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Mallory

von

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Josephines Drohung

Der nächste Morgen war für Mallory noch schlimmer, denn sie wachte mit entsetzlichen Kopfschmerzen auf. Nur mit Mühe gelang es ihr, sich aus dem Bett zu kämpfen, anzuziehen und dann Lewis aufzusuchen. Dieser gab ihr ein gutes Mittel gegen Kopfschmerzen und vermutete, dass es wohl von der Aufregung des Vortages kam. Er sah aber trotzdem besorgt aus und fragte, ob sie noch andere Sorgen hatte. Tatsächlich bedrückte sie etwas und da sie glaubte, ihm vertrauen zu können, war sie für ein Gespräch dankbar. Um in einer angenehmeren Umgebung reden zu können, gingen sie wieder auf die Dachterrasse, wo sich auch Mallory deutlich wohler fühlte. Sie redeten über den gestrigen Vorfall und wie es in Zukunft weitergehen sollte. Lewis lächelte verständnisvoll und versicherte ihr, dass es nicht ihre Schuld war und es sei auch nichts wirklich Schlimmes passiert. „Finny geht es inzwischen wieder gut. Er war vorhin hier gewesen, um mit Dean und Ilias Fußball zu spielen. Er macht wie immer seine Späße und ist der Sonnenschein in Person.“

„Und wegen dem Anfall?“

„Er hat alles wieder komplett verdrängt und erinnert sich an nichts mehr. Ich hab mit ihm geredet und er glaubt, dass er sich ganz normal verabschiedet hat und nach Hause gegangen ist, wo er schließlich im Bett einschlief.“ Insgeheim war Mallory erleichtert, dass Finnian keine ernsthaften Schäden davongetragen hatte und es ihm gut ging. Aber… im Grunde ging es ihm nicht gut, nur oberflächlich. Im Inneren war er immer noch völlig kaputt und brauchte dringend professionelle Hilfe. Am besten in einer psychiatrischen Einrichtung, wo er all diese schlimmen Dinge verarbeiten konnte, anstatt sie zu verdrängen. „Wie soll ich mich ihm gegenüber verhalten?“ Lewis schüttete sich und Mallory Kaffee ein und gab zwei Würfel Zucker herein. „Ich weiß, dass das hart ist, wenn man weiß, was für ein tiefer Abgrund sich hinter der Maske eines fröhlichen Jungen verbirgt und welcher Schmerz unter der Kleidung verborgen liegt. Aber wir können momentan nichts anderes tun, als Finnys Spiel mitzuspielen und ihm das Gefühl geben, es wäre alles in Ordnung, so wie es jetzt im Moment ist. Nur so können wir seinen Zustand stabil halten und ihn vor einem weiteren Anfall schützen. Zwar hat er nur eine Art falsche Epilepsie gehabt, aber es besteht die Gefahr, dass er beim nächsten Mal ernsthaft verletzt werden könnte. Also sprich ihn bitte nicht auf seine Vergangenheit oder seinen Bruder an, okay?“ Insgeheim spürte sie aber, dass es ihr schwer fallen würde, die Erinnerung an die gestrigen Geschehnisse auszublenden und die Tatsache zu verdrängen, dass Finnian in der Vergangenheit verprügelt und vergewaltigt und sein Bruder ermordet worden war. „Vielleicht sollte ich ihm eine Weile aus dem Weg gehen…“ Lewis nickte verständnisvoll und meinte „Das kann ich gut verstehen. Wenn du das für dich die beste Lösung ist, dann kann ich dir nur schlecht davon abraten.“ Irgendwie wirkte der Arzt heute anders als sonst. Er hatte zwar immer noch diese charismatische Ausstrahlung und dieses wunderschöne engelsgleiche Lächeln, aber Mallory hatte einen siebten Sinn für solche Dinge. Etwas war passiert, was nicht nur Finnian verändert hatte, sondern auch ihn. Diese seltsame Bemerkung von gestern Abend ging ihr wieder durch den Kopf. Was hatte er noch mal gesagt? „Im Gegensatz zu dir kann ich keine Kinder zur Welt bringen.“ Was hatte er bloß damit gemeint? Als er merkte, dass sie ihn mit einem merkwürdigen Blick ansah, stellte er seine Tasse wieder ab und erhob sich. Sein warmherziger Blick war nun gewichen und er wirkte irgendwie nachdenklich. Ob er wohl spürte, dass sie über ihn nachdachte? „Entschuldige mich bitte, Mallory. Ich habe noch einige sehr wichtige Dinge zu erledigen.“

„Wo gehst du hin?“

„Zum Vergnügungspark. Es gibt da etwas, was ich noch überprüfen muss.“ Der Vergnügungspark. Finnian hatte erzählt gehabt, dass die Menschen in Dark Creek Angst vor diesem Ort hatten. Er war kurz nach dem Massaker erbaut und wurde von den Zwillingsschwestern allein bewohnt. Was erhoffte sich Lewis davon, dorthin zu gehen? Mallory spürte, dass er ihr keine Antwort geben würde, wenn sie ihm diese Frage stellte und so sah sie ihm schweigend nach, wie er die Dachterrasse verließ. Eine Weile saß sie noch da und trank ihren Kaffee, dann stand sie ebenfalls auf und machte sich auf den Weg. Sie wollte endlich mit ihrer eigentlichen Arbeit beginnen und anfangen, nach ihrer Vergangenheit zu suchen. Je eher sie hier fertig wurde, desto besser. Dieser Ort wurde ihr immer seltsamer und der Blick dieses unheimlichen Mädchens schien sie immer noch zu verfolgen. Was zum Teufel war nur Annas Problem gewesen? Offenbar konnte sie Mallory nicht ausstehen, aber das war ihr im Grunde auch egal. Sie ließ sich von niemandem verjagen oder einschüchtern. Ihr Entschluss stand fest, dass sie erst wieder gehen würde, wenn sie wusste, wer sie war und was vor 17 Jahren mit ihr und ihrer Familie passierte. Und von einem kleinen Mädchen würde sie sich auch nicht davon abhalten lassen.

Sie ging auf ihr Zimmer, holte ihre Jacke und ihre Handtasche und machte sich auf dem Weg. Da sie sich nicht mehr wirklich erinnern konnte, wo das Stadtarchiv war, musste sie sich unterwegs durchfragen. Doch schon bald merkte sie, dass etwas anders war als sonst. Aus irgendeinem Grund gingen ihr die Leute aus dem Weg und taten so, als würden sie sie nicht sehen. Egal ob sie in den Laden ging oder Passanten fragte, alle behandelten sie wie Luft oder jemand mit Aussatz. Sie brauchte nicht wirklich eins und eins zusammenzählen um zu merken, was hier vor sich ging. Allem Anschein nach gingen ihr die Leute aus dem Weg, weil es mit den Zwillingsschwestern zu tun hatte. Anna wollte sie nicht in Dark Creek haben und das schien für die Bewohner hier Grund genug zu sein, Mallory von da an zu meiden. Aber warum bloß hatten die Schwestern so einen Einfluss auf die Leute und wieso hatten sie Angst vor zwei kleinen Mädchen? Mallory versuchte es wirklich in der ganzen Stadt und erhielt überall die gleiche Reaktion. Fast zwei Stunden versuchte sie, sich durchzufragen und jemanden zu finden, der sich an sie von damals erinnern konnte. Schließlich aber traf sich der Zufall, dass sie Ilias begegnete, der mit seinem Rad unterwegs war, um Lieferungen zu machen. Als er sie sah, wurde er wieder ganz rot im Gesicht und wich erst ihrem Blick aus. Zwar spielte er vor anderen den Coolen, aber er schien wohl ziemlich schüchtern zu werden, wenn er verliebt war. Das fand Mallory irgendwie süß an ihm. Er stieg von seinem Rad ab und fragte, wohin sie gehen wollte. „Ich wollte mich im Ort herumfragen, ob mich jemand von früher kennt und ich hab das Stadtarchiv nicht gefunden. Aber jeder geht mir aus dem Weg und behandelt mich wie Luft.“

„Das ist eigenartig“, murmelte er und seine Schüchternheit wich. Er selbst war erstaunt, denn seiner Meinung nach passte das eigentlich nicht zum Charakter der Leute. „Normalerweise sind sie alle sehr hilfsbereit und freundlich. Ist irgendetwas passiert?“ Mallory dachte an Anna, die sie aufgefordert hatte, sofort zu verschwinden. Sie sollte ihm besser davon erzählen. „Ich hab nach der Sache mit Finny gestern ein Mädchen getroffen. Ich glaube, das war die jüngere von den Zwillingsschwestern.“

„Du meinst Anna?“

„Ja. Sie hat mir gesagt, ich solle sofort von hier verschwinden und aufhören, mich in Dinge einzumischen, die mich nichts angehen. Außerdem sagte sie, dass Dark Creek nichts mit meiner Vergangenheit zu tun habe und ich hier deshalb nichts zu suchen hätte. Keine Ahnung, was ihr Problem ist.“ Auch Ilias konnte sich das nicht erklären und war verwundert über diese Worte. „Normalerweise ist Anna eher still und sagt so etwas nicht. Es scheint, als hätte sie etwas persönlich gegen dich und so wie ich das sehe, würde das dann wohl auch die Reaktion der Leute hier erklären. Josephine und Anna halten wie Pech und Schwefel zusammen und wenn Anna dich nicht leiden kann, dann hast du bei Josephine noch schlechtere Karten. Und da alle Leute Angst vor Josephine haben, wollen sie nicht auch noch ihren Unmut auf sich ziehen und gehen dir wahrscheinlich deshalb aus dem Weg.“

„Und was ist mit dir? Hast du keine Angst?“

„Nun ja, Josephine ist zwar unheimlich, aber Lewis war der Meinung, dass sie und Anna einfach nur missverstanden sind. Deshalb hab ich irgendwann angefangen, die beiden anders zu sehen und…“ Ilias brach mitten im Satz ab und blieb abrupt stehen, woraufhin auch Mallory das Gleiche tat. „Hey Ilias, was ist?“ Er sagte nichts, er war vollkommen erstarrt, seine Augen waren weit aufgerissen und seine Brust hob und senkte sich schneller. In diesem Moment sah er genauso aus wie Finnian am Vorabend, bevor er seinen Anfall hatte. Mallory stellte sich vor ihm hin und sah ihm in die Augen. „Was ist los mit dir? Sag doch was.“ Sie folgte seinem Blick und entdeckte eine gusseiserne Statue, die eine Frau zeigte, die mit einem Kind auf dem Arm auf einem Sockel saß. Wahrscheinlich ein Denkmal oder so. Ilias biss sich auf die Unterlippe und kniff die Augen zusammen. „Nichts… schon okay. Lass uns einfach weitergehen, okay?“ Er ergriff ihre Hand und zog sie weiter. Sein Griff war fest und schon schmerzhaft, aber Mallory sagte nichts und folgte ihm einfach. „Hast du etwa Angst vor dem Ding?“ Keine Antwort, nur beschämtes Schweigen. Anscheinend hatte sie ins Schwarze getroffen. „Sag bloß, dass du Angst vor Statuen hast.“

„Ich weiß auch nicht wieso, aber ich bekomme immer Atemprobleme und Herzrasen, wenn ich Statuen sehe und dann tun mir meine Gelenke entsetzlich weh.“ Er hat panische Angst, so wie ich wenn ich Blut sehe, dachte Mallory und sah ihn besorgt an. Diese Situation war ihm mehr als unangenehm und er versuchte, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen, aber da nahm sie seine Hand und hielt sie fest. „Keine Sorge. Gemeinsam schaffen wir das, okay?“ Beschämt darüber, dass er vor ihr Schwäche gezeigt hatte, färbten sich seine Wangen rot und er wich ihrem Blick aus. Sie machten einen großen Bogen um die Statue, wobei sie ihm beschwörend zusprach, er solle allein auf sie achten. Ihre Pflegemutter hatte das auch immer so gemacht. Als sie alle eine Fahrradtour gemacht hatten, war Edna schwer gestürzt und hatte sich dabei das Knie aufgeschlagen, weshalb es ziemlich schlimm geblutet hatte. Mallory hatte daraufhin fast eine Panikattacke gekriegt, wäre Ellen nicht da gewesen und hätte sie wieder beruhigt. Jedes Mal, wenn Mallory Blut oder Tote sah, egal ob im TV oder in der Realität, bekam sie Herzrasen und unkontrollierbare Angst. Inzwischen wusste sie, dass das mit ihrer Vergangenheit zu tun hatte und wahrscheinlich auch mit ihrer leiblichen Familie. Insgeheim war sie neugierig, weshalb Ilias so eine Angst vor Statuen hatte. Als sie ihn das fragte, war er sich selbst nicht ganz sicher. „Ich denke, es hängt mit meinen steifen Gelenken zusammen. Wenn ich mich längere Zeit nicht bewege, dann tut alles weh und ich kann kaum meine Arme heben. Ich denke, dass es daher kommt. Allein der Gedanke, dass ich mich irgendwann gar nicht mehr bewegen kann, macht mir Angst.“

„Hm, das kann ich gut verstehen. Aber keine Sorge: Ich werde deswegen nicht unbedingt schlechter von dir denken. Immerhin hat jeder seine Ängste. Weißt du, ich kann weder Blut noch Leichen sehen, egal ob es Tierkadaver sind oder so. Das macht es mir leider nicht gerade einfach, Krimis zu sehen.“ Sie mussten beide lachen und schließlich entspannte er sich deutlich. Als sie weit genug weg waren, ließ sie seine Hand wieder los und gemeinsam gingen sie weiter in Richtung Stadtarchiv. Auch hier wurde Mallory gemieden, aber Ilias konnte durch gezielte Fragen schließlich herausfinden, dass aus Platzgründen Akten vernichtet werden mussten, die älter als zehn Jahre alt waren. Das hieß also, dass es keine Unterlagen zu Mallory gab und sie auf diesem Weg nicht herausfinden konnte, was mit ihrer Familie passierte. Das war eine herbe Enttäuschung für sie und vollkommen demotiviert verließ sie das Archiv. Zuerst sah sie danach aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen, aber dann stampfte sie laut auf dem Boden auf und trat gegen die Wand. „Verdammte Scheiße!“ rief sie und trat erneut gegen die Ziegelwand. „Elender Scheißdreck.“ Sie setzte sich auf eine Bank nicht weit entfernt und atmete tief durch, damit sie sich wieder etwas beruhigen konnte. Ilias gesellte sich zu ihr, wobei er aussah, als hätte er Schuldgefühle. „Tut mir echt Leid, dass du umsonst hergekommen bist.“

„Du kannst ja nichts dafür. Es ist nur so, dass ich endlich wissen will, wer ich eigentlich bin und warum man nie meine Eltern finden konnte. Mit Sicherheit würden mir einige Leute etwas sagen können, aber die tun so, als wäre ich Luft. Und daran sind nur diese zwei Gruselschwestern Schuld.“

„Vielleicht wissen die ja etwas.“

„Wie denn? Als ich damals gefunden wurde, haben sie doch gar nicht gelebt.“ Aber Ilias zog ein Gesicht, als wüsste er etwas, das alles ändern könnte. Nur war er sich noch nicht ganz sicher, ob er es wirklich sagen sollte. Schließlich aber tat er es doch. „Anna und Josephine sind keine gewöhnlichen Mädchen. Als ich vor drei Jahren herkam, da sahen sie noch genauso aus wie heute. Als wären sie keinen Tag gealtert. Halt mich ruhig für bescheuert, aber ich glaube nicht, dass sie überhaupt normale Menschen sind.“

„Wie? Willst du etwa damit sagen, sie sind so etwas wie Geister?“ Unsicher zuckte Ilias mit den Achseln. „So würde ich das jetzt nicht nennen. Ich kann sie genauso anfassen wie sie mich und sie sind auch nicht wirklich Geister. Zumindest hab ich nie gesehen, wie sie durchsichtig wurden, durch Wände gingen oder durch die Gegend schwebten. Keine Ahnung, was sie eigentlich sind.“

„Was weißt du über die beiden?“

„So gut wie gar nichts, genauso wie jeder andere hier. Anna ist sehr introvertiert und zeigt eigentlich nie Emotionen, im Gegensatz zu Josephine. Die liebt ihre jüngere Schwester abgöttisch und würde alles für sie tun. Soweit ich weiß, hatten die beiden keine Eltern und Josephine ist sozusagen die Ersatzmutter für Anna. Jedenfalls haben die beiden eine viel engere Verbindung zueinander als jeder andere Mensch auf dieser Welt. Anna ist im Grunde ganz in Ordnung und ich mag sie, aber Josephine ist diejenige, vor der man eigentlich Angst haben sollte. Über sie kursieren ziemlich viele Gerüchte und unheimliche Geschichten.“

„Ich glaub, Finny hat mir schon mal die Story erzählt, dass Josephine einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat, woraufhin man ihr die Augen ausstach und sie lebendig einmauerte.“

„Das ist die wohl bekannteste Geschichte. Eine andere erzählt, dass Anna und Josephine Hexen sind und sie auf dem Scheiterhaufen ihre Seele für ewiges Leben gegeben haben. Die meisten Storys sind völlig hirnrissig, aber es lässt sich nun mal nicht abstreiten, dass diese beiden Schwestern nicht normal sind.“

„Jedenfalls schien es so, als wüsste Anna etwas über mich und über die Ereignisse von vor 17 Jahren. Und kaum, dass ich Fragen stelle, meidet mich plötzlich jeder hier und Anna verlangt, dass ich von hier verschwinde. Das ist irgendwie verdächtig, wenn du mich fragst. Ich sollte vielleicht mal zum Vergnügungspark und den beiden einen Besuch abstatten.“ Fassungslosigkeit spiegelte sich in Ilias’ Gesicht wider, als er das hörte. „In den Vergnügungspark? Obwohl dich die Schwestern loswerden wollen? Das ist verrückt, Mallory. Das ist glatter Selbstmord.“

„Ich gehe hier nicht eher weg, bis ich meine Antworten habe und ich lasse mich nicht von zwei kleinen Mädchen einschüchtern.“ Doch Ilias blieb skeptisch und ihm war anzusehen, dass er Angst um sie hatte. Aber Mallory wollte endlich Antworten haben und wenn diese Schwestern etwas wussten, dann sollten sie ihr das sagen. So schnell würde sie nicht von hier weggehen. „Wenn du wirklich hingehen willst, solltest du nicht alleine gehen. Was, wenn Josephine dich angreifen wird?“

„Die Kleine reicht mir nicht einmal zum Hals, erwürgen kann die mich schon mal nicht.“

„Ich meine es ernst!“ Der Himmel verdüsterte sich mit einem Male und der Wind nahm zu. Es sah aus, als würde es bald gewittern. Ilias’ Handy meldete sich und er bekam eine Nachricht, dass er noch ein paar Lieferungen machen musste. Also trennten sich ihre Wege und er bat sie noch, nicht gleich in den Vergnügungspark zu gehen, sondern erst einmal zu warten. Es war offensichtlich, dass er nicht wollte, dass sie alleine hing ging. Wahrscheinlich würde er sogar mitkommen, auch wenn er insgeheim selbst Angst vor dem Park hatte. Zuerst spielte Mallory tatsächlich mit dem Gedanken, gleich jetzt zu gehen, aber was war, wenn es tatsächlich gefährlich werden würde? Sie musste an die explodierte Straßenlaterne denken, als Anna sie angeschrien hatte. Was, wenn sie das wirklich gewesen war und sowohl sie als auch Josephine Kräfte besaßen, die man sich nicht erklären konnte? Mallory glaubte an so etwas eigentlich nicht, aber in der ganzen Stadt ging alles so merkwürdig zu, dass sie tatsächlich begann, solche Dinge in Betracht zu ziehen.

Der Wind nahm zu und sie beeilte sich, zur Pension zurückzukehren, bevor das Unwetter hereinbrach. Schnell eilte sie über die Straße und bog um die Ecke, wo sie Josephine sah, die einen schwarzen Sonnenschirm bei sich hatte. Dieses Mal war sie ohne Begleitung, oder zumindest fast ohne Begleitung. Eine schwarze Katze mit einer roten Schleife und einem goldenen Glöckchen folgte ihr. An ihrer linken Vorderpfote trug sie drei goldene kleine Ringe. Josephine stand mit dem Rücken zu Mallory und schien sie nicht zu bemerken. Stattdessen ging sie langsam die Straße entlang und sang ein Lied.
 

„Twinkle, twinkle, little star,

How I wonder what you are!

Up above the world so high,

Like a diamond in the sky!
 

When the blazing sun is gone,

When he nothing shines upon,

Then you show your little light,

Twinkle, twinkle, all the night.
 

Then the traveller in the dark,

Thanks you for your little spark,

He could not see which way to go,

If you did not twinkle so.
 

Twinkle, twinkle little star,

How I wonder what you are…”
 

Mallory kannte dieses Lied natürlich, aber es klang irgendwie unheimlich, als Josephine es sang. Und als sie der Melodie lauschte merkte sie, dass sie Kopfschmerzen bekam und ihr schlecht wurde. Sie musste kurz stehen bleiben und sich an der Häuserwand abstützen. Was war denn bloß mit ihr los? Ihr Kopf begann zu dröhnen und alles um sie herum schien sich zu drehen. Und das nur, weil Josephine dieses Kinderlied sang, welches sie schon oft gehört hatte? Irgendwie kam es ihr merkwürdig vertraut war, dieses Lied mit Josephines Stimme zu hören. Als hätte sie das schon mal erlebt, aber wieder vergessen. Plötzlich hörte das Mädchen zu singen auf und drehte sich um. Eigentlich konnte sie Mallory mit den Bandagen vor den Augen nicht sehen, trotzdem beschlich die 24-jährige das Gefühl, als würde die Kleine sie genauso anstarren wie Anna. Und das machte sie nervös. Ein Lächeln spielte sich auf ihre Lippen, aber es wirkte irgendwie verächtlich und falsch. „Du bist ja noch da. Und ich dachte schon, du wärst schon gegangen.“

„Ich gehe erst wieder, wenn ich weiß, wer ich bin und was damals mit meiner Familie passiert ist. Und von euch beiden lasse ich mich bestimmt nicht einschüchtern.“ Josephine begann amüsiert zu kichern, als sie das hörte und ging ein paar Schritte auf Mallory zu. Ihr Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen. „Du willst wissen, was damals passiert ist und bist deshalb hergekommen? Das ist ja wirklich zu witzig. Dabei hast du ja nicht mal die leiseste Ahnung, mit welchen Kräften du dich hier anlegst. Und an deiner Stelle wäre ich lieber vorsichtig. Es gibt Dinge, vor denen man besser Angst haben sollte!“ Eine leichte Vibration ging durch den Boden und erfasste auch die Häuser. Zuerst fürchtete Mallory, dass es ein Erdbeben sein könnte, da ertönte urplötzlich ein lauter Knall und sämtliche Fenster explodierten regelrecht. Sofort ging sie in Deckung und versuchte, ihren Kopf zu schützen. Glasscherben regneten wie kleine Diamanten vom Himmel und es gab ein helles Klirren, als sie zu Boden fielen. Was war das denn gewesen? Hatte Josephine das etwa getan? Entsetzt sah sie das kleine Mädchen an und dieses hämische Grinsen sagte mehr als tausend Worte. Das war ihr Werk gewesen! „Großer Gott…“, brachte Mallory fassungslos hervor und nahm langsam die Hände wieder runter. Josephine lachte verächtlich, als sie das hörte. „Gott? Gott existiert hier schon lange nicht mehr. Um genau zu sein, wollte er noch nie etwas von uns wissen! Und deshalb werde ich mir nehmen, was ich will und lasse mir das nicht von dir kaputt machen, Mallory!“ Ein weiterer Knall ertönte und kurz darauf wurde ein Wagen neben Josephine wie eine Coladose zusammengedrückt, sodass nur noch ein deformierter Blechhaufen übrig blieb. Mallory erkannte die Gefahr sofort und rannte davon. Hinter sich hört sie Josephines wahnsinniges Gelächter und hatte einfach nur Angst. In ihrem ganzen Leben hatte sie niemals an das Übernatürliche geglaubt. Soweit sie sich zurückerinnern konnte, hatte sie nie vor Monstern, Geistern oder Vampiren Angst gehabt. Selbst vor Spinnen, Ratten oder Insekten fürchtete sie sich nicht, aber das hier war eindeutig zu viel. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie sagen, dass Josephine das Auto und die Fenster zerstört hatte und das allein mit ihrer Willenskraft. Offenbar verfügte sie über Fähigkeiten, die über das Normalmenschliche hinausgingen und höchstwahrscheinlich war Anna auch ähnlich begabt. Dann war sie es gewesen, die die Laterne zerstört hatte.

Mallory lief so schnell sie konnte und rannte selbst dann noch, als sie Josephine schon gar nicht mehr hören konnte. Schnell bog sie um eine Ecke und stieß direkt mit Lewis zusammen, der offensichtlich gerade einen kleinen Spaziergang unternehmen wollte. Sie fiel nach hinten, doch er bekam sie noch rechtzeitig zu fassen, bevor sie stürzen konnte. „Hey Mallory, was ist denn los?“

„Wir müssen sofort weg hier!“ rief sie und wollte weiter rennen, aber er hielt sie fest. „Jetzt beruhige dich doch mal. Du bist ja ganz durcheinander. Was ist passiert?“ Doch sie war so durch den Wind, dass es für sie fast unmöglich war, zusammenhängende Sätze zu sprechen. Stattdessen gab sie hauptsächlich nur Gestammel von sich. Sie versuchte sich selbst zu beruhigen, aber als sie darüber sprach, was sie erlebt hatte, kamen unkontrolliert diese ganzen Emotionen wieder hoch und sie brachte kaum einen Satz zustande. „Da war gerade Josephine. Sie hat irgendetwas gemacht und dann sind sämtliche Fenster in die Luft geflogen und das Auto… das… das…“

Lewis hielt sie behutsam aber dennoch bestimmt fest und sah ihr tief in die Augen. „Ganz ruhig. Atme tief durch und versuch, dich zu sammeln.“ Diese unglaubliche Ruhe und Festigkeit, die Lewis ausstrahlte, schien tatsächlich zu bewirken, dass Mallorys Angst wich und ihr Atem ruhiger wurde. Schließlich, nachdem sie wieder die Kraft hatte, Worte zu fassen, senkte sie den Blick und ballte ihre Hände zu Fäusten. „Lewis, ich muss so schnell wie möglich von hier weg und Dark Creek verlassen.“ Als er das hörte, ließ er sie wieder los und betrachtete sie besorgt. Dann aber nickte er und sagte „Dann lass dich nicht aufhalten. Ich hoffe, du schaffst es.“ Sie dankte ihm und rannte los. Das, was sie gesehen hatte, konnte sie nicht glauben und sie hatte entsetzliche Angst vor Josephine und Anna. Diese beiden verfügten über Kräfte, die über ihr Fassungsvermögen ging und für sie stand fest, dass diese unheimlichen Zwillinge gefährlich waren. Sehr gefährlich sogar. Sie wollten sie nicht in Dark Creek haben und mit Sicherheit würden sie sogar noch weitergehen, wenn sie nicht ihren Willen bekommen würden. Also setzte sie sich in ihren Wagen und fuhr los. Sie ließ die Stadt hinter sich und fuhr direkt in den Wald, der Dark Creek wie einen Ring umschloss. Ganz egal ob sie herausfand, wer sie war und was mit ihrer Familie passiert war, sie würde dafür sicherlich nicht so leichtfertig ihr Leben aufs Spiel setzen. Dazu war es ihr zu kostbar. Als sie den Wald erreichte, drückte sie aufs Gaspedal und ihr war es auch egal, dass sie mindestens 30km/h zu schnell fuhr. Sobald sie diesen Wald hinter sich gelassen hatte, war sie aus diesem verfluchten Ort raus und endlich in Sicherheit. Um sich ein wenig dabei abzulenken, schaltete sie das Radio an, wo gerade „Hey There Delilah“ lief. Während sie fuhr, holte Mallory ihr Handy heraus und rief Ellen an. Sie musste unbedingt mit ihr sprechen und ihre Stimme hören. „Na komm schon, geh ran. Geh bitte ran!“ Aber es ging bloß die Mailbox ran. Das Gleiche verhielt sich auch bei Richard. Verdammt, warum zum Teufel mussten sie ausgerechnet dann verhindert sein, wenn man sie am Meisten brauchte? Selbst Edna konnte sie nicht erreichen und so legte sie das Handy beiseite und fuhr weiter. Etwas später sah sie das Ende des Waldes und Licht strömte ihr entgegen. Mallory begann zu lachen vor Erleichterung, dann aber kurz darauf erfüllte Entsetzen ihr Gesicht, als sie sich nicht an der Tankstelle wieder fand, die nicht weit vom Wald entfernt gewesen war, sondern in der Ferne plötzlich Dark Creek sah. Dieses Mal aber kam sie nicht vom Vergnügungspark her, sondern aus der anderen Richtung, wo die Kirche stand. Fassungslos sah sie das und konnte es nicht verstehen. Wieso war sie plötzlich wieder hier? Was hatte das zu bedeuten? Ihr erleichtertes Lachen zeugte nun von abgrundtiefer Verzweiflung und Hilflosigkeit, als ihr klar wurde, was das bedeutete. Es war genauso wie Lewis es gesagt hatte. Wenn sie Dark Creek in eine Richtung des Waldes verließ, würde sie zur anderen zurückkehren, als würde sie ein Mal um eine sehr kleine Welt reisen.

Sofort riss Mallory das Steuer herum und fuhr zurück. Sie wollte nicht glauben, dass sie hier festsaß. Das konnte unmöglich sein. Doch egal wie oft sie auch versuchte, Dark Creek zu verlassen, sie kehrte immer wieder zurück. Schließlich bremste sie den Wagen, vergrub das Gesicht in den Händen und weinte.



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