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Mallory

von

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Zeilen der Hoffnungslosigkeit

Da Ilias immer noch schwer unter Schock stand und auch Finnian neben der Spur war, blieb Mallory nichts anderes übrig, als selbst stark zu sein. Für sich selbst und für ihre Freunde. Sie kannte Lewis nicht so gut wie die anderen und wusste deshalb nicht, was ihm durch den Kopf gegangen war, als er in den Tod stürzte. Fakt war, dass es einige Ungereimtheiten gab und diese mussten geklärt werden. Um nicht auch noch beim Anblick des vielen Blutes in Panik zu geraten, hatte sie den Blick von der Leiche abgewandt und versuchte, an etwas anderes zu denken. Diese Verletzungen waren seltsam und es war schon auffällig, dass ausgerechnet Lewis gestorben ist. Immerhin hatte dieser sich in der letzten Zeit sehr intensiv mit dem Phänomen von Dark Creek beschäftigt und war auch im Vergnügungspark gewesen. Was, wenn er zum Schweigen gebracht wurde und man es wie einen Selbstmord aussehen ließ? Aber wieso lächelte er dann? Mallory eilte nach oben auf die Dachterrasse in der Hoffnung, dort vielleicht etwas zu finden, was Aufschluss geben könnte. Hinter sich hörte sie Schritte und als sie sich umdrehte, sah sie Finnian, der ihr folgte. Entweder hatte er denselben Gedanken, oder er verfolgte ein anderes Ziel.

Kurz vor der Tür verschnaufte Mallory kurz, dann öffnete sie diese. Auf der Dachterrasse schien auf dem ersten Blick nichts Ungewöhnliches zu sein. Überall standen die Blumentöpfe an ihrem Platz und es gab auch keine Spuren, die vielleicht auf einen Kampf hindeuten konnten. Aber dann entdeckte sie Blut auf dem Boden. Obwohl sie sich innerlich darauf vorbereitet hatte, wurde ihr wieder schwindelig, die Angst kam zurück und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihren Kopf wie eine glühende Nadel und sie presste sich eine Hand gegen ihre Schläfe, wo der Schmerz am stärksten war. Sie drehte sich um und hielt sich an Finnian fest, der selbst zuerst erschrocken über den plötzlichen Körperkontakt war. „Mallory, was ist denn?“ Ihre Knie zitterten unkontrolliert und wieder sah sie diese Bilder vor ihren Augen. Tote Kinder, sterbende Eltern und Schreie überall. Diese schrecklichen Szenen tauchten immer auf, wenn sie Blut sah und insgeheim wusste sie, was das für Bilder waren. Das waren Fragmente ihrer verdrängten Erinnerung. Etwas Entsetzliches war damals passiert und sie hatte es mit ansehen müssen. Und dennoch war sie verschont worden. Aber warum sie und wieso waren überhaupt so viele Menschen gestorben? Wieso sprach niemand darüber? Sie sank in die Knie und konnte nur mit Mühe einen Brechreiz unterdrücken. „Ich kann kein Blut sehen, egal wie viel es ist.“

„Dann sehe ich mich um und du bleibst hier.“ Mallory hielt die Augen geschlossen und begann sich auf ihre Atmung zu konzentrieren. Sie musste ihre Angst wieder unter Kontrolle bekommen, damit sie nicht noch einen panischen Anfall bekam. Nichts hasste sie mehr, als wenn sie vor Angst gelähmt und handlungsunfähig war. Überhaupt hasste sie es, schwach zu sein. Schließlich hörte sie Finnian rufen „Am Geländer sind mehrere Spuren und blutige Handabdrücke. Seltsam…“

„Was ist seltsam?“

„Hinter dem Geländer sind auch blutige Handabdrücke, als hätte Lewis versucht, sich festzuhalten. Was, wenn er doch nicht gesprungen, sondern hinuntergestürzt ist?“

„Das wäre doch Quatsch. Wieso wäre er dann über das Geländer gestiegen? Aber andererseits… wenn er tatsächlich gesprungen wäre, dann hätten wir ihn mit dem Gesicht nach unten finden müssen. Wenn er sich tatsächlich noch festgehalten hat, dann würde es erklären, wieso er auf dem Rücken liegt. Aber wieso lächelt er, wenn es kein Selbstmord war und wieso ist hier überall Blut?“ Mallory musste an gestern denken und erinnerte sich an Lewis’ schmerzverzerrtes Gesicht. Irgendetwas war mit ihm gewesen und wahrscheinlich hatte es mit seinem Tod zu tun. Was, wenn Josephine ihn umgebracht hat, weil er zu gefährlich für sie wurde? Konnte es tatsächlich sein, dass sie ihre Kraft eingesetzt hatte, um ihn auszuschalten, weil er wusste, wie man aus Dark Creek entkommen konnte? Hatte sie ihn manipuliert und dann umgebracht? Doch wieso lächelte er dann? Wieder hatte sie sein Gesicht vor Augen, erinnerte sich an ihre gemeinsamen Gespräche und erneut kamen ihr die Tränen. Lewis hatte gesagt, dass er eine innere Leere verspürte und Dark Creek als ein Gefängnis empfand. Doch trotzdem hätte sie nie damit gerechnet, dass er deshalb Selbstmord begehen könnte. Obwohl er ein verträumter Mensch gewesen war, der hin und wieder zu Melancholie neigte, war er immer hilfsbereit und stets bemüht gewesen, anderen zu helfen. Für Ilias, Finnian und Dean war er wie ein väterlicher Freund und ihre große Stütze. Und doch war er nun tot und einiges deutete darauf hin, dass er gesprungen war. Allein dieses glückliche Lächeln auf seinem toten Gesicht… Mallory dachte an den Vorabend, als er krank wurde und starke Schmerzen hatte und als er erfuhr, dass auch sie in Dark Creek gefangen war. Er hatte sehr unglücklich ausgesehen und sich im Stillen schwere Vorwürfe gemacht, weil er so machtlos war und ihr nicht helfen konnte. Oder hatte sie vielleicht irgendetwas gesagt, was ihn dazu veranlasst hat, sich in den Tod zu stürzen? Hatte sie seinen Tod etwa genauso verschuldet wie Finnians Anfall? Zweifel und Schuldgefühle befielen sie und sie fragte sich, ob sie es nicht hätte verhindern können. Wenn sie die Anzeichen richtig gedeutet hätte, dann wäre sie vielleicht in der Lage gewesen, ihn aufzuhalten und ihn somit zu retten. Und mit schmerzlicher Gewissheit wurde ihr bewusst, dass sie vielleicht Mitschuld an seinem Tod hatte und die ganze Zeit so blind gewesen war. Im Grunde hatte sie sich nur auf ihre eigenen Probleme konzentriert und dabei völlig ignoriert, dass es Lewis so schlecht ging.

„Mallory, hier… hier liegt so etwas wie ein Brief.“ Sie schaute auf und sah Finnian am Tisch stehen, wo Lewis immer saß und wo eine Schreibmaschine stand. Offenbar hatte er hier auch seine Romane geschrieben und wenn hier ein Brief lag, konnte es sich um einen Abschiedsbrief handeln. Finnian, der inzwischen seine Maske wieder aufgesetzt hatte, reichte ihr den Brief. „Ist es das, was ich vermute?“ Sie las ihn sich nicht näher durch, sondern überflog ihn ganz kurz. Dabei begannen ihre Hände heftig zu zittern. „Ja, das ist sein Abschiedsbrief.“ Finnian senkte den Kopf und sagte nichts. Mallory kauerte am Boden und weinte bitterlich. Es war also tatsächlich Selbstmord! Lewis war gesprungen, weil er keinen anderen Ausweg mehr für sich selbst sah und sie hatte nicht rechtzeitig erkannt, wie es wirklich in ihm drin ausgesehen hatte. Warum nur hatte sie nie richtig hingehört, als er ihr seine wahren Gefühle offenbart hatte? Spätestens da hätte sie doch erkennen müssen, dass er völlig verzweifelt war und Hilfe brauchte. Warum nur hatte sie die Zeichen nicht richtig gedeutet? Doch es war zu spät und niemand konnte die Zeit zurückdrehen. Lewis war tot und noch nie hatte sich Mallory noch niemals so hilflos und schwach gefühlt wie in diesem Moment.
 

Lewis’ Leichnam wurde schließlich fortgebracht und Ilias, der immer noch unter Schock stand, musste ein Beruhigungsmittel nehmen, um wieder ansprechbar zu werden. Da er unfähig war, sich in dieser Verfassung um Dean zu kümmern, wurde dieser von Josephines Butler Roth abgeholt und kam vorerst zu Anna und Josephine. Mallory fühlte sich selbst nicht in der Lage, auf ihn aufzupassen und man konnte dem Jungen auch nicht zumuten, bei Finnian zu wohnen. Schließlich trafen sie sich alle im Salon, sagten aber kaum etwas und schwiegen die meiste Zeit, während sie teilnahmslos ins Leere starrten. Nach einer Weile eröffnete Finnian das Gespräch. „Mallory und ich waren auf dem Dach gewesen und haben Blutspuren gefunden. Ich glaube, Lewis war schwer verletzt gewesen, als er runterstürzte. Aber… irgendwie verstehe ich das alles nicht. Wieso hat er gelächelt und warum lag da dieser Brief?“

„Was für ein Brief?“ Mallory holte die Zeilen hervor, die Lewis geschrieben hatte und betrachtete sie eine Weile. „Ich glaube, er hat einen Abschiedsbrief geschrieben, bevor er gestorben ist.“

„Und was steht drin?“ Sie atmete tief durch und bereitete sich darauf vor, den Abschiedsbrief vorzulesen, aber sie wusste im Inneren schon, dass sie es nicht schaffen konnte. Sie würde in Tränen ausbrechen und dann kein Wort mehr hervorbringen. Erneut würde sie sich wieder die Schuld für Lewis’ Tod geben und in Verzweiflung verfallen. Mit Tränen in den Augen schüttelte sie den Kopf und mit einem heftigen Schluchzer sagte sie „Tut mir Leid, ich kann das nicht.“ Also nahm Finnian ihn entgegen und begann nun selbst, den Brief vorzulesen und damit ihnen allen Lewis’ letzte Gedanken zu offenbaren.
 

„Diese Zeilen hier zu schreiben, ist gewiss nicht leicht für mich. Auf der einen Seite schmerzt es mich, hier meine letzten Gedanken und Gefühle festzuhalten mit der Gewissheit, dass mein Entschluss mit diesem Schritt etwas Endgültiges annimmt. Aber andererseits ist es auch eine Befreiung für mich, da ich mich nun endlich von meinen Lasten und Sorgen befreien kann, bevor ich diese Welt für immer verlassen werde. In den letzten Wochen, Monaten und Jahren, in denen ich in dieser Stadt gelebt habe, hatte ich viel Zeit, um über einiges nachzudenken. Zum Beispiel über die Frage, warum wir überhaupt hierhergezogen sind und was mit dieser Stadt nicht stimmt. Aber vor allem fragte ich mich, was mit mir nicht stimmte. Zwar glaubte ich, mich an jedes Detail meiner Vergangenheit zu erinnern, aber mich ließ das Gefühl nicht los, als würde da etwas fehlen. Etwas Entscheidendes. Es ließ mir keine Ruhe und es fühlte sich an wie das fehlende Teil eines Puzzles. Etwas in mir war leer und konnte nicht gefüllt werden. Anders kann ich es nicht in Worten beschreiben. Deshalb begann ich, nach und nach die einzelnen Fragmente zusammenzufügen und nach den fehlenden Teilen zu suchen. Und obwohl ich noch nicht alles in Erfahrung bringen konnte, so wusste ich schon genug um sagen zu können, dass Dark Creek ein Gefängnis ist. Es ist ein Käfig für mich und für alle seine Bewohner. Und solange ich hier bin, habe ich keine Zukunft und keine Hoffnung. Alles, was mir geblieben ist, das ist meine Vergangenheit und die damit verbunden Emotionen und Wünsche. Und bevor mir nach meiner Freiheit auch dies genommen werden kann, habe ich beschlossen, mein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und mich aus diesem Gefängnis zu befreien. Im Grunde meines Herzens wusste ich schon lange, dass es keinen anderen Ausweg mehr gibt, doch ich wollte es nicht wahrhaben. Dark Creek ist nichts anderes als eine niemals enden wollende Welt, in der wir nichts Weiteres sind als Puppen, die auf einem Tisch tanzen. Man lässt uns tanzen, obwohl wir es Leid sind und nur aus eigener Kraft können wir es schaffen, die Fäden durchzuschneiden und uns von dieser Macht befreien, die uns an diesen Ort hält und einsperrt. Lange Zeit war ich mir nicht wirklich bewusst, warum ich überhaupt hier bin, weshalb überhaupt jemand an so einem Ort lebt und wieso niemand von hier entkommen kann. Erst vor kurzem habe ich endlich die Antwort finden können und daraufhin fasste ich den Entschluss, mir meine Freiheit zurückzuholen und diesem Gefängnis zu entfliehen. Diese Entscheidung fiel mir seltsamerweise gar nicht so schwer wie ich zunächst dachte, obwohl ich hier viele Menschen habe, die ich in mein Herz geschlossen habe und die ich nur ungern zurücklassen würde. Aber mir ist eines klar geworden: Dieses friedliche Leben, das wir führen, ist nichts Weiteres als eine Illusion. Wir werden manipuliert, um dieses Dasein nicht zu hinterfragen und freiwillig hier zu bleiben. Unser Leben gleicht denen von Goldfischen in einem Glas, die zwar wissen, dass es außerhalb des Glases etwas gibt, doch solange sie glücklich mit ihrem Dasein sind, käme ihnen nie in den Sinn, nach mehr zu streben. Doch ich bin nicht glücklich mit dieser Leere in meinem Herzen und ich ertrage diese Illusion und diesen Käfig nicht länger. Und umso weniger ertrage ich das Dasein an diesem Ort, da ich nun endlich weiß, woher diese Leere rührt und warum sie erst entstand. Die Wahrheit ist, dass ich einfach vergessen habe, was mich wirklich glücklich gemacht hat und was mein Leben erfüllte. Ich habe mein altes Leben vergessen und den Menschen, den ich über alles geliebt habe.
 

Ich wuchs in einer wohlhabenden Familie auf, in der mir jeder materielle Wunsch erfüllt wurde. Da aber meine Mutter als Rechtsanwältin und mein Vater als Unternehmer nie zuhause waren, erfuhr ich niemals elterliche Liebe und war sehr einsam. Erst mein Privatlehrer Mr. Simmons, der wie ein Vater für mich war und mich immer in schweren Zeiten unterstützt hat, konnte mir erst das geben, was ich wirklich brauchte und half mir über diese schweren Zeiten hinweg. Ich merkte schon früh, dass ich nicht gerade das war, was konservative Eltern als normal bezeichnen würden. Strenge Erziehung durch Nannys und weitere Privatlehrer sollten dem Abhilfe schaffen, aber ich konnte mich einfach nicht ändern. Und so konnte ich auch nichts dagegen tun, als ich mich in der High School in Zane Donovan verliebte. Zane war das, was man einen hoffnungslosen Fall nennen konnte. Er hatte bereits zwei Kinder gezeugt und ein drittes war damals unterwegs gewesen, als ich ihn kennen lernte. Im Grunde war er ein Schürzenjäger und Herzensbrecher und damit genau das, wovor Väter ihre Töchter lieber fernhalten wollen. Warum ich mich ausgerechnet in ihn verliebte, konnte ich selbst nicht begreifen. Hinzu kam noch die Tatsache, dass er die Mädchen zwar schwängerte, aber nie an einer festen Beziehung interessiert war. Für die Kinder kam er aber auf und erkannte auch die Vaterschaft an. Jedenfalls schien er nur an gebärfähigen Personen interessiert zu sein und das führte bei mir zu allerhand Komplexen. Obwohl ich wusste, dass ich ein Junge war und selbst nach einer Geschlechtsumwandlung niemals eine vollwertige Frau sein würde, wuchs in mir der Wunsch, sein Kind auszutragen. Ich wollte auch keine Geschlechtsumwandlung machen, denn trotz allem fühlte ich mich nicht als Frau. Trotzdem hegte ich diesen Wunsch und schämte mich zugleich dafür. Weil ich mich auch wegen meiner Gefühle für einen Jungen schämte, ließ ich meinen Frust an Zane aus. Wir gerieten immer wieder aneinander und irgendwann kam es dazu, dass ich ihm eher versehentlich und im Affekt meine Gefühle für ihn offenbarte. Das war für ihn erst ein Schock gewesen, aber dann geschah das, womit ich niemals gerechnet hätte: Er erwiderte meine Gefühle. Obwohl ich nie ein Kind gebären könnte, liebte er mich und nahm mich so, wie ich bin. Bis zu meinem Liebesgeständnis war ihm selbst nie wirklich klar gewesen, dass auch er schwul war. Zwar mochte er Mädchen, aber er hatte sie nie auf solch eine Weise lieben können wie mich. Wir wurden schließlich ein Paar, outeten uns aber erst im letzten Jahr der High School und hielten unsere Beziehung bis dahin erfolgreich geheim. Als meine Eltern von unserer gemeinsamen Liebe erfuhren, konnten sie das nicht akzeptieren und so wurde ich verstoßen und enterbt. Für sie war ich nicht mehr ihr Sohn und der Kontakt brach ab. Das war sehr hart für mich, aber solange ich Zane hatte, war ich glücklich.

Ich studierte schließlich Medizin an der Universität, obwohl ich eigentlich lieber Schriftsteller geworden wäre. Doch mein Wunsch, anderen Menschen zu helfen, war stärker gewesen und ich war der Ansicht, dass man durch die Schriftstellerei nichts verdienen konnte und ich es als Autor nie weit bringen würde. Aber das Studium war hart und ich stieß bald an meine Grenzen. Ich fing daraufhin an, Ritalin zu nehmen, um mich besser konzentrieren zu können. Bald kamen auch Antidepressiva dazu. Lange Zeit merkte ich nichts, bis Zane mich darauf aufmerksam machte, dass ich bereits abhängig war und ich nicht nur psychisch, sondern auch gesundheitlich litt. Ich beruhigte ihn mit der Erklärung, dass es nur eine Phase war und ich alles im Griff hätte. Wenn ich mit dem Studium fertig wäre, bräuchte ich sie nicht mehr. Als ich dann aber schließlich Assistenzarzt wurde, verschlimmerten sich mein Zustand und meine Abhängigkeit, woraufhin mir Zane ein Ultimatum stellte. Wenn ich meinen Job nicht kündigen würde, hätte unsere Liebe kaum noch eine Zukunft. Zuerst war ich sehr verletzt, aber dann erkannte ich, dass er es tat, weil er mich liebte und mir helfen wollte. Auch ich merkte, dass mir die Arbeit im Krankenhaus nicht gut tat und so folgte ich seinem Wunsch. Stattdessen begann ich meiner eigentlichen Leidenschaft, nämlich der Schriftstellerei nachzugehen und siehe da: Es waren Liebesromane. Meine Beziehung zu Zane war die beste Vorlage dafür und ich hatte endlich das gefunden, was mich wirklich auf Dauer glücklich machen konnte. Aber obwohl ich glücklich war mit dem Mann, den ich liebte und der Arbeit, die mir Freude machte, konnte ich mir diesen einen Wunsch nicht erfüllen und das hinterließ Spuren bei mir. Ich geriet in Zweifel, ob wir wirklich auf Dauer glücklich sein konnten, weil ich ihm niemals das geben konnte, was wir uns wünschten: nämlich ein Kind. Zane versicherte mir, dass es ihm egal wäre, dass wir niemals zusammen Kinder haben konnten und es ja noch die Möglichkeit einer Adoption gab, aber eine Adoption wäre niemals das Gleiche gewesen. Und ich hasste mich in diesen Momenten dafür, dass ich keine Frau sein konnte. Dann hätte es auch nicht so viele Vorurteile und Feindseligkeiten gegen unsere gemeinsame Liebe geben müssen. Und oft genug zweifelte ich, ob ich wirklich der Richtige für Zane war und ob er wirklich glücklich mit mir war.

Nachdem ich meinen Job gekündigt hatte, ging es mir gesundheitlich wieder besser. Ich fand bei einer Selbsthilfegruppe für Medikamentenabhängige den nötigen Halt und Zane stand mir auch zur Seite. Er arbeitete nachts als DJ und ich blieb zuhause, kümmerte mich um den Garten und von den Ersparnissen konnten wir eine Zeit lang gut leben, solange ich keinen Job hatte und auch eine Entziehungskur machte. Als es mit der Schriftstellerei immer besser ging und meine Bücher immer gefragter wurden, erhielt ich einen Termin bei einem Verleger, der sich tatsächlich für meine Bücher interessierte. Wir freuten uns gemeinsam für diese gute Nachricht und wollten diesen Erfolg feiern, wenn der Vertrag unterschrieben war. Während Zane alles für unser kleines Fest vorbereiten wollte, nahm ich gleich die nächste Bahn zum Verlag. Aber auf den Weg dorthin kam es zu einem furchtbaren Unglück. Der Tunnel war bereits durch ein Erdbeben in der Vergangenheit beschädigt worden und stürzte durch die tagtäglichen Vibrationen der durchfahrenden Züge über uns ein. Wir alle wurden verschüttet und von da an fehlten mir jegliche Erinnerungen, was währenddessen oder kurz danach passiert ist. Ich weiß nicht, was aus Zane geworden ist und wieso ich nicht mehr bei ihm bin. All das hatte ich vergessen, ich hatte sogar ihn vergessen. Erst vor kurzem ist mir genau das klar geworden, als ich mich wieder an meine Gefühle und an meinen sehnlichsten Herzenswunsch erinnerte. Ich weiß nicht genau, wieso ich mein eigenes Leben dermaßen vergessen habe und dann auch noch Zane. Es scheint so, als hätte all dies mit meinem jetzigen Leben in Dark Creek zu tun und dem Grund, wieso ich hier bin. Aber nun, da ich mich wieder an mein wirkliches Leben erinnere und die Wahrheit kenne, spüre ich, wie sich mein Dasein in dieser Stadt dem Ende zuneigt. Mein Tod rückt langsam näher, aber ich werde ihm entschlossen und ohne Angst entgegentreten und mich endlich von alledem hier loslösen. Die Wahrheit wird einige von euch vielleicht genauso erleichtern wie mich, womöglich aber wird sie euch den Verstand rauben und alle Hoffnung nehmen. Ihr kennt sie alle, die Antwort auf die Frage, was in Dark Creek nicht stimmt und wieso es niemanden kümmert, warum wir hier gefangen sind. Im Grunde eures Herzens habt ihr es immer gewusst, doch ihr wollt es einfach nicht wahrhaben und solange ihr vor der Wahrheit flieht, könnt ihr niemals frei sein. Aber ihr müsst es alleine herausfinden und aus eigener Kraft die Wahrheit aufdecken. Doch lasst mich eines sagen: Dark Creek ist ein Gefängnis für uns alle und eine Lüge. Das Leben hier ist wie eine Zugfahrt ohne Bahnhof, verdammt dazu, niemals ein Ziel zu haben, bis wir es selbst finden. Solange habe ich keine Zukunft… niemand in dieser Stadt hat eine Zukunft. Aber wenn ich schon sterben muss, dann will ich es tun, so wie ich es will und ich will es als freier Mensch tun, denn das ist das einzige Glück, was ich mir noch erhoffe.
 

Bevor ich diese Zeilen, die man auch als meinen persönlichen Abschiedsbrief betrachten kann, beende, möchte ich noch dies noch unbedingt sagen: Ich liebe dich Zane, ich liebe dich von ganzem Herzen und ich vermisse dich so sehr. Es tut mir so Leid, dass wir uns in dieser Welt wohl nicht mehr sehen werden und bitte verzeih mir, dass ich dich und unsere gemeinsame Liebe einfach vergessen habe… Aber vielleicht, vielleicht besteht ja die winzige Hoffnung, dass wir uns in einem anderen Leben wieder sehen. Und dann werde ich hoffentlich in der Lage sein, dir deinen und meinen größten Herzenswunsch zu erfüllen. Trotzdem danke ich dir, dass du mir die Kraft gibst, diesen letzten Weg glücklich und ohne Angst und Zweifel zu gehen. Und ich danke dir für deine aufrichtige Liebe. Und außerdem möchte ich mich bei meinen Freunden entschuldigen. Bitte verzeiht, dass ich nicht mehr die Kraft aufbringe, diesen Käfig und dieses hoffnungslose Schicksal zu ertragen. Verzeiht, dass ich euch alle auf solch schreckliche Art und Weise im Stich lasse. Ich habe wirklich versucht, für euch stark zu sein, aber ich kann es einfach nicht mehr. Weder mental, noch körperlich. So oder so werde ich sterben müssen, aber ich will wenigstens noch die Freiheit besitzen, es aus eigener Kraft zu tun.“
 

Betroffenes Schweigen breitete sich aus. Mallory schluchzte und erinnerte sich wieder an diese seltsamen Worte von Lewis, als er sagte, dass er im Gegensatz zu ihr keine Kinder zur Welt bringen könnte. Nun endlich verstand sie, was diese Worte zu bedeuten hatten. Lewis hatte sich an seinen innigsten Herzenswunsch erinnert, den er sich niemals erfüllen konnte und er hatte sich wieder an sein Leben mit dem Menschen erinnert, den er liebte. Und weil er glaubte, er würde nie wieder in sein altes Leben zurückkehren können, war er vom Dach gesprungen. Aber… warum schrieb er, dass so oder so gestorben wäre? Sie musste sich an das Blut auf dem Dach erinnern und an die Schmerzen, die er am Vorabend seines Todes hatte. Was, wenn diese Schmerzen mit dem Blut und der Verletzung an seinem Bein zusammen hingen? Lewis hatte gewusst, dass er sterben würde und er wollte dem zuvorkommen, indem er vorher in den Tod sprang. Doch bevor er von selbst springen konnte, war er gestürzt oder abgerutscht und hatte sich instinktiv festgehalten. Und als er erkannte, dass es für ihn zu spät war, hat er losgelassen und war daraufhin mit einem Lächeln gestorben. War es so gewesen? Aber warum hatte Lewis überhaupt sterben müssen? Etwa, weil er zu viel wusste? Mallory kam schließlich ein schrecklicher Gedanke: Was, wenn Josephine tatsächlich für seinen Tod mitverantwortlich war? Immerhin hatte sie gezeigt gehabt, dass sie über besondere Kräfte verfügte und da war es also nicht auszuschließen, dass sie diese eingesetzt hatte, um Lewis auszuschalten. Aber dieser wollte ihr zuvorkommen und beendete es schließlich selbst. Ihr Blick wanderte zu Finnian, der in ein tiefes Schweigen versunken war und wegen der Maske konnte sie nicht erkennen, wie er sich gerade fühlte. Auch Ilias sagte nichts und wirkte irgendwie apathisch. Nach einer Weile sagte er schließlich „Ich kann nicht glauben, dass er all das vor uns verschwiegen hat. Wir… wir hätten ihm doch helfen können.“

„Ich glaube nicht, dass ihn überhaupt jemand noch retten konnte“, entgegnete Finnian mit einem Kopfschütteln. „Er wusste, dass er sterben wird und niemand etwas dagegen tun konnte.“

„Aber wieso und was ist mit ihm passiert, dass da Blut auf dem Dach war?“

„Vielleicht war sie es“, sagte Mallory und wunderte sich selbst, dass ihre Stimme so tonlos dabei klang. „Was, wenn Josephine ihn in den Tod getrieben hat? Ich meine, Lewis wusste offenbar, wie wir entkommen können und wenn dieses Mädchen tatsächlich dahinter steckt, dann hat sie mit Sicherheit versucht, ihn zum Schweigen zu bringen. Es muss einen Grund dafür geben, wieso wir alle gegen unseren Willen festgehalten werden. Lewis ist in den Vergnügungspark gegangen, um Antworten zu finden. Was, wenn er für dieses Wissen so oder so sterben musste und er letztlich vor der Wahl stand, getötet zu werden oder freiwillig zu sterben?“ Der Ausdruck in Ilias’ Augen veränderte sich, aber es war unmöglich zu erkennen, was ihm gerade durch den Kopf ging. Aber dann sah er sie mit einem erschrockenen Blick an, als würde er an etwas Bestimmtes denken. „Wenn das wirklich stimmt… was ist mit Dean? Und was ist mit uns?“

„Keine Ahnung“, antwortete Mallory niedergeschlagen und stützte ihren Kopf auf ihrer Hand ab. „Aber da die beiden Zwillinge so aggressiv auf mich reagiert haben, steht zur Befürchtung, dass sie ausnahmslos jeden töten werden, der es wagt, das Geheimnis zu lüften, wie wir von hier entkommen können.“



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