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Anger Management

Alvin x Jude
von

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Kapitel 02

Daheim zu sein... Endlich wieder daheim zu sein... Das war Alvin's Ziel gewesen. Er hatte alles dran gesetzt – seit er als kleiner Junge in Rieze Maxia gestrandet war – alles dran gesetzt, um einen Weg zurück zu finden. Nach Elympios. Nach Trigleph. Mit seiner Mutter.

Jetzt stand er hier... Allein, in Mitten der ihm so bekannten und inzwischen doch fremden Stadt. Ohne seine Mutter. Ohne Presa. Ohne irgendeinen Freund.
 

In dem Moment, in dem er sich zwischen Agria und die Anderen gestellt hatte, wusste er endlich genau, wo er hingehörte. Doch er wusste auch ganz genau, dass ihn hier keiner mehr haben wollte.
 

„Mach die Augen auf, Al. Jetzt hast auch du deinen Platz gefunden.“ Presa Worte hallten in seinem Kopf, umklammerten seine Gedanken und sein Herz. Mag sein, dass er seinen Platz gefunden hatte... Aber die Chance darauf hatte er schon längst verspielt.
 

Je länger er an der Klippe stand und hinunterblickte – dorthin, wo Presa gestürzt war – umso länger überlegte er, ihr zu folgen. Doch ihn schien noch immer etwas zurück zu halten. Es gab noch immer etwas, was er tun musste.
 

Schritte näherten sich ihm, blieben hinter ihm stehen. Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer es war. Er konnte die Präsenz des Jüngeren spüren. Dieser schob sich nach einem kurzen Moment neben ihn, blickte jedoch nach vorne. „Alvin, wo willst du jetzt hin?“ Gute Frage. Er wusste selbst nicht, wohin er nun noch gehen sollte. Sein Blick glitt zur Seite, weiter weg von dem Schwarzhaarigen, noch immer in die dunkle Schlucht. „Ich weiß es nicht. Was interessiert es dich?“
 

Ja, was interessierte es den Jüngeren. Noch nicht einmal Alvin wollte wissen, wohin er jetzt gehen würde. Plötzlich konnte er den intensiven Blick der bernsteinfarbenen Iriden auf sich spüren. „Komm mit uns.“ Die Stimme fest und entschlossen, leise und sanft zugleich. Die Worte trafen ihn wie ein Stechen in sein Herz. Er wusste nicht, was er dazu sagen wollte.
 

Ja.

Willst du das wirklich?

Ich wäre dir sowieso überall hin gefolgt.

Vielleicht ist das ja mein Platz? Bei dir...?
 

Keines dieser Worte würden es über seine Lippen schaffen. Doch sie waren alle klar in seinem Kopf. Frustriert presste er die Lippen aufeinander. „Jetzt wollen also die Kinder auf mich aufpassen.“ „Glaub nicht, dass mir das leicht fällt. Ich kann nicht vergessen, was du Leia angetan hast.“
 

Ein weiterer Stich. Alvin's Hände ballten sich zu Fäusten. Wieso hatte er nie über die Konsequenzen seiner Taten nachgedacht?

Er musste die Augen schließen. „Ich werde ihr sagen, dass es mir leid tut...“ „Mach das.“ Dann wand Jude sich von ihm ab und ging weg. Alvin öffnete die Augen wieder etwas und blickte weiterhin auf den Boden. Jude's Haltung und Wesen waren so anders geworden, verglichen mit der Zeit, als er den Schwarzhaarigen vor den Soldaten in Fenmont gerettet hatte. Auch, als Teepo ihn davor warnte, Alvin mit zu nehmen, schritt er unbeirrt weiter.
 

Elize blickte ihn wütend an. Auch ihr konnte er nicht in die Augen schauen. „Du verbirgst deine Gefühle nicht gerade.“ Teepo flog sofort zu ihr und schaute Alvin ebenfalls wütend an. „Nein, das tut sie nicht! Weil Elize ein gutes und ehrliches Mädchen ist!“

Innerlich stimmte der Braunhaarige zu. Dann blickte er über seine Schulter. „Es ist seltsam. Schwer zu glauben, wie schnell der Kleine erwachsen geworden ist.“ Ein Kloß bildete sich in seinem Hals, als ein trauriges Lächeln den Weg auf seine Lippen fand. „Er hasst mich jetzt wirklich, nicht wahr?“
 

Die Erkenntnis, dass Jude ihm keineswegs mehr vergeben würde; dass er ihn nun vollends hassen musste.. traf Alvin wie ein Messer in sein Herz. Mit einem Mal wusste er, dass er seinen Platz auf dieser Welt... den einzigen Menschen, der immer an seiner Seite war, ihm vertraute – und das trotz all der Lügen - durch seine eigene Schandtaten verloren hatte.
 


 

Erst als Alvin Milla's Präsenz neben sich wahrnehmen konnte, kam er aus seiner Gedankenwelt zurück. „Alvin.“ Er blickte zur Seite, denn er wusste genau, dass sie ihn viel zu gut einschätzen konnte. „Was gibt’s?“ Nachdenklich musterte sie den Braunhaarige, bevor sie die Arme verschränkte. „Du solltest hier nicht so verloren rumstehen.“
 

Was kümmert es dich?

Ich habe doch sowieso alles verloren.

Jetzt, wo er mich hasst...
 

Wieder fanden die Worte nicht den Weg aus seinem Kopf. Sein Blick wanderte zu ihr, vermied jedoch den direkten Augenkontakt.

„Ich kann mir vorstellen, was dich hier festhält.“ Toll, schon hatte sie ihn durchschaut. „Aber wenn du hier stehen bleibst und nichts tust, wird sich auch nichts ändern.“ Alvin wartete darauf, dass sie weiter sprach. Es schien jedoch nichts mehr zu kommen. Er wusste aber genau, dass sie auf Jude anspielte; Jude, der trotz allem, was ihm passiert ist, nicht stehen geblieben ist. Der sich selbst sogar vor dem Herr der Geister – oder dessen Abklatsch – bewiesen hatte. Der ihnen allen gezeigt hatte, dass es immer einen Weg geben würde. Einen Grund, nach vorn zu schauen und zu kämpfen.
 

Schweigend standen sie eine Weile nebeneinander, ehe plötzlich etwas pinkes heran gesaust kam und sich auf Milla stürzte. Diese fing das fliegende Wesen ab, kurz bevor es ihren Kopf verschlingen konnte. „Milla! Er ist weg!“ Sofort hatte Teepo ihre – und auch Alvin's – gesamte Aufmerksamkeit auf sich gezogen. „Was meinst du damit?“
 

Leia und Elize kamen völlig außer Atem bei den beiden an. „Wir haben gesehen, wie Jude aus der Stadt raus gegangen ist – allein!“ Elize zog Teepo zu sich herunter und presste ihn an sich. Leia nickte zustimmend. „Wir wollten ihn nicht aus den Augen lassen, wie du es uns aufgetragen hast, Milla.“ Für einen Moment wunderte Alvin sich, was das ganze sollte. Jude war nun wirklich niemand, den man ständig bewachen musste.

Leia fuhr aufgebracht fort. „Aber er ging auf die Straße hinaus. Er hatte Balan vorhin gefragt, wo er uns gefunden hat. Ich glaube, dass er dorthin will!“
 

Milla verschränkte erneut die Arme und führte eine Hand nachdenklich an ihre Lippen. „Aber er dürfte hier doch absolut keine Orientierung haben....“ Elize drückte Teepo noch etwas näher an sich. „Außerdem sind kurz drauf ein paar komische Kerle aufgetaucht, die ebenfalls dort hin sind. Sie... sahen wirklich suspekt aus!“
 

Da dämmerte es Alvin langsam. Er wand sich Milla zu, Teepo's scharfen Blick ignorierend. „Hast du ihn von den beiden beobachten lassen, weil...“ Ernst sah sie ihm in die Augen und nickte. „Seit wir hier unterwegs sind, folgen uns ein paar ziemlich finstere Gestalten. Ich gehe davon aus, dass sie wissen, wo wir herkommen.“ Für einen kurzen Moment hielt sie inne, bevor sie fortfuhr. „Ich hab ihn damit nicht belasten wollen, also hab ich die beiden beauftragt, ein Auge auf ihn zu haben, während ich schaute, was du hier machst.“ „Heh, du meinst, um zu schauen, ob ich mich mit irgendwelchen dubiosen Gestalten treffe?“
 

Verärgert stapfte Elize auf ihn zu und schob ihm Teepo ins Gesicht. „Das glauben wir auch! Aber Milla ist davon überzeugt, dass du deine Lektion gelernt hast und so etwas nicht mehr tun würdest!“ „Aber wir glauben dir nicht, du großer Lügner!“, schloss Elize für Teepo ab.
 

Als er seinen Blick kurz schweifen ließ und sehen konnte, mit welcher Verachtung Elize und Teepo dreinschauten, wie Leia den Blickkontakt zu ihm vermied und wie ernst Milla ihn ansah, wurde ihm etwas übel. „Alvin, die Sache ist ernst. Ich möchte, dass du Jude suchst!“ Damit jedoch hatte keiner der Anwesenden gerechnet. „W-was? Wieso gerade ich?“ Bevor Elize und Teepo ihren Unmut heraus lassen konnten, schob sich nun auch Leia neben Milla. Den Blick zur Seite gewandt.
 

„Weil sowohl Milla... Als auch Jude... noch immer an dich glauben.“ Alvin's Augen weiteten sich. Sein Herz schlug schneller. „Das - und Alvin ist der Einzige von uns, der sich hier auskennt.“ Milla legte die Hände auf die Hüfte. „Außerdem braucht Jude dich.“ Plötzlich wirkte es so, als hätte jeder einen Einblick in seine und Jude's Freundschaft – nur er selbst nicht. „Was redet ihr da--“ „Wir werden Rowen suchen und wieder in das Apartment gehen. Wir warten dort auf euch.“
 

Elize, Teepo und Leia schienen nicht ganz so überzeugt von der Sache zu sein, doch als Milla ihre Hand auf seine Schulter legte, ihm ein kleines aufheiterndes Lächeln schenkte, und dann mit den beiden verschwand, hatte Alvin das Gefühl, eine Chance bekommen zu haben. Eine Chance, nicht seine Taten ungeschehen zu machen, jedoch das Band, das er zerstört hatte, langsam wieder aufzubauen.
 

~-~
 

Wenn man sein Leben lang von der regen Natur umgeben war, erschien der Anblick in Elympios wirklich surreal. Für Jude war der kahle, wüstenähnliche Anblick deprimierend und erdrückend. Zu sehen, dass neben seiner so blühenden Welt ein solcher Ort existiert – und er absolut nichts davon wusste. Zu denken, dass die Menschen hier nicht mit den Geistern zusammenleben, sondern sie für ihre Zwecke nutzen und dadurch unbeabsichtigt töteten, war jedoch mindestens genauso frustrierend. Schon seit sie in Elympios angekommen waren, versuchte Jude herauszufinden, was er tun könnte, um beide Welten retten zu können.
 

Das war jedoch nicht der Grund, weswegen er allein auf die Höhenstraße rausgegangen war. Balan hatte erzählt, er hatte sie irgendwo dort draußen gefunden. Er hatte die grobe Richtung im Kopf. Vielleicht würde er dort etwas finden. Ein weiteres Portal zurück nach Rieze Maxia womöglich.

Der Schwarzhaarige blieb kurz stehen, um die Umgebung etwas weiter in sich aufzunehmen. Steine, Felsen, vertrocknetes Gras.

So unwohl wie er sich hier fühlte und so leid wie ihm dieser Ort tat – so musste es auch seinen Kameraden gehen. Wenn er doch nur schnell einen Weg finden würde, wie die Anderen wieder nach Hause zurück kommen könnten. Sie waren zwar die ganze Zeit als Team gereist, doch er wollte nie jemanden so tief in die Angelegenheiten verstricken.
 

Entschlossen schritt er weiter in die Richtung, in der er glaubte etwas zu finden. Darauf bedacht, den vielen Monstern auszuweichen, schlich er näher an den Felswänden entlang.
 

Er wusste noch nicht, wie er das alles alleine schaffen sollte; falls er einen Weg finden würde, falls die Anderen ihm voraus gehen würden. Aber er wusste, dass er es versuchen musste. Seine Gedanken kreisten kurz um seine Freunde, um dann bei Alvin stehen zu bleiben. Der Ältere wollte sicher nicht zurück nach Rieze Maxia. Er hatte schließlich alles daran gesetzt, hier her zurück zu kommen. Damals jedoch noch mit seiner Mutter.

Vielleicht würde er doch zurück wollen... Um den leblosen Körper seiner Mutter irgendwo zu finden und ihn irgendwie hierher zu überführen..
 

Ein erdrückendes Gefühl machte sich in ihm breit. Daran hatte er bisher noch gar nicht gedacht. Alvin's Mutter war der Grund gewesen, weswegen er alles auf's Spiel gesetzt hat. Der Grund, Jude und die Anderen immer und immer wieder zu belügen.

Oder vielleicht wollte er auch noch einmal zurück an die Klippe. Zurück, um nach Presa's Körper zu suchen. Die beiden schienen sich wirklich gut verstanden zu haben. Sie war bestimmt auch einer der Gründe, die Alvin voran getrieben hatten. Was würde der Braunhaarige jetzt wohl tun, jetzt da er daheim war?
 

In seinen Gedanken gefangen war der Schwarzhaarige irgendwann stehen geblieben und hatte die Umgebung nicht mehr weiter beachtet. Erst, als er hinter sich Schritte vernahm, schreckte er auf. Schnell drehte er sich um und blickte drei fremden Männern entgegen.

„Da ist der Kerl!“ Mit einem Mal wusste Jude zwei Dinge ganz genau – erstens: er hatte sich in dieser fremden Gegend verlaufen. Und zweitens: die Fremden, die auf ihn zukamen, waren nicht zufällig hier.
 

Kurz vor ihm blieben sie stehen und sahen ihn finster an. „K-Kann ich Ihnen helfen?“ Alarmiert ging Jude noch einen Schritt zurück und besah sich schnell der Umgebung. Er befand sich an einer ziemlich ungünstigen Stelle, doch wenn er einen günstigen Moment abpassen könnte, könnte er schnell wegkommen.

Der Mann in der Mitte trug ein finsteres Grinsen im Gesicht. „Brauchst nicht eher du etwas Hilfe? Du scheinst dich verlaufen zu haben, wie?“ Jude schwieg; zuzugeben, nicht zu wissen wo er war, war beinahe wie dem Mann zu sagen, er käme nicht von hier. Nicht, dass seine Kleidung nicht schon verräterisch genug aussah. Angestrengt, so natürlich wie möglich zu antworten, entgegnete er ruhig: „Ich hab nur einen Moment lang nicht aufgepasst.“
 

„Habt ihr das gehört, Männer? Er hat nicht aufgepasst.“ Die beiden schweigsamen Männer hinter ihm begannen zu lachen; auch der vermeintliche Anführer lachte dunkel auf. Jude musste schwer schlucken. Der Mann kam einen Schritt auf ihn zu. „Ich glaube eher, dass du gar nicht weißt, wo du bist?“ Seine Augen blitzten gefährlich auf; Jude war sich in diesem Moment sicher, dass er es bereuen würde, wenn er nicht sofort wegkommen würde! Schnell wich er noch etwas zurück und setzte an, um an den 3 Männern vorbei zurennen. Normalerweise wäre er schnell genug, wäre da nicht ein lauter Knall zu hören gewesen. Wie versteinert blieb Jude stehen und spürte ein Brennen auf seiner Wange. Seine Augen starrten wie gebannt auf die Hand des Mannes. In dieser befand sich ein Gegenstand aus Metall; er hatte ein langes Zielrohr, aus dem ein kleines bisschen Qualm herauskam.

Seine Gedanken trugen ihn zurück nach Hamil. Als er in der Hütte saß und bereit war zu sterben. Als Alvin die Tür herein kam. Als er die Pistole auf ihn richtete. Als er kurz davor war, den Jüngeren zu töten. Jude würde den Knall dieser Waffen, den Aufschrei seiner Freundin aus Kindertagen, das Zittern der Hand des Braunhaarigen niemals vergessen.
 

Der Mann, der geschossen hatte, richtete die Waffe nun offen auf den Schwarzhaarigen. Das finstere Grinsen noch immer auf den Lippen. „An deiner Stelle würde ich mich ruhig verhalten.“

Jude spürte, wie sein Körper sich verkrampfte. Der Mann nickte seinen Komplizen zu, eher er sich wieder Jude widmete. Einer der beiden ging schnellen Schrittes hinter den Schwarzhaarigen, packte seine Arme und presste sie auf dessen Rücken. Der Andere zog ebenfalls eine Pistole hervor und richtete sie aus der Ferne auf den Schwarzhaarigen. Der Mann hingegen trat näher an Jude heran und presste den noch glühenden Lauf der Pistole auf Jude's Brust.

„Wir haben dich und deine Freunde beobachtet. Ihr seid von Rieze Maxia, nicht wahr?“ Ein weiteres Mal musste Jude schlucken. Die Angst, die in ihm aufstieg, versuchte er so gut es geht zu unterdrücken. „Hast du deine Zunge verschluckt?“ Der Druck auf seiner Brust wurde etwas verstärkt. Ernst blickte Jude dem Fremden direkt in die Augen. „Selbst wenn, wie kann das ein Verbrechen sein?“
 

Die Mundwinkel des Mannes fielen abrupt. Mit festem Griff umfasste er mit der freien Hand den Hals des Schwarzhaarigen. „Was war das? Du glaubst wohl, du bist was besseres, hä?“ Den Druck auf den Hals etwas verstärkend zischte er: „Ich hab die Aufgabe, euch Rieze Maxiannern eine Lektion zu erteilen, solltet ihr es wagen, hierher zu kommen!“

Jude fiel es schwer, Luft zu bekommen. Er versuchte seine Arme loszureißen, doch der Mann hinter ihm hatte ihn fest im Griff. Immer wieder sauste sein Blick kurz auf den Dritten im Bunde, der belustigt danebenstand und die Waffe auf Jude richtete, als wäre das alles ein Spiel. Als würde es hier nicht um ein Menschenleben gehen.

Als der Druck sich noch etwas verstärkte, trat Jude den Mann kräftig gegen sein Schienbein. Die bernsteinfarbenen Augen fest auf seinen Angreifer gerichtet. Dieser fluchte laut, bevor er die Hand löste. Einen tiefen Atemzug holend wurde der Druck auf den Hals mit einem dumpfen Schmerz in der Magengegend ersetzt; der Mann rammte Jude seine Faust in den Bauch.

Während dieser nach vorne kippte und vor seinem inneren Auge Sterne aufblitzen, lachte der Mann wieder finster auf. „Du hast echt Mumm, das muss ich dir lassen!“ Dann griff er das Kinn des Schwarzhaarigen und riss es hoch. Jude's Welt schien zu kippen. Es fiel ihm schwer, seine Augen auf das Gesicht des Mannes zu konzentrieren.
 

„Und ganz niedlich siehst du auch aus! Eigentlich genau mein Geschmack!“ Seine Hand schob sich an den Hinterkopf des Jüngeren, packte die Haare und riss sie nach hinten. Kurz musste Jude vor Schmerzen aufkeuchen. „Ich frage mich, was für Geräusche ich deinem schönen Hals noch so entlocken kann, Junge.“ Etwas bedrohliches, etwas lüsternes schwang in der Stimme mit. Jude konnte das kalte Metall der Pistole an seinem Hals spüren. Wie betäubt vor Angst und den Schmerzen sah er in die dunklen, kalten Augen des Mannes. Als dieser sich ihm entgegen beugte, kniff Jude die Augen zu.
 

Wieso war er nur alleine los gezogen?

Wieso war er nicht vorsichtig gewesen?
 

Als er den heißen Atem des Mannes an seinem Hals spüren konnte, wich er noch etwas zurück.

Wieso musste seine Reise auf diese Weise enden?
 

Ein leises Klicken ließ die Bewegung des Mannes stoppen. Und auch Jude's Atem stockte. Das Geräusch kam dem Jüngeren seltsam vertraut vor.

„Lass sofort die Finger von ihm!“ Die Stimme, die diese Worte zischte, hätte der Jüngere überall wieder erkannt; egal wie anders sie mit dem kalten, wütenden Unterton auch klang.Langsam öffnete er seine Augen wieder. Sein Blick fiel direkt auf Alvin. Alvin, der vor wenigen Sekunden noch nicht da war. Der seine Waffe fest auf die Schläfe des Mannes gepresst hatte. Die Waffe bereits entsichert hatte. Seine Augen waren dunkel und klein. Die sonst so lockeren Gesichtszüge angespannt.
 

Die Männer starrten den Söldner geschockt an. Der vermeintliche Anführer schluckte schwer, bevor auch seine Augen sich zu kleinen Schlitzen verengten. „Zisch ab, du Sack! Siehst du nicht, dass wir beschäftigt sind?“ Daraufhin presste Alvin die Pistole noch etwas mehr an die Schläfe und warf dem Mann hinter Jude einen finsteren Blick zu. Dieser zuckte zusammen; eher aus Reflex lockerte sich sein Griff an den Armen des Jüngeren. Dieser war jedoch immer noch damit beschäftigt, Alvin geschockt anzuschauen.
 

Wieso war der Braunhaarige hier?

Hatte er ihn gesucht?

Hatte er das alles mitbekommen?

Jude wusste plötzlich nicht mehr, was er schlimmer finden sollte.

Aber allein Alvin's Anwesenheit ließ ihn etwas ruhiger werden.
 

„D-Du Freak, wo kommst du denn her?“ Der Mann, der abseits stand, meldete sich zu Wort. Er begann zu zittern und konnte die Waffe nicht mehr still halten. Auch er schien Alvin vorher nicht bemerkt zu haben. Noch dazu war die Aura, die den Braunhaarigen umgab, wirklich düster und bedrohlich. Alvin ließ seinen Blick langsam zu dem Mann wandern und blickte ihn schweigend an. Die Drohung war klar in seinen Augen abzulesen.

Die Augen des Mannes weiteten sich und seine Hand begann noch mehr zu zittern. „V-Verschw-winde!“ Plötzlich streifte sein Finger den Abzug. Ein weiteres Mal prallte der Schall eines Schusses an den Felswänden ab. Jude hielt augenblicklich die Luft an. „Alvin....!“ Nur leise kam dem Jüngeren der Name seines Kameraden über die Lippen. Schockiert starrte er auf den Braunhaarigen, der sich nicht rührte. Sein Herz schien stehen zu bleiben. Sein Körper begann sich wieder vor Angst zu verkrampfen. Einen Moment lang sah er wieder Milla vor sich; wie ihr Körper zur Seite kippte und dann reglos auf dem Boden aufschlug. Ein Teil von ihm begann zu glauben, mit Alvin würde gleich dasselbe geschehen.
 

Dann sah er, wie Alvin's Hand langsam an seine Schulter wanderte. Fast wie in Trance. Die bernsteinfarbenen Augen folgten der Hand und konnten erkennen, dass der braune Mantel an einer Stelle einen Riss bekommen hatte, der sich langsam dunkel verfärbte. Ein Streifschuss.

Zum zweiten Mal an diesem Nachmittag spürte Jude eine Welle der Erleichterung. Als sein Blick dann wieder zu dem Mann wanderte, der geschossen hatte, und er sehen konnte, dass dieser Waffe erneut mit zitternden Händen auf den Söldner richtete, handelte Jude instinktiv. Mit einem Ruck riss er sich aus dem Griff des Mannes hinter ihm los und stürmte auf den letzten im Bunde zu. Dieser sah ihn, wirbelte mit der Waffe herum und richtete sie auf den Schwarzhaarigen. In dem Moment, in dem er abdrücken wollte, war Jude bereits vor ihm und schlug ihm die Waffe aus der Hand. Ein paar geschickte Treffer konnte er bei dem Fremden landen, ehe dieser sich von dem Schreck erholte.

Jude hatte ihn definitiv unterschätzt; sobald er wieder auf ihn losging, schnappte der Mann Jude's Faust. Mit einem geschickten Tritt riss er dem Schwarzhaarigen den Boden unter den Füßen weg und drückte ihn auf den Boden. Ein gedämpfter Schrecklaut kam ihm über die Lippen, als er den harten Aufprall auf dem Boden und das zusätzliche Gewicht auf ihm spüren konnte. Verzweifelt versuchte er den Kopf anzuheben. Angestrengt blickte er geradewegs zu Alvin. In dem Moment, in dem er den Augenkontakt mit dem Älteren herstellte, war es, als hätte sich in diesem ein Schalter umgelegt.
 

Der Braunhaarige zog seine Waffe zurück, jedoch nur um dem Mann vor ihm den Griff der Pistole mit voller Wucht gegen die Schläfe zu schlagen. Als dieser zu taumeln begann, stieß er ihn auf den Mann, der Momente zuvor den Schwarzhaarigen noch fest im Griff hatte.

Ehe der Mann, der Jude auf den Boden drückte, reagieren konnte, kam Alvin auf ihn zugehechtet. „Ich hab gesagt – lass die Finger von ihm!“ Die zuvor noch unterdrückte Wut schwang nun offen in seiner Stimme mit. Er packte den Mann am Kragen und zog ihn auf die Beine, Jude konnte nicht sehen, was genau Alvin mit ihm machte. Als der Mann jedoch bewusstlos neben ihm aufknallte, wusste er, dass es nicht angenehm gewesen war.
 

Gleich darauf packte Alvin den Jüngeren und zog ihn auf die Beine hoch. „Alles in Ordnung mit dir, Jude?“ Wie in Trance sah der Schwarzhaarige den Anderen an. Alvin's Blick war erfüllt von Wut, Zorn und Sorge; Sorge um das Wohl seines jüngeren Kameraden.

Erst jetzt spürte Jude, dass er am ganzen Körper zitterte. Damit beschäftigt, die Balance zu halten und nicht dem Drang nachzugeben, sich wieder auf den Boden fallen zu lassen, nickte er nur langsam. In seinem Kopf kreisten tausend Gedanken, doch keiner von ihnen fand einen Weg nach draußen. Seine Sicht war noch etwas verschwommen und er versuchte beschämt, den weiteren Augenkontakt mit seinem Retter zu vermeiden. Als er den festen Stoff von Alvin's Handschuh auf seiner Wange spüren konnte, zuckte er zusammen. Vorsichtig glitt Alvin's Finger bis zu der Wunde, die der Streifschuss hinterlassen hatte. Das Blut war bereits getrocknet, dennoch spürte Jude den stechenden Schmerz.

Sobald er vor Schmerzen zusammen gezuckt war, entfernte sich die Hand wieder von seiner Wange; dafür legte sie sich jedoch kurz auf seinen Kopf. Da konnte Jude spüren, dass auch Alvin zitterte. Ob es vor Wut war oder vor Sorge, das konnte der Schwarzhaarige nicht sagen.

Vorsichtig hob er den Blick wieder an; als er den Blick der rot-braunen Iriden wieder traf, war es, als würde sein Herz für einen kurzen Moment aufhören zu schlagen. Die Hand auf seinem Kopf strich kurz über seinen Kopf. Jude konnte sehen, wie der Braunhaarige die Lippen aufeinander presste und ihn weiterhin besorgt musterte. Sein Blick wich dann von den Augen des Jüngeren zu dessen Hals und blieb dort hängen.

Instinktiv griff nun auch Jude an seinen Hals. Wahrscheinlich war der Griff des Mannes noch deutlich zu erkennen.
 

„Jetzt kannst du was erleben!“ Der Aufschrei des Mannes ließ Jude zusammenzucken. Sein Körper schien noch mehr zu zittern als zuvor. Erst jetzt realisierte er, dass er diesen Männern ausgeliefert gewesen war; die Angst vor dem, was sie getan hätten, sowie die Angst davor, sterben zu müssen, traten jetzt erst in Jude's Bewusstsein ein.

Die warme Hand auf seinem Kopf verschwand. Alvin wand sich dem Fremden zu, stellte sich schützend vor Jude. Dann lief er auf den Mann zu, wich dessen Angriff geschickt aus und rammte ihm seine Faust in die Magengegend. Als der Mann mit einem lauten Aufkeuchen etwas nach vorn kippte, schlug er ihm ebenfalls mit dem Griff der Waffe auf den Hinterkopf. Den Fall des Mannes beschleunigte er dann noch durch einen geschickten Tritt in dessen Rücken.
 

Beim Anblick der Brutalität Alvin's wurde Jude mehr und mehr bewusst, dass er außer sich war vor Wut. „Alvin...“ Reglos beobachtete er, wie der Braunhaarige sich dem letzten der drei Männer zuwand; dieser hielt die Hand an seine Schläfe. Unter der Hand floss etwas Blut über sein Gesicht. Sein Blick war nun auch voller Panik, von dem finsteren Grinsen war nichts mehr zu erkennen.
 

„Nun zu dir!“ Er konnte Alvin's Stimme nicht mehr wieder erkennen. Der Mann war geübt darin, seine Gefühle zu kaschieren und der lockeren Unterton war immer etwas, was Alvin's Worte begleitet hatte. Davon konnte Jude nichts mehr hören.

Augenblicklich dachte er an die Nacht in Leronde zurück. Als er von seinem Vater geschlagen wurde und geknickt zum Gasthaus zurück gegangen war. Als der Ältere ihn sofort durchschaut hatte. Als Alvin wütend hinaus gestürmt war.
 

Den Mann am Kragen packen knallte Alvin ihn an die nahe gelegene Felswand. Dieser versuchte etwas von seiner Gelassenheit zurück zu erlangen, scheiterte jedoch kläglich daran. Mit einer Mischung aus Panik und Wahnsinn zischte er Alvin entgegen: „Wieso so wütend? Haben wir etwa dein kleines Spielzeug verletzt?“ Er bekam daraufhin keine Antwort, wurde jedoch noch einmal gegen die Felswand geschlagen. Ein kurzer Schmerzenslaut, ehe der Mann zu Lachen begann. „Was denn, wolltest du dich etwa mit dem Kleinen vergnügen? Da bin ich dir wohl etwas zuvor gekommen, wie?“

„Du Dreckskerl!“ Jude konnte es deutlich erkennen; Alvin war wirklich außer sich. Er schlug dem Mann ins Gesicht, packte ihn wieder am Kragen, nur um ihm ein weiteres Mal die Faust ins Gesicht zu rammen. So sehr, dass der Mann zu Seite kippte. Der Braunhaarige packte ihn erneut am Kragen, zog ihn etwas in die Luft, nur um dann wieder mit voller Wucht zuzuschlagen.
 

Je länger Jude es mit ansah, umso mehr schreite in ihm der Impuls auf, Alvin zu stoppen. Nicht, dass die Fremden es nicht auch verdient hätten. Doch wenn er den Braunhaarigen nicht aufhalten würde, würde dieser einen weiteren Menschen töten. Und der Schwarzhaarige war sich sicher, dass Alvin sich dies nicht verzeihen würde.

Mit wackligen Knien ging der Schwarzhaarige einen Schritt nach vorne. Seine Sicht war noch immer verschwommen und er drohte zur Seite zu kippen. Schnell genug bei Alvin sein konnte er nicht. Viel Zeit blieb ihm jedoch auch nicht mehr. Ein verdächtiges Knacken vom Körper des Mannes hallte plötzlich durch die Luft. Schwer atmend lag der Mann auf dem Boden und sah direkt nach oben, in den Lauf von Alvin's Pistole. Dieser führte den Finger bereits an den Abzug, mit einem Blick, den Jude zuvor noch nie bei ihm gesehen hatte.
 

„Alvin, nicht!“
 

Der Braunhaarige zuckte zusammen. Jude griff sich an die Brust, als er sah, dass der Andere tatsächlich inne hielt. Ihm war so, als würde er neben seinem vor Panik rasenden Herz noch einen zweiten Herzschlag spüren können. Ganz langsam dämmerte ihm, dass er wohl aus Versehen eine Verbindung beider Lilium Orbs hergestellt hatte. Genau wie in jener Nacht in Leronde.

Wie betäubt ließ Alvin die Waffe sinken und blickte Jude kurz entgegen, ehe er den Blick zur Seite weichen ließ. Der ehemalige Medizinstudent spürte in diesem Moment genau, was in Alvin vor sich ging. Erschlagen von den vielen Gefühlen schleppte er sich mühselig zu dem Braunhaarigen.
 

Der Mann unter Alvin hatte inzwischen das Bewusstsein verloren. Der Schwarzhaarige konnte von Nahem noch genauer den Schaden erkennen, den der Braunhaarige angerichtet hatte; seinetwegen.

Jude blieb vor Alvin stehen, wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Sein Herz schlug nun noch schneller.

Mit einem frustrierten Laut unterbrach Alvin die Verbindung der beiden wieder. Den Kopf noch immer zur Seite gedreht.
 

Für einen Moment blieben beide reglos stehen. Dann hob Jude langsam seine Hand und griff nach der des Anderen. Dieser zuckte kurz zusammen, weigerte sich aber immer noch, den Augenkontakt wieder herzustellen. Schweigend verstärkte Jude den Druck etwas, ehe er loslief und Alvin mit sich zog.

Er wusste nicht genau, wo er war. Oder wohin er musste, um nach Trigleph zurück zu finden. Aber er wollte weg; weg von diesem Ort, den Ereignissen, den tausend Gefühlen und Gedanken, die sich in ihm überschlugen. Also lief er auf den nahegelegenen Weg, Alvin mit sich ziehend.
 

~-~
 

Noch immer zitterte die Hand des Söldners unentwegt. Sein ganzer Körper war angespannt. Er wusste nicht, wie er jetzt noch mit der Situation umgehen sollte. Allmählich schämte er sich dafür, so die Kontrolle verloren zu haben. Erklären konnte er es sich auch nicht wirklich; der Moment, als er sah, wie der Fremde Mann Jude behandelte, war das letzte, woran er sich richtig erinnern konnte. Das Adrenalin, das seither ununterbrochen sein Handeln geleitet hatte, hatte ihn teilweise seine Umgebung vergessen lassen. Seine Hand schmerzte von den Schlägen; nicht so sehr jedoch wie der Frust, so sehr die Kontrolle verloren zu haben. Nicht schon eher zur Stelle gewesen zu sein. Jude nicht richtig beschützt zu haben.
 

Den Fremden zu töten, einfach eine Kugel in seine hässliche Visage zu schießen, war Alvin nicht fremd gewesen. Doch als sein Lilium Orb sich mit dem des Jüngeren verbunden hatte und er dessen Angst gespürt hatte, kam er sofort in die Realität zurück.

Beschützen wollte er den Anderen, nicht ihm Angst einjagen.
 

Nicht, dass die Situation zwischen den beiden schon angespannt genug wäre.
 

Jude lief noch immer langsam geradeaus, blickte nur auf den Weg vor sich. Seine Hand umklammerte jedoch immer noch die des Braunhaarigen.
 

Wieso sagte er nichts?

Hasste er ihn jetzt womöglich noch mehr?
 

Alvin blieb stehen. Für einen kurzen Moment zog der Kleinere an seiner Hand. Dann blieb auch er stehen. Sein Blick war jedoch noch immer nach vorne gerichtet.

Alvin hielt das nicht aus. Er war noch viel zu angestachelt vor Wut, um jetzt einfach so zu Schweigen.

„Was ist los? Sonst bist du doch auch nicht so schweigsam?“ Die Schultern des Kleineren zogen sich angespannt zusammen. Doch keine Reaktion kam von ihm.
 

Der Frust in Alvin wurde immer nur schlimmer. Er riss seine Hand los und wich einen Schritt zurück. „Passt es dir nicht, dass ich es war, der dich gerettet hat?“ Der schwarze Haarschopf senkte sich etwas. Noch immer keine Reaktion. Alvin wusste nicht, was er tun sollte.
 

„Ich weiß ja, dass du mich hasst.. Du kannst auch gern schonmal vorausgehen.“ Der Kleinere schwieg noch immer. „Keine Sorge, ich-“ Als eine ihm vertraute Wärme ihn durchfloss, verstummte Alvin erneut. Ein weiteres Mal hatten die Orbs der beiden Kämpfer sich verbunden; doch dieses Mal konnte er sie noch viel deutlicher hören als zuvor. Die Angst, die den Schwarzhaarigen fest im Griff hatte.

Erst jetzt bemerkte er die bebenden Schultern des Jüngeren.
 

„Wie kannst du so etwas sagen?“, flüsterte Jude kaum hörbar. Noch immer war sein Blick auf den Boden gerichtet.

„Spürst du es nicht?“ Er ballte die Hände zu Fäusten. Alvin konnte ihn nur fassungslos anstarren. „Ich kann noch nicht einmal richtig verstehen, was gerade passiert ist...!“ Das beklemmende Gefühl in seiner Brust – war es etwa, weil er die Angst und Trauer des Anderen spüren konnte?

„Dieser Ort, diese Leute – alles ist so fremd und anders.. und dann passiert auch noch so etwas...“ Jude's Stimme brach kurz ab. Der Kleinere musste Luft holen. Alvin konnte jedoch genau spüren, wie zerbrechlich er genau in diesem Moment war. Wie nah er den Tränen war.
 

Langsam – als würde eine schnelle Bewegung die Verbindung zwischen den beiden zerstören können – trat Alvin näher an ihn heran. „Soll ich jetzt einfach so tun, als sei nichts gewesen?“

Einen weiteren Schritt ging er auf den Schwarzhaarigen zu. Sein eigener Herzschlag hatte sich inzwischen beruhigt und auch seine Wut schien endlich abzuschwächen.

Sanft legte er eine Hand auf Jude's Schulter, drehte den Kleineren zaghaft zu sich um. Dieser hatte den Blick noch immer auf den Boden gerichtet. Etwas unbeholfen hielt Alvin kurz die Luft an. Er wusste nicht genau, was er tun sollte; oder eher, welches Verhalten in diesem Moment angebracht wäre. Er tat das einzige, was ihm direkt in den Sinn kam.
 

Langsam löste er die Hand von der Schulter des Anderen, um sie auf dessen Kopf abzulegen. Dann begann er, die Hand sanft über diesen gleiten zu lassen, die Finger durch die schwarzen Haare gleitend. Der Kleiner war noch immer angespannt, doch Alvin konnte spüren, dass sein Herz sich durch die simple Handlung etwas beruhigte. Nichts desto trotz fühlte der Braunhaarige sich komisch dabei; war so etwas überhaupt angebracht? Müsste er sich dafür schämen? Und wieso schlug sein eigenes Herz plötzlich wieder zehn mal schneller?
 

Einen Moment verharrte er so, ehe er seine freie Hand vor gleiten ließ. Schnell hatte er die Hand des Jüngeren gefunden und nahm diese in die seine. Kurz wartete er ab; sollte es dem Anderen unbehaglich werden, würde er dies spüren können.

Ohne Vorwarnung ließ Jude seinen Kopf nach vorne gegen die Brust des Älteren fallen. Dieser war sofort alarmiert. „Woah, Jude, alles okay?“ Besorgt wollte er ihn erst von sich weg schieben, als er erneut inne hielt. Der Angesprochene nickte langsam, ehe er murmelte: „Danke, Alvin...“
 

Mehr nicht. Danach begannen seine Schultern noch mehr zu zittern und er klammerte sich mit seiner Hand in Alvin's Mantel fest. Alvin wurde bewusst, was mit Jude los war. Doch er sagte nichts.

Die Hand, die auf dem schwarzen Haarschopf gelegen hatte, legte der Söldner auf den Rücken des Jüngeren. Sanft strich er darüber und wartete, bis der Jüngere sich wieder beruhigt hatte.
 

Währenddessen lagen ihm durch die Verbindung alle Gefühle Jude's offen, die der Jüngere nicht in Worte fassen konnte. Er spürte, dass er noch immer Angst hatte, dass er die Ereignisse nicht so schnell vergessen konnte. Doch auch große Erleichterung darüber, dass Alvin ihn aus der Lage gerettet hatte; vielleicht auch, dass Alvin nicht verletzt wurde, oder dass er den Fremden nicht getötet hat.

Aber vor allem spürte er, dass der Kleinere ihm noch immer vertraute – nach allem, was er ihm angetan hatte. Vertrauen, tiefe Verbundenheit, beschützt zu sein, kein Hass.
 

Vergebung.

Alvin's Augen füllten sich mit einer salzigen Flüssigkeit. Er blinzelte, damit die Tränen nicht ihren Weg nach draußen fanden.

Er hatte ihm schon wieder vergeben.
 

~-~
 

Als Trigleph wieder in Sicht kam, ging die Sonne bereits unter. Alvin und Jude hatte solange zusammen mitten in der Einöde gestanden, bis der Jüngere aufgehört hatte zu zittern – vermutlich auch zu weinen. Alvin hatte ihre Hände miteinander verflochten. Sanft hatte er mit seinem Daumen über die Hand des Jüngeren gestrichen, bis dieser sich beruhigt hatte. Und auch jetzt strich er noch kleine Kreise über die Hand.

Die Verbindung war noch immer vorhanden; Alvin hatte jede der tausend Emotionen gespürt, die den Jüngeren durchquert haben. Er war sich sicher, dass das seit sie sich kannten der zweite Moment war, in dem er Jude wirklich gesehen hatte; ohne die Maske, die der Schwarzhaarige sich selbst aufgesetzt hatte.

Dass der Schreckmoment und die Panik der Ereignisse langsam wichen, konnte er auch deutlich spüren. Alvin spürte ebenfalls, wie unangenehm dem Jüngeren die ganze Sache war. Angestrengt überlegte er, wie er den Kleineren beruhigen konnte, ohne nochmals auf das Thema einzugehen.
 

„Irgendwie fühlt es sich nicht richtig an, wieder hier zu sein.“, unterbrach der Ältere schließlich die Stille. Aus den Augenwinkel heraus konnte er sehen, wie der Schwarzhaarige den Kopf anhob, ihn erwartungsvoll ansah. „Die ganze Zeit wollte ich hier her zurück. All die Jahre träumte ich davon, nach Hause zu gehen. Aber jetzt, wo ich endlich hier bin, hab ich nicht mehr das Gefühl, hier hin zu gehören.“

Wieso gerade dieses Thema die Situation entspannen sollte, wusste der Braunhaarige auch nicht. Aber er ertrug das Schweigen nicht mehr; außerdem konnte er so vielleicht-
 

„Vielleicht liegt dein Zuhause einfach woanders.“ Alvin erschrack beinahe beim Klang der Stimme des Anderen. Als er seinen Kopf drehte, traf sein Blick den Jude's. Die sonst strahlenden bernsteinfarbenen Augen erschienen müde und erschöpft. Doch es lag auch ein Funken Ehrlichkeit in ihnen. Sanft drückte der Jüngere Alvin's Hand, ehe er ihm ein kleines Lächeln schenkte. „Vielleicht musst du einfach nur den Platz finden, an den du wirklich gehörst.“
 

Sein Herzschlag wurde etwas schneller und ein warmes Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus. Den Blickkontakt aufrecht erhaltend drückte Alvin ebenfalls die Hand des Jüngeren. Wie konnte der Schwarzhaarige es nur immer wieder schaffen, die richtigen Worte zu finden? Das war dem Söldner schon immer ein Rätsel gewesen.
 

Er erinnerte sich wieder an den Tag, an dem sie sich kennen lernten; als er Jude vor den Soldaten beschützt und aus seinem vertrauten Umfeld gezerrt hat. Als er den geknickten Schwarzhaarigen auf dem Schiff betrachtet hat und sein schlechtes Gewissen sich das erste Mal in ihm gemeldet hatte.

„Weißt du... Von dem Tag an, an dem ich dich auf das Schiff gebracht hab... Hatte ich mir vorgenommen, dich nach Fenmont zurück zu bringen.“ Wieso er gerade das dem Jüngeren sagte, wusste er selbst nicht. Irgendetwas in ihm sagte ihm, dass es richtig war; so richtig wie das Gefühl von Jude's Finger, die neben seinen lagen, oder von ihren Händen, die sich nicht los ließen.

Jude's Augen weiteten sich; er starrte Alvin an, als sei dieser von einer anderen Welt. „Wa-“ „Ich weiß nicht, wie ich das gemacht hätte, wenn ich vorher schon nach Elympios zurück gegangen wäre. Aber es war immer mein Ziel, dich wieder heil nach Fenmont zu bringen.
 

Der Herzschlag des Anderen wurde schneller. Sobald Alvin dies bewusst wurde, brach der Schwarzhaarige die Verbindung der Lilium Orbs ab. Sein Kopf drehte sich zur Seite, doch Alvin konnte trotzdem die rötlich gefärbten Wangen des Anderen erkennen. Das Kribbeln in seinem Bauch verstärkte sich nur noch mehr, als die beiden schweigend die Stadt betraten.



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