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Vertauschte Rollen

Ein kleines Gedankenexperiment
von

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vertauscht

Eren riss an den Zügeln und sein Pferd blieb abrupt stehen. „Was zum Teufel ist denn hier bitte los?“, entwich es ihm.

„Das wüsste ich auch gern.“, kommentierte Jean, der gerade sein Pferd neben ihm zum Stehen brachte. Sie tauschten einen kurzen Blick. Jean war ernst, seine Augenbrauen leicht heruntergezogen, die Stirn gerunzelt und da war dieser Ausdruck in seinen Augen, der nichts Gutes heißen konnte.

„Eren.“

Er nickte in Richtung der Mauer. Eren schnaubte nur – und feuerte sein Gear ohne sich die Mühe zu machen vorher abzusteigen. In Sekunden war er auf der Mauer und sah unter sich das schiere Chaos. Titanen in Trost. Und ein verstopftes Tor? Was bitte war hier geschehen in den knappen zwei Stunden, die sie nicht da waren?

Schnell drehte er sich um, lief an den äußeren Rand der Mauer und ballte eine Faust, die er ruckartig in einem Halbkreis nach unten zog. Das Signal für einen Alarm.

Er sah Jean gestikulierend Befehle geben, ehe der Haupttrupp sich seitwärts entlang der Mauer bewegte und nur eine kleine Gruppe zurückblieb.

Eren wartete aber nicht auf weitere Befehle und stürmte wieder ins Innere der Mauer zurück. Wenn er sich nicht irrte, hatte er zwischen dem ganzen Trubel noch Menschen gesehen, Soldaten, die auf längst verlorenem Posten kämpften. Was taten diese Idioten? Es brauchte nicht viel Verstand um zu wissen, dass es sinnlos war die Titanen im freien Gelände vor dem Tor anzugreifen und erst recht nicht, wenn man zu der Mauerngarnison gehörte und seit Jahren das Manövergear nicht mehr benutzt hatte.

Er sprang ohne zu zögern nach unten und streckte zwei Titanen dicht der Mauer im Sprung nieder. Kaum, dass er gelandet war, hörte er aber einen Ruf hinter sich und drehte sich verwirrt um. Was zum Geier machten denn die Rekruten hier?

„Hey, was ist hier los?“

Sie antworteten nicht, starrten ihn nur fragend an. Und der eine sah ganz schön mitgenommen aus. Eren wollte gerade nochmal nachfragen, als Jean mit einem leicht knackenden Geräusch neben ihm auf dem sich auflösenden Titanenskelett landete.

„Eren, kannst du nicht ein einziges Mal warten, bis … Heilige Scheiße.“

Eren nickte mit einem Schnauben. „Ja, das war auch etwa mein Gedanke. Und was machen wir jetzt?“

Jean hob für einen kurzen Moment die Hand an den Mund und dachte nach, sein Blick huschte nach links und rechts und Eren konnte quasi sehen, wie er eilends mehrere Möglichkeiten im Kopf durchging.

„Schaff die Kinder hier raus“, sagte er schließlich, „Ich schick dir Connie und Sasha zur Unterstützung. Bring sie die Mauer hoch und seht zu, dass ihr alle Soldaten aus Trost rausbekommt. Ich suche den Verantwortlichen hierfür.“

Eren nickte langsam. „Was ist mit …“

„Keine Zeit, Eren. Ich schick Armin mit den Pferden nach Karanese, kümmer du dich um Trost.“

Und damit feuerte Jean seine Ausrüstung ab und war verschwunden. Eren seufzte leise. Trost war für Jean was Shiganshina für ihn gewesen war. Kein Wunder, dass es ihn so mitnahm, aber wie es aussah, war hier das Wunder geschehen, auf das sie jahrelang vergeblich gewartet hatten, wie auch immer das ausgesehen haben mochte.

Sein Blick wanderte zu dem gigantischen Felsbrocken und er fragte sich, wie irgendwer oder irgendwas den bewegt haben konnte. Ein Schrei riss ihn aber schnell wieder in die Wirklichkeit zurück, als eine 12-Meter-Klasse auf ihn zukam. Eren wich dem Schlag eilends mit einem Sprung zur Seite aus, schoss gleichzeitig und bohrte seinen Haken direkt in den Schwachpunkt des Titanen. Er zog an, schnitt sauber durch das Fleisch, löste damit seinen Haken wieder und landete sicher auf dem toten Titanen.

Ein schneller Blick über die Umgebung offenbarte zu viele, um sich direkt um sie zu kümmern. Seine Hand krampfte sich leicht um die Griffe der Schwerter. Wie er diese verdammten Monster hasste und jetzt waren sie schon wieder viel zu weit im Menschengebiet.

Er zwang sich schnell zur Ruhe, wagte es nach einem weiteren sichernden Umgebungsscan sich kurz umzudrehen.

Der schwarzhaarige Junge war so gut wie bewusstlos, aber die anderen beiden sahen halbwegs fit aus. „Könnt ihr ihn da rauf schaffen?“, fragte er und deutete auf die Mauer hinter ihnen.

Das Mädchen sah ihn nur entsetzt an, aber der zweite, blonde Junge nickte langsam. „Ja, aber was …?“

Eren schüttelte nur den Kopf. „Los, ich komme gleich nach.“

 

Aus „gleich“ wurde am Ende fast eine halbe Stunde, es dauerte eine gefühlte Ewigkeit die ganzen Soldaten aus dem Gebiet zu evakuieren. Wieso waren überhaupt so viele noch hier unterwegs gewesen?

Eren seufzte, als er das letzte Mal auf der Mauer landete und seine Schwertscheiden zurück in die Halterungen schob. Er hatte kaum noch Ersatz, das waren wirklich viele Titanen und ein Blick zurück offenbarte noch einen ganzen Haufen mehr von ihnen. Das würde dauern, die alle wieder loszuwerden.

Die Rekruten hatten gehorsam auf ihn gewartet. Der Schwarzhaarige saß auf dem Boden, konnte sich aber inzwischen zumindest wieder alleine aufrecht halten. Er schien etwas benommen, aber ansprechbar, die anderen beiden knieten neben ihm und sahen Eren unruhig entgegen, als er näher kam.

„Also, möchte mir jetzt endlich jemand erklären, was genau hier los ist?“

Sie tauschten einen Blick, keiner wollte anfangen. Wunderbar. Eren stöhnte und fuhr sich über das Gesicht.

„Okay, fangen wir einfach an. Eure Namen?“

Der Blonde räusperte sich. „Ich bin Erwin Smith und das sind Petra Ral und Levi.“

Eren nickte kurz. „Eren Jäger.“ Für einen unendlich kurzen Moment weiteten sich Erwins Augen, als er ihn vermutlich erkannte, doch Eren wartete nicht darauf, er wand sich um.

„Levi und weiter?“

Ein undeutliches Genuschel war die Antwort, doch Petra sprang stattdessen ein: „Nichts weiter. Nur Levi.“

Mit anderen Worten eines der Kinder, die ohne Eltern aufgewachsen waren. Zumindest keine, die sich offiziell je zu ihnen bekannt hätten. Oder ein Straßenkind. Ein Waise. Etwas in der Art, davon gab es mehrere und seit dem Fall von Maria waren es noch mehr geworden.

Da Petra damit beschäftigt schien, Levi vor dem Umfallen zu bewahren, als dieser erneut leicht schwankte, wand sich Eren stattdessen an Erwin.

„Wie kommen die Titanen hier rein?“

Der Junge biss sich kurz auf die Zunge, wurde dann aber überraschend ernst und setzte ein unberührtes Gesicht auf, das wirklich einigen Veteranen alle Ehre gemacht hätte.

„Der riesige Titan ist wieder aufgetaucht.“

„Was?!“, entwich es Eren und er spürte, wie sich ein eisiger Stich in seinen Magen bohrte. Sein persönlicher Albtraum war wahr geworden und er war nicht einmal da gewesen. Unbewusst ballte er die Fäuste und rammte seine Nägel tief ins eigene Fleisch.

Fünf Jahre war es nun her, dass Shiganshina gefallen war. Sie waren damals auf dem Rückweg von der Expedition gewesen. Trotz aller Proteste hatte er kehrt gemacht, als die Nachricht kam – und war gerade rechtzeitig gekommen, um seine Mutter sterben zu sehen. Er hatte den Titan sofort zu Fall gebracht, aber das hatte natürlich nichts mehr geändert.

Seine Wut hatte sich eine ganze Weile sinnlos entladen, bis Armin und Mikasa ihn schließlich stoppen konnten. Und Eren hatte geschworen, dass er niemals wieder etwas Ähnliches zulassen würde. Niemals.

Er gab einen mehr als unwilligen Laut von sich und vermutlich hätte er die daran vollkommen unschuldigen Rekruten angefaucht, wenn nicht in dem Augenblick mal wieder Jean aufgetaucht wäre.

„Wer von euch ist Levi?“, fragte er und durchbrach damit Erens Wut für einen Moment. Nun eher verdutzt drehte er sich um.

„Du kennst seinen Namen?“

Jean nickte düster. Er war ernst, noch ernster, als er bei ihrer Ankunft vor der Mauer gewesen war.

„Levi hat sich in einen Titan verwandelt und diesen Felsbrocken ins Tor gesteckt.“

Eren dachte, Jean würde ihn veralbern. Aber Jean war noch immer absolut ernst. Und das konnte einfach nichts Gutes bedeuten. Menschen, die sich in die Titanen verwandeln konnten? Bitte was?

„Verarsch mich nicht, Jean!“

 

„Das … das ist Wahnsinn! Ein Mensch, der sich in einen Titan verwandeln kann?!“ Eren lief im Zimmer auf und ab, riss immer wieder die Arme hoch, ballte die Faust, entspannte sie wieder, strich sich selbst durch die Haare.

Jean saß deutlich ruhiger an seinem Tisch und folgte ihm nur mit den Augen, während Armin vor ihm stand und nachdenklich auf die Papiere in seiner Hand starrte.

„Heißt das, alle Titanen sind Menschen? Heißt das, jeder hier ist ein potenzieller Feind? Was zum Teufel soll das bedeuten und überhaupt, wie kommst du auf diese dämliche Idee, dass …“

„Eren.“, diesmal unterbrach Jean ihn nun doch und es war in diesem einen Tonfall, den er nur sehr selten benutzte – zumindest seinen Freunden gegenüber. Der, bei dem er keine Widerrede duldete und ausreden wollte.

„Was?“, knurrte Eren, blieb nun stehen und drehte sich zu Jean um, während er die Arme verschränkte und ihn herausfordernd anfunkelte.

„Ich habe dir schon einmal gesagt, dass das nicht zur Debatte steht. Wir wissen beide, wie wenig wir in den letzten Jahren mit menschlichen Mitteln erreicht haben. Und dieser Junge ist eine Chance, wir können sie nicht verstreichen lassen.“

Er sah Eren an, als erwartete er einen Widerspruch. Eren schnaubte. Den sollte er bekommen.

„Du willst also darauf bauen, dass ein Straßenjunge, der sich in einen vermaledeiten Titanen verwandeln kann uns hilft und nicht am Ende noch eine weitere Mauer einreißt? Jean, das ist purer Wahnsinn! Er konnte noch nicht mal sagen, woher er das kann, er weiß es nicht. Wie kann man so etwas nicht wissen?!“

Eren schlug wütend die Hände auf Jeans Tisch und lehnte sich zur ihm herüber. Jean stand daraufhin auf und beugte sich ebenfalls vor. „Das ist mir im Augenblick ziemlich egal, solange er auf unserer Seite steht. Warum sollte er die Mauer stopfen, wenn er eine einreißen will?“

„Woher soll ich das wissen, bin ich ein Titan?“, fauchte Eren zurück, doch ehe sie das weiter auf die übliche Art klären könnten, räusperte sich Armin überdeutlich.

Eren hielt den Blickkontakt noch etwa fünf Sekunden, dann wichen sie beide ein Stück zurück und drehte sich stattdessen zur Seite um.

„Ich denke, Jean hat recht, Eren.“

Eren biss sich auf die Lippe. „Nicht auch noch du, Armin, ich …!“

Doch Armin hob eine Hand und Eren brach ab.

„Lass mich ausreden. Die Theorie, dass hinter den Titanen Menschen stecken, ist nicht neu, sie ist damit nur ein wenig wahrscheinlicher geworden. Und es stimmt auch, dass es wenig Sinn macht Trost zu versiegeln, wenn er sich gegen die Menschen stellen würde.“, Armin ließ die Zettel ein Stück sinken und legte sich schließlich ganz auf dem Tisch ab, „Abgesehen davon, Eren, seit wann fängst du denn bitte an Menschen ihre Herkunft vorzuhalten?“

Die letzten Worte klangen hart und vorwurfsvoll – und sie trafen. Natürlich hatte Armin vollkommen recht. Wie immer. Es war eigentlich nicht Erens Art und er verurteilte es immer hart, wenn jemand auch nur damit aufgezogen wurde, dass er nicht aus reichen Verhältnissen stammte. Eigentlich war er der erste, der sich einschalten würde. Was war nur los mit ihm? Aus irgendeinem Grund machte ihn der Junge wütend. Nein, eigentlich war es offensichtlich. Er bekam all den Hass ab, den Eren sich normalerweise für die Titanen aufsparte. Und gerecht war das vermutlich nicht.

Eren presste die Augen einen Moment lang fest zusammen, dann atmete er schwer aus. „Ihr wollt also wirklich, dass wir den Jungen zu uns holen?“, fragte er betont beherrscht.

Jean nickte. „Wir werden ihn holen, die Frage ist, ob du damit klar kommst. Ich brauche deinen Rückhalt, Eren.“

Das war der letzte Tropfen. Eren seufzte leise und schüttelte den Kopf. „Den hast du. Ich bin nicht überzeugt, ich weiß nicht, ob er mich überzeugen kann. Aber wenn ihr es für das Richtige haltet …“

 

Eren hasste Gerichtssaale. Er hasste es so lange still stehen zu müssen und nicht laut sagen zu dürfen, was er dachte. Und ganz besonders hasste er die Tatsache, dass nicht nur Jean, sondern auch Armin und Mikasa gemeint hatten, sie müssten ihn noch einmal extra daran erinnern. Als ob er das nicht selbst wüsste. Als ob sie sein Temperament nicht kennen würden und wussten, dass er das nicht absichtlich machte.

Entsprechend war seine Laune nicht eben überragend hoch, als er versucht still neben Jean stand und dabei zusah, wie Levi hereingeführt wurde.

Erens Blick huschte über die Zuschauer. Erwin und Petra waren anwesend und tuschelten gerade mit einem weiteren Rekruten neben ihnen mit dunklen Haaren und einem Drei-Tage-Bart.

Gegenüber auf der anderen Seite standen einige Priester, Adelige und natürlich die Vertreter der Militärpolizei. Er warf Marco einen fragenden Blick zu, den dieser aber offenbar nicht sah, weil seine Augen auf Levi fixiert waren. Zu welchem Ergebnis sie wohl gekommen waren? Für Levi gab es nur zwei Möglichkeiten – Übergabe an die Polizei oder die Aufklärungslegion. Eren wusste, welche er an seiner Stelle wählen würde, aber der Junge war ziemlich verschlossen gewesen, als sie ihn gestern im Kerker besucht und darauf angesprochen hatten. Er hatte eingewilligt mit den Worten, dass es ohnehin sein Vorhaben gewesen wäre, aber es war Eren nicht wirklich vorgekommen, als wäre es eine Entscheidung aus freien Stücken gewesen. Viel eher, als würde ihn etwas oder jemand dazu zwingen diesen Weg einzuschlagen. Er wusste nicht, ob das gut war. Ob sie etwas mit ihm würden anfangen können, wenn er es als ein reines Muss ansah?

Hoffentlich wusste Jean, was er da tat.

Levi ließ sich wortlos hereinführen, ging auch nach zwei, drei Sekunden zögern gehorsam in die Knie. Er wirkte unbeeindruckt, nur ein klein wenig überfordert, als er sich im Raum umsah. Für Bruchteile von Sekunden traf er Erens Blick. In seinen Augen lag Widerwille, aber auch Resignation oder Frust, das konnte Eren so schnell nicht ausmachen. Und zum ersten Mal gelang es ihm kurz nicht den Titanenjungen vor sich zu sehen. Wenn er es aus seiner Warte betrachtete, so hatte er der Menschheit den ersten Sieg geschenkt, obwohl er selbst nicht wusste, woher diese Kraft kam und als Dank schleppten sie ihn vor Gericht? Das war wirklich nicht gerade fair.

Erens Gedanken wurden unterbrochen, als Marco das Wort ergriff. „Ich bin Kommandant Marco Bodt, ich spreche für die Militärpolizei“, stellte er sich kurz den Zuhörern vor, ehe er sich von Annie einen Zettel geben ließ und begann: „So schwer mir diese Entscheidung fällt, wir sind nach eingehender Beratung zu dem Ergebnis gekommen, dass die Existenz eines Menschen wie Levi die Ordnung durcheinander bringt. Die Menschen fühlen sich verunsichert, wissen nicht mehr, woran sie glauben sollen und haben Angst vor ihren Nachbarn. Ich möchte nicht so weit gehen zu sagen, dass wir ihn auf der Stelle … verschwinden lassen sollten“, Marco warf einen kurzen Seitenblick auf seine Vize herüber, aber Annie zuckte nicht einmal. Eren konnte sich sehr gut vorstellen, dass ein solcher Vorschlag von Annie kommen würde, gut, dass Marco da ein wenig vernünftiger war, „so halte ich es doch für notwendig seine Existenz geheim zu halten und dafür zu sorgen, dass das auch so bleibt. Wenn er an uns übergeben werden sollte, so würde ich ihn der Forschungsabteilung überantworten und …“, selbst Marco zögerte einen Augenblick, atmete tief durch und sprach es dann aus, „und dafür sorgen, dass sein Auftauchen zu einem reinen Gerücht wird. Das bedingt natürlich die Verschwiegenheit aller bisher Beteiligten.“

Eren runzelte die Stirn. Der Forschungsabteilung überantworten? Dafür sorgen, dass sein Auftauchen zu einem reinen Gerücht wurde? Das klang in seinen Ohren zwar besser als ihn umzubringen, aber übersetzte sich für ihn zu einer lebenslangen, abgeschotteten Haftstrafe. Er war sich nicht sicher, ob das zuvorkommend von Marco war oder nicht eher grausam. Eren konnte kein wirkliches Mitleid mit dem Jungen dort vorne empfinden, aber auf ewig weggesperrt zu sein war in seinen Augen eines der grausamsten Dinge, die man einem Menschen antun konnte. Sie waren ohnehin alle eingesperrt, da brauchten sie keine zusätzlichen Gitterstäbe.

Beinahe hätte er etwas gesagt, doch Jean ergriff zuerst das Wort. „Ich bin Jean Kirschstein, Kommandant der Aufklärungslegion. Ich möchte einen Gegenvorschlag machen. Wir würden den Jungen zu uns nehmen und ihn als Waffe gegen die Titanen einsetzen.“ Unruhiges Murren machte sich breit, doch Jean ließ sich davon nicht beeindrucken. „Ohne seine Hilfe hätten wir Trost aufgeben müssen.“ Eren war vermutlich der einzige, der den schweren Unterton in Jeans Stimme hörte. Ein Tonfall, den er nur zu genau kannte und der ihn in jeder anderen Situation traurig hätte lächeln lassen. „Anstatt ihn als Feind der Menschheit zu sehen, sollten wir seine Fähigkeiten als Chance betrachten, wenn er sich dazu bereiterklärt sie für uns einzusetzen.“

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, dann räusperte sich Marco. „Jean, hältst du das für eine gute Idee? Er weiß selbst nichts über seine Kräfte und wenn meine Informationen stimmen, hat er einen seiner Freunde angegriffen, ehe er die Kontrolle bekommen hat.“

Jean nickte langsam. „Das ist richtig.“ Erens Blick wanderte wieder herüber ins Publikum. Er hatte die Geschichte inzwischen auch gehört, auch wenn Erwin und Petra offensichtlich alles versucht hatten, um sie nicht erzählen zu müssen. Auch jetzt zuckte Petra zusammen und sah unsicher zu Levi herüber, während Erwin nach wie vor die gleiche, scheinbar unbeeindruckte Miene zur Schau stellte. Gott, der Junge war ja schlimmer als Jean.

„Aber ich denke, der entscheidende Punkt hier ist, dass er es geschafft hat. Wenn wir das ganze in Shiganshina wiederholen können, erhalten wir mit einem Schlag ein riesiges Gebiet zurück.“

Marco wirkte nicht wirklich überzeugt. „Was garantiert dir, dass es nächstes Mal nicht schlimmer wird und er sich vollkommen vergisst?“

Diese Frage hatten sie erwartet und so zögerte Jean nicht zu erklären: „Unter meinem Kommando befinden sich einige unserer besten Soldaten. Ich werde dafür sorgen, dass sie ihn nicht aus den Augen lassen.“

Und zum ersten Mal während dem ganzen Prozess sah Levi nun auf. Seine Mimik war verkniffen und schwer zu deuten, aber wenn wirkte er leicht ungläubig und fast schon überrascht, als sein Blick zu Eren herüber wanderte, der nun nach einem angedeuteten Nicken von Jean auch das Wort ergriff: „Wir haben schon größere Titanen zu Fall gebracht, ich bin sicher, wir können auch ihn aufhalten, sollte es nötig werden.“

 

Der Rest der Verhandlung war Formsache verbunden mit nicht mehr wirklich ernsthaften Wortgefechten zwischen Jean und Marco, ehe sie Levi vorerst zugesprochen bekamen.

Eren war nicht wirklich sicher, ob er das gut fand, aber er hatte sein Wort gegeben und er würde es halten – und hoffen, dass Levi kooperativer sein würde, als er sich im Augenblick gab.

Er sagte nicht einmal dann etwas, als sie ihn zu dritt aus dem Gerichtssaal begleiteten und in ein ruhigeres Nebenzimmer brachten. Ehe sie allerdings dort ankamen, sah Eren aus den Augenwinkeln eine Bewegung und ließ sich ein Stück zurückfallen.

Auf dem Gang standen vier Rekruten zusammen und redeten hastig aufeinander ein. Eren trat einen Schritt näher und fing noch ein, zwei Bruchstücke einiger Sätze auf, die eindeutig um Levi gingen. Er schnaubte. Natürlich, sie machten sich Sorgen.

„Wir werden ihn sicher nicht sezieren, Erwin, warum sollten wir?“, mischte er sich ein und augenblicklich drehten sich vier Augenpaare reichlich erschrocken zu ihm um.

Eren schmunzelte leicht und hob die Hand, um sie zu stoppen, als alle vier erkannten, wer er war und sofort salutieren wollten. „Hört auf, das ist nicht nötig“, winkte er ab und warf einen interessierten Blick in die Runde.

Erwin wirkte ein wenig unsicher, aber es drückte sich nur in seiner Körperhaltung aus, sein Gesichtsausdruck war wie zuvor auch absolut neutral. Petra neben ihm schien regelrecht erschrocken und hatte eine Hand gehoben, als wollte sie sie vor den Mund schlagen. Stattdessen zupfte sie aber nervös am Kragen ihrer Jacke und wartete scheinbar darauf, dass Eren etwas sagte.

Der dunkelhaarige Junge aus dem Gericht wiederum hatte die Arme verschränkt und wirkte ein wenig verstimmt. Eren kannte diesen Gesichtsausdruck nur gut – er versuchte so zu tun, als wäre ihm alles egal, während er sich eigentlich auch Gedanken machte.

Und dann war da noch ein braunhaariger Kadett, bei dem sich Eren im ersten Moment nicht sicher war, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelte. Etwa schulterlange Haare, die zu einem Zopf gebunden waren, eine Brille, schlanke, recht neutrale Statur und ein sehr ernster, kalkulierender Ausdruck in den Augen.

Eren machte sich eine gedankliche Notiz sich die Gesichter zu merken – oder es wenigstens zu versuchen – falls sie hinterher zu ihnen in die Einheit kommen sollten. Er hätte gerne mit ihnen gesprochen, denn offenbar kannten sie alle Levi gut. Aber er hatte dazu im Augenblick keine Zeit, Jean würde sicher schon ungeduldig auf ihn warten.

Er seufzte im Stillen. „Macht euch keine Sorgen, wir brauchen ihn, wir können ihm nichts antun“, sagte er daher nur und machte sich auf den Weg.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich denke, ich sollte an dieser Stelle kurz warnen, dass ich ein winziges bisschen an Erens Charakter ändern musste - aus dem simplen Grund, dass ich persönlich ihn nie in einer Führungsposition sehen würde. Ich halte das nicht wirklich für eine seiner Stärken.
Trotzdem habe ich mir alle Mühe gegeben ihn so dicht am Original wie möglich zu halten und hier auch generell einige meiner Headcanons bzw. Vorstellungen einfließen lassen, wie die Charaktere älter bzw. jünger wohl sein werden/gewesen sind. Ich hoffe, dass das Ergebnis des ganzen möglichst verständlich und nicht störend beim Lesen geworden ist ... Komplett anzeigen

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