumindest mit dem Auto oder dem Bus. Eren parkte den Wagen nahe dem Haupteingang – es waren um diese Zeit kaum Leute in der Universität – und lief hinein. Die Bibliothek befand sich zu einem Glück direkt beim Haupteingang, sodass er nur noch ein paar Stufen hinauflaufen musste, ehe er die nach alten Büchern riechenden Räume betrat. Eine gelangweilte Dame saß hinter dem Schalter, murmelte einen Guten Abend in seine Richtung und nahm die Bücher entgegen, die er ihr reichte. „Gerade noch vor dem letzten Termin“, meinte sie und händigte ihm den Beleg der Rückgabe aus.

„Ich weiß“, seufzte er erleichtert und schob den Beleg in die nun leere Tasche. „Wiedersehen.“

Unten an der Treppe blieb er jedoch kurz stehen, fuhr sich durchs Haar und atmete tief durch. Die Gebühren, die man zahlen durfte, wenn man einen Rückgabetermin verpennte, waren hier echt verdammt hoch. Deswegen wollte er es auch definitiv vermeiden, in eine solche Situation zu kommen. Mit einem etwas beruhigten Herzen verließ er das Unigebäude wenig später und nahm den Schlüssel aus seiner Jackentasche.

Doch hielt er erneut inne, als er eine Person an seinem Wagen stehen sah. Langsam näherte er sich dem Auto und erkannte im fahlen Licht der Laterne, um wen es sich handelte.

„Habe ich es doch richtig gesehen. Diese Mistkarre und der miserable Fahrer.“

„Was willst du, Jean?“ Jean wohnte ein paar Häuser die Straße hoch. Wie er jedoch gesehen haben konnte, dass Eren hierher gefahren war, war ihm ein Rätsel.

„Was schleichst du immer in der Nähe meines Freundes herum?“

Jean kam näher und Eren konnte die Alkoholfahne des anderen mehr als deutlich wahrnehmen.

„Immer? Ich habe Blumen gekauft, das ist alles.“

„Und neulich?“

„Wann?“, gab er möglichst gelangweilt von sich. Er wollte nach Hause und sich nicht mit Jean über irgendwas unterhalten, das nicht wichtig war.

„Er hat mir gesagt, dass ihr euch vor dem Teehaus getroffen habt.“ Das Teehaus war der kleine Teeladen, von dem Hanji ihm erzählt hatte. Er war vor zwei Tagen direkt nach der Uni dort gewesen.

„Ja. Man trifft sich halt mal in der Stadt, Jean.“

„Sprich nicht mit ihm.“

„Warum nicht? Hast du ihm etwa auch das Halsband angelegt?“, wollte er wissen und nahm eine relativ entspannte Haltung ein. Auch wenn ihm sein Herz bis zum Hals schlug, wollte er sich das nicht anmerken lassen. Er würde Jean nicht die Chance geben, ihn wieder auf den Boden zu schmettern und zuzutreten. Die Zeiten waren jetzt nach bald anderthalb Jahren vorbei.

„Ich will nur nicht, dass du ihm irgendeinen Scheiß erzählst.“

„Er soll seine eigenen Erfahrungen mit dir machen.“ Und der Gedanke, dass sich Jean um Marco mehr sorgte und kümmerte als er sich jemals um Eren gekümmert hatte, war trotz allem wie ein Dolch im Herzen. Auch wenn Eren es nicht wollte, tat es noch immer weh. Die Wunden waren einfach zu tief, die Jean bei ihm gerissen hatte.

„Welche Erfahrungen? War ich so schlecht zu dir?“

Eine kalte Hand streifte seine Wange und Jean trug den Blick eines Zuhälters, der seine geschlagene Hure berührte. Er hasste es. Am liebsten würde er ihm dieses widerliche Grinsen aus dem Gesicht schlagen. Doch erinnerte er sich an Levis Worte, als er zum aller ersten Mal bei einer der Stunden zugesehen hatte. Er wollte sich nicht außerhalb des Rings prügeln. Levis Wutausbruch wäre schlimmer als die Hölle es sein könnte. Also wischte er die Hand einfach nur von sich. „Vermisst du mich, Eren?“

Er kratzte seine Sterben zusammen. „Wovon träumst du nachts, Jean?“, wollte er also wissen und hielt diesem Blick stand, der ihm zuteil wurde.

„Du vermisst mich also nicht? Nicht ein bisschen?“

„Sollte ich?“

„Ja. Ich habe dir mehr gegeben, als du verdient hast.“

„Ehrlich? Wusste ich ja noch gar nicht.“

Jeans Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, während Eren darum kämpfte, seine Fassung zu wahren und sich nichts anmerken zu lassen. Im nächsten Augenblick traf jedoch eine flache Hand seine Wange und die Wucht des Schlags ließ seinen Kopf zur Seite kippen. Ein bereits bekanntes Brennen breitete sich auf seine Haut aus und er ließ die Schlüssel zu Boden fallen. Wie oft hatte Jean ihn bereits so geschlagen? So oder auch anders? Er legte sich die Hand auf die geschlagene Wange, schloss kurz die Augen und atmete tief durch.

„Du warst schon immer undankbar gewesen, Eren.“

Er schwieg daraufhin und ließ seinen Blick auf Jean zur Ruhe kommen. Keine Angst vor ihm. Er kann dir nichts. Du stehst über dem, was er sagt, redete Eren sich selbst ein und wartete auf die nächsten Worte. „Ich habe dir meine Nähe geschenkt, meine Liebe, meine Zuneigung und was machst du? Du igelst dich ein. Du verschließt dich vor mir. Verweigerst mir das Natürlichste der Welt. Der Sex war doch zu Beginn immer gut gewesen.“

Wie viel hatte Jean getrunken, dass er dieses Thema wieder hoch würgte? „Du warst beschissen im Bett“, meinte Eren jedoch nur nüchtern und zuckte die Schultern.

„Das Gleiche gilt für dich. Du hast nachher nur noch geweint und gejammert. Schrecklich.“

„Fick dich, Jean“, spuckte er ihm kühl vor die Füße. „Was denkst du, wer du bist? Denkst du, ich will dich? Oder deinen Freund? Ich steh nicht auf den kuscheligen Typ.“

„Nein. Der bist du ja schon. Klettig und nervig.“

„Wie du meinst.“

Eren ging in die Hocke, nahm seine fallen gelassenen Schlüssel vom Boden auf und kam dann wieder hoch. „Denk und sag was du willst. Denkst du etwa, es juckt mich jetzt noch? Mir ist es egal, wen du fickst oder wer dich fickt.“ Damit schloss er den Wagen auf und wollte die Tür aufziehen, als er in der Spieglung der Scheibe erkannte, dass Jean mit geballter Faust auf ihn zukam. Eren wandte sich im letzten Moment etwas zur Seite, fing den kommenden Schlag ab und ließ Jeans Stirn mit dem Holm der Tür kollidieren. Jean kam ins Taumeln, fluchte und hielt sich die Stirn, während Eren nur nach einer Beule im Metall suchte.

„Was…“

„Geh nach Hause, Jean.“

 

„Was ist passiert?“ Mikasa kam auf ihn zu, kaum dass er zu Hause angekommen war und sie die rote Wange gesehen hatte.

„Mein Ex?“

„Jean.“ Ihre Augen verdunkelten sich und er spürte beinahe, wie der Hass in ihr aufquoll wie ein in Wasser eingelegtes Gummibärchen. „Ich bring ihn um.“

„Du solltest ihn sehen“, hielt er dagegen.

„Das ist nicht lustig, Eren!“

„Ich mein das ernst.“ Er folgte ihr, als sie in die Küche ging und aus dem Eisfach einen Kühlakku herausnahm. Eren ließ sich auf den Küchenstuhl fallen und nahm den eiskalten Gegenstand an, als sie ihm diesen reichte, und hielt ihn gegen seine Wange.

„Wie… Du hast dich … gewehrt?“

„Ja?“

„Levi verdient einen Orden. Und diese Hanji auch“, murmelte Mikasa und ließ sich neben ihn auf einen Stuhl fallen. Ihre Hände legten sich auf seine Knie und sie suchte sein Gesicht nach einer Lüge ab. Doch sie fand wohl nichts, da ein leises Seufzen ihre Lippen verließ. „Sie kleben deine Splitter wieder zusammen.“

Ja, das kann sein, dachte er sich und lehnte sich mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen zurück.

„Magst du Hanji fragen, ob sie zu Weihnachten zu uns kommen möchte?“

„Kommt Dad nicht heim?“

„Er hat gestern im Salon angerufen… Er bleibt noch bis Neujahr weg.“

Jetzt fiel Erens Stimmung wieder in den Keller. Eigentlich sollte man meinen, dass er sich inzwischen daran gewöhnt hatte, dass ihr Vater nicht da war. Doch es war immer wieder merkwürdig…

„Und ich würde Hanji gern kennen lernen. Sie muss eine tolle Persönlichkeit sein.“

„Etwas aufgedreht und sie redet viel…“

„Oh.“ Das traf es genau. Er hatte ihr versucht die Freundschaft zwischen ihrem Nachbarn und seiner Dozentin irgendwie verständlich zu machen. Dabei verstand Eren es selbst nicht, wie Levi es mit Hanji aushielt. Aber er hatte es versuch. Und noch immer schien Mikasa damit nicht klar zu kommen. So ging es Eren immerhin auch. Levi bekam schon diese kleine Ader an der Stirn, wenn Eren zu viel redete. Was war, wenn Hanji richtig loslegte? Mit Fachtermini um sich warf und um Levis Kopf nur noch Fragezeichen zu schwirren begannen? Er wollte es sich ehrlich gesagt nicht ausmalen. Irgendwie war die Vorstellung von den beiden an einem Tisch gruslig.

„Frag sie trotzdem… Bitte.“

„Ja… Ja. Kann ich machen.“ Wenn Mikasa darauf bestand und Hanji an dem Tag Zeit hätte… Warum nicht?

 

Am nächsten Tag klingelte es um halb neun und Eren fiel vor Schreck beinahe aus dem Bett. Er machte sich nicht die Mühe, sich trotz der Kühle im Haus etwas überzuziehen und eilte nur in Shorts und Shirt die Treppe hinunter, schlitterte mit dem Vorleger der Treppe bis zur Tür und riss diese auf.

„Morgen“, kam es nüchtern von Levi. Eine Gänsehaut erfasste Eren, als die kühle Luft von Außen hineinkam. „Was ist mit deiner Wange passiert?“

„Nichts“, log er und rieb sich über die nackten Arme. „Was gibt’s?“

„Mein Wagen?“

„Du hast hier gepennt?“, wollte er beinahe geschockt wissen und Levi nickte. „Hatte zutun. Also?“

„Ja. Lass mich kurz was anziehen. Komm rein.“ Eren ließ die Tür offen und huschte in die Küche, stellte die Kaffeemaschine an, ehe er hoch lief und sich etwas Pässlicheres anzog. Mikasa erschien in diesem Moment in seiner Tür. „Levi? Ernsthaft?“, wollte sie wissen und gähnte herzhaft, als sie sich gegen den Türrahmen lehnte.

„Scheint so.“

„Deine Wange ist blau geworden. Hat er so fest zugeschlagen?“

„Er wird auch nicht besser aussehen.“ Am liebsten hätte er ihm noch einen Faustschlag hinterher verpasst, aber es hatte wohl auch so gereicht. Eren zog noch schnell einen Pullover über und lief die Treppe wieder hinunter. Levi saß bereits auf einem der Küchenstühle. „Dünne Wände. Wer hat zugeschlagen?“

„Warum interessiert es dich?“, wollte er wissen und deutete zur Tür. „Wollen wir?“ Levi erhob sich, doch der skeptische Blick blieb. „Tu nicht so, als würde es dich wirklich irgendwie jucken, Levi. Das gibt mir das Gefühl, dass du mich mögen würdest. Also lass es.“ Levi akzeptierte ihn immerhin nur und schien seine Hilfe von Zeit zu Zeit wirklich zu brauchen. Er ging an ihm vorbei und zog die Haustür erneut auf. Der Wagen stand bereits mit geöffneter Motorhaube dort und er hörte, dass Levi hinter ihm durch den Garten ging. Das Knirschen des Schnees verriet es ihm.

„Was lässt dich glauben, dass nicht ein kleiner Funken Sympathie für dich vorhanden ist?“

„Weiß nicht. Deine Art mit gegenüber.“

„Ah.“ Eren antwortete nicht weiter darauf, lehnte sich über den Motor und verschaffte sich einen ersten Überblick. Den Ölstand prüfend erkannte er, dass es jeden Fall nicht am Öl lag. „Tank voll?“

„Ja.“

„Hm.“ Eren überprüfte die Kontakte an der Batterie. „Warte.“ Er lief den Wagenschlüssel für den Audi holen und fuhr den Wagen wenig später vor den Chevrolet des Älteren. Die Haube öffnend schloss Eren im nächsten Moment die Überbrückungskabel an und reichte die anderen Enden an Levi weiter.

„Hast du Weihnachten schon was vor?“

„Welcher Tag?“

„Der Fünfundzwanzigste. Mikasa möchte Hanji zum Essen einladen.“

„Deine Eltern?“

Eren warf einen Blick über die Schulter. „Nicht da.“

„Aha.“

„Und?“

„Mal sehen.“

„Hanji kommt.“

„Deswegen“, gab Levi kühl die Antwort und trat vom Wagen zurück, während Eren sich in den seinen sinken ließ, die Zündung betätigte. „Versuch deinen Wagen zu starten“, rief er ihm zu und ließ seinen Wagen im Leerlauf laufen, trat das Gas ab und an durch, ehe er das dunkle Schnurren des anderen Wagens hörte. Er eilte aus dem Wagen, löste die Klemmen von den Batterien und schlug die Haube von Levis Wagen zu.

„Danke.“ Perplex blieb Eren stehen und sah den anderen beinahe entgeistert an. Nur sagte er nichts. Sonst nahm Levi das Wort vielleicht noch zurück. Aber ein Danke von dem Älteren zu hören war … eine große Überraschung.

 

„Oh guck einer an. Captain America.“ Mikasa sah zum Eingang der Halle und ließ ihre Knöchel knacken.

„Was will der hier?“ Eren stemmte sich vom Boden auf. Mikasa hatte ihn zuvor als Gegner über die Schulter geworfen – es diente auch etwas seinem eigenen Training der Falltechniken. Und doch rieb er sich die Schulter, mit welcher er den ungewollten Sturz abgefangen hatte. Erwins Blick glitt direkt zu ihnen, doch versperrte Levis Körper den Weg, den Erwin anstrebte.

„Was willst du hier?“

„Mit den beiden reden.“

„Du gibst nicht auf, oder?“

Mikasa sah fragend zu Eren und auch alle anderen blickten einander fragend an. „Was will der von uns?“

„Ich habe keine Ahnung“, erklärte sich Eren. Als wüsste er alles, was in den Köpfen anderer vor sich ging.

 

Levi

 

„Die Kinder gehören zu mir. Und das hier ist mein Gebiet, Erwin. Sei vorsichtig, was du sagst und tust“, erklärte er ihm so leise, dass die anderes es nicht hören konnten. Und ohne ihn weiter anzusehen, widmete er sich den Bandagen, die er zuvor um seine Knöchel gewickelt hatte.

„Ich will nur mit ihnen reden.“

„Ach, willst du das?“ Kurz hob er den Blick und traf den aus hellblauen Augen. „Du hast drei neue Mitarbeiter. Was willst du mit ihnen?“

„Wachsen dir die Nachbarskinder langsam ans Herz?“ Erwins Stimme ließ keine Schwankungen zu, doch wusste Levi, dass sich der andere gerade indirekt über ihn lustig machte. Niemand würde ihnen glauben, dass sie einmal auf einer normal menschlichen Basis miteinander klar gekommen waren. Nur jetzt befanden sie sich auch nicht im Büro. Außerhalb des Arbeitsverhältnisses galten andere Regeln. „Fuck you, Erwin.“

„Oh, süß, Levi. Wirklich. Du bist zu reizend.“

„Ich reiß dir gleich den Arsch auf. Verpiss dich aus der Halle. Und lass die Blagen endlich in Ruhe.“ Er hob seine Stimme nicht. Wer schrie, war im Unrecht und Levi hatte jedes Recht auf seiner Seite. Erwin hatte hier nichts zu suchen.

Viel eher wandte sich Levi zu den anderen um. „Schluss für heute.“ Eiseskälte sprach aus ihm, dabei war es nicht einmal an die anderen Anwesenden gerichtet. Es war einzig Erwin, den er gern sofort hier hinausbefördern und erfrieren lassen wollte. „Geh.“

„Erst nach einem…“ Levis Hand grub sich in den Stoff des weißen Hemdes, das Erwin trug und er zog ihn auf seine Augenhöhe hinunter. „Nein.“ Allein bei dem Ballen der freien Hand war ein leises Knacken zu hören und Levi würde es gerade gern an einer anderen Stelle hören. Und zwar wenn Erwins Kiefer brechen würde. Irgendwann werde ich dich töten. Irgendwann würde der Moment kommen.

Erwin hatte ihn in die schlimmste Einheit der Armee gezerrt. Erwin hatte ihm die schlimmsten Jobs bei ihren Einsätzen anvertraut. Erwin war der wahre Teufel von ihnen beiden, doch niemand sah es. Während ihrer Militärzeit war Erwin stets Commander Handsome.

Levi selbst hatte sich zwar unter den Rekruten und den Mitgliedern seiner eigenen Einheit einen Ruf aufgebaut gehabt und dafür gesorgt, dass die Leute ihm folgten. Aber er hatte nicht einen der Tode gewollt. Nicht einen einzigen. „Und wehe dir du versuchst es noch einmal, Erwin. Eren hat abgelehnt. Mikasa würde ablehnen.“

„Würde. Eine Möglichkeitsform. Vielleicht sagt sie zu.“

„Ich schlage dir bei dem nächsten Wort in diese Richtung die Zähne raus“, teilte er ihm nüchtern mit. „Dann kommst du früher an deine Dritten, alter Mann.“ Mit einem kräftigen Stoß, der den wesentlich größeren Mann ins Wanken brachte, schob Levi ihn von sich. „Ich verspreche es dir.“ Und seine Versprechen waren niemals leer.

Die ersten verließen die Halle, unter anderem auch Mikasa, die sogar einen Schritt schneller als die anderen zum Ausgang lief. Scheinbar hatte Eren ihr mitgeteilt, worum es vielleicht gehen könnte. „Und jetzt geh. Kommt mir zu Ohren, dass du sie abgefangen hast, dann gnade dir wer auch immer.“

„Ok.“

Skeptisch beäugte er den Älteren. So schnell gab Erwin nicht auf und inzwischen glaubte er, dass alles Teil eines Plans war. Erwin bekam immer, was er wollte. Und wenn es nur ein Erstsemester der Trost Uni war. Wenn Erwin Eren wollte, bekam er Eren irgendwann im IT-Sektor. Wenn Erwin Mikasa im Security-Sektor wollte, bekam Erwin Mikasa in der Uniform. Das waren alles Regeln, die Levi gelernt hatte und es … machte ihm Angst. Ja. Es machte ihm wirklich Angst. Er wusste was es hieß, unter Erwins Kommando zu arbeiten. Damals, sowie heute. Es war Sklaverei. Unbezahlte Überstunden, kein bezahlter Urlaub. Mikasa war vielleicht eine Kampfsau, aber sie gehörte nicht dorthin wo Levi im Moment war. Er war die Art Erwins gewohnt, doch wollte er sie niemandem sonst zumuten. Und Eren… Der würde von einem angeblichen Teilzeitjob in die Vollzeit driften und könnte sein Studium knicken. Es war bei Weitem nicht so, dass Levi ein herzloses Arschloch war. Wie viele angeblich studentische Bewerber hatte er aussortiert? Dritt- oder Viersemester – Menschen die nichts in dieser Firma zu suchen hatten. Sie alle hatten eine Absage von ihm bekommen. Immerhin war er für die ‚Rekrutierung’ verantwortlich und deswegen hatte er auch keinen Brief an Eren geschickt. Erwin hatte es getan. Es war abzusehen gewesen.

Aber Erwin wandte sich wirklich zum gehen ab und verließ letztlich, nach kurzem Zögern, die Halle. Levi blieb allein zurück und hörte die leisen Schritte hinter sich. „Er lässt nicht locker?“

„Du kennst ihn nicht“, meinte er trocken und wandte sich zu Eren um. „Noch kannst du laufen, Kleiner“, folgte die kurze, aber auch letzte Warnung.

„Nein. Ich laufe nicht mehr weg. Vor gar nichts.“ Er hatte sich ohnehin gewundert, dass Eren danach gefragt hatte. Der Junge stellte kaum mehr Fragen, hielt sich vor allem mit Fragen über Levis Person zurück. Ihm war ohnehin aufgefallen, dass Erens Persönlichkeit im Moment zwischen diesem fragilen Zustand, in dem Levi ihn kennen gelernt hatte, und diesem frechen Ich zu schwanken schien. Mal gab es Tage, da war sein Gegenüber auf einem Höhenflug, war kaum zu ertragen und ging ihm mächtig auf die Eier und am nächsten Tag war da wieder dieser ruhige und doch zweifelnde Ausdruck in den Augen des anderen. Irgendwas war mit ihm in der Vergangenheit passiert und Levi konnte sich keinen Reim drauf bilden, was das gewesen sein sollte.

Es begann ihn ohnehin mehr zu interessieren, als es ihn interessieren sollte. Er kümmerte sich zu viel und er wusste, wohin ihn so etwas bringen konnte. Eren war zu jung, zu zerbrechlich und verletzlich. Sie waren höchstens Bekannte und Levi wusste, er sollte es dabei belassen. Wenn Hanji mit ihrem Studenten einen auf Best Friends machen wollte, war das ihre Sache. Er hatte keine Zeit für solche Spielereien.

„Mit wem hast du Stress?“

„Mit niemanden?“, folgte die Gegenfrage und er sah, das Eren selbst die Bandagen überprüfte, die er trug. Er war nun gut drei Wochen hier, hatte keine Angst vor den Vollkontakt-Einlagen und scheute Körperkontakt zu anderen generell nicht. Eigentlich hatte er Eren stets für den zurückhaltenden, schüchternen Typen gehalten. Es wunderte ihn, dass er sich so in ihm getäuscht hatte. Eigentlich hatte er über die Jahre hinweg eine recht gute Menschenkenntnis entwickelt.

Grüne Augen bohrten sich in die seinen. „Du hast dich mit irgendwem gehabt.“

„Das Thema?“

„Ja. Ich glaube, du erinnerst dich an meine Worte.“

„Ja. Aber das hatte nichts mit einem Fight aus reiner Laune zutun.“ Eren nahm eine Position ein.

„Ach?“

„Wirklich. Das war reine Selbstverteidigung.“

„Hm. Eren? Lügst du?“

„Nein? Warum sollte ich?“

„Damit ich die Fresse halte?“

„Wäre eine Option. Bringt nur nichts. Ich bin ein schlechter Lügner.“ Kurz darauf war es an ihm, dem ersten Schlag des Jüngeren auszuweichen. Innerhalb dieser kurzen, drei Wochen hatte sich Eren schnell entwickelt. Er hatte kaum glauben wollen, was er sah. Diese Schnelligkeit war verblüffend und er hatte damit sicherlich als letztes gerechnet. Einzig Erens recht steifer Körper machte es ihm schwer, komplexe Abfolgen zu bewältigen. Mit einer schnellen Bewegung riss Levi ihm jedoch die Füße vom Boden, brachte Eren somit zum Fall und platzierte seinen Fuß an dessen Kehle. „Schnell, aber noch immer zu langsam“, meinte er und half dem Jüngeren wieder auf die Beine.

 

Eren

 

Winterferien. Eren war überrascht gewesen, dass es so etwas sogar auf der Uni gab. Zwei Wochen zusätzlich frei zu haben war der absolute Luxus. Neben den stets langen Semesterferien noch Winterferien zu bekommen.

Am dreiundzwanzigen Dezember kroch Eren wie gewohnt erst um eins aus den Federn. Jeden morgen um sechs auszustehen und dann bis wer weiß wann in der Uni zu hocken, war ungefähr genau so stressig, wie ein ganz normaler Arbeitstag.

„Morgen“, murmelte er leise, als er die Küche betrat. Mikasa war bereits wach. Sie war schon immer ein Frühaufsteher gewesen im Gegensatz zu Eren selbst.

„Morgen.“ Ein schmales Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie ihm eine Tasse Kaffee reichte, die er mehr als dankbar entgegen nahm. „Ich nehme an, du willst noch nicht zu Mittag essen?“

„Nein. Wirklich nicht.“ Er konnte direkt nach dem Aufstehen ohnehin nichts essen. Deswegen verzichtete er auch stets auf Frühstück – natürlich gab es hin und wieder auch Ausnahmen… Immerhin bestätigten gerade diese die Regel, nicht?

„Armin hat anrufen.“

Sofort stellte Eren die Tasse weg. „Jetzt echt?“

„Ja. Er kommt über Neujahr her. Für zwei Tage. Seine Gastfamilie fährt zu Verwandten und da wollte er nicht unbedingt stören, also kommt er für zwei Tage her.“

„Das ist super!“ Die Freunde, die er darüber empfand, konnte er gar nicht in Worte fassen.

„Ich wusste, dass du dich freust. Aber Eren…“

„Hm?“

„Wo sind die Autoschlüssel?“

„Oh Shit.“ Er überlegte. Wo hatte er die Schlüssel liegen lassen? Gestern war er kurz drüben gewesen und war dann durch den Seiteneingang hier in der Küche zurück ins Haus. „Ich glaub die liegen bei Levi.“

„Ist der zu Hause?“

„Wie zu Hause? Drüben oder beim Hauptgebäude?“ Levi verbrachte hin und wieder die ein oder andere Nacht in dem einzig fertigen Raum des Hauses, gerade am Wochenende. „Ich geh gleich rüber und gucke, ob er da ist. Ansonsten müssen wir Dads Wagen nehmen um einen Baum kaufen zu fahren.“

Mikasa liebte es, zu Weihnachten einen Baum auszusuchen. Sie war in diesen Momenten wieder das kleine Mädchen, das er damals kennen gelernt hatte. Fröhlich, mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen, das sogar ihre Augen berührte und diese zum glänzen brachte. Sie hatte schon als Kind Weihnachten gefeiert. Ihr Vater war damals von Deutschland nach England gezogen und hatte dort Mikasas Mutter – die japanische Wurzeln hatte – kennengelernt. Mikasa ist hier in England geboren und aufgewachsen. Ihre Eltern waren mit den seinen sehr gut befreundet und ihre Mütter waren wie Schwestern zueinander gewesen. Deswegen war Mikasa auch bei ihnen gelandet, nachdem ihre Eltern ermordet worden waren. Eren hatte die Umstände nie verstanden. Ihre Eltern hatten keine Feinde gehabt und doch … Es war ein Einbruch mit schwerem Diebstahl und Mord gewesen. Mikasa hatte überlebt, weil ihre Eltern ihr stets eingebläut hatten, sich unter dem niedrigen Bett zu verstecken, falls irgendwas passieren sollte und die Polizei zurufen. Mikasas Vater war selbst bei der Polizei gewesen, weswegen ein Signal des Piepers reichte, um die Streifenwagen ausrücken zulassen. Aber Eren schüttelte diese Gedanken ab. Sie hatten hier nun gar nichts zu suchen und es war besser, wenn er nicht daran dachte. Mikasa selbst schien es endlich verdrängt oder zumindest verarbeitet zu haben. Ihre ganze Art war seitdem sehr verschlossen und hart geworden. Sie war eines dieser Mädchen geworden, die ihre Außenwelt anders wahrnahmen.

So musste es auch all denjenigen ergehen, die aus dem Krieg wieder zurückkamen… Abgestumpft, kälter als der Durchschnittsmensch, härter … Es gab zwei Arten von Menschen, hatte sei Vater ihm einst gesagt, als sie einmal die Nachrichten zusammen gesehen hatten. Die Menschen, die die Befehle gaben und sich zurücklehnten und mit reinem Gewissen und ohne schreckliche Bilder zurückkehrten. Und es gab die Menschen, die die Befehle ausführten, Bilder sahen, die sie nie wieder losließen und wahrscheinlich während der Erfüllung ihrer Dienste selbst verletzt und verstümmelt wurden. Ob nun körperlich oder seelisch machte in diesem Kontext keinen Unterschied. Soldaten waren immer anders, als normale Menschen.

Unwillkürlich musste Eren in diesem Zusammenhang an Levi denken. Dieser war auch ein Ex-Militär, hatte wahrscheinlich selbst den ein oder anderen Auslandseinsatz hinter sich. Levi wirkte auf ihn nämlich nicht wie der Kerl, der sich davor fürchtete, in Kriegsgebieten Patrouille zu laufen. Eher stellte er sich Levi in der Armeeuniform vor und sah dessen Arm als ersten in die Höhe schnellen, als es um Freiwillige ging, die sich in den Flieger Richtung Afghanistan oder Irak setzen wollten.

„Aber für Dads Wagen haben wir keinen Gepäckträger.“ Mikasa riss ihn mit ihrer Anmerkung aus den Gedanken in die er versunken war und er seufzte leise. Und wenn, dann würde er eben durch das hintere, auf Kipp stehende Fenster einsteigen und seinen Schlüssel aus dem erst halb gefliesten Bad holen. Levi würde ihn schon nicht töten, wenn dieser plötzlich im Haus stehen würde.

„Ich gehe eben rüber.“ Eren stützte den Kaffee die Kehle hinunter, erhob sich und streifte im Flur schnell eine Jacke und Schuhe über, ehe er das Haus verließ. Es war eisig draußen. Das war das erste, was ihm auffiel. Der Schnee war gefroren, der frei geschobene Weg spiegelglatt. Eren hatte Mühe, nicht auszurutschen und auf die Fresse zu fliegen. Nur hatten sie leider kein Streusalz mehr, sonst wäre er jetzt zurück und hätte den Weg vor sich mit Salz bestreut. Sich auf dem eigenen Grundstück elegant zu packen war peinlich.

Als er es heil zum nächsten Grundstück geschafft hatte, war er froh, dass Levis Auffahrt nicht gepflastert war. Er lief die Treppe hoch, schwang sich über das Geländer und lehnte sich zum Fenster vor. Die unteren Fenster waren so hoch gelegen, dass er gerade über den Fenstersims sehen konnte, wenn er nicht auf einem Plateau stand. Diese Methode war vielleicht nicht gerade sicherer, aber so konnte er wenigstens ins Zimmer sehen. Das einzige Zimmer, das bereits Tapete an den Wänden und Gardinen an den Fenstern hatte. Eren hatte – zu seinem ganzen Stolz – den Teppich allein verlegt. Ein hübscher, flauschiger jedoch schwarzer Teppich… Eren konnte das japanische Futon erkennen, welches Levi als Übergangsnachtlager diente. Ordentlich zusammengelegt. Darauf ein paar Hausschuhe und eine Sporthose. Also war der Kerl zu Hause.

Wenig elegant hievte Eren sich zurück auf den Treppenabsatz und klopfte – eine Klingel gab es nicht.

„Welcher Wichser! Ich kaufe nichts!“, hörte er bereits das Gefluche von innen zu ihm dringen und merkte, dass Levi nicht gerade gut gelaunt sein konnte. „Scheiß auf das Geplärre. Lasst mich einfach – Eren?“

„Hi“, gab er zurück und hob die Hand. Levi war bereits jetzt wieder total eingesifft, das schwarze Haar war vom Staub eher grau und er erkannte Holzspäne an dessen Klamotten.

„Du blutest“, war sein Kommentar, als er auf die Hand blickte, die die alte Holztür offen hielt.

„Ich weiß. Was willst du?“ So herzlich, so glücklich ihn zu sehen. Es war jedes Mal wieder herzerwärmend, wie Levi auf unangekündigten Besuch reagierte.

„Meinen Schlüsselbund. Ich habe ihn wohl hier vergessen.“

Levis Augenbrauen hoben sich. „Was?“

„Meinen Schlüsselbund. Im Gästebad – hier auf der unteren Etage. Ich glaube er liegt auf der Fensterbank…“, versuchte er es ihm deutlicher zu Erklären und sah dann das Augenverdrehen des anderen.

„Warte.“ Er sah ihm nach, bis der Ältere aus seinem Sichtfeld verschwand und hörte dann nur noch dessen Schritte durch das große Haus hallen. Etwas fiel um, man hörte das laute Fluchen. Er war immer wieder überrascht, was für ein Vokabular Levi an Flüchen besaß. Es reichte von einem simplen Arschloch bis hin zu komplexen Schimpftiraden, denen man sich nicht aussetzen wollte. „Hier.“ Ihm wurde der Schlüsselbund mit dem kleinen Äffchen als Anhänger in die Hand gedrückt. „Hast du es dir überlegt?“

„Was?“ Bissig. Oh. Jetzt hieß es vorsichtig sein.

„Wegen dem Abendessen bei uns… Am Fünfundzwanzigsten“, hakte er vorsichtig nach und trat schon einmal auf die vorletzte Stufe von oben zurück.

„Ja. Ja – ich komme rüber. Damit du aufhörst, mich zu nerven.“

„Ok.“ Das reichte ihm schon als Antwort. Dann konnte Mikasa sich immerhin nach Lust und Laune mit dem Essen ausleben. Sie kochte verdammt gern – Eren konnte es nicht verstehen, aber er ließ sie immer gern machen.

„Um sechs?“

„Ja. Etwas mitbringen?“

„Dich selbst“, antwortete er auf die knappe Frage und hob dann die Hand, um sich schnell zu verziehen.

 

Er sah nur noch Mikasas roten Schal zwischen all den grünen Bäumen. Sie huschte von einer Tanne zur nächsten und zurück, während der darauf wartete, dass sie mit einem ‚Eren! Ich hab ihn!“, verkünden würde, die perfekte Wahl getroffen zu haben. Seit drei Jahren feierten sie Weihnachten stets allein. Das letzte Mal hatte er seinen Vater gesehen … als … er Abschluss hatte. Also im … Juli? Ja, das kam in etwa hin. Sonst war sein Vater noch einmal kurz zu Hause gewesen – was aber nicht wirklich als daheim sein gelten konnte, da er nur einen Tag hier verbracht hatte – und das war im September gewesen. Jetzt hatten sie Dezember. Ob sein Vater auf einer Reise von ‚Ärzte ohne Grenzen’ war oder ob er eine andere Geschäftreise – weswegen auch immer! – absolvierte, wusste Eren nicht. Sein Vater sprach nicht darüber. Eigentlich sprachen sie gar nicht miteinander. Keine Telefonate, kein Skype – nicht einmal wenn sie gegenüber saßen kam es zu einem Gespräch. Daher war es inzwischen auch schon egal, ob er da war oder nicht.

„Eren!“

„Aha“, meinte er leise für sich und ein Lächeln zog sich über seine Lippen, als er seine Schwester suchte. Sie hüpfte auf und ab, um ihm mit einem Winken ihre Position durchzugeben. Er fand sie recht schnell und besah sich den Baum ihrer Wahl, ehe er in die Hocke ging und die Bügelsäge ansetzte. Also was das anging, die weihnachtliche Baumwahl, ließ Mikasas Geschmack keinen Raum für Proteste. Er war groß, schön gewachsen mit einem hübschen Kranz und stachligen Nadeln, die sich durch die Handschuhe bohrten, die Eren trug. Gemeinsam zerrten sie den frisch gefällten Baum zum Verkäufer, zahlten die genannte Summe und hievten ihre heutige Beute auf das Autodach.

Als sie zu Hause waren, saß er lediglich auf der Couch, zwischen all den weihnachtlichen Dekorationen und reichte seiner Schwester die weißen und blauen Kugeln an, während sie um den großen Baum herumtanzte, der nahezu mitten in dem großen Wohnzimmer stand. Sie hatten nur eine recht kleine Couch, ein paar Kommoden. Der Fernseher war an der Wand angebracht und darunter stand nur eine kleine Kommode mit einer Uhr und dem Bluray-Player  und dem Digitalreceiver. Eigentlich war der Mittelpunkt des eigentlichen Familienlebens bei ihnen sehr sporadisch eingerichtet. Er saß mit Mikasa meistens in der Küche… Aber heute zog hier endlich Wohnlichkeit ein.

„Darf ich Japanisch kochen?“, fragte sie, als sie ihm eine weitere weiße Kugel aus der Hand nahm.

„Klar.“ Ihm war es egal. Bisher hatte er alles gegessen, dass sie auf den Tisch gebracht hatte. Sei es fettig und amerikanisch, mediterran und italienisch oder was auch immer. Es war ihm egal. Er vertraute ihr in dieser Beziehung.

„Aber…“

„Hanji mag Sushi mit Lachs und sie mag Reisnudeln. Und Levi scheint eine Schwäche für Hühnchen zu haben.“

„Hm… Ok.“ Sie hielt inne und blickte ihn kurz musternd entgegen, ehe sie meinte: „Hast du schon mal das schmale Lächeln auf seinen Lippen gesehen?“

„Was?“

„Beim Training. Dieser Hauch eines Lächelns.“

„Ne. Ist mir nicht aufgefallen.“ Scheinbar hatten Levi und Mikasa doch mehr gemeinsam, als zuvor vermutet. Mikasas Lächeln konnte auch so dünn und unscheinbar sein, dass man es kaum erkannte.

„Hm. Vielleicht habe ich mir das auch nur eingebildet.“

„Vielleicht, ja“, gab er deswegen zurück und setzte seine Tätigkeit weiter fort, reichte ihr Dinge und schwieg. Ein lächelnder Levi wäre wohl verstörender als die kühle Maske der Undurchsichtigkeit, die er sonst trug. Das wollte er sich gar nicht weiter vorstellen, sonst würde er beginnen, danach zu suchen. Und wahrscheinlich würde es ihn dann genau so enttäuschen, wie die Erkenntnis, nur erduldet zu sein.

Dieser eine Gedanke kämpfte sich zusammen mit dem Gefühl an die Oberfläche zurück. Was war, wenn all die Menschen ihn nur ‚mochten’ und ‚dudelten’, weil sie Mitleid für ihn empfanden. Was wenn Hanji nur nett zu ihm war, weil er so hilflos auf sie gewirkt hatte? Oder weil er diesen peinlichen Zusammenbruch hatte?

Und was war, wenn Levi ihn nur duldete, damit er ihm wirklich nicht weiter auf den Sack ging? Wenn er ihm im Grunde nur die Zeit stahl?

Eren schluckte trocken, versuchte diese fixe Idee aus seinem Kopf zu verbannen.

„Eren? Alles klar?“

„Was? Ja, sicher.“ Dabei war nichts klar. Doch sollte sie sich nicht noch mehr Sorgen um ihn machen, als sie ohnehin schon hatte. Er stürzte immer wieder ab, wenn er gerade gedacht hatte, das obere Ende des Lochs erreicht zu haben. Aber wann immer er die Hand danach ausstreckte, brach ein Stück Erde an der anderen und ließ ihn wieder zurückfallen. Zwar nicht nach ganz unten, aber doch ein gutes Stück zurück in die Dunkelheit.

 

Hanji war die erste, die an dem Abend eintraf. Sie hatte Blumen und eine Flasche Wein in der Hand, als Eren ihr die Tür öffnete. „Frohe Weihnachten!“, meinte sie und umarmte ihn sogar zur Begrüßung. Eren klopfte ihr kurz auf den Rücken. Diese Situation war doch befremdlich… „Eren“, meinte sie leise und nahe an seinem Ohr, sodass gerade er es verstehen konnte. „Levi hat heute Geburtstag“, hängte sie ebenso flüsternd hinterher und Eren hob die Augenbrauen, als sich seine Dozentin von ihm entfernte und ihm die Blumen als auch den Wein im Hineingehen in die Hände drückte. Was er darauf sagen sollte, wusste er nicht. Und allein die Tatsache, dass sie es ihm so leise gesagt hatte, hieß sicherlich irgendwas. Eren schloss die Haustür und begleitete Hanji hinein in die große Küche. „Mikasa!“

Mikasa riss jedoch gleich die Hände hoch, ehe sie mit dem Kochlöffel auf Hanji richtete. „Woh!“, kam es nur von seiner Schwester, als sie sich gegen die Küchenzeile drücke, um mehr Abstand zu Erens Dozentin zu bekommen. „Was ist das?“

„Mikasa – das ist Hanji. Hanji – meine Schwester“, stellte er die beiden kurz vor und trat neben Hanji. Doch Hanjis Grinsen verschwand nicht einen Moment. Viel eher lehnte sie sich etwas an ihn. „Wäre sie etwas älter, würde ich sie jetzt für Levis Schwester halten und nicht deine.“

„Ich bin adoptier.“ Mikasa legte ihren zur Waffe umfunktionierten Kochlöffel beiseite und legte auch die Schürze ab. „Und ich bin sicherlich nicht mit der Miesmuschel von neben an verwandt.“

„Wenn ich nicht wüsste, dass du gerade erst achtzehn geworden bist und Levi einunddreißig ist, würde ich es für gar nicht so unwahrscheinlich halten.“

„Hat er irgendwas Japanisches an sich?“

Hanji schien nicht zu merken, dass sie mit ihrer Analyse Mikasa auf die Palme bringen könnte, wenn es so weiter ging. „Nein… Er kommt auch aus Detroit. Es ist eher unwahrscheinlich.“

„Detroit?“ Eren zeigte nun mehr Interesse als an der vorhergegangenen Diskussion.

„Ja… Hm. Kann ich mich setzen?“

Hanji schien sich mehr und mehr zu verplappern. Und wie es schien waren dies alles Informationen, die Levi nicht einfach so rausgeben würde. Es rankten sich bereits jetzt die wildesten Gerüchte um den Ex-Militär. Unter den Vereinsmitgliedern kursierten die merkwürdigsten Spekulationen und Hanji trug nicht gerade dazu bei, Levis Person für Eren uninteressanter werden zu lassen. Das versprach ein wirklich sehr amüsanter Abend zu werden. Eren stellte die Präsente Hanjis etwas einmal beiseite, platzierte den Strauß jedoch auf dem gedeckten Tisch und ließ seinen Blick zwischen Hanji und Mikasa hin und her wandern. Hanji wirkte so anders, wenn sie nicht die Klamotten trug, die sie in der Uni stets präsentierte. Heute war es keine Bluse. Hanji trug jeden Tag eine Bluse – die Farbe war egal. Und Jeans. Heute überraschte sie ihn beinahe mit dem langen, schwarzen Kleid und dem weißen Blazer. Sie trug das Haar auch nicht zu einem simplen Pferdeschwanz, sondern zu einer mit mehreren kleinen Klammern befestigten Hochsteckfrisur. Sie wirkte … weiblicher. Eren wollte gerade ein Kompliment über die Lippen bringen, als es klingelte. „Ich geh nicht“, wehrte Mikasa gleich ab und stellte die Schüssel mit dem Reis auf den großen Tisch.

„Ok“, seufzte Eren und ging in den Flur zurück, zog die Tür erneut auf.

„N’abend.“

„Komm rein.“ Levi trat die Schuhe noch einmal auf der Fußmatte ab und trat dann ein.

„Hier.“

Ihm wurde erneut eine Flasche Wein in die Hand gedrückt. Und laut Etikett war es sogar dieselbe Marke, die auch Hanji mitgebracht hatte. Ein Indiz mehr dafür, dass Hanji und Levi definitiv befreundet waren und ziemlich viel Zeit miteinander verbrachten…

„Danke“, meinte Eren nur trocken und deutete mit der Hand in die Richtung der Küche.

„Levi!“

„Oh nein“, kam es trocken und doch irgendwie leidend von Levi, als dieser stehen blieb, ehe er auch nur den Türrahmen der Küche erreicht hatte. Hanji kam in diesem Moment in den Flur, umarmte den Ex-Militär mit einer solchen Liebe, dass es hier schier jeden erdrücken könnte. „Ich freu mich auch dich wieder zusehen!“, zirpte sie und klopfte ihrem Kumpel auf den Rücken.

„Hm. Ich mich nicht.“

„Welch Liebe du doch für mich über hast.“

„Darf ich noch richtig rein kommen?“

Wie sie es letztlich schafften, doch noch an den Tisch zu kommen, ohne dass Hanji sich an Levi festklettete, war Eren ein kleines Rätsel.

„Du trägst die Ausgehuniform?“, merkte Hanji an, als sie die Schale Reis an Eren weiter ging.

„Ich besitze keine durchschnittlichen Anzüge“, kommentierte Levi das recht nüchtern und legte Messer und Gabel penible gerade auf der Servierte zurecht. „Da muss es eben dieser tun.“

Eren ließ seinen Blick kurz über das schwarze Jackett mit dem weißen Rand gleiten. Levi trug eine Krawatte, wie aus einer anderen Zeit. Ein weißes, leicht glänzendes Tuch, in dem eine weiße Perle als Anstecknadel steckte. Die Bänder und Schulterstreifen waren von der Uniform entfernt worden, um sie mehr casual wirken zu lassen und doch wich das militärische Flair nicht. Nicht, dass es Eren stören würde. Und auch sonst niemanden in diesem Raum.

„Hast du eigentlich noch mit Erwin-“

„Ganz böses Thema“, meinte Mikasa schnell und schenkte Hanji einen viel sagenden Blick. Ein verstehendes Nicken kam daraufhin von der jungen Wissenschaftlerin und sie ließ das Thema ohne jeden weiteren Kommentar sofort fallen. „Ok. Ok. Gut. Anderes Thema“, meinte sie und ließ ihren Blick zwischen den am Tisch sitzenden Personen gleiten. „Eren meinte, du könntest eine Meisterausbildung beginnen?“

„Sobald ich mit meiner regulären Ausbildung durch bin, ja.“

„Dann musst du ausgezeichnete Noten haben.“

„Die … habe ich auch.“

Eren bemerkte, wie unangenehm seiner Schwester das Thema war. Sie lobte sie selbst ungern und auch solche Tatsachen kehrte Mikasa lieber unter den Tisch, ohne groß darüber zu reden.

„Wenn du etwas gut kannst, dann versteck es nicht.“

Levis Blick bohrte sich daraufhin in Mikasas. Und scheinbar ungesprochene Worte lagen zwischen ihnen. Eren wusste, dass Levi große Stücke auf Mikasa hielt. Er reichte die Schale an Levi weiter. Der Strauß hatte doch noch weichen müssen. Vor ihnen hatte sich nämlich ein ganzes, japanisches Menü aufgebaut. Von Sushi, über kleine Reisbällchen mit Füllung, Hähnchenspieße. Es gab sogar Suppe, doch diese stand neben dem Herd auf der Arbeitsplatte.

„Das…“

„Brauchst du nicht verstecken.“

„Hm…“ Mikasa sah auf ihren Teller, nahm die Stäbchen in die Hände, als alle sich etwas von dem Reis aufgetan hatten. „Guten Appetit“, meinte sie und senkte den Kopf etwas. Eren kannte das Spiel schon, Hanji schien verwirrt und Levi erwiderte die Geste halb.

 

Eren hatte nicht damit gerechnet, dass es ein derart entspannter Abend hätte werden können. Nachdem die Küche aufgeräumt war, hatten sie sich ins Wohnzimmer gesetzt. Eren hatte sich zwar beinahe mit dem Korkenzieher und der Flasche umgebracht, es jedoch geschafft, sich nicht großartig zu blamieren und hatte ihnen allen etwas Wein in die polierten Kristallgläser eingeschenkt. Mikasa saß zwischen ihm und Hanji, während Eren direkt neben Levi auf der Rundecke platziert war.

Hanji konnte abendfüllende Vorträge über jedes Thema halten und es war auch in der Freizeit interessant, ihr zuzuhören. Ihre Interessenfelder waren unglaublich weit gefächert und Eren erfuhr, dass selbst Hanji einige Jahre in der Armee gewesen war. Sie hatte dort ihr Studium begonnen, aber festgestellt, dass die Aussicht auf Auslandseinsätze nicht mit ihrem Gewissen zu vereinbaren waren. Wie sie es genau geschafft hatte, aus dem eng gestrickten Netz der Armee zu entkommen, ließ sie dabei jedoch der Fantasie überlassen. Sie hatte in Amerika studiert, ihren Master an einer deutschen Uni gemacht und ihren ersten Doktortitel in Schottland verdient. Sie war viel rumgekommen und könnte sich stundenlang über die Länder unterhalten. Der Glanz in ihren Augen war einmalig. Diese Freude in ihren Worten, das Lächeln auf ihrem Gesicht – es war schön, sie so zu erleben. Anders, als hinter den Türen der Universität.

Mikasa kam auch mehr und mehr aus sich heraus, begann von sich und der Arbeit zu erzählen und vertiefte sich mit Hanji in die Forschung über Haarprodukte. Eren zog die Augenbrauen zusammen. Wie konnte das bitte überhaupt ein Thema sein? Etwas unwohl fühlte er sich dann schon. Es gab nichts, über das er etwas erzählen konnte, ohne jemanden zu nerven. Hanji wusste das meiste, weil sie dabei war. Mikasa hatte er es beim Abendessen oder am Wochenende erzählt und Levi wollte er damit sicherlich nicht nerven. Er wagte es ja kaum in dessen Gegenwart zu viel oder zu schnell zu sprechen. Meistens war es leider eine Kombination aus beidem und er erinnerte sich immer an Hanjis Ratschläge. Er riskierte einen kurzen Seitenblick, sah dass Levi das Weinglas auf seinem Knie abgesetzt hatte und den Blick über die Fotowand gleiten ließ. Gerahmte Bilder, die an der Wand neben dem Fernseher hingen. Familienfotos – peinliche Fotos – Abschlussfotos. Die ganze Palette.

„Ich kannte dich, als du noch ein in die Windeln scheißender Knirps warst“, erhob Levi jedoch irgendwann die Stimme, stellte das Glas zurück auf den Tisch. „Kaum größer als der Gartenzaun und immer an Mutters Rockzipfel.“

„Hm?“ Eren war mehr als perplex. Wie konnte Levi ihn denn … kennen?

„Woher?“, fragte er deswegen und Levi wandte den Kopf leicht zur Seite, sah ihn an.

„Deine Familie zog hier ein, als du vier warst. Ich wohnte nebenan.“

„Du hast… Bei Mrs. Rivaille…“ Der Groschen fiel und kam klirrend auf dem Boden auf. „Aber Hanji meinte … Detroit?“ Jetzt war er völlig verwirrt.

„Schon mal was von Adoptionen über das große Wasser gehört? Mit afrikanischen Blagen passiert das ewig“, kam die neutrale Erklärung und Levi wandte den Blick wieder von ihm ab.

„Aber sie ist doch so früh gestorben… Ich kann mich nicht an dich erinnern.“

„Wie auch? Ich bin im selben Jahr von hier abgehauen.“

Levis Stimme wurde ruhiger und Eren meinte, einen Hauch von Wärme in ihr zu hören. „Als Charlotte krank wurde, meinte sie ich solle gehen. Sie wollte nicht, dass ich bleibe. Ich

hatte zwei Möglichkeiten: Zurück in ein Jugendheim oder die vorzeitige Volljährigkeit.“

„Du hast Letztes gewählt?“

„Und ging zur Armee.“

„Warum das?“

„Ich sah mich nie als Student oder Lehrer, als Bürofutzi erst recht nicht“, meinte Levi und ließ seinen Blick kurz zu den beiden Frauen wandern, die sich jedoch für sie nicht zu interessieren schienen.

„Hat Mrs. Rivaille dich hierher geholt?“

„Eine andere Familie.“

„Wann kamst du her?“ Er musste es ausnutzen, dass Levi von sich erzählte. Er wollte das Wissen besitzen dürfen, welches der Ältere im Moment bereit war zugeben.

„Mit … elf. Ich war elf, als mein Arsch von einer Jugendamtsfotz- Mitarbeiterin in einen Flieger der ‚Bitish Airways’ gesetzt wurde.“

„Wie war die Familie?“

„Anfangs durchschnittlich. Aber nur fürs Jugendamt und die Adoption. Das typische Blabla für die Ordnungshüter. Er schlug seine Frau, er schlug mich. Ich mochte meine Ersatzmutter jedoch, wehrte mich deswegen nicht gegen ihn, weil ich lernte, dass er sonst auf sie losging. Aber ich lernte durch ihn auch das Kämpfen.“

Eren wagte es nicht, irgendwas zu fragen. Es schien, als wäre Levi nicht fertig mit dem, was er sagen wollte.

„Ich war mit vierzehn durch. Zur Schule ging ich nicht – konnte ich nicht. Er sperrte uns ein, meinte, es sei das Beste. Nach einem Monat kam die Jugendamtsmitarbeiter, die mich in Empfang genommen hatte und steckte mich zurück ins Heim – hier in England. Später kam ich zur Pflege zu Charlotte.“

„Aber sie war alt…“

„Sie war keine fünfzig“, berichtigte Levi ihn. „Krebs macht alt.“

„Ich war damals vier … du …“

„Sechzehn, beinahe siebzehn.“

„Aber das Militär…“

„Ich war vor dem Gesetz volljährig und laut Ergebnissen geeignet.“

„Dann warst du aber keine dreizehn Jahre da.“

„Nein. Vierzehn.“

„Wow.“ Eren wusste nicht, was er sonst sagen sollte. Das hatte ihn ein wenig aus der Bahn geworfen. Noch vor wenigen Stunden hatte er geglaubt, niemals etwas über den neuen Nachbarn zu erfahren und nun begann dieser von allein damit?

„Deine Mutter war eine sehr freundliche, sehr hübsche Frau. Ist sie mit deinem Vater weg?“

Eren sah auf den Boden. Die Frage bohrte sich ungewollt wie ein Messer unter seine Haut. „Nein.“

„Wo ist sie?“

„Unter der Erde. Ein Stein mit einem Namen“, meinte er und biss sich auf die Unterlippe. Er sprach nicht über seine Mutter. Nie. Er sprach einfach nicht über sie, weil er damals den ersten Knacks bekommen hatte. Jean war dann nur noch der letzte Tropfen im randvollen Fass gewesen. Es war nicht fair abzublocken, also hatte er Levi die Antwort gegeben, auch wenn sie wehtat. Nach all den Jahren…

„Es tut mir leid.“

Da klang wirklich Reue in Levis Stimme mit, doch winkte er ab. „Du konntest es nicht wissen. Wie auch?“ Eren lehnte sich zurück, setzte sein falsches Lachen auf und tat so, als wäre die Welt in Ordnung. Nicht einmal Mikasa schaffte es, hinter diese Fassade zu sehen und kaufte ihm die gute Laune ab, die er ihr vorspielte. „Sie ist hatte einen Schlaganfall im Garten. Sie starb an den Folgen. Hirnbluten – all das. Ich war dreizehn damals.“

„Und dein Vater?“

„Ist seitdem kaum mehr zu Hause. Er kümmert sich seitdem nicht mehr wirklich um uns.“

Levis Antwort darauf war ein simples Augenverdrehen und es war Antwort genug. Es drückte Levis Meinung über ein solches Verhalten aus, ohne große Worte zu benötigen. Eren hatte wenigstens soviel über den Älteren gelernt. Auch wenn sie sich nicht sehr viel unterhalten hatten. Er glaubte, allein der Körpersprache des anderen genug Antworten zu finden, ihn langsam lesen und daraufhin reagieren zu können.

„Aber was anderes.“ Er wollte nicht weiter über Tod reden, wenn es zuvor eine so angenehme Atmosphäre gewesen war. „Welchen Rang hattest du in der Armee?“

„Einen Rang.“

Er stieß den anderen todesmutig mit dem Ellenbogen gegen den Oberarm. „Komm schon.“

„Captain.“

„Uh. Captain Rivaille. Klangvoll.“

„Du solltest die Finger vom Wein lassen, Kind.“

„Levi“, seufzte er nur fast schon genervt. Mit einem Mal ließ der Ältere jegliche Schotten schließen und machte dicht? Ernsthaft?

 

Levi

 

„Nimmst du mich mit?“ Hanji sah ihn fragend an, als sich zum gehen fertig machten. Eigentlich hatte er gar nicht damit gerechnet, überhaupt so lange zu bleiben. Aber er hatte es zugelassen, dass die fast familiäre Atmosphäre ihn eingelullt hatte. „Ja“, gab er kurz von sich. Hanji umarmte die Geschwister zum Abschied und ging schon einmal zum Auto. Er hingegen gab Mikasa die Hand, ehe diese auch gleich der abendlichen Kälte wegen zurück ins Haus verschwand.

„Hat mich gefreut“, meinte Eren und reichte ihm die Hand. Ein kurzer, stärkerer Händedruck folgte. Levi war überrascht – er erinnerte sich noch an die lasche Begrüßung Erens bei ihrer ersten Begegnung.

„Hm.“

„Und Levi.“

„Was?“ Er schob gerade die Hände wieder in die Hosentaschen.

„Alles Gute zum Geburtstag.“

Ein schmales Lächeln erschien auf Eren Lippen, während Levi selbst nicht wusste, was er sagen sollte. Sicherlich war die Information von Hanji aus zu dem Jungen gesickert. Woher sollte Eren es sonst wissen? Aber scheinbar wurde keine Antwort von ihm erwartet, da Eren sich nun auch abwandte. „Gute Nacht“, murmelte der Jüngere noch schloss die Tür. Levi drehte sich daraufhin auch weg und zog die Autoschlüssel aus der Hosentasche, ehe er auf Hanji zuging. Er öffnete ihr die Beifahrertür, ließ sie einsteigen, doch spürte er die ganze Zeit diesen einen Blick auf sich.

„Er mag dich“, meinte sie als auch Levi sich ins Auto setzte.

„Tz.“

„Nein, nichts tz“, sagte sie und legte den Sicherheitsgurt an. „Ich meine das ernst. Er mag dich. Er respektiert dich, sieht zu dir auf.“

„Das sollte er schleunigst sein lassen“, gab er daraufhin nur von sich und startete den Wagen. Dass das Auto lief, hatte er keiner Werkstatt zu verdanken. Es war nur der einfache Handgriff dieses jungen Mannes, aus dessen Haus er gerade erst gekommen war.

„Warum hast du ihm nicht alles gesagt?“

„Was meinst du?“ Sie verließen gerade die Gasse, in welcher sich die Häuser befanden und er wandte den Blick kurz zu ihr um.

„Dass du zurück nach Amerika bist?“

„Weil es ihn nicht interessiert?“

„Es gibt vieles, was du ihm verschweigest.“

„Weil es ihn nichts angeht, Hanji. Er ist ein einfacher, durchschnittlicher Junge.“

„Der aber irgendwas an sich hat, das dich dazu bewegt, auf ihn aufzupassen.“

Aufpassen. Er hatte nicht einmal ein Auge auf Eren. Er ließ den Jungen machen, was auch immer diesem gerade in den Kopf kam. Nicht einmal die von Mikasa angesprochene Aufmerksamkeit bekam Eren im Übermaß von ihm. Und doch klammerte sich der Junge an ihn, als sei er der allerletzte Rettungsring auf weiter See.

„Du warst bei den Marines – das wird er auch wissen. Wir in England – wir haben das hier nicht.“

„Ich weiß.“

„Und dass Erwin ebenfalls Amerikaner ist, hättest du ihm auch sagen können.“

„Warum? Es ändert nichts an irgendetwas. Es ist nicht so, als müsste ich Eren meine ganze Lebensgeschichte, meine Beziehungen und Nicht-Beziehungen aufdröseln. Meine Entscheidungen sind eben das – meine. Und es geht ihn nichts an.“

„Magst du ihn nicht einmal ein kleines Bisschen?“ Hanji wirkte fast enttäuscht. Scheinbar hatte sie gehofft, dass Eren oder Mikasa oder sogar beide, irgendeinen Stein bei ihm ins Rollen bringen würden. Doch wusste Levi selbst am besten, was gut für ihn war. Und zu viel Zeit mit diesen Kindern war sicherlich nicht gut für ihn.

„Nur ein kleines, ganz klitzekleines Bisschen?“, hakte Hanji noch einmal nach und er seufzte genervt.

„Warum?“

„Weil Eren alles verlieren wird.“

„Wie meinst du das nun schon wieder?“

Er bog auf die Rose Street ab und hielt am Seitenrand. Hanji wohnte in einer Eigentumswohnung im sechsten Stock eines mittelständischen Wohnblocks. Wohnungen waren dort erschwinglich und doch nicht einfach eingerichtet. Eben genau das, was Hanji zum Leben brauchte. Er kannte sie inzwischen gut genug. Und er wusste auch, dass ihre Fragen und der ganze Wink mit der Holzhandlung irgendwas zu bedeuten hatten.

Hanji löste den Gurt, blieb jedoch noch sitzen. Sie seufzte tief, ehe sie sagte: „Mikasa muss für die Meisterschule weg von hier. Wir wohnen hier in London – zwar eher am Rand, aber wir wohnen in London. Sie müsste nach Liverpool.“

„Warum erzählst du mir das?“

„Du scheinst die einzige, männliche Person, der er vertraut.“

„Vertrauen. Tz.“

Und doch musste er zugeben, dass das recht hart erschien. Mutter tot, Vater ewig unterwegs, Schwester weg … Das war sicherlich nicht einfach. Levi kannte diese engen, familiären Bindungen nicht. Als er damals die Entscheidung hat treffen müssen, zu gehen, war es ihm nicht leicht gefallen. Er hatte Charlotte gern gehabt, aber es war noch einmal etwas anderes, wenn die Familie so auseinander gerissen wurde als wenn man wie er nicht wusste, wie sich richtige Familie anfühlte.

Er strich über das Lederlenkrad und sah zur ihr. „Hat Mikasa es ihm schon gesagt?“

„Nein… Sie wollte es ihm nächstes Jahr sagen, wenn der Vater wieder da wäre.“

„Grischa Jäger. Ein unsagbar abstoßender Kerl mit einem miserablem Charakter…“

„Gerade deswegen. Levi – bist du da wenn er fällt?“

„Kann ich dir nicht versprechen“, kam es kühl zurück und er zuckte andeutet die Schultern. „Mich interessiert so etwas nicht.“

„Du kannst nicht behaupten, dass er dir ganz egal ist.“

„Das sage ich auch nicht.“

„Also? Magst du ihn wenigstens ein bisschen?“

„Reicht dir Sympathie? Dann kann ich nämlich jetzt endlich nach Hause.“

„Ja.“ Ein glückliches Lächeln legte sich auf Hanjis Lippen, als sie ausstieg.

 

„Hier.“

Ihm wurde eine Mappe auf den Schreibtisch geknallt und er sah fragend, aber auch gleichzeitig genervt zu Erwin hoch. „Was ist das?“, wollte er nur wissen und blickte dem schwarzen Plastikordner entgegen. Bewerbungsunterlagen? Ein Vertrag, den er kurz überfliegen sollte? Hatte Erwin seinen Willen bekommen? Es war der dreißigste Dezember, das Jahr neigte sich mehr als nur dem Ende zu. Und sein Vorgesetzter war dafür bekannt, auf den letzten Drücker noch irgendwelche Dinge erledigen zu können, selbst wenn es bis ‚nächstes Jahr’ Zeit hätte.

„Zwangsurlaub.“

„Warum das denn?“ Er erhob sich von seinem Stuhl, nahm die Mappe und drückte sie Erwin gegen die Brust. „Ich bin knapp sieben Monate hier. Da brauche ich keinen Urlaub.“

„Deine Überstunden.“

„Ach? Du kümmerst dich auf einmal um Überstunden? Ich wusste nicht einmal, dass dieses Wort in deinem beschissenen Wortschatz enthalten ist“, knurrte er ihm entgegen.

„Jeden Monat hast du etwa dreißig Überstunden gesammelt, Levi. Ich achte auf meine Mitarbeiter.“

„Tz. Was du nicht sagst.“ Bisher war ihm das eher ein Rätsel gewesen. Seit wann interessierte Erwin sich für so etwas? „Oder hast du irgendwelche Beschwerden am Hals?“, hakte er skeptisch nach und suchte in den blauen Augen des anderen nach Antworten.

„Ich halte mich nur an die Regeln. Und da du ohne mich keinen Urlaub einreichen würdest, bekommst du ihn von mir per Zwang aufgedrückt“

„Ach? Dir sollte bewusst sein, dass ich mich zu nichts zwingen lasse.“

Doch mit einem Mal wurde der Blick des anderen hart und die Haltung stabiler, eleganter und … dominanter. „Das ist ein Befehl“, kam es dunkel von Erwin zurück und Levi verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. Erwin wusste, wie empfindlich er auf do etwas reagierte. Es war antrainiert. Und die langen Jahre bei der Armee, als Rekrut, Grünschnabel oder später in seiner Position als Captain, hatten ihm den Gehorsam für Befehle gelehrt. Es gefiel ihm nicht, dass Erwin diese Karte immer wieder spielte.

„Wie lange?“, fragte er deswegen und nahm die Mappe, als sie ihm gereicht wurde, entgegen.

„Zwei Wochen.“

„Bist du wahnsinnig?“

„Warum arbeitest du überhaupt so viel?“

„Ich habe keine großartigen Hobbys, Commander“, gab er bissig zurück und blätterte durch die Unterlagen. Es war einmal der Urlaubsbescheid und dazu noch ein paar Unterlagen über die Location, um die er sich hat kümmern sollen. Es war ein politischer Empfang zum Neujahr geplant und da Wing-Sec als eines der zuverlässigsten Unternehmen im Bereich Sicherheit galt, hatte man sie damit betraut. Und da Erwin wiederum ihm am meiste zutraute, hatte er das Gelände begutachten sollen. Es waren seine Grundrisse und die Sicherheitsposten, die er empfehlen würde. Erwin hatte – etwas kracklig und kindlich – einige Notizen mit roter Tinte beigefügt.

„Was hältst du davon?“

„Mehr Personal?“

„Ich beauftrage eine Leihfirma, wenn mein Personal nicht ausreicht.“

„Ich werde die Einweisung übernehmen.“

„Du bist dann schon im Urlaub.“

„Vergiss es, Erwin. Das ist meine Sache. Und ich bringe zu Ende, was ich begonnen habe“, meinte Levi und nahm den Zettel für seinen Urlaub heraus, ehe er die Mappe zuklappte. „Ich gehe nach dem Event gern in deinen beschissenen Zwangsurlaub und sitze mir den Arsch zu Hause wund.“

„Du hast genug in deinem Eigenheim zutun. Nutz die Zeit.“

„Pisser.“

„Ich bin auch ganz entzückt.“

Levi schüttelte nur den Kopf, als Erwin sich von ihm abwandte. „Gut. Aber nur noch den einen Auftrag, danach ist für zwei Wochen Schluss für dich. Schlaf dich aus.“

„Ja, ja. Leck mich.“

Es gab immerhin einen ganz entscheidenden Grund, warum er kaum zu Hause war. Ihm fiel daheim zu schnell die Decke auf den Kopf. Herumsitzen und Nichtstun war wie eine Strafe für ihn. Es hatte schon immer seine Gründe gehabt, warum er sich statt drei oder sechs Monate, ein ganzes beschissenes Jahr in die Krisengebiete hat versetzen lassen. Er brauchte etwas zutun. Ein Langschläfer war er noch nie gewesen. Er verschwand um zehn im Bett und war um vier wieder auf den Beinen. Was war daran so schwer zu verstehen? Erwin müsste es sogar noch als einziger verstehen können? Sein Chef war selbst dafür bekannt, kaum Auszeiten zu nehmen.

 

Zwei Jahre zuvor:

Delta-Einheit. 270 Tage bis zur Ablöse. Standort: Afghanistan.

„Wir rücken aus!“ Drei Worte, die eine ganze Einheit ins Laufen verfallen ließ. Uniformen wurden angelegt, Holster befestigt, Granaten und Munition wanderten in die dafür vorgesehenen Gürtel. Levi zog die Schnüre seiner Stiefel noch einmal nach, nahm den Helm und seine MP-5. Es kribbelte in seinen Fingern.

Er war gern hier. Hier wusste er, warum er was tat. Ihre Mission war Frieden und Unterstützung für das Land, das ihrer Hilfe bedurfte. Hier bildete er einheimische Soldaten aus, konnte sich auf seine eigene Einheit blind verlassen und vertraute auf die Befehle seines Vorgesetzten. Das einzige, was er nicht gern tat, waren Kugeln auf lebende Menschen abgeben. Terroristen waren auch Menschen. Und selbst wenn er an Rache für gefallene Kameraden und Freunde dachte, machte es sein Gewissen nicht leichter.

„Captain.“

„Sir.“ Er sah zu Erwin auf. Sie spielten das perfekte Spiel. Man hielt sie für das unfehlbarste Gespann in der Führungsetage. Man verließ sich auf sie. Und trotz der engen Zusammenarbeit, vermuteten alle, dass sie nichts weiter als Kameraden waren. Freundschaft zog niemand in Erwägung.

„Sie kommen mit mir.“

„Ja, Sir.“

An dem Tag gerieten sie in ein schweres Feuergefecht. Zwei ihrer Humvees wurden durch Straßenmienen auseinander gerissen. Und die Verluste stiegen mit den vergehenden Stunden ins Unermessliche. Befehle wurden geschrien, Schüsse fielen und Granatenexplosionen rissen die Stille, die sich zwischenzeitlich immer mal wieder legte, auseinander. Es schien wie die Hölle.

Levis Uniform war über und über mit bereits dunklem, getrocknetem Blut und es war noch immer kein Ende in Sicht. Jedoch neigten sich ihre Munitionsvorräte zu Neige, sie hatten zu viele Verletzte und Luftunterstützung wurde jedes Mal wieder abgelehnt. Sein Blick glitt zur Seite, als er sein letztes Magazin in die Waffe schob. Seine Einheit war nahezu restlos ausgelöscht worden. Seine Offiziere, eine junge Frau und drei junge Männer, versuchten sich krampfhaft auf den Beinen zu Halten. Olou Bozardo, sein ganz persönlicher Fanboy,  hatte eine Platzwunde am Kopf, die mehr schlecht als recht versorgt worden war. Blut sickerte bereits durch den inzwischen grauen Verband, den man ihm angelegt hatte. Zwei Finger der linken Hand fehlten ihm und er hatte eine Brandverletzung davongetragen. Eld Jinn schlug sich tapfer. Zwar war seine weitere Teilnahme an der Situation außen vor. Ihm fehlten beide Beine. Eine Tretmine hatte ihn halb erwischt und es war ein Wunder, dass der Kerl noch bei Bewusstsein war. Gunter Schultz, einer der wenigen Sanitäter die überlebt hatten, versuchte sich der eigenen Verletzungen zum Trotz um die anderen zu kümmern. Und Petra Ral, eine seiner loyalsten Soldaten und die einzig überlebende Scharfschützin des Teams, hatte die Barrett m82 aufgestellt, suchte ihre Ziele und feuerte. Ihre Trefferquote lag stets bei über achtzig Prozent und selbst jetzt, mit nur einem gesunden Auge und einer schmerzenden Schulter, war sie der einzige Lichtblick. Sie konnte die versteckten Schützen ausschalten und ihnen die Möglichkeit geben, hier rauszukommen.

„Major.“

Er wandte sich zur Seite. Erwin war schwer verletzt worden. Levi hatte nicht gesehen, wie es passiert war, aber irgendwas hatte den rechten Arm des Kommandeurs beinahe vollständig abgerissen. Drei oder vier Sehnen hielten die Gliedmaße zusammen mit einem Hautfetzen davon ab, komplett abzufallen. Gunter hatte einen Verband umgelegt und sein möglichstes getan, die Blutung vorerst zu stoppen. Und doch driftete Erwin immer wieder in die Bewusstlosigkeit ab.

„Erwin!“

Müde hoben sich die Lider des anderen und ein verklärter Blick traf ihn. Seine ganze Einheit war Jenseits von Gut und Böse. Wenn sie nicht demnächst Unterstützung – von Land oder aus der Luft – bekommen würden, würden sie hier alle jämmerlich verrecken.

„Bleib wach“, befahl er ihm und lehnte sich hinter den Steinen vor, hinter welchen sie alle Schutz gesucht und gefunden hatten.

„Captain. Lassen Sie mich Ihr Bein sehen.“

„Geht schon.“ Er hatte keine Zeit. „Keine Zeit zum bluten.“

„Sie sind verletzt, Captain.“

„Ich weiß. Aber es wird mich nicht umbringen.“

„Drei Personen auf drei Uhr am Hang.“

„Freie Schussbahn?“

„Positiv“, meinte Petra und nur wenig später hallte der laute Schuss der Waffe durch das Tal, in welchem sie sich befanden. Noch einer und ein Dritter folgten.

Es wurde ruhig daraufhin. Die Sonne brannte weiterhin erbarmungslos auf sie nieder. „Captain.“

„Hm?“ Er wandte sich um und sah Gunter bei Eld sitzen.

„Tot.“

Levi fluchte. Man riss ihnen hier den Arsch auf. Und wofür? „Oulo?“

„Ohnmächtig.“

 

Wie viele Stunden letztlich vergingen, wusste er nicht. Es war bereits die Nacht hereingebrochen, als die täuschende Stille zerrissen wurde. Granaten flogen in ihre Richtung.

„Bewegung. Lauft“, gab er den Befehl, hievte den schweren Körper seines Kommandeurs hoch. Petra nahm ihr Gewehr und das Elds, ehe sie sich in Bewegung setzte. Gunter war ihm bei dem Transport Erwins behilflich. „Was machen wir mit den Leichen, Captain?“

Er warf einen kurzen Blick zu Oulo und Eld. „Wir lassen sie abholen.“ Sie hatten keine Zeit, ihre Toten mitzuführen. Sie mussten weg von hier und einen Ort suchen, von dem sie aus evakuiert werden könnten. Sie schafften es, eine in den Hang führende Höhle zu ihrem Zufluchtsort machen zu können.

„Captain…“

Er sah zu Petra, die sich an die Seite fasste. Blut rann über ihre schmalen Finger und sie verdrehte die Augen im Kopf, ehe sie in sich zusammensackte. „Petra.“

Er fiel neben ihr auf die Knie, fühlte ihren Puls, doch war da nichts. „Scheiße.“ Ihre Uniform öffnend versuchte er, sie zurück ins Leben zu holen, während Gunter seine Hände auf die Wunde legte. „Captain.“

„Scheiße!“

„Captain!“ Er sah auf. Seine eigenen Hände waren inzwischen auch rot. „Es ist vorbei.“

Ein Kloß bildete sich in seinem Hals. Wut und Verzweiflung machten sich in ihm breit, während er auf den leblosen Körper der jungen Frau nieder blickte.

„Ich werde rausgehen und versuchen, erneut Hilfe anzufordern. Wir sind hoffentlich aus der heißen Zone raus.“

Er wollte ihn noch zurückrufen, als Gunter mit dem Funkgerät aus der Höhle ging, doch bohrte sich ein trotz der Dunkelheit perfekt platzierter Schuss durch seine Brust und auch Gunter fiel zu Boden. Es passierte für Levi wie in Zeitlupe. Er sah den massiven Körper des Soldaten in die Knie sinken und nach vorn fallen. Selbst da Geräusch des aufschlagenden Leichnams war unendlich laut in seinen Ohren. Und das war der Moment, in dem sich alles für ihn änderte. Da war mit einem Mal kein Mitleid mehr für die Leute, die hier leben mussten. Die von den Terroristen bedroht wurden. Die meisten waren ohnehin auch von den Terroristen angeworben worden.

Der Schockzustand wich und er nahm das Gewehr Petras, suchte sich am Eingang der Höhle – er war der steinigen Umgebung dankbar -  eine Position, die ihn nicht gleich verriet. Er klappte die Schutzvorrichtungen des Zielfernrohrs hoch, setzte die Thermalvorrichtung auf und ließ seinen Blick  über die nun gräulich eingefärbte Umgebung gleiten. Er erkannte den Todesschützen auf der anderen Seite des Tals.

Ein starker Rückstoß ließ ihn die Luft einziehen. Sein Körper war mehr angeschlagen, als er gedacht hatte. Doch ignorierte er dies und suchte nach weiteren, potentiellen Problemen. Er schaltete alle Bewegungen aus, die er erkannte. Wie viele Menschen er auf diesem Wege, in dieser Nacht tötete – das war ihm nicht bewusst und es störte ihn auch nicht. Sein Herz hatte sich in dieser Nacht in den dunkelsten aller Schwarztöne gefärbt. Seine gesamte Einheit für nichts sterben zu sehen!

 

„Captain Rivaille.“ Er sah einen uniformierten Mann mit einer Einheit auf ihn zukommen. Sie liefen den Hügel hinauf, auf welchem er sich platziert hatte. Man nahm ihm die Waffe ab, half ihm auf die Beine. Zwei Mann mussten ihn stützen. Sein verletztes Bein gab nach. Jetzt, nachdem das Adrenalin aus seinem Körper gewichen war, spürte er den Schmerz, den die Schussverletzung in seinem rechten Bein hinterlassen hatte. Und er nahm die Müdigkeit langsam wahr, die sich in seinen Knochen festsetzte.

„Meine Männer sind alle tot“, teilte er dem Major mit, der vor ihm stand und bemühte sich trotz allem um einen einigermaßen gelungenen Salut. „Major Smith ist schwer verletzt. Und meine Leute…“

„Wir kümmern uns um alles, Captain.“

„Danke, Sir!“

 

Er saß am Krankenbett seines Kommandeurs. Erwin wirkte schwach, war blass und zerbrechlich. „Levi?“

„Man hat dir deinen beschissenen Arm wieder drangeflickt“, teilte er ihm mit, ohne ein Hallo oder dergleichen über die Lippen zu bringen. Erwins Blick glitt über seine Gestalt. „Und was ist mit dir?“

„Nichts Großartiges.“

„Levi“, kam es schwach und doch nicht ganz sorglos von dem Älteren. „Ich sehe dich vor mir…“

„Nur eine Stauchung in der rechten Schulter. Und ein glatter Durchschuss am Oberschenkel. Nichts Großartiges.“ Er sammelte ohnehin Narben wie andere Briefmarken. Viele stammten aus seiner Kindheit, aber die meisten stammten aus den unzähligen Einsätzen. Er gehörte immerhin zu einer der Einheiten, die man immer in den tiefsten Scheiß schickte.

„Es tut mir leid, Levi.“

„Ich weiß.“

„Man wird dich für den Silverstar vorschlagen.“

„Habe ich das verdient?“

„Das wird sich zeigen.“

 

Levi saß auf der schwarzen Couch seines Wohnzimmers. Vor ihm auf dem kleinen Glastisch stand eine rote Schachtel, in der sich alles befand, was er von der Zeit damals nicht entsorgt hatte. Er hatte die Auszeichnungen, um die er sich im Laufe seiner Karriere bei der Armee verdient gemacht hatte, hinausgenommen und auf dem Tisch verteilt. Die kleinen Bänder befanden sich dazu in der Schachtel. Den Silverstar hatte er tatsächlich erhalten, als er nach Hause kam. Zwei Jahre zuvor hatte er sich um das Distingished Service Cross verdient gemacht.

Damals hatte er seinen eigenen Arsch riskiert, nur um Erwins zu retten. Jede Kugel, die neben ihm in der Nacht eingeschlagen war, hätte ihn auch direkt treffen können. Es hätte das letzte Metall sein können, dass er jemals gespürt hätte.

Levi fuhr sich mit der Hand über das rechte Bein. Es war eine beachtliche Narbe geworden und gerade wenn das Wetter umschlug, machte es ihm zu schaffen. So auch jetzt im Moment. Es wurde wärmer draußen, der Schnee schmolz. Eigentlich kannte er englische Winter lang und nervig. Dieses Jahr schien es sehr wechselhaft zu sein und gerade das störte ihn. Es war auch der Grund, warum er im Moment launischer war. Es war Erens Glück, dass dieser nicht so häufig in seiner Nähe war. Levi verlor über penetrante Schmerzen hinweg oft die Nerven. Weil sie sich wie Zahnschmerzen verhielten. Man konnte nichts gegen sie machen und nicht einmal Tabletten halfen. Und unter solchen Umständen konnte er Erens ständiges Geplapper nicht ertragen.

Er griff in die Kiste, nahm einen losen Haufen Bilder heraus. Es waren in der Regel alles Aufnahmen während der Militärzeit. Das Oberste zeigte ihn und seine erste Einheit. Er sah Erwin darauf. Damals noch nicht in der Rolle als Kommandeur. Wenn Levi sich recht erinnerte, war Erwin damals Captain gewesen und Levi selbst WO – Warrant Officer. Sie waren beide im Rekordtempo die Sprossen der Erfolgsleiter hochgeklettert.

Ein trauriges Lächeln legte sich auf seine Lippen. Isabelle, eine rothaarige junge Frau in seinem Alter, hatte ihr Haar auf dem Foto zu zwei kleinen Zöpfen gebunden und die sandfarbene Mütze auf dem Kopf, die sie alle standardmäßig zur Uniform dazubekamen. Sie hatte eine bissige Persönlichkeit, war aber gleichzeitig herzlich und liebevoll gewesen. Auf der linken Seite des Bildes stand Farlan, ein blonder, groß gewachsener Kerl, der kein besserer Freund hätte sein können. Sie waren seine ersten, richtigen Freunde gewesen, die er jemals besessen hatte. Die einzigen, die jede Faser seines Körpers und seines Denkens kannten. Er hatte sie auch auf dem Schlachtfeld verloren. Damals, als er unten im Irak stationiert war. Sie waren mit einem Räumkommando rausgefahren. Ein Standardeinsatz, bei dem nichts hätte schief gehen können. Nur ein paar Bomben entschärfen – der Typ der sich diese Arbeit zur Lebensaufgabe gemacht hatte, hatte mehr als achthundert dieser Dinger entschärft und nie war etwas schief gegangen. Er war stets die Ruhe selbst gewesen. Erwin war damals nicht mit rausgefahren, hatte andere Verpflichtungen gehabt.

Aber für Levi war es der erste Höllentrip gewesen. Es lief alles erst gut. Thomas – der der sich mit der Sprengung beschäftigte – machte alles richtig. Es war kein Fehler passiert und dann eine Explosion. Es riss Thomas in all seine Einzelteile. Zivilisten, die im näheren Umkreis standen, verloren ihr Leben. Farlan hatte damit zutun, die Soldaten dazu anzuweisen, die Ruhe zu behalten und einen größeren Radius abzusperren.

Es war der erste Tag, an dem Levi derart viel Blut gesehen hatte. Blut und Innereien. Er hatte Isabelles Leben in der Hand. Zumindest hatte es sich so angefühlt. Noch während er nach ihren Beinen gesucht hatte, hatte er mit den Händen versucht, ihre Bauchdecke zusammenzuhalten. Es war das erste Mal, dass er auf dem Feld beinahe angefangen hätte zu weinen. Manchmal spürte er noch immer ihre blutige Hand an seiner Wange und hörte ihre Worte: „Es soll so sein.“

Sie alle hatten sich dafür entschieden, dort zu sein. Sie alle hatten sich für die Armee entschieden. Sie alle hatten sich für das Ausland entschieden – in dem Wissen, was sie erwarten konnte.

Farlan verlor er eine Woche vor der Ablöse während einer Schießerei. Er hatte so viele Menschen sterben sehen, während er dort unten war. Und am schlimmsten war es, als er nach dem Tod seiner Einheit vor zwei Jahren nach Hause kam. Petras Vater kam auf ihn zu. Man hatte ihn benachrichtig, doch scheinbar war diese Information nie bei ihm angekommen. Er hatte mit diesem Mann gesprochen, hatte ihm sagen müssen, was passiert war. Und er hatte den alten Mann noch am Flughafen zusammenbrechen sehen. Wie er es geschafft hatte, danach noch zwei ganze Jahre weiter zu machen und erst vor wenigen Monaten hierher zurückzukommen, wusste er nicht genau.

Levi hatte sich stets eingeredet, mit allem was er tat, irgendwas wieder gut zu machen. Aber irgendwann kam die Erkenntnis wie ein Hammerschlag und man verstand, dass nichts besser werden würde. Deswegen hatte er auch keinen weiteren Antrag auf Verlängerung gestellt. Jetzt war er wieder hier. Und doch war nichts anders. Er trug noch immer eine Uniform, hörte noch immer auf Befehle. Vielleicht brauchte er das inzwischen schon? Oder vielleicht brauchte er es gerade deswegen.

Erwin war nach seiner Verletzung ausgeschieden. Er war als Soldat nicht mehr brauchbar gewesen und hatte es selbst eingesehen. Danach war ihre Beziehung den Bach runtergangen. Erwin hatte ihn des Öfteren gebeten, aufzuhören und mit ihm zurück nach England zu gehen. Doch hatte er immer abgelehnt. Er war nicht für das zivile Leben gemacht. Und Erwin ging. Sie sahen sich kaum, wenn über Skype oder sprachen am Telefon. Aber es war nicht dasselbe. Sie waren zusammen gewesen. Zwar heimlich und nur hinter verschlossenen Türen – aber sie waren zusammen gewesen. Und anstatt mit ihm Schluss zu machen, hielt Erwin sich neben ihrer Beziehung mehrere Personen warm. Affären von denen Levi erst erfahren hatte, als er da letzte halbe Jahr abzureißen hatte. Ein Jahr waren sie nun schon so zueinander. So hart und abweisend. Ein … Jahr.

„Ich hätts nicht machen dürfen“, meinte er leise für sich und räumte alles zurück in die kleine Kiste. „Ich hätte dort bleiben sollen.“ Dann müsste er Erwin nicht ewig sehen und könnte das tun, was er gut konnte. Wahrscheinlich wäre er bereits ein hohes Tier, würde Befehle geben anstatt sie selbst nur zu erhalten und weiterzugeben. „Ich hätte es echt nicht machen sollen.“ Warum hatte er überhaupt Erwins Angebot angenommen? Nach allem, was passiert war? Masochist

„Woher?“, fragte er deswegen und Levi wandte den Kopf leicht zur Seite, sah ihn an.

„Deine Familie zog hier ein, als du vier warst. Ich wohnte nebenan.“

„Du hast… Bei Mrs. Rivaille…“ Der Groschen fiel und kam klirrend auf dem Boden auf. „Aber Hanji meinte … Detroit?“ Jetzt war er völlig verwirrt.

„Schon mal was von Adoptionen über das große Wasser gehört? Mit afrikanischen Blagen passiert das ewig“, kam die neutrale Erklärung und Levi wandte den Blick wieder von ihm ab.

„Aber sie ist doch so früh gestorben… Ich kann mich nicht an dich erinnern.“

„Wie auch? Ich bin im selben Jahr von hier abgehauen.“

Levis Stimme wurde ruhiger und Eren meinte, einen Hauch von Wärme in ihr zu hören. „Als Charlotte krank wurde, meinte sie ich solle gehen. Sie wollte nicht, dass ich bleibe. Ich

hatte zwei Möglichkeiten: Zurück in ein Jugendheim oder die vorzeitige Volljährigkeit.“

„Du hast Letztes gewählt?“

„Und ging zur Armee.“

„Warum das?“

„Ich sah mich nie als Student oder Lehrer, als Bürofutzi erst recht nicht“, meinte Levi und ließ seinen Blick kurz zu den beiden Frauen wandern, die sich jedoch für sie nicht zu interessieren schienen.

„Hat Mrs. Rivaille dich hierher geholt?“

„Eine andere Familie.“

„Wann kamst du her?“ Er musste es ausnutzen, dass Levi von sich erzählte. Er wollte das Wissen besitzen dürfen, welches der Ältere im Moment bereit war zugeben.

„Mit … elf. Ich war elf, als mein Arsch von einer Jugendamtsfotz- Mitarbeiterin in einen Flieger der ‚Bitish Airways’ gesetzt wurde.“

„Wie war die Familie?“

„Anfangs durchschnittlich. Aber nur fürs Jugendamt und die Adoption. Das typische Blabla für die Ordnungshüter. Er schlug seine Frau, er schlug mich. Ich mochte meine Ersatzmutter jedoch, wehrte mich deswegen nicht gegen ihn, weil ich lernte, dass er sonst auf sie losging. Aber ich lernte durch ihn auch das Kämpfen.“

Eren wagte es nicht, irgendwas zu fragen. Es schien, als wäre Levi nicht fertig mit dem, was er sagen wollte.

„Ich war mit vierzehn durch. Zur Schule ging ich nicht – konnte ich nicht. Er sperrte uns ein, meinte, es sei das Beste. Nach einem Monat kam die Jugendamtsmitarbeiter, die mich in Empfang genommen hatte und steckte mich zurück ins Heim – hier in England. Später kam ich zur Pflege zu Charlotte.“

„Aber sie war alt…“

„Sie war keine fünfzig“, berichtigte Levi ihn. „Krebs macht alt.“

„Ich war damals vier … du …“

„Sechzehn, beinahe siebzehn.“

„Aber das Militär…“

„Ich war vor dem Gesetz volljährig und laut Ergebnissen geeignet.“

„Dann warst du aber keine dreizehn Jahre da.“

„Nein. Vierzehn.“

„Wow.“ Eren wusste nicht, was er sonst sagen sollte. Das hatte ihn ein wenig aus der Bahn geworfen. Noch vor wenigen Stunden hatte er geglaubt, niemals etwas über den neuen Nachbarn zu erfahren und nun begann dieser von allein damit?

„Deine Mutter war eine sehr freundliche, sehr hübsche Frau. Ist sie mit deinem Vater weg?“

Eren sah auf den Boden. Die Frage bohrte sich ungewollt wie ein Messer unter seine Haut. „Nein.“

„Wo ist sie?“

„Unter der Erde. Ein Stein mit einem Namen“, meinte er und biss sich auf die Unterlippe. Er sprach nicht über seine Mutter. Nie. Er sprach einfach nicht über sie, weil er damals den ersten Knacks bekommen hatte. Jean war dann nur noch der letzte Tropfen im randvollen Fass gewesen. Es war nicht fair abzublocken, also hatte er Levi die Antwort gegeben, auch wenn sie wehtat. Nach all den Jahren…

„Es tut mir leid.“

Da klang wirklich Reue in Levis Stimme mit, doch winkte er ab. „Du konntest es nicht wissen. Wie auch?“ Eren lehnte sich zurück, setzte sein falsches Lachen auf und tat so, als wäre die Welt in Ordnung. Nicht einmal Mikasa schaffte es, hinter diese Fassade zu sehen und kaufte ihm die gute Laune ab, die er ihr vorspielte. „Sie ist hatte einen Schlaganfall im Garten. Sie starb an den Folgen. Hirnbluten – all das. Ich war dreizehn damals.“

„Und dein Vater?“

„Ist seitdem kaum mehr zu Hause. Er kümmert sich seitdem nicht mehr wirklich um uns.“

Levis Antwort darauf war ein simples Augenverdrehen und es war Antwort genug. Es drückte Levis Meinung über ein solches Verhalten aus, ohne große Worte zu benötigen. Eren hatte wenigstens soviel über den Älteren gelernt. Auch wenn sie sich nicht sehr viel unterhalten hatten. Er glaubte, allein der Körpersprache des anderen genug Antworten zu finden, ihn langsam lesen und daraufhin reagieren zu können.

„Aber was anderes.“ Er wollte nicht weiter über Tod reden, wenn es zuvor eine so angenehme Atmosphäre gewesen war. „Welchen Rang hattest du in der Armee?“

„Einen Rang.“

Er stieß den anderen todesmutig mit dem Ellenbogen gegen den Oberarm. „Komm schon.“

„Captain.“

„Uh. Captain Rivaille. Klangvoll.“

„Du solltest die Finger vom Wein lassen, Kind.“

„Levi“, seufzte er nur fast schon genervt. Mit einem Mal ließ der Ältere jegliche Schotten schließen und machte dicht? Ernsthaft?

 

Levi

 

„Nimmst du mich mit?“ Hanji sah ihn fragend an, als sich zum gehen fertig machten. Eigentlich hatte er gar nicht damit gerechnet, überhaupt so lange zu bleiben. Aber er hatte es zugelassen, dass die fast familiäre Atmosphäre ihn eingelullt hatte. „Ja“, gab er kurz von sich. Hanji umarmte die Geschwister zum Abschied und ging schon einmal zum Auto. Er hingegen gab Mikasa die Hand, ehe diese auch gleich der abendlichen Kälte wegen zurück ins Haus verschwand.

„Hat mich gefreut“, meinte Eren und reichte ihm die Hand. Ein kurzer, stärkerer Händedruck folgte. Levi war überrascht – er erinnerte sich noch an die lasche Begrüßung Erens bei ihrer ersten Begegnung.

„Hm.“

„Und Levi.“

„Was?“ Er schob gerade die Hände wieder in die Hosentaschen.

„Alles Gute zum Geburtstag.“

Ein schmales Lächeln erschien auf Eren Lippen, während Levi selbst nicht wusste, was er sagen sollte. Sicherlich war die Information von Hanji aus zu dem Jungen gesickert. Woher sollte Eren es sonst wissen? Aber scheinbar wurde keine Antwort von ihm erwartet, da Eren sich nun auch abwandte. „Gute Nacht“, murmelte der Jüngere noch schloss die Tür. Levi drehte sich daraufhin auch weg und zog die Autoschlüssel aus der Hosentasche, ehe er auf Hanji zuging. Er öffnete ihr die Beifahrertür, ließ sie einsteigen, doch spürte er die ganze Zeit diesen einen Blick auf sich.

„Er mag dich“, meinte sie als auch Levi sich ins Auto setzte.

„Tz.“

„Nein, nichts tz“, sagte sie und legte den Sicherheitsgurt an. „Ich meine das ernst. Er mag dich. Er respektiert dich, sieht zu dir auf.“

„Das sollte er schleunigst sein lassen“, gab er daraufhin nur von sich und startete den Wagen. Dass das Auto lief, hatte er keiner Werkstatt zu verdanken. Es war nur der einfache Handgriff dieses jungen Mannes, aus dessen Haus er gerade erst gekommen war.

„Warum hast du ihm nicht alles gesagt?“

„Was meinst du?“ Sie verließen gerade die Gasse, in welcher sich die Häuser befanden und er wandte den Blick kurz zu ihr um.

„Dass du zurück nach Amerika bist?“

„Weil es ihn nicht interessiert?“

„Es gibt vieles, was du ihm verschweigest.“

„Weil es ihn nichts angeht, Hanji. Er ist ein einfacher, durchschnittlicher Junge.“

„Der aber irgendwas an sich hat, das dich dazu bewegt, auf ihn aufzupassen.“

Aufpassen. Er hatte nicht einmal ein Auge auf Eren. Er ließ den Jungen machen, was auch immer diesem gerade in den Kopf kam. Nicht einmal die von Mikasa angesprochene Aufmerksamkeit bekam Eren im Übermaß von ihm. Und doch klammerte sich der Junge an ihn, als sei er der allerletzte Rettungsring auf weiter See.

„Du warst bei den Marines – das wird er auch wissen. Wir in England – wir haben das hier nicht.“

„Ich weiß.“

„Und dass Erwin ebenfalls Amerikaner ist, hättest du ihm auch sagen können.“

„Warum? Es ändert nichts an irgendetwas. Es ist nicht so, als müsste ich Eren meine ganze Lebensgeschichte, meine Beziehungen und Nicht-Beziehungen aufdröseln. Meine Entscheidungen sind eben das – meine. Und es geht ihn nichts an.“

„Magst du ihn nicht einmal ein kleines Bisschen?“ Hanji wirkte fast enttäuscht. Scheinbar hatte sie gehofft, dass Eren oder Mikasa oder sogar beide, irgendeinen Stein bei ihm ins Rollen bringen würden. Doch wusste Levi selbst am besten, was gut für ihn war. Und zu viel Zeit mit diesen Kindern war sicherlich nicht gut für ihn.

„Nur ein kleines, ganz klitzekleines Bisschen?“, hakte Hanji noch einmal nach und er seufzte genervt.

„Warum?“

„Weil Eren alles verlieren wird.“

„Wie meinst du das nun schon wieder?“

Er bog auf die Rose Street ab und hielt am Seitenrand. Hanji wohnte in einer Eigentumswohnung im sechsten Stock eines mittelständischen Wohnblocks. Wohnungen waren dort erschwinglich und doch nicht einfach eingerichtet. Eben genau das, was Hanji zum Leben brauchte. Er kannte sie inzwischen gut genug. Und er wusste auch, dass ihre Fragen und der ganze Wink mit der Holzhandlung irgendwas zu bedeuten hatten.

Hanji löste den Gurt, blieb jedoch noch sitzen. Sie seufzte tief, ehe sie sagte: „Mikasa muss für die Meisterschule weg von hier. Wir wohnen hier in London – zwar eher am Rand, aber wir wohnen in London. Sie müsste nach Liverpool.“

„Warum erzählst du mir das?“

„Du scheinst die einzige, männliche Person, der er vertraut.“

„Vertrauen. Tz.“

Und doch musste er zugeben, dass das recht hart erschien. Mutter tot, Vater ewig unterwegs, Schwester weg … Das war sicherlich nicht einfach. Levi kannte diese engen, familiären Bindungen nicht. Als er damals die Entscheidung hat treffen müssen, zu gehen, war es ihm nicht leicht gefallen. Er hatte Charlotte gern gehabt, aber es war noch einmal etwas anderes, wenn die Familie so auseinander gerissen wurde als wenn man wie er nicht wusste, wie sich richtige Familie anfühlte.

Er strich über das Lederlenkrad und sah zur ihr. „Hat Mikasa es ihm schon gesagt?“

„Nein… Sie wollte es ihm nächstes Jahr sagen, wenn der Vater wieder da wäre.“

„Grischa Jäger. Ein unsagbar abstoßender Kerl mit einem miserablem Charakter…“

„Gerade deswegen. Levi – bist du da wenn er fällt?“

„Kann ich dir nicht versprechen“, kam es kühl zurück und er zuckte andeutet die Schultern. „Mich interessiert so etwas nicht.“

„Du kannst nicht behaupten, dass er dir ganz egal ist.“

„Das sage ich auch nicht.“

„Also? Magst du ihn wenigstens ein bisschen?“

„Reicht dir Sympathie? Dann kann ich nämlich jetzt endlich nach Hause.“

„Ja.“ Ein glückliches Lächeln legte sich auf Hanjis Lippen, als sie ausstieg.

 

„Hier.“

Ihm wurde eine Mappe auf den Schreibtisch geknallt und er sah fragend, aber auch gleichzeitig genervt zu Erwin hoch. „Was ist das?“, wollte er nur wissen und blickte dem schwarzen Plastikordner entgegen. Bewerbungsunterlagen? Ein Vertrag, den er kurz überfliegen sollte? Hatte Erwin seinen Willen bekommen? Es war der dreißigste Dezember, das Jahr neigte sich mehr als nur dem Ende zu. Und sein Vorgesetzter war dafür bekannt, auf den letzten Drücker noch irgendwelche Dinge erledigen zu können, selbst wenn es bis ‚nächstes Jahr’ Zeit hätte.

„Zwangsurlaub.“

„Warum das denn?“ Er erhob sich von seinem Stuhl, nahm die Mappe und drückte sie Erwin gegen die Brust. „Ich bin knapp sieben Monate hier. Da brauche ich keinen Urlaub.“

„Deine Überstunden.“

„Ach? Du kümmerst dich auf einmal um Überstunden? Ich wusste nicht einmal, dass dieses Wort in deinem beschissenen Wortschatz enthalten ist“, knurrte er ihm entgegen.

„Jeden Monat hast du etwa dreißig Überstunden gesammelt, Levi. Ich achte auf meine Mitarbeiter.“

„Tz. Was du nicht sagst.“ Bisher war ihm das eher ein Rätsel gewesen. Seit wann interessierte Erwin sich für so etwas? „Oder hast du irgendwelche Beschwerden am Hals?“, hakte er skeptisch nach und suchte in den blauen Augen des anderen nach Antworten.

„Ich halte mich nur an die Regeln. Und da du ohne mich keinen Urlaub einreichen würdest, bekommst du ihn von mir per Zwang aufgedrückt“

„Ach? Dir sollte bewusst sein, dass ich mich zu nichts zwingen lasse.“

Doch mit einem Mal wurde der Blick des anderen hart und die Haltung stabiler, eleganter und … dominanter. „Das ist ein Befehl“, kam es dunkel von Erwin zurück und Levi verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. Erwin wusste, wie empfindlich er auf do etwas reagierte. Es war antrainiert. Und die langen Jahre bei der Armee, als Rekrut, Grünschnabel oder später in seiner Position als Captain, hatten ihm den Gehorsam für Befehle gelehrt. Es gefiel ihm nicht, dass Erwin diese Karte immer wieder spielte.

„Wie lange?“, fragte er deswegen und nahm die Mappe, als sie ihm gereicht wurde, entgegen.

„Zwei Wochen.“

„Bist du wahnsinnig?“

„Warum arbeitest du überhaupt so viel?“

„Ich habe keine großartigen Hobbys, Commander“, gab er bissig zurück und blätterte durch die Unterlagen. Es war einmal der Urlaubsbescheid und dazu noch ein paar Unterlagen über die Location, um die er sich hat kümmern sollen. Es war ein politischer Empfang zum Neujahr geplant und da Wing-Sec als eines der zuverlässigsten Unternehmen im Bereich Sicherheit galt, hatte man sie damit betraut. Und da Erwin wiederum ihm am meiste zutraute, hatte er das Gelände begutachten sollen. Es waren seine Grundrisse und die Sicherheitsposten, die er empfehlen würde. Erwin hatte – etwas kracklig und kindlich – einige Notizen mit roter Tinte beigefügt.

„Was hältst du davon?“

„Mehr Personal?“

„Ich beauftrage eine Leihfirma, wenn mein Personal nicht ausreicht.“

„Ich werde die Einweisung übernehmen.“

„Du bist dann schon im Urlaub.“

„Vergiss es, Erwin. Das ist meine Sache. Und ich bringe zu Ende, was ich begonnen habe“, meinte Levi und nahm den Zettel für seinen Urlaub heraus, ehe er die Mappe zuklappte. „Ich gehe nach dem Event gern in deinen beschissenen Zwangsurlaub und sitze mir den Arsch zu Hause wund.“

„Du hast genug in deinem Eigenheim zutun. Nutz die Zeit.“

„Pisser.“

„Ich bin auch ganz entzückt.“

Levi schüttelte nur den Kopf, als Erwin sich von ihm abwandte. „Gut. Aber nur noch den einen Auftrag, danach ist für zwei Wochen Schluss für dich. Schlaf dich aus.“

„Ja, ja. Leck mich.“

Es gab immerhin einen ganz entscheidenden Grund, warum er kaum zu Hause war. Ihm fiel daheim zu schnell die Decke auf den Kopf. Herumsitzen und Nichtstun war wie eine Strafe für ihn. Es hatte schon immer seine Gründe gehabt, warum er sich statt drei oder sechs Monate, ein ganzes beschissenes Jahr in die Krisengebiete hat versetzen lassen. Er brauchte etwas zutun. Ein Langschläfer war er noch nie gewesen. Er verschwand um zehn im Bett und war um vier wieder auf den Beinen. Was war daran so schwer zu verstehen? Erwin müsste es sogar noch als einziger verstehen können? Sein Chef war selbst dafür bekannt, kaum Auszeiten zu nehmen.

 

Zwei Jahre zuvor:

Delta-Einheit. 270 Tage bis zur Ablöse. Standort: Afghanistan.

„Wir rücken aus!“ Drei Worte, die eine ganze Einheit ins Laufen verfallen ließ. Uniformen wurden angelegt, Holster befestigt, Granaten und Munition wanderten in die dafür vorgesehenen Gürtel. Levi zog die Schnüre seiner Stiefel noch einmal nach, nahm den Helm und seine MP-5. Es kribbelte in seinen Fingern.

Er war gern hier. Hier wusste er, warum er was tat. Ihre Mission war Frieden und Unterstützung für das Land, das ihrer Hilfe bedurfte. Hier bildete er einheimische Soldaten aus, konnte sich auf seine eigene Einheit blind verlassen und vertraute auf die Befehle seines Vorgesetzten. Das einzige, was er nicht gern tat, waren Kugeln auf lebende Menschen abgeben. Terroristen waren auch Menschen. Und selbst wenn er an Rache für gefallene Kameraden und Freunde dachte, machte es sein Gewissen nicht leichter.

„Captain.“

„Sir.“ Er sah zu Erwin auf. Sie spielten das perfekte Spiel. Man hielt sie für das unfehlbarste Gespann in der Führungsetage. Man verließ sich auf sie. Und trotz der engen Zusammenarbeit, vermuteten alle, dass sie nichts weiter als Kameraden waren. Freundschaft zog niemand in Erwägung.

„Sie kommen mit mir.“

„Ja, Sir.“

An dem Tag gerieten sie in ein schweres Feuergefecht. Zwei ihrer Humvees wurden durch Straßenmienen auseinander gerissen. Und die Verluste stiegen mit den vergehenden Stunden ins Unermessliche. Befehle wurden geschrien, Schüsse fielen und Granatenexpolsionen rissen die Stille, die sich zwischenzeitlich immer mal wieder legte, auseinander. Es schien wie die Hölle.

Levis Uniform war über und über mit bereits dunklem, getrocknetem Blut und es war noch immer kein Ende in Sicht. Jedoch neigten sich ihre Munitionsvorräte zu Neige, sie hatten zu viele Verletzte und Luftunterstützung wurde jedes Mal wieder abgelehnt. Sein Blick glitt zur Seite, als er sein letztes Magazin in die Waffe schob. Seine Einheit war nahezu restlos ausgelöscht worden. Seine Offiziere, eine junge Frau und drei junge Männer, versuchten sich krampfhaft auf den Beinen zu Halten. Olou Bozardo, sein ganz persönlicher Fanboy,  hatte eine Platzwunde am Kopf, die mehr schlecht als recht versorgt worden war. Blut sickerte bereits durch den inzwischen grauen Verband, den man ihm angelegt hatte. Zwei Finger der linken Hand fehlten ihm und er hatte eine Brandverletzung davongetragen. Eld Jinn schlug sich tapfer. Zwar war seine weitere Teilnahme an der Situation außen vor. Ihm fehlten beide Beine. Eine Tretmine hatte ihn halb erwischt und es war ein Wunder, dass der Kerl noch bei Bewusstsein war. Gunter Schultz, einer der wenigen Sanitäter die überlebt hatten, versuchte sich der eigenen Verletzungen zum Trotz um die anderen zu kümmern. Und Petra Ral, eine seiner loyalsten Soldaten und die einzig überlebende Scharfschützin des Teams, hatte die Barrett m82 aufgestellt, suchte ihre Ziele und feuerte. Ihre Trefferquote lag stets bei über achtzig Prozent und selbst jetzt, mit nur einem gesunden Auge und einer schmerzenden Schulter, war sie der einzige Lichtblick. Sie konnte die versteckten Schützen ausschalten und ihnen die Möglichkeit geben, hier rauszukommen.

„Major.“

Er wandte sich zur Seite. Erwin war schwer verletzt worden. Levi hatte nicht gesehen, wie es passiert war, aber irgendwas hatte den rechten Arm des Kommandeurs beinahe vollständig abgerissen. Drei oder vier Sehnen hielten die Gliedmaße zusammen mit einem Hautfetzen davon ab, komplett abzufallen. Gunter hatte einen Verband umgelegt und sein möglichstes getan, die Blutung vorerst zu stoppen. Und doch driftete Erwin immer wieder in die Bewusstlosigkeit ab.

„Erwin!“

Müde hoben sich die Lider des anderen und ein verklärter Blick traf ihn. Seine ganze Einheit war Jenseits von Gut und Böse. Wenn sie nicht demnächst Unterstützung – von Land oder aus der Luft – bekommen würden, würden sie hier alle jämmerlich verrecken.

„Bleib wach“, befahl er ihm und lehnte sich hinter den Steinen vor, hinter welchen sie alle Schutz gesucht und gefunden hatten.

„Captain. Lassen Sie mich Ihr Bein sehen.“

„Geht schon.“ Er hatte keine Zeit. „Keine Zeit zum bluten.“

„Sie sind verletzt, Captain.“

„Ich weiß. Aber es wird mich nicht umbringen.“

„Drei Personen auf drei Uhr am Hang.“

„Freie Schussbahn?“

„Positiv“, meinte Petra und nur wenig später hallte der laute Schuss der Waffe durch das Tal, in welchem sie sich befanden. Noch einer und ein Dritter folgten.

Es wurde ruhig daraufhin. Die Sonne brannte weiterhin erbarmungslos auf sie nieder. „Captain.“

„Hm?“ Er wandte sich um und sah Gunter bei Eld sitzen.

„Tot.“

Levi fluchte. Man riss ihnen hier den Arsch auf. Und wofür? „Oulo?“

„Ohnmächtig.“

 

Wie viele Stunden letztlich vergingen, wusste er nicht. Es war bereits die Nacht hereingebrochen, als die täuschende Stille zerrissen wurde. Granaten flogen in ihre Richtung.

„Bewegung. Lauft“, gab er den Befehl, hievte den schweren Körper seines Kommandeurs hoch. Petra nahm ihr Gewehr und das Elds, ehe sie sich in Bewegung setzte. Gunter war ihm bei dem Transport Erwins behilflich. „Was machen wir mit den Leichen, Captain?“

Er warf einen kurzen Blick zu Oulo und Eld. „Wir lassen sie abholen.“ Sie hatten keine Zeit, ihre Toten mitzuführen. Sie mussten weg von hier und einen Ort suchen, von dem sie aus evakuiert werden könnten. Sie schafften es, eine in den Hang führende Höhle zu ihrem Zufluchtsort machen zu können.

„Captain…“

Er sah zu Petra, die sich an die Seite fasste. Blut rann über ihre schmalen Finger und sie verdrehte die Augen im Kopf, ehe sie in sich zusammensackte. „Petra.“

Er fiel neben ihr auf die Knie, fühlte ihren Puls, doch war da nichts. „Scheiße.“ Ihre Uniform öffnend versuchte er, sie zurück ins Leben zu holen, während Gunter seine Hände auf die Wunde legte. „Captain.“

„Scheiße!“

„Captain!“ Er sah auf. Seine eigenen Hände waren inzwischen auch rot. „Es ist vorbei.“

Ein Kloß bildete sich in seinem Hals. Wut und Verzweiflung machten sich in ihm breit, während er auf den leblosen Körper der jungen Frau nieder blickte.

„Ich werde rausgehen und versuchen, erneut Hilfe anzufordern. Wir sind hoffentlich aus der heißen Zone raus.“

Er wollte ihn noch zurückrufen, als Gunter mit dem Funkgerät aus der Höhle ging, doch bohrte sich ein trotz der Dunkelheit perfekt platzierter Schuss durch seine Brust und auch Gunter fiel zu Boden. Es passierte für Levi wie in Zeitlupe. Er sah den massiven Körper des Soldaten in die Knie sinken und nach vorn fallen. Selbst da Geräusch des aufschlagenden Leichnams war unendlich laut in seinen Ohren. Und das war der Moment, in dem sich alles für ihn änderte. Da war mit einem Mal kein Mitleid mehr für die Leute, die hier leben mussten. Die von den Terroristen bedroht wurden. Die meisten waren ohnehin auch von den Terroristen angeworben worden.

Der Schockzustand wich und er nahm das Gewehr Petras, suchte sich am Eingang der Höhle – er war der steinigen Umgebung dankbar -  eine Position, die ihn nicht gleich verriet. Er klappte die Schutzvorrichtungen des Zielfernrohrs hoch, setzte die Thermalvorrichtung auf und ließ seinen Blick  über die nun gräulich eingefärbte Umgebung gleiten. Er erkannte den Todesschützen auf der anderen Seite des Tals.

Ein starker Rückstoß ließ ihn die Luft einziehen. Sein Körper war mehr angeschlagen, als er gedacht hatte. Doch ignorierte er dies und suchte nach weiteren, potentiellen Problemen. Er schaltete alle Bewegungen aus, die er erkannte. Wie viele Menschen er auf diesem Wege, in dieser Nacht tötete – das war ihm nicht bewusst und es störte ihn auch nicht. Sein Herz hatte sich in dieser Nacht in den dunkelsten aller Schwarztöne gefärbt. Seine gesamte Einheit für nichts sterben zu sehen!

 

„Captain Rivaille.“ Er sah einen uniformierten Mann mit einer Einheit auf ihn zukommen. Sie liefen den Hügel hinauf, auf welchem er sich platziert hatte. Man nahm ihm die Waffe ab, half ihm auf die Beine. Zwei Mann mussten ihn stützen. Sein verletztes Bein gab nach. Jetzt, nachdem das Adrenalin aus seinem Körper gewichen war, spürte er den Schmerz, den die Schussverletzung in seinem rechten Bein hinterlassen hatte. Und er nahm die Müdigkeit langsam wahr, die sich in seinen Knochen festsetzte.

„Meine Männer sind alle tot“, teilte er dem Major mit, der vor ihm stand und bemühte sich trotz allem um einen einigermaßen gelungenen Salut. „Major Smith ist schwer verletzt. Und meine Leute…“

„Wir kümmern und um alles, Captain.“

„Danke, Sir!“

 

Er saß am Krankenbett seines Kommandeurs. Erwin wirkte schwach, war blass und zerbrechlich. „Levi?“

„Man hat dir deinen beschissenen Arm wieder drangeflickt“, teilte er ihm mit, ohne ein Hallo oder dergleichen über die Lippen zu bringen. Erwins Blick glitt über seine Gestalt. „Und was ist mit dir?“

„Nichts Großartiges.“

„Levi“, kam es schwach und doch nicht ganz sorglos von dem Älteren. „Ich sehe dich vor mir…“

„Nur eine Stauchung in der rechten Schulter. Und ein glatter Durchschuss am Oberschenkel. Nichts Großartiges.“ Er sammelte ohnehin Narben wie andere Briefmarken. Viele stammten aus seiner Kindheit, aber die meisten stammten aus den unzähligen Einsätzen. Er gehörte immerhin zu einer der Einheiten, die man immer in den tiefsten Scheiß schickte.

„Es tut mir leid, Levi.“

„Ich weiß.“

„Man wird dich für den Silverstar vorschlagen.“

„Habe ich das verdient?“

„Das wird sich zeigen.“

 

Levi saß auf der schwarzen Couch seines Wohnzimmers. Vor ihm auf dem kleinen Glastisch stand eine rote Schachtel, in der sich alles befand, was er von der Zeit damals nicht entsorgt hatte. Er hatte die Auszeichnungen, um die er sich im Laufe seiner Karriere bei der Armee verdient gemacht hatte, hinausgenommen und auf dem Tisch verteilt. Die kleinen Bänder befanden sich dazu in der Schachtel. Den Silverstar hatte er tatsächlich erhalten, als er nach Hause kam. Zwei Jahre zuvor hatte er sich um das Distingished Service Cross verdient gemacht.

Damals hatte er seinen eigenen Arsch riskiert, nur um Erwins zu retten. Jede Kugel, die neben ihm in der Nacht eingeschlagen war, hätte ihn auch direkt treffen können. Es hätte das letzte Metall sein können, dass er jemals gespürt hätte.

Levi fuhr sich mit der Hand über das rechte Bein. Es war eine beachtliche Narbe geworden und gerade wenn das Wetter umschlug, machte es ihm zu schaffen. So auch jetzt im Moment. Es wurde wärmer draußen, der Schnee schmolz. Eigentlich kannte er englische Winter lang und nervig. Dieses Jahr schien es sehr wechselhaft zu sein und gerade das störte ihn. Es war auch der Grund, warum er im Moment launischer war. Es war Erens Glück, dass dieser nicht so häufig in seiner Nähe war. Levi verlor über penetrante Schmerzen hinweg oft die Nerven. Weil sie sich wie Zahnschmerzen verhielten. Man konnte nichts gegen sie machen und nicht einmal Tabletten halfen. Und unter solchen Umständen konnte er Erens ständiges Geplapper nicht ertragen.

Er griff in die Kiste, nahm einen losen Haufen Bilder heraus. Es waren in der Regel alles aufnahmen während der Militärzeit. Das Oberste zeigte ihn und seine erste Einheit. Er sah Erwin darauf. Damals noch nicht in der Rolle als Kommandeur. Wenn Levi sich recht erinnerte, war Erwin damals Captain gewesen und Levi selbst WO – Warrant Officer. Sie waren beide im Rekordtempo die Sprossen der Erfolgsleiter hochgeklettert.

Ein trauriges Lächeln legte sich auf seine Lippen. Isabelle, eine rothaarige junge Frau in seinem Alter, hatte ihr Haar auf dem Foto zu zwei kleinen Zöpfen gebunden und die sandfarbene Mütze auf dem Kopf, die sie alle standardmäßig zur Uniform dazubekamen. Sie hatte eine bissige Persönlichkeit, war aber gleichzeitig herzlich und liebevoll gewesen. Auf der linken Seite des Bildes stand Farlan, ein blonder, groß gewachsener Kerl, der kein besserer Freund hätte sein können. Sie waren seine ersten, richtigen Freunde gewesen, die er jemals besessen hatte. Die einzigen, die jede Faser seines Körpers und seines Denkens kannten. Er hatte sie auch auf dem Schlachtfeld verloren. Damals, als er unten im Irak stationiert war. Sie waren mit einem Räumkommando rausgefahren. Ein Standardeinsatz, bei dem nichts hätte schief gehen können. Nur ein paar Bomben entschärfen – der Typ der sich diese Arbeit zur Lebensaufgabe gemacht hatte, hatte mehr als achthundert dieser Dinger entschärft und nie war etwas schief gegangen. Er war stets die Ruhe selbst gewesen. Erwin war damals nicht mit rausgefahren, hatte andere Verpflichtungen gehabt.

Aber für Levi war es der erste Höllentrip gewesen. Es lief alles erst gut. Thomas – der der sich mit der Sprengung beschäftigte – machte alles richtig. Es war kein Fehler passiert und dann eine Explosion. Es riss Thomas in all seine Einzelteile. Zivilisten, die im näheren Umkreis standen, verloren ihr Leben. Farlan hatte damit zutun, die Soldaten dazu anzuweisen, die Ruhe zu behalten und einen größeren Radius abzusperren.

Es war der erste Tag, an dem Levi derart viel Blut gesehen hatte. Blut und Innereien. Er hatte Isabelles Leben in der Hand. Zumindest hatte es sich so angefühlt. Noch während er nach ihren Beinen gesucht hatte, hatte er mit den Händen versucht, ihre Bauchdecke zusammenzuhalten. Es war das erste Mal, dass er auf dem Feld beinahe angefangen hätte zu weinen. Manchmal spürte er noch immer ihre blutige Hand an seiner Wange und hörte ihre Worte: „Es soll so sein.“

Sie alle hatten sich dafür entschieden, dort zu sein. Sie alle hatten sich für die Armee entschieden. Sie alle hatten sich für das Ausland entschieden – in dem Wissen, was sie erwarten konnte.

Farlan verlor er eine Woche vor der Ablöse während einer Schießerei. Er hatte so viele Menschen sterben sehen, während er dort unten war. Und am schlimmsten war es, als er nach dem Tod seiner Einheit vor zwei Jahren nach Hause kam. Petras Vater kam auf ihn zu. Man hatte ihn benachrichtig, doch scheinbar war diese Information nie bei ihm angekommen. Er hatte mit diesem Mann gesprochen, hatte ihm sagen müssen, was passiert war. Und er hatte den alten Mann noch am Flughafen zusammenbrechen sehen. Wie er es geschafft hatte, danach noch zwei ganze Jahre weiter zu machen und erst vor wenigen Monaten hierher zurückzukommen, wusste er nicht genau.

Levi hatte sich stets eingeredet, mit allem was er tat, irgendwas wieder gut zu machen. Aber irgendwann kam die Erkenntnis wie ein Hammerschlag und man verstand, dass nichts besser werden würde. Deswegen hatte er auch keinen weiteren Antrag auf Verlängerung gestellt. Jetzt war er wieder hier. Und doch war nichts anders. Er trug noch immer eine Uniform, hörte noch immer auf Befehle. Vielleicht brauchte er das inzwischen schon? Oder vielleicht brauchte er es gerade deswegen.

Erwin war nach seiner Verletzung ausgeschieden. Er war als Soldat nicht mehr brauchbar gewesen und hatte es selbst eingesehen. Danach war ihre Beziehung den Bach runtergangen. Erwin hatte ihn des Öfteren gebeten, aufzuhören und mit ihm zurück nach England zu gehen. Doch hatte er immer abgelehnt. Er war nicht für das zivile Leben gemacht. Und Erwin ging. Sie sahen sich kaum, wenn über Skype oder sprachen am Telefon. Aber es war nicht dasselbe. Sie waren zusammen gewesen. Zwar heimlich und nur hinter verschlossenen Türen – aber sie waren zusammen gewesen. Und anstatt mit ihm Schluss zu machen, hielt Erwin sich neben ihrer Beziehung mehrere Personen warm. Affären von denen Levi erst erfahren hatte, als er da letzte halbe Jahr abzureißen hatte. Ein Jahr waren sie nun schon so zueinander. So hart und abweisend. Ein … Jahr.

„Ich hätts nicht machen dürfen“, meinte er leise für sich und räumte alles zurück in die kleine Kiste. „Ich hätte dort bleiben sollen.“ Dann müsste er Erwin nicht ewig sehen und könnte das tun, was er gut konnte. Wahrscheinlich wäre er bereits ein hohes Tier, würde Befehle geben anstatt sie selbst nur zu erhalten und weiterzugeben. „Ich hätte es echt nicht machen sollen.“ Warum hatte er überhaupt Erwins Angebot angenommen? Nach allem, was passiert war? Masochist.

 

 



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Kommentare zu dieser Fanfic (11)

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Von:  Sunny_Valentine
2015-07-23T18:48:08+00:00 23.07.2015 20:48
Hui! Die FF gefällt mir - muss ich sagen!
Dein Schreibstil ist gut und die Entwicklung der Story gefällt mir ebenso. Schade, dass es hierzu so wenige Kommentare gibt, dabei hat deine FF echt potenzial!

Zu diesem Kapitel:
"Schön" zu wissen, warum genau Levi so ist, wie er ist. Hab mir vorher schon gedacht, dass so etwas in der Art vorgefallen ist.

Ich hoffe du schreibst noch fleißig weiter, denn ich möchte nicht allzu lange oder umsonst auf auf die Fortsezung warten müssen! *zuzwinker*

MfG Sunny
Antwort von:  SanjaAlexei
24.07.2015 20:08
Hi ^^

Animexx macht es einfach so unglaublich langwierig, bis hier mal ein neues Kapitel online ist.
Du findest das Ding bis kapitel 35 auf Fanfiktion.de unter demselben Namen.
Aber danke dennoch für den Kommentar ^^ Ich lade nur hier seltener hoch, weil es so unglaublich lang dauert und ich meinen jeden Mittwoch-Rhythmus dadurch hier nicht einhalten kann. Einfach auf FF.de gucken:) Derselbe Nickname und derselbe FF-Titel :)
Antwort von:  Sunny_Valentine
26.07.2015 12:41
Öhm, danke!
Hab's schon von alleine gefunden und bin Kapitel 35 fertig gelesen.
Oh Mann, ich bin ganz schön baff und freue mich riesig darauf es weiter zu lesen.
Von: abgemeldet
2015-05-11T19:03:59+00:00 11.05.2015 21:03
Ein fantastisches Kapital^^
Mach bitte schnell weiter *-*

LG^^Alien^^
Von:  Saya1Yuki3
2015-03-15T17:57:15+00:00 15.03.2015 18:57
Oho du schreibst glaube ich haubtsächlich auf Dem anderen Forum du-weist-schon-welches-hoffe-ich Dingsta Weil hier sind deutlich weniger hochgeladen xD aber ich freue mich trodzdem auf neue Kapitel so wie hier also auch im anderen Forum ...

Lg Saya
Hehe Saya1Yuki3 undsooo
Antwort von:  SanjaAlexei
16.03.2015 15:17
Hi ;)

Das liegt daran, dass es hier immer so unendlich lange dauert bis ein Kapitel online kommt; )
Aber danke für den Kommentar; )

Love, elli~
Von: abgemeldet
2015-03-05T20:37:47+00:00 05.03.2015 21:37
Ein fantastisches Kapitel^^
Von: abgemeldet
2015-02-23T16:50:43+00:00 23.02.2015 17:50
Ein super Kapitel *.*
Von:  kleinYugi5000
2015-02-20T18:08:32+00:00 20.02.2015 19:08
total coole story...mach weiter so

Soph-chan
Von: abgemeldet
2015-02-15T17:40:27+00:00 15.02.2015 18:40
Ein geniales Kapitel. Armer Eren.Bin gespannt wie es weiter geht.
Von: abgemeldet
2015-02-11T12:55:41+00:00 11.02.2015 13:55
Das Kapitel war großartig^^
Mach bitte weiter so.

LG^^Alien^^
Antwort von:  SanjaAlexei
11.02.2015 14:43
Danke~
Freut mich
vlG, Elli~
Von:  MikoSpears
2015-02-07T19:34:10+00:00 07.02.2015 20:34
Ein echt super Prolog!
Ich bin wirklich gespannt wie es weiter geht.
Mach schnell weiter.

LG Miko
Von: abgemeldet
2015-02-07T11:26:17+00:00 07.02.2015 12:26
Ein super Anfang.
Schreib bitte schnell weiter.

LG^^Alien^^


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