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Abbygails Abenteuer

Road to Lavandia
von

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Die falschen Worte (Der Ruf der Freiheit)

„Auf keinen Fall.“

Ich lege meine Gabel mit gezwungener Ruhe auf den Tisch und schaue Mama direkt ins Gesicht. „Es geht nicht um das ob, Mama“, sage ich betont. „Es geht um das wann und wie.“

„Du warst fünf Monate weg“, fährt sie mich an. „Fünf Monate, in denen ich jeden Tag Angst um dich hatte! Ich wusste nicht, wo du bist, was du tust und die Male, die du dich bei mir gemeldet hast, kann ich an einer Hand abzählen. Eigentlich müsste ich dir bis zu deinem nächsten Geburtstag Hausarrest geben, bei der Art, wie du dich verhalten hast.“

Ich presse meine Lippen aufeinander. Mit dem Punkt hat sie gar nicht mal so Unrecht. Aber die nächsten sieben Monate hier festsitzen? Nein. Niemals.

„Abby hat sich nicht oft gemeldet, Natalie, das stimmt“, sagt Papa vorsichtig und legt seine Hand auf die ihre. „Aber das war nur, weil sie Angst hatte, du würdest sie zurückholen.“

„Und wie ich das getan hätte“, sagt Mama wütend. „Mitten in der Nacht abhauen, in der Nacht zu ihrem eigenen Geburtstag! Hast du eine Ahnung, wie ich mich dabei gefühlt habe, Abby? Ich hatte deinen Kuchen schon im Ofen, bevor mir der Zettel aufgefallen ist. Ich dachte, ich…“ Sie stockt, dann bricht sie plötzlich in Tränen aus und Papa nimmt sie in den Arm.

Betreten schaue ich zu Boden.

„Es tut mir leid, dass ich euch so große Probleme bereitet habe“, beginne ich kleinlaut. „Aber die Geheimnistuerei war nur, weil ich wusste, dass du mich nicht gehen lassen würdest. Deswegen will ich dieses Mal mit euch darüber reden. Damit ihr mich versteht und wir eine Lösung finden können, die uns alle zufrieden stellt.“

„Das klingt vernünftig, oder Natalie?“, fragt Papa. Sie schüttelt schniefend den Kopf und erhebt sich dann.

„Du wirst dieses Haus nicht verlassen“, sagt sie und deutet hoch auf mein Zimmer. „Du warst eine Woche hier und bisher habe ich dich nur zum Frühstück und zum Abendessen gesehen. Bis auf weiteres hast du Hausarrest.“

„Wie lange?“

„So lange, wie ich es sage.“

„Das ist keine Antwort“, erwidere ich. „Wie lange?“

„Mindestens zwei Monate“, sagt Mama wütend und deutet in Richtung meines Zimmers. „Ab jetzt.“

Zwei Monate. Ich rechne in meinem Kopf nach. In zwei Monaten wird es Mitte März sein. Die Übergabe in der Unterführung ist dann schon vorbei. Ich habe keine Zeit für Hausarrest.

„Nein“, sage ich daher. „Es gibt Dinge, in die ich verwickelt bin. Ich habe keine Zeit, zwei Monate in meinem Zimmer zu hocken.“

„Du wirst jetzt sofort hoch gehen!“, sagt Mama mit hysterischer Stimme. „Oder dich erwartet mehr als nur Hausarrest.“

„Natalie, bitte, beruhige-“

„Beruhigen?“, fährt sie Papa wütend an. „Das ist mein Kind, das vor mir weglaufen will und sich mit wer weiß was für düsteren Gestalten herumtreibt! Ich will doch nur, dass sie bei mir bleibt!“

„Ich bin aber nicht dein Eigentum!“, schreie ich sie an und stehe ebenfalls auf. „Du denkst, du hast irgendein Privileg, mich hier zu behalten, aber das hast du nicht! Ich habe fünf Monate alleine in einer anderen Region gelebt, denkst du wirklich, ich bin davon abhängig, ob du meinen Reisen zustimmst?! Ich will dir nicht schon wieder so viel Kummer machen, das ist der einzige Grund, warum ich überhaupt mit dir darüber rede! Aber ich hatte letztes Mal Recht, mit dir kann man nicht verhandeln, du bist so in deiner eigenen kleinen Welt gefangen, dass du-“

„Abby“, sagt Papa schneidend. „Es reicht.“

Ich hole tief Luft. „Die Regionen stehen vor einer Katastrophe, Mama. Es geht hier nicht um dich oder um mich, hier geht es um das Wohl aller. Ich muss wieder los ziehen. Und egal, was du sagst, egal, was du tust, du wirst mich nicht davon abhalten können.“

Mama umrundet den Tisch, geht an mir vorbei und steigt die Treppen hinauf. Tarik wirft mir einen undefinierbaren Blick zu, dann läuft er ihr hinterher und ich kann von oben seine eindringliche Stimme hören.

„Das lief nicht ideal“, stellt Papa fest und ich lasse mich erschöpft auf den Stuhl zurück sinken.

„Weißt du, was das Schlimmste ist?“, frage ich und er schüttelt den Kopf. „Ich dachte, ich hätte damals vorschnell gehandelt. Dass sie, wenn ich ihr alles erkläre und wir Regeln besprechen, kein Problem damit hätte, mich gehen zu lassen. Aber ich hatte Angst, dass sie sich mir in den Weg stellt und deshalb bin ich weggelaufen, ohne euch zu sagen, wohin oder wie lange.“

„Und jetzt?“

„Ich wollte ehrlich sein!“, sage ich wütend. „Ich wollte es mit euch besprechen. Nicht einfach abhauen, sondern mit eurer Einverständnis weiterreisen. Ich hätte genauso gut sagen können, dass ich Agnes besuchen möchte, und dann einfach in Prismania City bleiben. Oder nachts abhauen, so wie letztes Mal. Aber ich dachte, dieses Mal mache ich es richtig. Ich hätte einfach lügen sollen.“

„Ich verstehen deine Frustration, Abby“, sagt Papa, „aber du musst es von Natalies Sicht der Dinge sehen. Du hast ihr Vertrauen gebrochen, als du weggelaufen bist und alles, was sie bisher von deiner Reise weiß, ist, dass du in Johto warst und einmal im Krankenhaus gelandet bist. Du erzählst uns nichts von dem, was du erlebt hast. Wie sollen wir die Dringlichkeit verstehen, wenn du uns im Dunkeln lässt?“

„Tarik weiß alles“, sage ich trocken. „Und er meinte, wenn ich euch davon erzähle, lässt Mama mich erst Recht nicht mehr gehen.“

„Das klingt nach einer sehr spannenden Geschichte“, sagt Papa. Dann winkt er mich zu sich und ich setze mich ohne zu Zögern auf seinen Schoß. In seinen Armen entspanne ich mich ein wenig und lasse seine beruhigenden Worte über mich waschen. „Ich werde heute Abend mit Natalie reden“, sagt er. „Tarik ist allem Anschein nach ja schon eifrig dabei. Bleib noch ein paar Tage und wir werden sehen, ob Natalie sich nicht vielleicht doch zu einem Kompromiss bereit erklärt.“

Ich seufze, löse mich von ihm und zwinge mich zu einem Lächeln. Papa ist der Letzte, der meine schlechte Laune verdient hat. „Ich gehe ins Bett.“ Als ich schon halb die Treppe hinauf bin, drehe ich mich ein letztes Mal zu ihm um.

„Ende der Woche bin ich weg“, sage ich. „Egal wie.“

 

Am nächsten Morgen komme ich zum Frühstück nach unten, nur um außer mir niemanden vorzufinden. Nicht weiter verwunderlich. Es ist Dienstag, Mama und Papa müssen arbeiten und Tariks Frühschicht in der Arena ist auf dem Familienkalender am Kühlschrank eingetragen.

Mehr aus Interesse versuche ich, die Haustür zu öffnen, und weiß nicht, was ich davon halten soll, sie verschlossen vorzufinden. Wenn ich wirklich gehen wollte, hätte ich genug Möglichkeiten. So ist es nur ein weiterer Grund, mich unwohl zu fühlen.

Ich mache mir eine Schale Müsli, rufe Gott, mit dem ich es mir auf dem Sofa gemütlich mache und schalte den Fernseher an. Irgendwann gesellt sich sogar Nancy zu uns, die Gott mit einem leisen Knurren in ihre Schranken weist. Sie rollt sich in ihrem Bett neben dem Sofa ein und wirft uns einen letzten trägen Blick zu, bevor sie weiterschläft.

An Faulheit komme ich ihr an diesem Tag gleich. Außer eine Reportage und Nachrichtensendung nach der anderen zu verfolgen, lasse ich mich zu nichts motivieren. Selbst Gott wird es irgendwann zu viel. Er knabbert schwach an meiner Hand und springt dann vom Sofa und läuft zur Haustür. Er kratzt an dem Holz.

„Zu“, sage ich. Sein Rückenfeuer sinkt zu einer schwachen Glut und er dreht den Kopf. Schließlich seufze ich, schalte den Fernseher aus und laufe die Treppen hoch. Gott folgt mir. In meinem Zimmer angekommen öffne ich das Fenster, lehne mich hinaus und rufe Hunter und Jayjay, die sich hinter unserem Haus materialisieren und verwirrt zu mir auf schauen.

„Na komm, raus mit dir“, sage ich und setze Gott aufs Fensterbrett. „Ich darf nicht raus, aber ihr könnt euch ruhig die Beine vertreten. Mach nur keinen Ärger, okay?“

Er wirft mir einen verwirrten Blick zu. Warum darfst du nicht? Ich blinzele. Bisher konnte ich nur Sku so klar in ihrer Mimik verstehen.

„Hausarrest“, erkläre ich. „Meine Mutter verbietet mir, das Haus zu verlassen.“

Gott faucht und springt von der Fensterbank zurück in mein Zimmer, wo er sich auf den Schreibtisch neben der Tür setzt und mich aufmerksam beobachtet.

„Ich kann nicht“, sage ich resigniert. „Ich werde noch eine Woche versuchen, sie irgendwie zu überzeugen. Aber danach sind wir wieder unterwegs, keine Sorge.“

Er knurrt, mehr oder weniger versöhnt und rollt sich dann auf dem Schreibtisch ein. Als ich zurück nach unten gehe, macht er keine Anstalten, mir zu folgen und so sitze ich schon bald mit Sku auf meinen Schultern auf dem Sofa und widme mich der einzigen Beschäftigung, die mir alleine in diesem Haus bleibt.

Gegen Nachmittag kommt Tarik zurück und findet mich beinahe kopfüber auf dem Sofa wieder, Sku platt auf dem Rücken liegend und halb von meinem Bauch hängend. Er zieht seine Schuhe und Jacke aus und lässt Altaria frei, die gurrend durch die Luft schwebt und es sich dann auf seiner Schulter gemütlich macht, ihre flauschigen Flügel angelegt.

„Deine Pokémon erregen ziemliches Aufsehen“, stellt er fest und lässt sich neben mir auf das Sofa plumpsen. Er drückt den Stummknopf des Fernsehers und ich beobachte ihn dabei, wie er zögerlich Skus Bauch krault. Sie schnurrt wohlig und räkelt sich, rollt von mir herunter und fällt fast vom Sofa. „Selbst Major Bob hat die Arena verlassen, um dein Zebritz zu sehen. Die beiden verstehen sich ziemlich gut.“ Ich schmunzele.

„Schön.“

„Hast du heute irgendwas gemacht, außer vor der Glotze zu hängen?“, fragt Tarik. Ich lache humorlos.

„Was denn? Fliesen zählen?“

„Du bist unfair, Abby.“

„Bin ich das?“, frage ich und setze mich auf. „So wie ich das sehe, darf jeder machen, was er möchte. Nur ich nicht.“

„Du suhlst dich in Selbstmitleid“, erwidert Tarik kühl.

„Richtig.“ Wütend lasse ich mich gegen die Polster fallen. „Das bin ich doch, oder nicht? Eine Gefangene. Wie würdest du dich fühlen, wenn Mama dich einfach eines Tages aus dem Haus schmeißen würde? Wenn sie dich zwingt, in ferne Regionen zu reisen und du darfst erst wieder kommen, wenn sie es dir erlaubt?“

„Das würde sie nie tun“, sagt Tarik, aber die Farbe ist ihm aus dem Gesicht gewichen.

„Ganz genau.“ Ich starre auf die Menschen, die sich wild gestikulierend im Fernseher bewegen und doch keinen Laut machen. „Aber jemanden, der reisen will, einsperren, das ist vollkommen in Ordnung.“

Tarik seufzt und lässt sich neben mir an die Sofalehne sinken. „Warten wir, bis Mama heimkommt.“ Während wir vor dem Fernseher sitzen, lasse ich mir von Tarik einige seiner Erfahrungen aus der Arena berichten.

„Du wärst überrascht, wie viele Trainer uns leicht besiegen und dann an Major Bob scheitern“, sagt er. „Harpy ist inzwischen fast schon zu stark für die Arenakämpfe, aber solange ihr Level noch im Rahmen liegt, wird er sie nicht austauschen.“

„Wie sind eure Richtlinien, was Level angeht?“, frage ich neugierig.

„Mal sehen…“ Tarik denkt kurz nach. „In der dritten Arena ist der erlaubte Level 23, wenn ich mich nicht irre. Die Vortrainer sind im Normalfall etwas schwächer. Aber das ist nur ein grober Richtwert. Je nach Arenatyp, Pokémonanzahl und weiteren Faktoren wird das genau berechnet. Meistens liegen zwischen zwei Arenen aber etwa 5 Level Schritte.“

„Und was passiert, wenn Harpy die Grenze überschreitet?“, frage ich.

„Dann darf er sie nicht mehr einsetzen. Natürlich wird der Major sie weiter trainieren und vielleicht sogar in seinem Team aufnehmen. Sie hat ziemlich Temperament, aber mindestens genauso viel Potenzial.“

„Hat Bob etwas zu dem Zapdos gesagt?“, frage ich nach einer kurzen Pause. Tarik sieht mich schief an.

„Woher weißt du davon?“

„Die Matrosen haben darüber geredet“, sage ich und deute dann auf den Fernseher. „Und es wird dauernd in den Nachrichten erwähnt.“

„Das war ein ziemlicher Aufruhr, das kann ich dir sagen.“ Tarik legt den Kopf in den Nacken und starrt an die Decke. „Die ganzen Nachrichtenteams, die Fanclubmitglieder, irgendwelche altmodischen Grüppchen, die gegen das Fangen von Legendären sind… Ich hatte tagelang keine Ahnung, ob ich einen Herausforderer vor mir habe oder nur jemanden, der irgendwas von Bob aufschnappen will.“

„Und niemand weiß, wer der Trainer war, der Zapdos gefangen hat?“

Tarik schüttelt den Kopf. „Jeder hat irgendwelche Vermutungen, aber wirklich wissen… nein. Und wenn sie es wüssten, würde es bestimmt in Dauerschleife in den Nachrichten kommen. Hast du nicht gesagt, du warst dabei, als in Johto Ho-Oh gefangen wurde?“

„War ich“, stimme ich zu.

„Siehst du. Das war quasi mitten in der Stadt, und trotzdem hat keiner eine Ahnung, wie das Mädchen heißt und was sie macht.“

„Chris“, sage ich leise. „Ihr Name ist Chris.“

„Warum interessierst du dich so dafür?“, fragt Tarik nach einer Weile. Ich schaue ihn nur mitleidig an.

„Dinge herausfinden? Gerüchten auf die Spur kommen?“ Ich lache. „Was denkst du, warum ich so schnell wieder weg will?“

Mama kommt am frühen Abend heim. Ich weiß, dass ich Hunter und Jayjay hätte zurückrufen können, aber ich will sie provozieren. Als sie die Tür öffnet, wirkt sie gestresst und ziemlich fertig mit der Welt. Tarik steht sofort auf und geht zu ihr, um ihr die Einkaufstüten abzunehmen, ich lasse mir hingegen ein bisschen mehr Zeit.

„Abby, ruf bitte deine Pokémon zurück“, sagt Mama abwesend und trägt eine Tasche ächzend in die Küche.

„Wo sind sie?“, frage ich.

„Draußen.“

„Ist der Hausarrest schon aufgehoben?“, frage ich gespielt überrascht.

Mama wirft mir einen scharfen Blick zu. „Bitte ruf einfach deine Pokémon zurück, ich hatte einen langen Tag und möchte jetzt nicht über so etwas streiten.“

„Ich hatte einen verdammt langweiligen Tag“, erwidere ich.

„Dann lass sie draußen, um Himmels Willen.“ Wütend zieht Mama die Lebensmittel aus der Tüte und fängt an, sie in Schränke zu räumen. Tarik wirft mir einen bösen Blick zu und schließlich helfe ich den beiden beim Ausräumen.

Mama beginnt mit dem Kochen und Tarik und ich helfen ihr beim Gemüse schneiden, aber die Stimmung ist noch eisiger als die gesamte letzte Woche und als Mama sich schließlich über Sku beschwert, die im Wohnzimmer schnarcht, lasse ich ohne ein Wort meine Arbeit liegen, rufe Sku und verschwinde mit ihr in meinem Zimmer.

Gott spürt meine schlechte Laune, kaum dass ich die Tür knallend hinter mir zuziehe, springt auf meine Schulter und fährt sein Rückerfeuer hoch, bis er merkt, dass es keinen Gegner gibt und er sich wieder beruhigt.

Zehn Minuten später höre ich Tarik, der mich zum Essen ruft. Ich reagiere nicht. Zwei weitere Minuten später ruft Mama. Ich bleibe stur an meinem Fenster sitzen und schaue Jayjay dabei zu, wie er, ermüdet von dem langen Tag an der frischen Luft, hinter unserem Haus grast und gelegentlich wiehert, wenn Hunter ihm in den Po piekst.

Schließlich klopft es an meiner Tür.

„Wenn ihr sie nicht abgeschlossen habt, ist sie offen“, sage ich, woraufhin die Tür ein Stück aufschwingt.

„Hast du keinen Hunger?“, fragt Papa besorgt. Als er Gott sieht, der bedrohlich auf meiner Schulter sitzt und bei seinem Anblick kleine Flammen in seinem Mundraum produziert, hebt er die Augenbrauen. „Fackel bitte nicht unser Haus ab.“

Ich lache leise und schiebe Gott von meiner Schulter.

„Ganz ehrlich, ich habe keine Lust, runter zu gehen“, sage ich. Papa seufzt, ruft nach unten, dass die beiden schon mit Essen anfangen sollen und setzt sich dann zu mir aufs Bett.

„Wir wollen doch einen Kompromiss erarbeiten, oder nicht?“, fragt er. „Wie willst du das anstellen, wenn du hier oben in deinem Zimmer sitzt?“

„Ich kann nicht mit ihr reden, ohne wütend zu werden“, erwidere ich frustriert. „Ich habe Mama wirklich lieb, aber wenn es so weiter geht, werde ich sie Ende der Woche hassen. Und so wie ich das sehe, will sie keinen Kompromiss. Sie tut so, als wäre alles wie früher. Sie hat die Eingangstür abgeschlossen. Was ist das hier, ein Gefängnis?“

Papa steht auf und reicht mir seine Hand. „Na komm. Dreißig Minuten, wer weiß, was sich in dieser Zeit ergeben kann. Musstest du auf deinen Reisen nie etwas tun, das dir nicht gefallen hat? Mit Personen umgehen, die dich aufgeregt haben?“

Ich muss an Ruth denken, als sie in Azalea City war und ich sie bedienen musste. Das war ziemlich unangenehm. Andererseits wurde ich dort bezahlt. Ich konnte hingehen, wohin ich wollte. Hat es sich zum Schluss ausgezahlt?

Irgendwie schon.

Ich nehme seine Hand und lasse mich von ihm hochziehen. „Meinetwegen. Aber ich nehme Gott und Sku mit. Die beiden haben noch nichts gegessen.“

„Das klingt fair.“

Gemeinsam mit Papa, Sku und Gott steige ich wieder die Treppen hinunter und, wie beabsichtigt, werden Mamas Augen schmal, als sie meine Pokémon entdeckt. Während Papa sich an den Tisch setzt, gehe ich seelenruhig in die Küche, bereite Futterschüsseln für Gott und Sku vor und setze mich anschließend zu den anderen.

Mein Schweigen wird durch die Gespräche der anderen drei wettgemacht, aber ich kann sehen, wie Mamas Blick immer wieder irritiert zu Gott und Sku wandert. Sie sagt jedoch nichts, was ich als kleinen Fortschritt sehe. Schließlich ist das Essen zu Ende und wir alle sitzen am Tisch, wissend, dass eine Diskussion bevorsteht, die niemand so richtig beginnen möchte.

Natürlich ruiniert Mama meine Laune mit dem nächsten Kommentar.

„Musstest du deine Pokémon runter bringen?“, fragt sie. Ich sehe, wie Papa ein Auge zusammen kneift und mir einen entschuldigenden Blick zuwirft.

„Ich habe es ihr erlaubt, Natalie“, sagt er.

Sie schaut zu ihm, lässt dann das Thema fallen und berichtet stattdessen von ihrem Arbeitstag. Ich lausche nur mit halbem Ohr, aber als der Name Gold fällt, horche ich doch auf.

„Unsere Fanartikel sind ausnahmslos ausverkauft“, beklagt Mama sich. „Und ich kann keine neuen bestellen, weil Gold sich nicht kontaktieren lässt. Es ist wirklich sehr problematisch.“

„Gold hat andere Sachen zu tun, als Poképuppen zu unterschreiben“, meine ich. Sie schaut überrascht zu mir.

„Und woher möchtest du das wissen?“, fragt sie. Ich grinse.

„Weil ich ihm schon mehrmals begegnet bin, weil ich in Kontakt mit Rockys Spezialeinheit stehe, die er unterstützt und weil ich der Einheit schon mehrmals geholfen habe. Und weil sich das jeder denken kann, der ein bisschen auf die Team Rocket Nachrichten achtet.“

„Sag mir bitte nicht, dass du mit diesen Verbrechern in Kontakt gekommen bist“, sagt Mama entsetzt. „Jemand wie du sollte nichts mit der Polizei zu schaffen haben. Warum würden sie ein Kind helfen lassen?“

„Weil ich mehrfach Zeuge war“, erwidere ich, ein wenig irritiert. „Und weil ich Team Rocket mehrmals vor ihnen entdeckt habe und die Polizei nur dank mir rechtzeitig zur Stelle war. Du denkst vielleicht, ich bin in den letzten fünf Monaten nur sinnlos durch die Gegend gewandert, aber ich habe ziemlich viele Kontakte geknüpft. Und einige von denen muss ich dringend sprechen, um die Polizei weiter unterstützen zu können.“

„Das kann die Polizei ohne deine Hilfe sicher genauso gut“, sagt Mama automatisch.

„Vielleicht hat Abby ja wirklich Informationsquellen, die der Polizei helfen“, kommt Papa mir zu Hilfe. „Ich traue das unserer Tochter zu.“

„Abby hat wirklich einiges geleistet, Mama“, stimmt nun sogar Tarik zu. „Die Bikergruppe, die in Teak City lahm gelegt wurde? Sie war Teil des Trainerteams. Und die Festnahmen in der Safari-Zone hat sie auch ermöglicht.“

„Nicht zu vergessen die Frühwarnung auf dem Indigo Plateau“, stimme ich zu. „Dabei bin ich zwar im Krankenhaus gelandet, aber das war halb so wild.“

„Und ich soll gutheißen, dass du dich in Polizeiarbeit einmischst?“, fragt Mama. „Dass du dich in Gefahr bringst, wenn es Erwachsene gibt, die für diesen Job ausgebildet sind? Ganz sicher nicht.“

Gott knurrt leise und alle Augen richten sich auf ihn, was ihn seine Flammen hochfahren lässt.

„Und bitte, ruf dieses Pokémon zurück“, fährt Mama wütend fort. „Er ist gefährlich.“

„Er braucht Auslauf“, erwidere ich kühl. „Den er ja leider nicht kriegt, weil ich hier drinnen festsitze und er zu aggressiv ist, um ihn alleine raus zu lassen. Was denkst du, was ich die letzte Woche draußen gemacht habe? Ich war ganz sicher nicht Blumen pflücken.“

„Nicht in diesem Ton, Abbygail“, sagt Mama und erwidert meinen Blick mit der gleichen Härte.

„Dann behandle du mich nicht wie einen Schwerverbrecher“, sage ich und stehe auf. „Denkst du, wenn ich abhauen wollte, könnte ich das nicht? Ich bin nur hier, weil Papa und Tarik davon überzeugt sind, dass du dich irgendwann zu einem Kompromiss umstimmen lassen kannst, aber ich glaube nicht mehr daran. Und wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht, ob ich noch eine Woche mit dir in einem Haus aushalte.“

„Abby, bitte“, mischt Papa sich ein, „wir wollen das jetzt nicht eskalieren lassen.“

„Richtig“, sagt Mama. „Noch ein Wort, und du kannst deinen Pokémon für die nächste Woche Lebewohl sagen.“ Papa reißt den Kopf herum, Tarik öffnet den Mund, bringt aber kein Wort heraus und ich starre Mama einfach nur an.

„Natalie, das geht nun wirklich zu weit!“, sagt Papa laut, aber Mama erhebt sich und wütende Tränen stehen in ihren Augen.

„Wenn das der einzige Weg ist, wie ich meine Tochter erziehen kann, dann werde ich nicht davor zurückschrecken, ihre Pokémon erst zurückzugeben, wenn sie sich benehmen kann!“

Sie hätte es nicht so laut sagen sollen. Sie hätte es am besten niemals sagen sollen. Es ist eine Sache, mich vom Reisen abzuhalten. Es ist eine andere, mir damit zu drohen, meine Pokémon weg zu nehmen.

Ich schaue zu Sku und Gott, die auf dem Küchenboden sitzen und sich langsam erheben, Fell gesträubt und bereit zum Kampf. Es ist nicht das erste Mal, dass man versucht hat, mir meine Freunde weg zu nehmen. Dass meine Mutter mir damit drohen würde, hätte ich aber nie gedacht.

„Das war´s dann wohl“, sage ich mit aller Ruhe, die ich zustande bringe. „Gott, Sku, wir gehen.“ Die beiden laufen an meine Seite und als ich mich umdrehe und zur Treppe gehe, meine ich, Mamas erleichtertes Aufatmen zu hören. Denkt sie, sie hätte gewonnen?

Vor dem Fuß der Treppe wende ich mich ihr wieder zu und das einzige Bedürfnis, dass ich in diesem Moment habe, ist, ihr mit meinen Worten weh zu tun.

„In Azalea City wurde ich fast von Team Rockets umgebracht“, beginne ich und schaue mit Genugtun dabei zu, wie Mamas Augen sich weiten. „Auf dem Weg nach Viola City wurde ich lebendig in einer alten Ruine begraben. Auf dem Indigo Plateau hat ein Arbok mich schwer vergiftet. In Teak City wurde ich von Bikern entführt, in Oliviana City bin ich fast ertrunken, in Anemonia City wurde ich beinahe erschossen. Meine Pokémon wurden mehrfach von mir gestohlen. Denkst du wirklich, ich lasse dich dasselbe tun?“

Mit diesen Worten sprinte ich die Treppe hoch, Gott und Sku dicht an meinen Fersen und schlage die Tür hinter mir zu. Es dauert nicht lange, bevor ich polternde Schritte und Rufe auf der Treppe höre. Ich klemme meinen Schreibtischstuhl unter die Türklinke und stopfe all meine wichtigsten Habseligkeiten in meinen Rucksack, der wie immer zu großen Teilen gepackt ist. Die Inliner lasse ich liegen, schnüre nur schnell meinen Schlafsack an die Träger, dann rufe ich Gott und Sku zurück und öffne das Fenster.

Mama und Papa trommeln an meine Zimmertür, aber ich ziehe bloß meine Jacke, meine Schuhe und meinen Rucksack an und klettere über das Fensterbrett. Mit den Beinen auf dem Dach hängend rufe ich Jayjay zurück und schaue mich ein letztes Mal zu der Tür um, die in diesem Moment aufgetreten wird. Der Stuhl poltert durch das Zimmer und ich erhasche einen letzten Blick auf Mamas fassungsloses Gesicht, als ich eine Hand hebe und winke, bevor ich Hunters Namen rufe und aus dem Fenster springe.



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  Kerstin-san
2017-04-17T09:16:26+00:00 17.04.2017 11:16
Halo,
 
oh man, ich hab geahnt, dass das keine leichte Unterhaltung wird. Ihre Mutter hat sicherlich nicht Unrecht damit, dass sie ihr vorwirft sich so gut wie nie gemeldet zu haben (ich habs ja gleich gesagt), aber sie ist auch wirklich schwierig und überfürsorglich. Wie kann sie wirklich der Meinung sein, dass Hausarrest bei Abby irgendwas bringt? Sie sollte sie wirklich besser kennen. Ihr Vater bildet da nen ganz guten Gegenpol dazu, auch wenn es ihm vermutlich auch nicht leichtfallen wird Abby jetzt schon wieder losziehen zu lassen. Trotzdem finde ich es klasse, dass er sich so für Abby einsetzt. Trotzdem befürchte ich, dass Abby sich ähnlich wie vor fünf Monaten heimlich davonstehlen wird... Ich meine, ernsthaft? Ich sperre die Haustür ab und hoffe, dass das Abby aufhalten wird? Oh man....
 
Generell finde ich es glaubwürdig, wie du die Beziehung zwischen Abby und ihrer Mutter darstellst. Abby ist hier der typische Teenager, der sich im Recht sieht und immer wieder so kleine Spitzen setzt um ihre Mutter zu provozieren. Ich check nur nicht, was für Probleme ihre Mutter auf einmal mit den Pokémon hat. Ihres läuft doch auch ganz normal durch das Haus und sie kennt Sku doch schon seit Jahren. Irgendwie seltsam. Und dann eskaliert alles wie erwartet. Ob es so cever war, mal so beiläufig aufzuzählen, wo und wann Abby überall in Lebensgefahr geraten ist. Na ja, wir werden sehen wie sich die Beziehung der beiden zukünftig noch entwickelt. Ich hab die Hoffnung, dass sich das irgendwie noch kitten lässt.
 
Das Ende erinnert mich übrigens total an die Szene aus dem zweiten Harry Potter Buch, als Harry mit Hilfe der Weasleys türmt.
 
Liebe Grüße
Kerstin
Von:  Kalliope
2015-05-25T13:55:18+00:00 25.05.2015 15:55
So unvorsichtig Abby ist, so stark klammert ihre Mutter. Da haben es ihre Geschwister und ihr Vater natürlich nicht leicht. Ich kann verstehen, dass sie von ihrer Mutter weg will und bei ihr die Sicherungen durchbrennen, als ihre Mutter mit Pokémonverbot droht. Ich bin gespannt, wie es jetzt weiter geht. Dem Titel nach vermute ich, dass sie nach Prismania City geht xD
Antwort von:  yazumi-chan
25.05.2015 16:53
Prismania City? Wie kommst du auf diese abwegige Idee? xD
Von: abgemeldet
2015-05-10T19:55:25+00:00 10.05.2015 21:55
Uff, harter Tobak, dieses Kapitel. Das erste Mal, dass Abby auch einen emotionalen Kampf mit Menschen zu führen hat. Mit ihren Freunden gab es ja höchstens Mal kleine Kappeleien und auch die temporäre Trennung von Louis war ja eher ein kleines Übel - aber dieser Streit mit ihrer Mutter muss hart an ihren Nerven zehren.
Es ist ja nicht nur, dass sie ihre Mutter mit ihrer Flucht verletzt - sie lässt damit ja auch ihren Vater im Stich. Dieser weiß es zwar sicher zu verstehen und wird weiterhin auf ihrer Seite bleiben, aber ich denke auch für ihn ist es nicht leicht (übrigens einer der sympathischsten Väter, die ich je gelesen habe :D).
Wieso habe ich das Gefühl, dass das nächste Kapitel mit Tränen beginnt? Ich fände es zumindest nur natürlich - zur eigenen Mutter hat man ja doch eigentlich eine sehr starke Bindung und ein Streit solchen Ausmaßes sollte sie eigentlich nicht unberührt lassen.
Antwort von:  yazumi-chan
10.05.2015 22:11
Abby hat tatsächlich selten das Bedürfnis, zu weinen. Die Bindung zu ihrer Mutter ist ebenfalls nicht so eng wie zum Beispiel die zu ihrem Vater oder Agnes, aber inzwischen ist sie dauerfrustriert und verdrängt alle negativen Gefühle, weil sie sich im Recht sieht. Die nächsten beiden Sagas werden aber die Beziehung der beiden weiter ausleuchten, also abwarten und Tamottee trinken :)
Danke für das Kompliment zu Bernhard :D Natalie brauchte eben einen Gegenpol, damit Abby nicht völlig gegen die Wand redet.
Von:  Lenny-kun
2015-01-21T18:46:25+00:00 21.01.2015 19:46
Bei diesem kapi kann ich Hexenhund nur zustimmen
:D
Antwort von:  yazumi-chan
21.01.2015 20:01
Freut mich, dass Abbys Abgang so gut rüber kommt ;) Ihre Mutter tut mir persönlich ja schon irgendwie leid, aber Abby kann ich auch nachvollziehen xD
Von:  Hexenhund
2015-01-21T17:45:27+00:00 21.01.2015 18:45
Hach - schon irgendwie schön
Klar die Mutter macht sich sorgen... aber ganz ehrlich - sie übertreibt gnadenlos und hat es nicht besser verdiehnt -es ist einfach wundervoll wie Abby es schafft ihr ganz offiziel und kühl ihren Abgang zu verkünden - und noch schòner wie sie aus dem Fenster springt *.* (wär natürlich doof wenn sie nun gerade nicht von hunter aufgefangen wird und sich ejn Bein vor ihrer Familie bricht...) Und jetzt gehts weiter - zur Evolidame <3<3<3
Antwort von:  yazumi-chan
21.01.2015 20:00
Ja, Evolidame <3 Endlich taucht sie auf xD Noch ein paar Kapitel, dann hat dein Warten ein Ende :D


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