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Die Nelke

von

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Bitte

Wie jeden Tag war Maria Mair am Beten, als die Kirchen ihre Glocke zur zwölften Stunde läuten ließ. Ihr sehnlichster Wunsch war noch nicht in Erfüllung gegangen, ein Kind zu haben. Sie glaubte fest an Gott und sandte ihm tagtäglich ihre Gebete, in der Hoffnung, er würde ihr nur diesen einen Wunsch gewähren.

„Herrin!“, riefen zwei ihr sehr vertraute Stimmen synchron.

Sie erhob sich von ihrer knienden Pose vor dem Altar der kleinen Kapelle, die sie auf dem Anwesen von ihr und ihrem Mann, Marcel Mair, errichten hatte lassen, und wandte sich lächelnd an ihre zwei liebsten Dienerinnen zu.

„Anna! Bella!“, rief sie freudig aus und umarmte die beiden ihr entgegenkommenden Mädchen herzlich. „Was ist denn los?“

„Der Herr will Euch sehen, Maria!“, antwortete Anna, ein Mädchen mit sehr hellen, beinahe weißen Haaren.

„Er hat gesagt, dass es dringend sei!“, fügte Bella hinzu. Sie und Anna ähnelten sich bis auf das letzte Haar, sie waren eineiige Zwillinge. Nur Maria selbst konnte die beiden auseinanderhalten, liebevoll nannte sie die beiden ihre eigenen Töchter, auch wenn dem nicht so war.

„Okay, ich komme.“ Bildeten es sich die Schwestern nur ein, oder war ihr Lächeln ein wenig verträumt geworden, als ihr Ehemann ins Spiel kam? Sie fingen an zu grinsen. „Was ist jetzt schon wieder los?“

„Ach...“, begann Bella. Beide konnten ihr Grinsen nicht verkneifen.

„Es ist nur so schön zu sehen...“, fuhr Anna fort. Das Grinsen wurde eine Spur tiefer.

„... wie verliebt du bist!“ Sie lachten und liefen schnell weg, ehe Maria ihnen etwas erwidern konnte. Kichernd ließen sie ihre überhitzte und sehr rote Herrin zurück.
 

Eines Nachts träumte Maria einen wirklich schönen Traum. Sie saß in diesem Traum auf der Bank neben dem Brunnen in der Nähe der Kapelle und wiegte ein kleines, zartes Baby in ihren Armen. Als sie dann, nachdem sie eine Weile diesen Moment auskosten durfte, eine Stimme vernahm, sagte sie sich im Nachhinein, dass es Gottes Stimme gewesen wäre.

Die Stimme sagte ihr, dass sie einen Sohn gebären würde, aber es war kein einfacher Sohn. Ihr Sohn, so sagte es die Stimme, würde alles bekommen, was er sich wünschte.
 

„Marcel! Marcel!“ Sie rüttelte heftigst an ihrem noch schlafenden Ehemann. Die ersten Sonnenstrahlen des Tages und die frohe Botschaft verweigerten ihr jegliche weitere Sekunde Schlaf. „Marcel!“

„Hmm...“ Er drehte sich, immer noch im Schlaf, zur Seite. Sie seufzte, konnte sich dann aber auch nicht mehr länger zurückhalten und warten bis er endlich wach sein würde. Dafür fehlte ihr die Geduld, sie platzte fast vor Freude.

„Ich bekomme einen Sohn!“, rief sie glücklich aus, warf sich ihrem Ehemann um den Hals und atmete seinen Geruch tief ein.

Sofort war nun auch Marcel, der sich so sehnlich wie sie ein Kind gewünscht hatte, aber nicht so gläubig wie sie war, hellwach. „Wirklich?“ Seine Augen glänzten ein wenig feucht, wahrscheinlich kamen gleich Freudentränensturzbäche.

„Ja!“ Bei ihr waren die Dämme schon gebrochen.

Lachend lagen sie sich in den Armen, auch wenn Marcel nach ihrer Erzählung des Traumes ein wenig skeptisch war, doch als dann wenige Wochen später die Diagnose vom Arzt kam, waren auch seine Bedenken über Bord und was blieb, war Freude, Glück.
 

„Sie sind jeden Tag hier und waschen sich am Teich, nicht wahr?“, fragte Bella ihre Herrin, während sie deren Haare bürstete. Diese lächelte und wiegte den kleinen Jungen in ihren Armen sanft.

„Hier ist der Ort, wo ich ihn zum ersten Mal gesehen habe“, lächelte sie.

„Wie schön, dass Sie jetzt endlich ein Kind haben!“ Anna war wieder von ihrem Botengang zu Maria zurückgekommen. Sie hatte weiches und fluffig süßes Brot für den Kleinen geholt. Wie alle in seiner Umgebung erfüllte auch sie seine Wünsche, auch wenn er sie nicht einmal klar sagen oder definieren musste. Es war wirklich verwunderlich. Die Ärzte erklärten es sich mit sogenannten „Pheremonen“, die er ständig auszuströmen schien und den anderen simpel und klar seine Wünsche vermittelte, auch wenn sie sich dessen oft nicht bewusst waren, und sie sie ausführen ließen. Vielleicht lag es aber auch ein wenig an der sich entwickelnden, offenen Persönlichkeit des Kleinen, in der jeder wie in einem Buch oder Bild lesen konnte. Wegen seiner Liebenswürdigkeit erfüllten sie ihm dann die Wünsche, doch welche Theorie stimmte, wusste niemand.

„Ja, aber ihr beiden seid auch meine Lieben!“, lachte sie. Seit das Kind auf der Welt war, wurde ihr Strahlen immer heller, aber es gab einen Schatten, der dieses Licht trüben wollte.

Der alte Koch hatte bemerkt, wie der Knabe alle dazu brachte, nach seiner Pfeife zu tanzen und wollte diese Eigenschaft für sich haben.

Als er einmal Maria mit dem Jungen im Schoß, ein Jahr war nun seit der Geburt vergangen, im Garten sitzen saß, nutzte er die Gelegenheit. Er nahm vorsichtig, ohne einen der beiden zu wecken, den Jungen und verschwand dann durch den direkt angrenzenden Wald des Anwesens. Dort ließ er dann eine Amme aus dem naheliegendem Dorf sich um den Jungen kümmern, darauf wartend, aus seiner Kraft einen Nutzen für sich zu ziehen.

Im Anwesen jedoch herrschte schon bald große Aufregung.

„Julian? Julian!?“, rief Maria erschrocken aus, als sie aus ihrem Nickerchen erwachte und mit Grauen feststellten musste, dass ihr geliebtes Kind fort war. Marcel, sie selbst und die gesamte Dienerschaft suchten verzweifelt das komplette Anwesen ab, doch sie fanden ihn nicht. Sie fanden den kleinen Jungen einfach nicht.

Sie versammelten sich alle am Abend des selben Tages in der Haupthalle.

„Niemand hat ihn gesehen? Wirklich niemand?“, weinte Maria.

„Wir werden ihn noch finden, keine Sorge“, versuchten Bella und Anna ihre Herrin zu beschwichtigen.

Da sah der alte Koch seine Chance, die Wahrscheinlichkeit, als Täter infrage zu kommen, zu vernichten. „Wo denn? Wir haben schon überall gesucht! Er wurde bestimmt schon von den Tieren im Wald gefressen. Und wessen Schuld ist das? Die der Herrin!“, rief er lautstark klagend aus.

„Nein, es ist doch nicht-“, wollten die Zwillinge ihre Herrin beschützen, als der Herr des Anwesens, entgegen seiner Sanftheit, seine Frau am Arm packte und zornig ansah.

„Stimmt. Es ist deine Schuld! Du hast nicht gut genug aufgepasst, wie konntest du nur?!“, rief er mit Wut verschleiertem Blick. Er blickte sie hasserfüllt an, von nichts als von dem Gedanken geleitet, einen Schuldigen für das Verschwinden seines geliebten Sohnes zu finden. Er vergaß sogar, dass sie doch auch litt. „Führt sie in den tiefsten und dunkelsten Raum, in den kein Licht hinein dringt. Lasst sie dort ohne Essen und Trinken vergehen!“ Er wandte sich von ihr ab, schritt weg, fort von der scheinbar Schuldigen.

Kaum jemand wagte es, sich dem Befehl zu widersetzen. Nur Anna und Bella strampelten und wehrten unter dem Griff der anderer Diener sich verzweifelt dagegen, dass ihre „Mutter“, abgeführt wurde. „Nein, sie war es nicht! Nicht 'Mutter'!“, schluchzten sie und schlugen die Diener, die viel zu stark für sie waren. Mit schmerzverzerrten Gesichtern verfolgten sie das grausame Szenario.

Von beiden Seiten wurde Maria von Dienern flankiert, sie drehte sich ein letztes Mal lächelnd zu ihren Herzblättern um. Sie lächelte.

„Danke, 'Töchter'.“

Entwickelnde Zuneigung

 „Und du möchtest wirklich kündigen?“, fragte Lucian seinen alten Koch. Sie befanden sich im Arbeitszimmer des Hausherren, es war schon Nachmittag.

„Ja, ich denke, meine Zeit ist abgelaufen“, sagte der Alte daraufhin.

„Na gut, wenn du es dir so wünscht. Viel Glück auf deinen weiteren Wegen“, wünschte Lucian ihm noch, ehe er aus dem Zimmer schritt.

Den richtigen Grund der Kündigung kannte sein ehemaliger Herr natürlich nicht. Er hatte befürchtet, dass etwas sein über die Jahre wohlbehütetes Geheimnis, das gestohlene Kind, durch eben diesen Knaben offen gelegt werden konnte. Vielleicht wünschte er sich einmal nur etwas Falsches und alles war hinüber. Um dem zuvorzukommen hatte der Koch seine Stelle gekündigt. Nun machte er sich auf dem Weg zu der Hütte im Wald, wo er den Jungen die ganzen Jahre über versteckt hatte.

„Julian, komm her!“, rief er, nachdem er die Wohnstätte des Jungens betreten hatte.

„Ja, was gibt es, Thomas?“, schallte es sogleich von oben, wo der Junge sich normalerweise aufhielt. Er kam schnell heruntergelaufen, als er seinen Ziehvater gehört hatte. Er war zu einem stattlichem jungen Mann herangewachsen, sein hellbraunes Haar schnitt er sich regelmäßig unordentlich kurz. Er trug die Klamotten, die der Koch Thomas ihm immer mitgebracht hatten. Seine dunkelblauen Augen schauten immer neugierig durch die Welt, und das seit nun fast 15 Jahren im Wald.

„Wir ziehen weg.“

„Was? Wohin denn?“ Julian staunte nicht schlecht, als er diese Überraschung hörte.

„In die weite Welt. Pack deine Sachen, ich will heute noch los.“ Thomas machte es sich auf dem Stuhl, der im Flur stand, bequem.

„Ich bin sofort wieder da!“ Aufgeregt lief der Knabe wieder nach oben. Er würde die Welt endlich sehen! Hastig hatte er all seine Sachen gepackt. Es waren nicht viele, aber alles, was er sich je gewünscht hatte. Eine Schere zum Haareschneiden, Schokolade und andere Süßigkeiten, ein kleines Rehkuscheltier – damals wollte er unbedingt eine Rehnachbildung haben – und noch andere Sachen, die ihm die Amme und Thomas ihm mitgebracht hatten.

Aber das wichtigste trug er immer direkt bei sich. Eine Kette, von der er nicht wusste, von wem sie war, doch niemand, der es je versucht hatte, konnte sie ihm abnehmen. Er hütete sie selbst im Schlaf wie seinen Augapfel.

Als er alles zusammen hatte, sah er sich noch einmal in seinem Zimmer um. Es war ein kleines, sauber aufgeräumtes Zimmer mit eher wenigen Sachen. Er verbrachte oft Zeit draußen und genoß die warmen Sonnenstrahlen oder beobachtete die sprießende Natur. Im Winter zog er es aber auch vor, die Nächte drinnen zu verbringen.

„Wir können los!“ Er war schnell wieder nach unten gelaufen, hatte seine Schuhe angezogen und seine Jacke vom Haken genommen. Nun stand er erwartungsvoll blickend vor der Tür, darauf wartend, dass Thomas die Tür öffnen würde und ihn mit in die Außenwelt nahm.
 

Viel von der erhofften Welt bekam er leider nicht zu sehen, da sein Ziehvater andere Pläne mit ihm hatte. Sie durchschritten den Wald und gingen danach zu Fuß durch Einöde. Dank einer Karte erreichte der Koch und Julian ungesehen und sicher den nächstgelegenen Ort. Es war das Dorf ganz in der Nähe des Anwesens. Dort angekommen quartierten die beiden sich in ein Gasthaus ein, da der Abend schon dämmerte.

„Thomas? Wohin gehen wir?“, fragte Julian Thomas, als die Sterne schon lange hell am Firmament standen und der Mond über den Himmel wachte. Sie lagen in ihren Betten, aber Julian konnte einfach nicht einschlafen, er war viel zu aufgeregt auf den morgigen Tag.

„Irgendwohin weit weg“, murmelte der Befragte. Dann drehte er sich im Bett um und schlief weiter.

Julian seufzte und bemühte sich ebenfalls, einzuschlafen.
 

Der nächste Tag dämmerte schon früh. Er lockte den erkundungslustigen Jungen aus dem Bett, während der herrliche Morgen beim ehemaligem Koch eher für müdes Grummeln sorgte.

„Los, wir müssen doch weiter“, rief Julian voller Energie. Mürrisch erhob sich der alte Mann sogleich, von seiner Ausstrahlung gezwungen, und sie gingen schon zeitig weiter. Lange liefen sie eine Landstraße entlang, die vom Dorf und auch immer weiter von dem Anwesen der Mairs weg führte.

Summend beschritt der weltfremde Spross die Welt, die sich plötzlich um ein gutes Stück vergrößert hatte. Er summte unbewusst das Lied, das seine Mutter Maria ihm immer vor gesummt hatte, wenn sie fröhlich war, und sie war das Jahr nach seiner Geburt sehr oft glücklich und von Freude erfüllt.

Viel Gepäck hatten die Wanderer nicht dabei. Scheinbar endlos lange liefen sie den Weg entlang, machten ab und zu Essenspausen, schwiegen aber sonst. Zufrieden betrachtete Julian immer wieder die vor sich entfaltende Karte, sah die für normale Leute sich kaum verändernde Landschaft wie einen neu gefundenen Schatz an.

Am Abend des ersten Tages kamen sie wieder in ein Dorf, aber diesmal war es größer als das vorherige. Thomas kaufte sich und Julian Fahrkarten und sie fuhren in ein noch weiter weg gelegenes Dorf, das man wohl schon als Stadt bezeichnen kann. Rasend schnell wechselten die Landschaften eines Landes in der Dämmerung und in der Nacht dahin, zogen mit dem Fortschreiten des Zuges davon. Julian klebte förmlich an der Fensterscheibe des Zuges und konnte sich kaum an den dahinschwindenden Landschaften sattsehen.

Aber auch seine Energie war nicht unermüdlich. Immer noch an das kühle Glas angelehnt schlief er schon bald wieder ein, erholte seine Reserven, um sie für den kommenden Tag aufwenden zu können. Im Gegensatz zu ihm blieb Thomas mit seinem energiesparenderem Verhalten noch bis in die Nacht wach. Als der Junge eingeschlafen war, bereitete er den Plan für die nächsten Tage vor.
 

„So, Junge. Wir sind jetzt da“, sagte Thomas, nachdem er sich einmal gestreckt hatte. Sie waren aus dem Zug gestiegen, der sie bis hierher gebracht hatte. Mit glänzenden Augen blickte Julian verzückt um sich. Sie befanden sich an einem modern wirkendem Bahnhof in einer Stadt. „Wir gehen gleich zum Immobilienmakler.“

Julian nickte eifrig, selbst wenn er kein Wort verstand, es klang nur so unfassbar aufregend.

„Und du wünschst dir bestimmt ein großes Haus mit Garten und so, nicht wahr?“, fragte Thomas mit einem aufgesetztem Lächeln.

Da legte der andere den Kopf schief. Das hatte er sich nie gewünscht...

„Du wünschst es dir, nicht wahr?“ Das Lächeln bekam einen gruseligen Unterton. Jetzt nickte er noch eifriger als normalerweise, etwas verschreckt von diesem Lächeln. Dieses entspannte sich dann wieder. Geschickt manövrierte Thomas ihn und Julian aus dem Gedränge der Menschenmassen hinaus.

Julians Reize wurden regelrecht geflutet, was wohl zu Thomas' Glück beitrug, denn so konnte der Junge sich nicht auf etwas wirklich konzentrieren und es sich wünschen, sodass Thomas es ihm kaufen musste.

Nachdem der Ältere der beiden sich an einem Stadtplan orientiert hatte, fand er zügig einen Immobilienmakler in der Nähe. Sie betraten das große Glashaus, nachdem er Julian noch einmal den Wunsch eingebläut hatte.

„Willkommen! Was kann ich für sie tun?“, fragte die Dame am Empfang die beiden, als sie sich ihr näherten. „Ein großes Haus mit Garten und allem, was dazu gehört? Gerne!“, fügte sie sogleich hinzu. Es war für Außenstehende unerklärlich, weshalb sie es sofort schon wusste, für Julian aber normal und Thomas hatte sich auch schon daran gewöhnt, auch wenn es ihm immer wieder die Sprache verschlug. „Folgen Sie mir bitte, ich werde sie in die Abteilung leiten.“

Da fiel Julians Blick auf die kleine Glasschale mit Bonbons. Neugierig sah er sie an. Er starrte regelrecht zu ihnen, fragte sich, ob er wohl einen haben dürfte...

„Du darfst dir ruhig einen nehmen“, lächelte die Dame daraufhin sofort, obwohl sie ihm den Rücken zugedreht hatte. Sie und Thomas waren schon fast hinter dem Empfangsschalter zu den verschiedenen Abteilungen verschwunden. Hastig nahm Julian sich eins und folgte den beiden dann.

Die Dame verabschiedete sich wieder, nachdem sie die beiden Kunden an den Makler abgegeben hatte.

„Sie wünschen also ein großes Haus mit Garten?“, fragte der Makler in seinem weißen, gepflegt aussehendem Anzug.

„Ja.“ Sie hatten auf den Stühlen vor dem Tisch Platz genommen. Julian entrollte das Bonbon aus dem weißem Papier, es war rot und schmeckte nach süßen Himbeeren mit viel Zucker.

„Da hätte ich ein wunderschönes Angebot für sie! Ein großes, mit Holz verkleidetes, eben erst saniertes Haus mit einem großem Garten und Pool“, fuhr der Makler fort. Er legte ihnen eine Bilderserie eines wirklichen hübschen, imposantem Haus vor. Es war ein österreichisches Landhaus, gebaut aus einem braunem Holz, welches dem Braun von Julians Haaren glich. „Es hat 10 Zimmer, einen großen Pool und einen wirklich großen Garten.“ Julian entdeckte auf den Bildern, dass es auch eine Terasse hatte. Er war sofort begeistert und wünschte sich das Haus wirklich sehr.

„Das ist wirklich hübsch. Wie viel kostet es?“

„850.000 Euro.“

Thomas hatte diese Antwort schon erwartet. Er verspürte den starken Drang, das Haus zu haben, weshalb er vermutete, dass Julian seine Pheromone oder was auch immer im Spiel hatte. „Das ist sehr bedauerlich, wir haben nur 500.000.“

Direkt nachdem Julian die Zahl gehört hatte, war er niedergeschlagen. Wenn es doch nur 500.000 kosten würde, dann...

„Ach, ich denke ich kann etwas beim Verkäufer machen, dass der Preis gesenkt wird.“

Julians Blick hellte sich merklich auf.

„Das wäre sehr freundlich von Ihnen.“ Zufrieden lächelte Thomas und die beiden Erwachsenen beglichen den Vertrag mit einem Händedruck.

„Gerne doch.“ Der Makler lächelte, auch wenn er nicht wusste, wieso er den Preis so drastisch gesenkt hatte. Das war mehr als kontraproduktiv, was sollte er nur dem Verkäufer sagen?

„Könnten wir es jetzt direkt mit dem Verkäufer regeln? Wir haben es eilig, wissen Sie.“

Der Gedanke daran, sofort in dieses Haus zu ziehen, gefiel Julian.

„Aber gerne, kommen Sie.“ Mit einer Geste führte er seine Kunden durch das Glashaus nach draußen, nachdem er mit dem Verkäufer telefoniert hatte. Dieser kam dann einige Zeit später zu dem Landhaus, zu dem die drei schon vorgefahren sind.

Der Noch-Besitzer des Hauses war ein älterer Herr, der in das Altenheim ziehen würde und das Haus nicht mehr benötigte.

„Guten Tag. Sie wollen das Haus kaufen?“, fragte er die beiden sofort. Er schüttelte ihre Hände mit erstaunlich starkem Druck.

„Guten Tag. Es ist mir ein wenig peinlich, aber könnten Sie den Preis auf 500.000 mit Möbeln senken?“, fragte Thomas mit einem verlegenem Lächeln.

Erwartungsvoll sah Julian ihn an.

„Sicher, ich brauch es ja sowieso nicht mehr“, lächelte der Verkäufer. Es war wirklich verwunderlich, wie Julian alle dazu brachte, seine Wünsche zu erfüllen, ob er selbst es nun wollte oder nicht. Die Erwachsenen klärten in einiger Distanz zu Julian die geschäftlichen Sachen. Angeregt diskutierten sie miteinander, während Julian sich auf die Wiese, die das Haus umgab, setzte und die Umgebung betrachtete.

Das Haus lag auf einem sanft ansteigendem Hügel, man hatte eine wunderbare Aussicht auf das untenliegende Tal und auf den Wald, der hier wie die Wiesen allgegenwärtig war. Es erinnerte ihn ein wenig an etwas, woran er sich nicht mehr erinnerte.

Das machte ihn stutzig. Grübelnd vertiefte er seinen Blick auf das grüne Gras, versuchte aus ihm Erinnerungen an vergessene Tage heraufzubeschwören.

Da fiel Thomas wieder Julian ein, dem er das alles ja zu verdanken hatte. Er unterbrach kurz die Diskussion mit den anderen beiden und näherte sich Julian.

„Hey, Junge. Es ist nicht so schön, alleine zu sein, nicht wahr?“, fragte er mit falscher Einfühlsamkeit.

Der Angesprochene schüttelte den Kopf.

„Und langweilig ist dir sicherlich auch?“

Diesmal nickte er.

„Willst du nicht mal nach unten in das Dorf im Tal, vielleicht findest du dort ja deine Traumfrau“, zwinkerte Thomas, hob den Jungen an seinem rechtem Arm hoch und stieß ihn sachte hinunter. Er winkte ihm noch zum Abschied zu.

Julian winkte zurück und machte sich dann an den Abstieg, eine leise Hoffnung wurde in ihm geweckt.
 

Das Dorf war ein ruhiges Örtchen. Altertümlich Aussehendes reihte sich an moderne Haarsalons, überall herrschte gemächliche Betriebsamkeit. Staunend ging Julian durch die Stadt, erfreute sich an den vielen, ihm nicht bekannten Sachen.

Als ein händchenhaltendes Pärchen an ihm vorbeiging, erinnerte er sich wieder, weshalb er hergekommen war. Eine Weile versuchte er, sich auf die Mädchen in seiner Nähe zu konzentrieren, aber sein Blick schweifte immer wieder zu den für ihn manchmal recht wunderlichen Sachen im Dorf um. Er konnte sich wirklich sehr schnell für Dinge begeistern, und das zeigte sich jetzt besonders deutlich.

Während er durch die Straßen und Gassen bummelte, fielen ihm immer wieder bestimmte Dinge auf, die seine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Mal waren es kleine Brunnen am Straßenrand, dann wieder das Handarbeitsgeschäft im Herzen des Ortes. Dann waren es die bunten Vögel der Zoohandlung, danach die Verzierungen an einer vorbeifahrenden Kutsche. Die schönen Pferde auf den Bildern, das Gebäck der Bäckereien.

Er schlenderte nun schon eine Weile durch das Dorf und hatte immer noch nicht alles gesehen. Er war nun am anderen Ende angekommen, doch es war noch nicht zu Ende. Er ging aus dem Ort hinaus, weil er einer Landstraße folgte. Er fragte sich, wohin sie führte. Ob sie ihn wohl zu besagter „Traumfrau“ führte? Da fühlte er es wieder. Diese leise Hoffnung. Er hatte noch nie zuvor mit Gleichaltrigen geredet, geschweige denn welche gesehen. Würde er wissen, wie er sich benehmen sollte? Nervosität mischte sich in anfängliche Freude, doch dann beschloss er, es einfach passieren zu lassen.

Er summte ein Lied.

Die Landstraße verlief lange nur geradeaus, als sie dann, vollkommen unerwartet, eine Abzweigung aufwies. Diese war jedoch nicht von demselben hellen Braun wie die eigentliche Straße, sondern viel, viel dunkler und unebener. Julian sah sich kurz nach hinten um, noch konnte er die Umrisse des Dorfes sehen. Es war Nachmittag, es dürfte also wohl nicht schaden, wenn er kurz...

Gedacht, getan. Frohen Mutes betrat er die dunkle Abzweigung des Hauptweges, die in einem Wald verschwand. Der Wald wuchs auf dem Anstieg zum Berg. An einigen Stellen wirkte es nicht so, als ob da viele Bäume dicht an dicht wachsen würden, vielmehr schien es, als wären hier und da vereinzelte Lichtungen verteilt. Der Wald bestand größtenteils aus Nadelbäumen, aber am unterem Saum konnte Julian auch ein paar Laubbäume entdecken.

Er fragte sich, was ihn wohl in diesem Wald erwartete. Er konnte sich kaum noch zusammenhalten, so sehr wollte er loslaufen und unter den Dächern der Bäume verschwinden. Als ihm das in den Sinn kam, dachte er wieder nicht lange nach. Schnell hatte er sich seiner Schuhe und Socken entledigt, die feuchte Erde unter seinen Füßen war angenehm kühl, und lief, rannte. Er spürte den Wind in seinen Haaren, seiner Kleidung, an seinem Gesicht.

Laufend hatte er schnell die Distanz zwischen ihm und dem Ort mit den vielen Bäumen verringert, als er jauchzend auch schon regelrecht in den Wald sprang. Er lief immer weiter, spürte die Nadeln unter seinen Füßen und rannte. Er war von Lebensfreude erfüllt, wie schon seit langem nicht mehr. Zufrieden ließ er sich, nachdem er wahrscheinlich das Herz des Waldes erreicht hatte, auf weichen Grasboden sinken. Genüsslich atmete er die frische Luft ein, der Wind blies ihm ins Gesicht, streichelte seine Haut. Die Vögel zwitscherten.

Da hörte er etwas, was er noch nie in einem Wald gehört hatte.

Das Kratzen von Bleistift auf eine Leinwand.

Irritiert setzte Julian sich wieder aufrecht hin, als er tatsächlich etwas Fremdartiges erblickte, was er noch nie in einem Wald gesehen hatte.

Die Welt, die sich vor dem Rücken eines jungen Mannes entfaltete, war unbeschreiblich. Mit kraftvollen Strichen zog der Künstler seine Linien auf den weißen Untergrund. Obwohl es nur simple Linien, nicht viel mehr als ein paar vielleicht zusammenhanglose Striche auf Weiß waren, konnte Julian die Kraft hinter jedem einzelnen spüren. Die Energie. Die Leidenschaft, die von dem Maler ausging.

„Wow...“, brachte er atemlos hervor, ergriffen von der sich entwickelnden Welt aus schwarzen Linien.

Der Zeichner schreckte aus seiner Versunkenheit hoch. Ertappt drehte er sich zu der fremden Stimme um und blickte in das strahlende Gesicht eines Jungens, der kaum älter als 15 sein konnte. Die Augen des Unbekannten funkelten leuchtend den Meister und sein Werk an. Mit hopsenden Schritten kam er näher, woraufhin der unbekannte Zeichner sich in die Büsche schlagen wollte, es aber nach kurzem Überlegen unterließ.

„Das Bild... ist... tooll!“, rief Julian mit glitzernden Augen und sah zu dem größerem Zeichner hinauf. Dieser war überrumpelt, peinlich berührt und hatte keine Ahnung, wie man auf so etwas reagieren sollte. Kurzum gesagt, er war nicht für Situationen wie diese geschaffen.

Julian hingegen ging in seiner erst kürzlich aufgeflammten Leidenschaft auf. Mit leuchtenden Augen wandte er sich – sehr zum Glück des Unbekannten – von dem Künstler ab und betrachtete verträumt das Bild. Es war unfertig, so viel war ihm auch klar, aber dennoch liebte er es jetzt schon innig. Er wusste nicht wieso, es war einfach so. Seine Hand schickte sich an, die feinen Linien zu berühren, ihren Verlauf zu verfolgen, aber er hielt einen minimalen Abstand. Lächelnd ging er mit seinen Fingern die Linien nach, beginnend irgendwo in der Mitte und endend, als die eine Linie zu Ende ging.

Dann erwachte er aus seinem beinahe schlafwandlerisch verträumtem Verhalten.

„Oh, entschuldige bitte!“, rief er erschrocken aus und sprang ruckartig nach hinten zurück. Verlegen kratzte er sich am Hinterkopf. „Entschuldige nochmals. Ich war nur... nur so...“ Ihm fehlten die Worte. So etwas wie eben hatte er noch nie in seinem Leben zuvor gespürt. Es war aus ihm herausgesprudelt, aber was es war, davon hatte er keine Ahnung. „Ähm... Würdest du... Vielleicht...“, druckste herum. In seinen Gedanken hatte sich schon lange der Wunsch gebildet, der den Zeichner erreichen sollte.

Und auch erreicht hatte.

Zögerlich nahm er wieder den Bleistift, den er vor Schreck auf den Boden fallen gelassen hatte, und setzte an der unvollendeten Linie, die Julian eben verfolgt hatte, wieder an. Während des ganzen Vorgangs hatte Julian den wahrscheinlich älteren Jungen nachdenklich betrachtet.

Dieser kam langsam wieder in Fahrt. Die erst zaghaften, gar zögerlichen Linien gewannen an Schwung und Kraft. Das Bild, die sich entfaltende Welt, breitete sich weiter vor den zwei Beobachtern aus. Es entstanden reißende Bäche, dahinplätschernde Wasserfälle mit geheimnisvollen Blüten und Pflanzen, Wälder und Häuser.

Bewundernd beobachtete Julian den Fremden, während dieser sein Bild vollendete. Wer war er? Wie er wohl hieß? All das waren Fragen, auf die er sich eine Antwort wünschte.

Der Stift hielt mitten in der Bewegung inne. Die hellgrünen Augen des Fremden, dessen Grün beinahe türkisfarben wirkte, schwenkten zu ihm hinüber. Sein Mund öffnete sich, doch dann schloss er sich wieder. Er schien zu zögern. Irgendetwas hielt ihn von dem Verlangen ab, einem Fremden seinen Namen zu verraten. Wieso verspürte er auch plötzlich dieses Verlangen?

Julian sah ihn fragend an. Es war merkwürdig. „Habe ich etwas im Gesicht?“, versuchte er, das Schweigen zu brechen. Der Angesprochene verneinte hastig mit einem Kopfschütteln.

Wie gerne er doch mal seine Stimme hören wollte!

„Ich bin Liang Shen.“ Die Worte waren einfach aus dem Mund des bis eben stummen Künstlers gefallen, als das Verlangen in ihm weiter gewachsen war. Durchdringend blickte er den anderen an.

„Äh, ich heiße Julian“, erwiderte Julian peinlich berührt. Es war ihm unangenehm, er wünschte sich sehnlichst, dass Liang den Blick von ihm nehmen würde!

Was dieser dann auch im nächsten Moment tat. Er war sichtlich verwirrt. Er wusste wirklich nicht, wie man mit einem Jungen wie Julian umgehen sollte. So entschloss er sich, den Jungen erst einmal zu ignorieren.

Das passte dem Jüngeren auch gerade sehr gut, denn er musste erst einmal seine Gefühle ordnen. Mit roten Wangen blickte er auf den Boden. Was war nur los mit ihm? Seine Gedanken spielten verrückt, fuhren Achterbahn und das Ende war nicht in Sicht. Sein Herz hatte unter dem intensiven Blick von Liang auf einmal angefangen, sehr laut und heftig zu pochen. Er hatte so etwas wirklich noch nie in seinem Leben gefühlt.

Wie sollte er damit umgehen? Er hatte keinen einzigen Plan oder auch nur den Hauch einer leisesten Ahnung.

Wieso klopfte sein Herz so sehr? Er konnte es ahnen, wollte es aber irgendwie nicht wirklich wahrhaben.

Er hatte in vielen Büchern, die Thomas für ihn ausgeliehen hatte, sehr oft davon gelesen. Wenn man Herzrasen kriegt, das Gesicht ganz heiß wird und man nicht mehr klar denken kann, dann war das eigentlich ein klarer Fall. Jedenfalls meistens, wenn die Temperaturen nicht so hoch waren, dass das auch ohne eine gewisse Person geschah.

Aber war es wirklich wahr?

Und vor allem, in dieser kurzen Zeit?

Gab es die Liebe auf den ersten Blick wirklich?

Hatte Julian sich wirklich in einen Jungen verliebt?
 

Eins wurde Julian nach diesen Fragen klar.

Er wollte eine eindeutige Antwort wissen. Aber wie er das anstellte, wusste er noch nicht.

Noch nicht.

Ihm würde bestimmt etwas einfallen, wenn er denjenigen, in den er vermeintlich vermutete, verliebt zu sein, betrachtete. Also tat er es. Und starrte ihn nach einer kurzen Weile verträumt an. Liang hatte schwarze Haare, die im Licht jedoch einen bräunlichen Glanz erhielten. Sein Pony war so lang, dass er ihm etwas in das Gesicht fiel, aber es schien ihn nicht zu stören. Seine hellgrünen Augen sahen konzentriert die Leinwand an, dessen Weiß er mit seinen Bleistiftstrichen füllte. Er hatte makellose Haut.

Julian hätte ihn Stunden so ansehen können!

Inzwischen hatte er sich auf den Boden gesetzt und sah zu dem größerem Jungen hinauf. Er legte den Kopf in den Nacken, um diesen besser sehen zu können. Viel zu schnell, als dass er es hätte verhindern können, formte sich ein Wunsch in seinen Gedanken.

Er würde so gerne von dem Jungen, den er erst seit nicht einmal einer Stunde kannte, geküsst werden.

Nicht lange nachdem der Wunsch sich unwiderruflich in seinem Gedankenbild festgesetzt hatte, spürte er weiche, warme Lippen auf den seinen. Liang hatte den Stift schon wieder in das weiche Gras fallen lassen und sich zu dem auf den Boden sitzenden Jungen hinuntergebeugt. Während er gezeichnet hatte, hatte er sehr wohl Julians bohrende und träumende Blicke auf ihm gespürt, weshalb er sich möglichst versucht hatte, sich auf sein Bild zu konzentrieren.

Denn die Wahrheit war, dass er sich auch unvermeidbar in die offene Frohnatur verliebt hatte.

Er selbst wusste nicht, wann es wohl passiert war, aber ihm gefiel Julians leicht unbeholfene Art. Sie weckte eine Art Beschützerinstinkt in ihm.

Doch woher die Sehnsucht, diesen erst kürzlich kennen- und lieben gelernten Jungen zu küssen, kam, wusste er nicht, wobei er ahnen konnte, dass er es wohl früher oder später so oder so verspürt hätte.

Er wusste nur ganz sicher, dass der Kuss sich gut anfühlte.

Genauso erging es Julian. Ihn hatte es zwar überrascht, als er aus heiterem Himmel geküsst wurde, aber er hatte es sich ja gewünscht. Ja, es war sein Wunsch gewesen. Doch er hatte nicht erwartet, ihn erfüllt zu bekommen. Er wusste von seiner komischen Eigenheit, dass ihm die anderen jeden Wunsch erfüllte, ohne dass er es aussprechen musste, aber konnte er damit wirklich einen Jungen dazu bringen, ihn zu küssen? Und dieser Junge wahrscheinlich nicht einmal in ihn verliebt war? Und auf Frauen stand?

Ihm wurde es zu viel.

Mit zerrissenem Herzen stieß Julian Liang von sich weg, riss sich aus dieser traumhaften Vision heraus. Und weinte. Er machte sich ganz klein und weinte.

Er wollte das nicht. Egal wie sehr er den Kuss von Liang genossen hatte, so wollte er es nicht.

Liang war verwirrt. Julian hatte ihn nicht sehr hart getroffen, aber es hatte gereicht, ihre Lippen voneinander zu lösen. Er berührte seine Lippen. Er konnte noch den Kuss auf ihnen spüren und war umso mehr verwirrt. Hatte er den Blick von Julian falsch gedeutet? Wollte dieser nicht von ihm geküsst werden?

Wahrscheinlich. Ein trockenes Lachen entglitt aus Liangs Kehle. Julian war bestimmt nicht schwul. Er setzte sich auf den Grasboden und nahm den Stift wieder in die Hand.

Erst jetzt hörte er Julians Schluchzen. Sofort fühlte er sich schlecht. Vermutlich hatte er dem armen Jungen seinen ersten Kuss geraubt, den dieser wohl eher mit einem schönen Mädchen haben wollte.

„Entschuldige bitte“, begann er, „Ich... ich weiß auch nicht, was mit mir los war. Ich...“ Er versuchte, sein Handeln zu erklären, konnte es jedoch nicht. Er seufzte und strich sich in einer verzweifelt anmutenden Geste die Haare aus dem Gesicht. Ihm fiel kein anderer Grund als die Wahrheit ein. Aber er wusste nicht, ob er sie ihm zumuten konnte. Julian wirkte ziemlich jung auf ihn. Innerlich argumentierte dann doch er mit dem Grund, dass er dennoch ein Recht auf die Wahrheit hatte.

Liang seufzte noch einmal und holte tief Luft. Er rieb mit einer Hand über seine Augen und ließ diese dann auf seinem Gesicht ruhen und atmete noch einmal ein und aus. „Ich glaube, ich habe mich... in dich verliebt.“ Jetzt war es raus, aber Erleichterung darüber wollte sich nicht in ihm breit machen.

Julians Herz machte einen Sprung. Für einen Moment hörten seine Tränen auf zu fließen. Doch wenn er daran dachte, dass das vielleicht auch Einwirkung seiner verfluchten Eigenheit war, kamen die Sturzbäche zurück.

Und Liang deutete sie falsch.

Er dachte, er hatte den Jungen damit endgültig verschreckt. Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Julian war ihm so schon ein Rätsel gewesen, aber nun... Er konnte keinen Jungen, der wegen seinem Kuss und seiner Liebeserklärung weinte, in den Arm nehmen und beruhigen. Nein, das würde diesen wohl eher noch mehr zum Weinen bringen.

Und das war es auch nicht, was der weinende Junge wollte. Seine Gedanken spielten verrückt, und das spiegelte sich auch in Liangs Gefühlchaos wieder. Er wollte ihn küssen, sich von ihm fernhalten, ihn in den Arm nehmen, weit weg rennen, ihn beruhigen, mit ihm reden, sagen, dass er etwas Falsches gesagt hatte...

Die Liste zog sich in die Länge.

Und dann, als der Abend dämmerte, konnte Julian endlich einen klaren Wunsch formulieren, von dem er sich sehnlichst eine Erfüllung erhoffte. Er wünschte sich, Liang würde ihm die Wahrheit sagen.

Mit dem Abklang von Julians innerem Sturm wurde auch Liangs Gefühlswelt geordnet. Klar zeichneten sich deutliche Gefühle in ihm ab, denen er sogleich Worte verlieh: „Ich liebe dich.“ Jedoch verstand dieser auch nicht so genau, wieso er seiner Liebeserklärung eine zweite folgen ließ.

Julian horchte auf. Waren diese Worte wirklich real gewesen? Er konnte sich noch genau erinnern, dass er nur den einen Wunsch hatte. Es hatten sich keine Wünsche eingeschlichen, die wollten, dass Liang ihn liebte.

Diese Worte waren wirklich.

Erneut brach er in Tränen aus, diesmal weinte er jedoch vor Freude. Er weinte vor Glück.

Die nochmals fließenden Tränen verwirrten den ohnehin schon sehr konfusen Liang noch einmal mehr. Unsicher, wie er sie deuten sollte, überlegte er und beobachtete Julian. Als er einmal sein glückliches lächelndes Gesicht sehen konnte, war er erleichtert. Er nahm dieses für ihn wunderschöne Lächeln zum Anlass, die vorigen Bedenken über Bord zu werfen, und ihn zu sich in seine Arme zu ziehen.

Zufrieden lächelte er und drückte Julian. Dieser schmiegte sich an ihn, wobei er Liangs Hemd mit seinen Tränen befeuchtete. Er atmete tief seinen Geruch ein. Er fühlte sich in den Armen von dem älteren Jungen geborgen.

Und er wusste, dass Liangs Gefühle nicht gelogen waren.
 

Die Sonne war gerade dabei, unterzugehen, als die beiden frisch Verliebten sich gezwungenermaßen aus ihrer Umarmung lösten. Es war Zeit, den Wald zu verlassen. Julian half Liang dabei, die Zeichenutensilien einzuräumen. Den Stift steckte er in seinen Malkasten, in dem auch verschiedenste Farben aufbewahrt wurden, die Staffelei wurde eingeklappt und über die Leinwand wurde eine Folie gezogen. Liang schulterte seinen Rucksack, den Julian gar nicht bemerkt hatte.

Zum Aufbruch bereit schickten sich die beiden an, die Lichtung zu verlassen. Liang wollte eigentlich alles tragen, aber Julian ließ ihn nicht. Wenigstens den Malkasten bekam er in die Hände. Amüsiert über das Engagement von ihm, ließ Liang ihn. Er nahm seine Hand und gemeinsam verließen sie den Wald.

Sie hatten, als sie auf dem Wiesenboden gesessen hatten, nicht geredet. Viel zu sehr hatten sie die Stille und die Wärme des anderen genossen. Doch nun, auf dem Heimweg merkten sie, dass sie außer dem Namen des anderen nichts voneinander wussten.

„Wo wohnst du eigentlich?“, fragte Julian Liang.

„Ich? Ich habe, um ehrlich zu sein, keinen festen Wohnsitz.“

Julian sah ihn mit großen Augen an.

„Lass es mich dir erklären, okay? Also, ich bin ein freier Künstler und ziehe meistens einfach durch die Welt und male. Meinen Unterhalt verdiene ich mit meinen Bildern, die ich meistens auch vor Ort wieder verkaufen kann. Verstanden?“ Er hatte Angst, dass Julian womöglich ein falsches Bild von ihm bekam.

„Achsooo. Dann kannst du ja bei uns einziehen!“, rief dieser freudig aus und hüpfte freudestrahlend herum.

„Ja? Geht es auch in Ordnung?“

„Ich denke schon. Komm, beeil dich!“ Julian nahm ihn bei der Hand und zog ihn aufgeregt wie ein kleines Kind durch das Dorf zum Landhaus zurück. Dort erwartete Thomas ihn schon im Haus, er hatte sich schon darin umgesehen. Der Makler und der Verkäufer waren schon lange weg.

„Julian, da bist du...“ Ihm blieb das Wort im Mund stecken, als er Liang hinter seinem Schützling erblickte. „Wer ist das?“

„Das ist Liang! Darf er bei uns einziehen?“ Julian strahlte über das ganze Gesicht.

„Ja, wieso nicht?“ Thomas kniff sich innerlich in die Wangen.

„Juhuuu“, gellte der Freudenschrei durch die Umgebung. Aufgeregt hüpfte er erneut herum. „Hast du schon ein Zimmer für mich ausgesucht? Darf ich eines neben Liang haben?“

Die Energie des Jungen war etwas zu viel für den alten, ehemaligen Koch. Er nickte einfach nur und sagte seufzend: „Jaja, nur hör bitte mit dem Hüpfen auf. Und nimm nicht das Zimmer mit dem blauem Kranz an der Tür. Die Schlafzimmer sind alle oben.“

Augenblicklich war Julian mit Liang nach oben gedüst. Schnell hatte er das ideale Zimmer für sich gefunden. Es befand sich an der Bergseite, also an der Seite, wo der Berg anstieg, und er konnte schnell aus seinem Fenster auf die Veranda und dann auf den Berg hopsen. Liangs Zimmer war direkt nebenan, wie er es sich gewünscht hatte. Die beiden Zimmer teilten sich eine Veranda und befanden sich gegenüber dem großem Raum mit dem blauem Kranz an der Tür, welches sich auf der Talseite finden ließ.

„Ah, ich freue mich so!“, rief Julian strahlend aus und warf sich Liang an den Hals. Dieser musste den Schwung erst einmal ausgleichen, um nicht hinzufallen. Dann lächelte er, schlang seine Arme um das Energiebündel und streichelte ihm über die weichen Haare.

„Ich mich auch.“

So standen sie eine Weile auf dem Flur, bis er sich sachte von ihm löste und sagte: „Na komm, es ist Zeit, ins Bett zu gehen.“

Julian nickte, als er knallrot anlief. Er schüttelte den Kopf, als ob er etwas aus seinem Kopf verscheuchen wollte, aber dann war es schon zu spät.

Liang beugte sich zu dem einem Kopf kleinerem hinunter und flüsterte in sein Ohr: „Magst du nicht heute bei mir schlafen?“ Spitzbübisch grinste er.

Und Julian überhitzte.

„Ich tue dir auch nichts“, fügte Liang hinzu.

Dennoch wollte Julians Kopf nicht aufhören, knallrot zu sein. Sein Herz klopfte wie wild und er verfluchte seinen Wunsch bitterlich, auch wenn er irgendwie immer noch nicht verschwinden wollte. Er holte tief, tief, tief Luft.

„Und du wirst mir auch nichts antun?“, fragte er sicherheitshalber nochmal nach.

„Nichts, was du nicht willst.“

Julian dachte noch einmal scharf nach. Wenn Liang es sagte, würde er sich wohl daran halten, oder...?

Da spürte er Liangs warme Hand auf seiner Wange. „Du musst wirklich nicht, wenn du nicht willst, das weißt du, oder?“ Er lächelte sanft.

„Hmmm.“ Julian schmiegte seine Wange an die Hand des Anderen. „... ja.“ Dann fasste er sich ein Herz und sagte: „Ja.“

Daraufhin wurde er ganz fest von Liang gedrückt.

„Mhh? Was ist los?“, fragte Julian und atmete den angenehmen Geruch von ihm ein. Es hatte etwas von allem, was er mochte und auch immer etwas von dem, das er noch nicht kannte. Ob er wohl Parfüm benutzte?

„Ich freue mich einfach, dass du mir so sehr vertraust.“ Dann machte er eine kurze Schweigepause. „Willst du zuerst duschen gehen? Oder soll ich?“

„Du kannst zuerst gehen, wenn du willst.“

„Mir ist es egal.“

„Soll ich gehen?“

„Meinetwegen. Soll ich dich begleiten?“ Wieder ein freches Grinsen, während Julians Kopf erneut in einem tiefem Rot leuchtete. „Das war ein Scherz, na komm, ab ins Bad mit dir!“ Er gab dem Jüngerem einen kleinen Schubs in die Richtung, in der er das Bad vermutete und überließ ihn dann sich allein.

Taumelnd schwankte der überhitzte Geselle zum Bad. Er stützte sich an den Wänden ab und fand schnell eine Tür, die mit der Aufschrift Bad versehen war. Er öffnete die Holztür, betrat den geräumig und gemütlich wirkenden Raum. Er lehnte sich, nachdem er die Tür hinter sich abgeschlossen hatte, seufzend an die Tür. Er sank nach unten, sah nach oben zur weißen Decke. An ihr hing eine helle Lampe in einer rosenartigen Form, sie verbreitete durch den Lampenschirm, der durchsichtig rot war, ein leicht rotes Licht an einigen Stellen des Raumes.

Liang liebte es scheinbar, ihn aufzuziehen. Es war nicht gut für sein Herz, welches trotz Liangs Abwesenheit nicht aufhören wollte, lautstark und heftig zu pochen. Immer noch knallrot im Gesicht begann er, sich zu entkleiden. Von den kürzlichen Ereignissen durcheinander stieg er in die Duschkabine.

Während Julian noch im Bad um seine Fassung kämpfte, war Liang nach unten gegangen und suchte Thomas auf. Er wollte ihn nach frischen Kleidern für Julian fragen. Bei dieser Gelegenheit konnte er sich auch gleich über eventuelle Unterhaltskosten reden. Er wollte die beiden ja nicht ausnutzen, vor allem den Jungen nicht, in den er sich innerhalb kürzester Zeit hoffnungslos verliebt hatte. So schnell war es bei ihm bisher noch nie gegangen. Und dennoch waren diese Gefühl Realität.

Nachdem er ein wenig im Erdgeschoss des Hauses durch das große Wohnzimmer, durch die Flure und auch durch die Küche gewandert war, fand er Thomas endlich. Dieser stand auf der Terrasse und sah nachdenklich zur Bergspitze hinauf, auch wenn er sie sicherlich nicht wahrnahm.

„Ahm... Entschuldigen Sie die Störung, aber ich möchte sie gerne etwas fragen.“

Überrascht drehte Thomas sich zu dem Neuankömmling um, er schien ihn nicht bemerkt zu haben. „Ach, du bist es. Wie hießt du gleich?“

„Liang Shen, Herr.“

„Achja, genau. Sag mal, was bist du eigentlich für Julian?“ Mittlerweile hatte er sich auf einen der umstehenden Stühle gesetzt und bedeutete Liang dasselbe zu tun.

„Ich? Ich...“ Liang überlegte. Er wusste nicht, ob er sich als den Geliebten von Julian bezeichnen konnte. Sie hatten sich schließlich auch erst heute kennengelernt. Und wie würde Thomas wohl darauf reagieren, wenn er erfuhr, dass Julian sich als schwul entpuppt hatte? Schließlich kam er zu dem Ergebnis, dass es am besten wäre, wenn auch Julian dabei wäre, wenn sie Thomas davon erzählten.

Dies teilte er dann auch seinem Gesprächspartner mit: „Ich würde das... lieber mit Julians Anwesenheit klären.“

Er konnte in Thomas' Gesicht nicht wirklich eine Emotion herausfiltern, aber es schien ihm letztlich egal zu sein: „Na gut. Weswegen bist du noch einmal zu mir gekommen?“

„Haben Sie vielleicht Wechselkleidung für Julian da?“, fragte Liang schließlich das, worum es ihm ging.

„Hmm? Achja, ja. Sie müsste direkt vor dem Bad liegen, wenn ich mich recht erinnere.“ Er schien nichts Weiteres mehr zu erwarten, also wandte er sich von dem Jüngeren ab und widmete sich erneut seinen eigenen Gedankenflüssen.

Liang hatte sich, nachdem sich Thomas von ihm abgewandt hatte, wieder durch das Erdgeschoss wieder über die Treppe nach oben bemüht. Dort angekommen ging er nun ebenfalls in die Richtung, in die er Julian geschickt hatte. Auch er fand relativ zügig die Tür mit der Aufschrift Bad. Er klopfte an die Tür und wartete, von innen hörte er, wie ein Wasserhahn zugedreht wurde. Scheinbar schien Julian noch geduscht zu haben.

„Ja?“, ertönte es daraufhin von innen.

„Frischkleidung liegt übrigens hier vor dem Bad“, rief der Außenstehende hinein.

„Okay, danke. Sag mal, wie sieht es mit Wechselkleidung für dich aus?“

„Ich hab welche in meinem Rucksack, keine Sorge.“

„Achso. War das alles?“

„Ja, ich warte in meinem Zimmer. Sag Bescheid, wenn du fertig bist, ja?“

„Klar.“

Liang entfernte sich von dem Badezimmer. Julian drehte derweil das Wasser wieder auf und versuchte, sein schnell schlagendes Herz wieder zu beruhigen. Er wusste nicht, wieso es dermaßen schnell schlug. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Liang bei ihm vorbeischauen würde, während er sich duschte. Es hatte widersprüchliche Gefühle in ihm ausgelöst, seine Stimme zu hören, als Julian, naja... nichts an hatte.

Hastig schüttelte er sie sich aus seinem knallrotem Kopf.

Er verbrachte noch einige Zeit im Badezimmer, aus dem simplen Grund, dass er sich nicht bereit dazu fühlte, Liang wieder gegenüber zu treten. Er verfluchte diesen sogar einige Male, hob es aber jedes Mal unmittelbar danach wieder auf, in der Hoffnung, es würde nicht wahr werden.

Als er sich dann endlich mehr oder minder bereit fühlte, atmete er noch einmal tief ein, ehe er die Klinke hinunterdrückte und hinausging. Dort stand niemand, niemand war weit und breit zu sehen. Liang war wohl wirklich in sein Zimmer gegangen. Es kostete ihn wieder ein kleines bisschen Mut, um an seiner Tür zu klopfen. Er hörte, wie jemand sich erhob und dann die Tür öffnete. Liang erschien im Türrahmen.

„Ah, du bist fertig?“

„Ja, du kannst jetzt.“

„Danke. Wartest du vielleicht auf der gemeinsamen Veranda auf mich? Da ist es unauffälliger, wenn ich dich dann in mein Zimmer entführe.“ Verwegen grinste er, bevor er auch schon wieder verschwunden war.

Und Julians Herz pochte erneut nicht gerade leise.

Mit hitzigem Gesicht trat er in sein Zimmer ein, öffnete die Tür nach draußen und genoss den kühlen Windzug in der klaren Luft. Der kühle Wind umschmeichelte sein Gesicht mit ihren Fingern, strich über seine Stirn und Wangen. Er beruhigte sich langsam wieder. Er setzte sich auf die Holzbank, die hier aufgestellt war, und überließ seine Gedanken einfach sich selbst. Natürlich wanderten sie erst einmal zu Liang, derjenige, der seine Gefühle schon an dem ersten Tag, an dem sie sich kannten, gehörig durcheinander gewirbelt hatte.

Sein Lächeln, Grinsen. Seine Stimme, Leidenschaft. Seine Wärme. Seine Worte. Seine Art und Weise. Alles, was er war und was Julian an ihm noch nicht kannte.
 

„So, ich bin dann auch fertig“, ertönte Liangs reale Stimme ganz dicht flüsternd in Julians Ohr. Warmer Atem kitzelte ihn.

Und ließ ihn aufschrecken.

„Liang!“

„So ist mein Name.“ Grinsend bot der Gerufene ihm eine Hand an. Zögernd ergriff er sie. Galant wie ein Gentleman führte Liang ihn in sein Zimmer.
 

In der folgenden Nacht redeten sie sehr lange, während Julian in Liangs Armen immer schläfriger wurde. Sie erfuhren viel von dem anderen, dass sie nicht wussten oder nur ahnen konnten. Dass Liang chinesischer Herkunft war, wusste Julian nicht, er kannte die Welt ja gar nicht. Auch die Bedeutung von dessen Namen fand er wunderschön, „Liang“ für „Licht“ und „Shen“ stand für „tief“. Aber auch Liang staunte nicht schlecht über Julians Wünsche, die immer in Erfüllung gingen.

Sie lernten einander noch viel mehr lieben.

Aufgekommene Unsicherheit

 Die Monate rannen vorbei. Julian und Liang verbrachten sehr viel ihrer Zeit, eigentlich jede Sekunde miteinander, doch Thomas sahen sie meistens nur sehr selten. Dieser war ständig unterwegs und tat, was er schon immer hatte tun wollen. Das Leben von den Reichen und Schönen genoss er sehr, mittlerweile hatte er sich einen Platz in der Börse reserviert.

Dennoch brachte ihn etwas ins Nachdenken.

Was wäre, wenn Julian ihn in das Unglück stürzen würde? Es wäre nicht sehr vorteilhaft für ihn.

Nach langem Hin und Her, wie er dieses Problem am besten eliminieren könnte, entschied er sich für die einzige Möglichkeit, die er sah: Julian musste fort.

Er plante alles sehr präzise. Er würde Liang, der sich ja sowieso ständig in seiner Nähe aufhielt, dazu bringen, ihm Julians Kette, die er noch nie abgelegt hatte, selbst wenn man es mit Gewalt versuchte, auszuhändigen, als Beweis dafür, dass Julian nicht mehr unter den Lebenden weilt. Andernfalls würde ihm selbst das Jenseits drohen.

Thomas hatte keinerlei Skrupel, so einen Plan zu entwerfen und auch auszuführen. Er selbst würde natürlich nicht am Tatort sein, er wäre irgendwo weit weg.

Der Tag rückte immer näher, und als er dann endlich da war, nahm Thomas sich beim Herausgehen Liang zur Seite.

„Liang, ich muss dich um etwas bitten.“

„Ja?“

„Bring Julian um.“

Zuerst glaubte Liang, nicht richtig gehört zu haben und schaute den Ziehvater seines Geliebten verständnislos an. Als dieser sich jedoch laut und deutlich wiederholte, wollte er laut und empört aufschreien. Seine Verwirrung hatte sich in pure Entrüstung und Angst um seinen Liebsten verwandelt.

„Halt die Klappe. Wenn du mir nicht seine Kette bringst, von der wir ganz genau wissen, dass er sie niemals ohne tot zu sein übergeben würde, als Beweis. Solltest du das nicht machen, geht es dir selbst an den Kragen.“ Thomas hatte diese Worte Liang eindringlich in das Ohr geflüstert. Danach entfernte er sich wieder. „Verstanden?“

Liang schluckte, nickte aber. Zufrieden zog Thomas sich zur Jagd in den umliegenden Wäldern zurück, es war eines seiner neuen Lieblingsbeschäftigungen, und ließ einen geschockten Liang zurück.

Dieser hatte sich erschöpft in einen der Stühle plumpsen lassen, die in der Nähe standen. Es war noch früh am Tag, Julian schlief friedlich in seinem Zimmer. Wie konnte Thomas von ihm so etwas Derartiges verlangen?

Liang verstand die Welt nicht mehr, spürte jedoch, dass der Alte seine Drohung ernst meinte. Aber so etwas konnte er nicht tun, nein, das würde er niemals über das Herz bringen. Er liebte ihn doch so sehr, er würde es niemals können, dessen war er sich sicher. Aber sein eigenes Leben dafür geben? Julian würde unheimlich traurig sein und auch das wollte er nicht. Thomas selbst umzubringen erschien ihm auch grausam. Er wollte niemanden töten.

Gab es eine Möglichkeit, die ihn aus dieser Situation retten würde?

Ihm fiel keine ein.

Er wusste nicht, wie lange er sich schon in diesem verzwicktem Teufelskreis befand, als eine vertraute Stimme hinter ihm gähnte. Er drehte sich um und sah das Objekt seiner Gedankengänge, Julian, wie er sich gerade streckte.

„Mmmh! Morgen“, begrüßte dieser ihn, immer noch im Halbschlaf. „Wieso“, fing er an, unterbrach sich selbst aber gleich darauf mit einem Gähnen, „bist du eigentlich immer“, Gähnen, „so früh wach?“ Er rieb sich ein wenig den Schlaf aus den Augen.

„Guten Morgen. Ich weiß nicht. Hast du denn gut geschlafen?“ Bei seinem Anblick hatte sich Liangs Herz wieder aufgehellt. Nein, er würde ihm nicht das Leben nehmen können, selbst wenn er wollte.

„Joa. Und, was machen wir heute?“

„Hmmm.“ Der gebürtige Chinese sah den anderen eindringlich an. Nein, er würde es nicht tun. Niemals.

„Habe ich etwas im Gesicht?“, fragte Julian, etwas verunsichert durch den starrenden Blick des Anderen. Dieser schüttelte energisch den Kopf. Schweigend breitete er seine Arme aus und hoffte, dass Julian seinen Wink verstehen würde. Dies tat er auch, trappelnd überbrückte er die Distanz zwischen ihnen und setzte sich mit einem leisem Plumpsen auf Liangs Schoß. „Ist etwas passiert?“

Liang schickte sich an, ihm von dem Vorfall mit Thomas zu erzählen. Als er jedoch den Mund öffnete, um zu erzählen, klappte er ihn sogleich wieder zu. Nein, er konnte doch nicht Julians reine Seele derart beflecken! „Es ist nichts“, lächelte er stattdessen, wenn auch wenig überzeugend.

Julian allerdings gab sich damit zufrieden, er wollte den Älteren nicht dazu drängen, etwas zu sagen, das er nicht wollte. Er schmiegte sich noch mehr in Liangs Schoß ein und klammerte sich an ihn, die Müdigkeit hatte wieder die Oberhand gewonnen.

„Wenn du noch so müde bist, wieso bleibst du nicht einfach noch länger im Bett?“, lachte Liang, etwas entspannter.

„Ich wollte dich sehen“, murmelte Julian unverständlich und vergrub seinen Kopf an Liangs Brust. Sanft streichelte der andere ihm über den Kopf, lächelte und genoss diesen Moment. Sie fühlten sich wohl, wie sie so aneinander geschmiegt dasaßen und einfach an nichts dachten, einfach nur ihre Nähe und Wärme austauschten.

Nach einer Weile konnte man, wenn man ganz genau hinhörte, ein leises Schnarchen wahrnehmen. Liang musste sich sehr zusammenreißen, um nicht laut loszuprusten und damit unweigerlich Julian, der auf seinem Schoß erneut eingeschlafen war, zu wecken. Amüsiert strich er ihm ein paar Strähnen aus seinem Gesicht, um es besser betrachten zu können. Tatsächlich, wie ein kleiner Engel ruhte Julian mit geschlossenen Augen auf seinem Schoß.

Fast wäre selbst Liang bei diesem Bild in Quieken aufgegangen, doch mit letzter Mühe konnte er sich noch beherrschen. Mit erhitztem Gesicht wendete er seinen Blick von dem Engelchen auf seinem Schoß und versuchte, sich mit dem Blick in die ruhigen Berge zur Ruhe zu zwingen.

Auf einmal erwachte Julian wieder. Genüsslich streckte er sich, ehe er dann doch wieder in Liangs Schoß zurück plumpste. Er klammerte sich mit wohligem Lächeln an Liangs Brust, worüber dieser sanft schmunzelte konnte. Wie konnte er Julian auch böse sein! Das würde er wohl niemals sein.

Und niemals würde er ihn töten.

Sein Ausdruck verhärtete sich, als die unangenehmen Erinnerungen wieder kamen. Nein, dachte er grimmig, das würde er nicht tun.

Niemals.
 

Der Tag verging schneller, als Liang es erwartet hatte. Das lag wohl allein an den sonnigen Stunden, die er mit Julian verbracht hatte. Die beiden waren heute im Haus geblieben und haben sich dort ihre Zeit vertrieben. Als der Abend dann aber schon dämmerte, verkrampfte Liang. Er würde sich Thomas stellen, er würde nicht kneifen. Dennoch erfasste ihn eine gewisse Unruhe.

„Aua, du tust mir weh“, rief Julian mit einem leicht schmerzlichem Ton aus. Sofort lockerte Liang seinen Griff um ihn. Der Ältere hatte, während sie so schweigend auf der Terrasse saßen wie am Morgen auch schon, unbewusst im Fluss der düsteren Gedanken seine Arme noch enger um Julian geschlossen.

„Entschuldige.“

„Macht nichts, aber sag mir doch endlich, was los ist!“ Schmollend blickte der Kleinere den Größeren an. „Ich bin ja nicht blöd“, fügte dieser noch hinzu.

Wieder nur ein entschuldigendes Lächeln von Liang.

„Wieso kannst du es mir denn nicht sagen?“

„Vielleicht ein anderes Mal, ja?“

Julian sah ihn wütend an, ehe er sich erhob und lautstark in sein Zimmer stampfte.

„Wie ich sehe ist er noch am Leben“, schlich sich plötzlich eine Stimme in den Raum, die Liang nie wieder hören wollte. Erschrocken drehte er sich zu Thomas um, der im Türrahmen zum Wohnzimmer stand.

„Du...“, knurrte Liang, seine Laune sank sich augenblicklich.

„Ja, ich. Und du scheinst mich nicht ernst zu nehmen, Junge.“ Mit bedrohlicher Miene kam er langsam an Liang heran. „Wieso lebt er noch?“

„Ich werde ihn nicht töten. Wieso soll ich jemanden töten, der keiner Fliege etwas zu Leide tut?“ Und den ich aus tiefstem Herzen liebe, fügte er im Stillen hinzu. Seine Stimme klang fest und sicher, obwohl er innerlich doch zitterte. Er versuchte, es nicht nach außen dringen zu lassen.

„Ein störrisches Kind bist du! Gut, ich lasse dir noch den morgigen Tag, weil ich ja so nett bin. Aber länger nicht!“, zischte Thomas und verschwand dann wieder durch die Tür hinaus, wohin er ging, wusste wohl nur er.

Nun merkte Liang, dass es Thomas wirklich ernst war. Aber ihm war es auch ernst. Dennoch musste er jetzt darüber nachdenken, wie er sein und Julians Leben erhalten konnte. Es konnte doch nicht so schwer sein, den Alten auszutricksen...

Er holte tief Luft und dachte dann geordnet darüber nach, anders würde er, so gut kannte er sich schon, nicht weiterkommen, es würde eher alles in Kopfschmerzen und Chaos ausarten.

Was hatte Thomas nochmal gesagt? Er wolle die Halskette Liangs als Beweis haben...

Es wäre doch nicht so schwer, ihm ein Plagiat vorzusetzen, oder...?

Liang krallte sich an diesen Gedanken. Sobald er ausgedacht war, setzte Liang sich gedanklich schon an einen Plan. Es dauerte nicht lange und er hatte alles bedacht, morgen früh würde er ihn umsetzen können, doch vorher stand etwas Wichtigeres an.

Er sollte sich wieder mit Julian versöhnen.
 

Julian hatte sich in sein Zimmer zurückgezogen. Dort hatte er sich auf sein Bett geworfen, sich sein Kissen geschnappt, es umklammert und war immer noch sauer auf der Matratze hin und her gerollt, während er merkwürdige Geräusche des Zorns von sich gab. Wieso wollte Liang ihm das bloß nicht sagen? Hatte er etwa eine Affäre?

Bei diesem Gedanken erstarrte Julian. Der Schock stand ihm klar ins Gesicht geschrieben, kalter Angstschweiß brach aus ihm heraus. Nein, das konnte nicht sein... oder? Er würde ihn doch nicht betrügen, oder?

Oder?

Frust entlockte Julian einen weiteren, bizarren Laut in sein Kissen. Was, wenn es wirklich stimmte? Oder machte er sich zu viele Gedanken? Hach, wieso konnte er es nicht einfach rausrücken? Dann hätte Julian diese fiesen Fantasien jetzt nicht, aber er bekam sie auch einfach nicht wieder heraus. Er seufzte, nun erschöpft von der ganzen Sache.

Warum war auch alles so kompliziert?

Da hörte er auf einmal, wie an seiner Tür geklopft wurde und die Person, die die Quelle all seines Herzschmerz war, sprach: „Julian?“ Es krampfte ihm allein bei diesem einem Wort das Herz zusammen. War es aus dem Mund eines Betrügers gekommen? „Kann ich hereinkommen?“

Julian wusste es nicht. Am liebsten würde er Liang auf den Mond schießen, andererseits würde er dadurch auch nichts Neues erfahren. Aber es würde ihn schmerzen, ihn zu sehen. Aber er wollte ihn doch sehen, wollte ihn umarmen, seine Wärme spüren...

„Ich komme einfach herein, okay?“

Julians Herz klopfte wie wild, als sich leise die Tür öffnete und ein ihm wohlbekanntes Gesicht im Türspalt erschien.

„Meine Güte, Julian! Du weinst ja!“ Liang eilte hastig zu ihm, als er die im Flurlicht glitzernden Tränenspuren sah, die Stirn in Falten gelegt.

Jetzt merkte es auch Julian selbst. Tränen hatten seine Haut benetzt, doch wann hatte er angefangen zu weinen? Hatte er schon lange geweint? Er wusste es nicht. Schnell wischte er erst mit seinen Händen, und vergrub dann, nachdem er gemerkt hatte, dass es nicht sonderlich viel gebracht hatte, seinen Kopf wieder in sein Kissen. Es war auch feucht.

„Was ist los?“ Julian ertrug die Besorgnis in Liangs Stimme fast nicht. Er schüttelte einfach nur den Kopf, schluchzte, obwohl er den Grund nicht kannte, nicht kennen wollte. Während er so seiner Verzweiflung freien Lauf ließ, schien auch Liang langsam zu merken, weshalb er weinte. „Es tut mir Leid.“ Behutsam umschloss der Größere den Kleineren. Zitternd lag dieser nun in seinen Armen, sanft wiegte er ihn hin und her.

Jedoch wollte Julian nicht aufhören zu weinen. „S-sag mir doch en-endlich, was l-los ist!“, brachte er zwischen seinen Schluchzern hervor, auch wenn er die Wahrheit vielleicht gar nicht wissen wollte. Dennoch. Alles war besser als diese Ungewissheit.

Sanft streichelte Liang ihm über den Kopf. „Ja, ist ja gut.“ Wie ein kleines Kind wiegte er ihn in seinen Armen, bis Julian sich einigermaßen beruhigt hatte. Er wischte sich hier und da noch eine Träne aus den Augen, sah den Älteren dann aber mit gefasster Miene an, auch wenn alles in seinen Gedanken alles andere als Gefasstheit herrschte, es war die reinste Achterbahn der Gedanken, auch wenn die Richtung meistens nach tief, tief unten zeigte.

„Sag doch endlich was los ist!“

Liang zögerte. Er wollte Julian unter keinen Umständen mit hineinziehen. „Dann sag doch, was dich bedrückt.“

Diesmal weigerte Julian sich, seine Gedanken preiszugeben. Er kaschierte sein hochrotes Gesicht indem er dieses an die Brust des Anderen presste. Manchmal war er wirklich zu albern.

„Na, dann sag ich es auch nicht.“

„Das ist fi-ies!“ Es klang wie ein erneuter Beginn von Weinen.

„Ich kann dir aber etwas anderes sagen.“

„Und zwar?“ Julians Gesicht war leider noch nicht bereit, ihn anzusehen.

„Ich liebe dich.“

Und Julian fing sogleich ein weiteres Mal an Tränen zu vergießen.

Der Andere war jedoch vollkommen verwirrt von seiner Reaktion. Er hatte doch nichts Falsches gesagt, oder? In Julians Gedanken aber hatte die traurige Achterbahnfahrt eine schwungvolle Wendung nach oben gefunden, doch davon ahnte Liang nicht einmal etwas.

Als Julian sich endlich dazu aufraffen konnte, wieder in Liangs Gesicht zu sehen, bemerkte er den fragenden Ausdruck sofort. „Ach, es ist nichts.“

„Wirklich? So wie du eben und eben davor geweint hast...“ Skeptisch musterte Liang ihn.

„Ja, wirklich.“

„Sicher?“

„Jap.“

„Wirklich sicher?“ Liang rückte noch näher an Julian heran, prüfend blickte er in dessen Gesicht. Überrumpelt wollte der Jüngere sich zurückziehen, doch da spürte er auch schon das Körpergewicht Liangs auf sich ruhen. Völig perplex versuchte er, die Situation zu begreifen. Liang hatte Julian mit einem erleichtertem Seufzer umarmt und ihn dabei, aus Versehen, mit seinem Schwung endgültig auf das Bett gerissen. Nun lagen die beiden dort, Liang hatte seine Arme um Julians Hals geschlungen. „Dann glaube ich dir mal“, murmelte er in dessen Nacken, wohl wissend, dass er dies nicht mochte.

Julian entfernte sich auf der Stelle von Liang, sein Gesicht hatte die Farbe einer äußerst reifen Tomate.

„Mach. Das. Nie. Wieder“, brachte er immer noch knallrot hervor und wahrte einen Sicherheitsabstand.

„Aber du reagierst immer so niedlich“, neckte Liang ihn. Darauf konnte der Kleinere nichts mehr erwidern. Er drehte sich beleidigt und mit einem gedanklichem Chaos von dem Größerem weg. „Ach komm, jetzt sei doch nicht so beleidigt.“ Liang sah seinen Vorteil, dass Julian seine Bewegungen nicht sehen und, im besten Fall, auch nicht hören konnte. Leise pirschte er sich an den immer noch eingeschnappten Jungen an und knuddelte ihn dann von hinten durch.

Überrascht ließ Julian sich durch knuddeln, auch wenn er immer noch etwas sauer war. Aber Liangs Geruch, seine Wärme und einfach alles an dem Anderem ließ ihn sich geborgen fühlen. Sie genossen die Nähe ihres Liebsten.

„Julian, möchtest du mit mir morgen in das Dorf fahren?“, fragte Liang dann.

„Wieso nicht? Was möchtest du dort denn machen?“ Der Kleinere löste sich ein wenig aus seinem Griff, um ihn ansehen zu können.

„Ach, ich dachte es wäre schön, eine ähnliche Kette wie du zu haben.“

„Ähm... okay?“ Julian verstand es zwar nicht ganz, aber es war ihm eigentlich auch egal. Seine Liebe war gegenseitig und das war es, was für ihn im Moment am wichtigstem war.
 

Der Hahn kündigte den nächsten Morgen mit einem leicht heiserem Krähen an. Die Sonne war noch lange nicht an diesem Herbstmorgen bereit, sich zu zeigen, sodass Liang und Julian sich nicht sofort auf den Weg machen konnten. In der morgendlichen Dunkelheit, die auch noch von den Schatten der Bergen verstärkt wurde, machten sich beide fertig. Sie gingen nicht oft in das Dorf, sie hatten es eigentlich auch nie nötig. Doch heute wollten sie eine etwas... exzentrische Persönlichkeit besuchen, die ihre eigene Häuslichkeit so gut wie nie verließ.

„Meinst du, sie wird eine Kopie machen?“, fragte Julian, während sie nebeneinander sitzend im Wohnzimmer auf das Grauen des Morgens warteten.

„Naja, Kopie wohl eher nicht. Sie wird es wohl hier und da dann zu ihrer eigener Version machen.“ Und genau das bereitet mir Probleme, fügte er im Stillen hinzu. „Und sicherlich wird sie meinen Auftrag nicht ablehnen, ich habe ihr schließlich auch schon viel gemalt.“

„Deine Werke mag sie ziemlich gerne.“ Julian kuschelte sich an Liang, er war im Halbschlaf und war es überhaupt nicht gewohnt, so früh aufzustehen. Er hatte auch noch nie einen Sonnenaufgang erlebt.

„Ja, aber meinen Charakter nicht“, lachte Liang trocken. Jedes Mal war es das reinste Vergnügen, sie zu besuchen. Sie nörgelte und nörgelte ohne Ende, wobei sie Julian in allen Tönen lobte.

„Ich weiß auch nicht, woran es liegt“, seufzte Julian. Kurz darauf war er weggetreten, gleichmäßig atmete er ein und aus. Liang ließ ihn einfach schlafen, es war ja noch nicht so weit. Sie waren eigentlich nur so früh aufgestanden, weil Julian, der nun wieder friedlich schlief, endlich einmal den Sonnenaufgang sehen wollte. Aber er schaffte es nicht wirklich.

Die Wanduhr tickte im rhythmischem Sekundentakt über der Tür. Nichts schien ihren ruhigen Lauf stören zu können, nichts brachte sie aus der Ruhe. Liang verstrickte sich in seinen eigenen Gedanken, darauf bedacht, Julian nicht mit irgendwelchen starken, impulsiven Bewegungen zu wecken. Er wagte es nur, seinen Kopf sanft zu streicheln, dabei stahl sich ein wohliges Lächeln auf beide Gesichter.

Doch schon kitzelte der erste, verlockende Sonnenstrahl Liangs Wange. Der goldene Strahl rief Liang zu höchster Eile. Er nahm Julian hastig auf den Arm und hoffte, ihn dabei zu wecken, und hastete nach draußen. Julian wachte tatsächlich durch das viele Geruckel auf, war aber immer noch etwas schlaftrunken. Aber der Anblick, der sich ihm bot, schleuderte ihn endgültig aus dem Schlaf.

Zwischen den zwei Bergspitzen, die direkt gegenüber der Terrasse waren, lugte zaghaft ein Strahl hervor, der das Tal in ein mystisches, goldähnliches Licht tauchte. Doch aus diesem Zögern wurde langsam ein immerfort schreitendes Höhersteigen. Die Sonne wagte sich aus ihrem Platz im Schatten der Berge an den Himmel, hoch und höher hinaus.

Und keine Wolke trübte das sich erhellende Blau des Himmels.
 

„So, fertig?“, fragte Liang lächelnd. Julian sah immer noch mit den großen, begeisterten Augen eines Kindes den Himmel mit ihrer hellen Scheibe an. Dieser schien erst jetzt aus seiner Starre zu erwachen.

„Äh, ja, klar, sicher“, stammelte er vor sich hin. Er wurde ein wenig rot, weil ihm seine ausgeartete Begeisterung doch ein wenig peinlich war.

„Okay, dann gehen wir jetzt los.“ Liang zog Julian, den er mittlerweile abgesetzt hatte, leicht an der Hand in Richtung Tür. Zusammen traten sie nach draußen und marschierten den Landweg zum Dorf entlang. Es war ein freundlicher Morgen, und, nachdem die Sonne sich gezeigt hatte, auch ein heller. Die Vögel hatten schon länger ihre lieblichen Lieder angestimmt, Bienen und Hummeln summten geschäftig durch die Wiesen. Es war ein idyllischer Morgen für einen wahrscheinlich weniger harmonischen Abend.

„Liang? Alles in Ordnung? Du hast so eine komische Stirnfalte“, bemerkte Julian auf einmal und tippte diese Falte auf dem verbissenem Gesicht des anderem an.

„Ach, wirklich?“ Liang beeilte sich, seine Stirn wieder zu glätten. „Besser?“

„Besser“, grinste Julian und hüpfte ein paar Schritte voraus. Da blieb er nachdenklich stehen. Er ahnte, dass Liang ihm etwas verschwieg, aber er hatte sicherlich einen guten Grund dafür, oder? Er konnte ihm doch vertrauen, oder? Er seufzte. Wieso musste alles manchmal so kompliziert sein?

„Geht es dir nicht gut?“ Liang hatte seinen Seufzer gehört und legte seine Stirn sofort wieder in Sorgenfalten.

„Ja, ja. Und hör doch mal auf, ständig diese Stirnfalten zu haben“, lachte Julian mit versuchter Fröhlichkeit. Dennoch schaute er kurz darauf unsicher in jede andere Richtung, in der er Liang nicht sehen musste.

„Es tut mir leid.“

Überrascht schaute er doch in seine Richtung. Wofür entschuldigte er sich? „Aber... w-wieso denn?“ Völlig überrumpelt hatte er angefangen zu stottern.

„Ich kann es dir noch nicht sagen. Ich bitte dich einfach darum, mir zu vertrauen, okay?“ Vorsichtig, ja zögernd schloss Liang den Kleineren in die Arme. Drückte ihn an sich.

„D-du tust mir noch weh“, lächelte Julian traurig, sichtlich erdrückt von Liangs starken Schuldgefühlen. Eilig ließ dieser los und sah verlegen zu Boden. „Ich vertraue dir.“

Liangs Gesicht hellte sich wieder auf, jedoch blieb dieser gewisse Schatten als eine Stirnfalte.

„Mann!“, beschwerte sich Julian daraufhin lautstark. „Was sagte ich nochmal wegen dieser Falte?“
 

„Ju-li-an!“, fiel sie dem Jüngstem der zusammengefundenen Dreiergruppe in die Arme. „Du besuchst mich schon so früh am Morgen? Wie komme ich an diese Ehre?“ Sie strahlte ihn regelrecht an, als sie ein gewisses Störobjekt ihrer Freude entdeckte. „Och mann, wieso hast du den denn auch mitgebracht? Dabei dachte ich, dass ich endlich...“ Sie sah ihn neckend an.

„Verzeihung“, griff das Störobjekt mit dem Namen Liang Shen in das Gespräch ein, weil Julian in diesem Moment mit hochrotem Kopf undeutlich vor sich hin stotterte, „aber ich möchte dich um einen Gefallen bitten.“

„Achja?“ Sie sah ihn schnippisch an. „Worum geht es?“, gab sie dann nach.

„Ich hätte gerne, dass du mir so eine ähnliche Kette wie die von Julian anfertigst.“ Er winkte den Kettenbesitzer zu sich heran und fischte mit einem spitzbübisch angehauchtem Lächeln die Kette aus Julians T-shirt Ausschnitt und zeigte sie ihr.

„Hmm... Das sieht interessant aus. Was bekomme ich dafür?“ Sie musterte immer noch prüfend die Kette.

„Na, eines meiner Bilder natürlich. Ich zeichne gerne eines, während du modellierst.“ Er grinste.

„Es heißt nicht modellieren, das weißt du genau! Was ich mache ist wahre Kunst!“ Er hatte mit dieser Reaktion gerechnet und jedes Mal erfrischte sie ihn aufs Neue.

„Es ist wirklich dein Charakter“, murmelte der arme Tomatenkopf, der von den beiden Älteren nur geärgert wurde. Liang tat hingegen so, als hätte er nichts gehört.

„So, dann kommt mal rein in die gute Stube!“ Sie bedeutete den beiden, hinein zu treten. Nachdem sie in einem relativ kleinem Flur ihre Schuhe ausgezogen hatten und die Treppe, die ca. einen Meter vor der Eingangstür aus dem gleichen, hellbraunem Holz wie die Wände und der Boden gezimmert war, hochgegangen waren, fanden sie sich in einem großem, lichtdurchflutetem Raum wieder, in dem allerlei Zeug herumstand. „Liang, die Sachen stehen dort, wo sie immer sind. Wehe, du enttäuschst mich!“ Sie drohte ihm mit dem ausgestrecktem Zeigefinger, ehe sie Julian zu sich rief. „Und du kommst mit mir, ich brauche schließlich die Vorlage.“ Sie grinste ihn schelmisch an, als sie ihn verschleppte.

Liang machte sich Sorgen, ob sie nicht etwas mit ihm anstellen würde, setzte sich dann aber seufzend auf seinen Platz in einer Ecke des Raumes. Die Leinwand stand schon auf der Staffelei, er drehte sie noch ein wenig so hin, dass er in den Raum und nicht aus dem Fenster schauen konnte. Dann begann er, die Grundfarben auf die Palette zu drücken, den Pinsel und andere Utensilien zurechtzulegen. Als alles stand, war er soweit.

Es konnte beginnen.

Ein Schub Kreativität durchströmte seinen Körper, als er seiner Fantasie freien Lauf ließ. Aus dem Zimmer mit den großen Panoramafenstern und hellbraunem Holzboden wurde ein Ballsaal mit großen Bogenfenstern, in das warmes Licht hineinschien. Holz wurde zu glattem, poliertem Stein mit Holzmaserung; auch versteinertes Holz genannt. Die Staffeleien verwandelten sich in Ballbesucher eines Balls, der tagsüber stattfand. Ein frohes Volksfest mit ebenso fröhlicher Musik schallte durch den Saal und beglückte die tanzenden Besucher. Einfach gekleidete Leute mischten sich unter die teuren Luxusleinwände und Farben wurden jedermanns Accessoire.

Unbewusst fing er an, zu summen.
 

„Die Kette legst du niemals ab, oder?“, fragte sie sicherheitshalber nochmal nach. Sie litt mit ihm, als er eine relativ ungemütlich gebückte Pose einnehmen musste, damit sie die beste Sicht hatte auf den Anhänger hatte. Sie waren in einem Raum, der weniger Tageslicht zu ließ. Er befand sich neben dem großem Raum und diente ihr als Ruhestätte für ihre, wie sie es nannte, „wahre Kunst“.

Er verneinte und schüttelte den Kopf. Sie seufzte.

„Dann muss es so klappen. Wir können auch Pausen machen, sag, wenn du nicht mehr kannst, okay?“

Er nickte.

Dann schob sie hier und da ein Werkzeug zurecht, bevor ihre künstlerische Phase beginnen konnte. Als sie die Augen schloss und kurze Zeit später wieder aufschlug, wirkte sie wie verwandelt. Ein Ausdruck von höchster Konzentration lag auf ihrem Gesicht. Präzise begann sie, das Stück Keramik – eine einfache Scheibe, die der Größe der Kette entsprach – mit diversen Werkzeugen zu bearbeiten. Langsam, aber stetig formte sie ein Abbild, nein, ihr Abbild der Kette.
 

Es verging gerade mal eine halbe Stunde, als Julian um eine Pause bat, weil sein Rücken das nicht mehr lange mitmachen würde. Verständnisvoll riss sie sich aus der Konzentration und machte etwas zu essen für die drei. Während sie nun in der Küche werkelte, trat Julian sich streckend in den Raum, in dem Liang sich befand. Dieser saß mit konzentriert-entspannter – er konnte es nicht richtig definieren – Miene vor der Leinwand, die sich nun langsam mit Farben gehüllt hatte. Soweit er es in Erinnerung hatte, war Liang gerade an der Grundierung dran.

Um ihn nicht zu stören, schaltete Julian den Rückwärtsgang ein. Ab und zu warf er einen Blick nach hinten, damit er über nichts fiel. Leise entfernte er sich von ihm, als er auf einmal doch über etwas rücklings stolperte. Es polterte laut, Julian bereitete sich innerlich schon auf einen harten Aufprall vor. Da griff eine Hand nach einem seiner wild herum rudernden Arme, der letzte Versuch seinerseits, sein Gleichgewicht wiederzufinden.

Ein kräftiger Ruck beförderte ihn wieder auf die Beine. Liang war sich rechtzeitig von seiner Arbeit aufgestanden und ihn aufgefangen. Nun kam er aber nicht drum, Julian in seine Arme zu ziehen.

„Hoppala!“, rief er lachend aus, während er halb die Walzerhaltung einnahm. In seinen Ohren surrte immer noch leise Musik, die ihn erheiterte und seine Beine bewegte, seinen Körper in Schwung brachte und seine Laune auf einen Hochpunkt beförderte.

Leicht errötet legte Julian nach einigem Überlegen dann doch seine Hand auf die Schulter des Größeren. Ihn störte es ausnahmsweise mal nicht, die Frauenrolle übernehmen zu müssen. Gelassen summend glitt das Paar beinahe über die Fläche des Raumes, irgendwann summte Julian mit Liang. Es herrschte eine gelassene Ball- oder Feststimmung, sie waren so miteinander beschäftigt, dass sie in all ihrer Fröhlichkeit und all ihren manchmal ausgetauschten Zärtlichkeiten nicht bemerkten, wie sie den Raum betrat.

Sie nippte an einer dampfenden Tasse dunkler Schokolade und beobachtete die beiden lächelnd. Dann überbrückte sie leise die Distanz zwischen ihr und der Staffelei, auf die sie sonst keinen Blick werfen dürfte. Die Regeln eines Künstlers waren ziemlich eindeutig: Kein Werk darf beim Entstehen gesehen werden. Nun brach sie die eiserne Regel aus Neugierde, was den doch eher zurückhaltend stillen, jungen Mann dazu brachte, in solcher Freude aufzugehen.

Mit ausdrucksloser Miene sah sie sich das Bild an, auch wenn sie sich innerlich wie ein Honigkuchenpferd freute. Es war ein schönes Bild, auch wenn es noch nicht fertig war. Ihr stachen zwei Personen, die im Hintergrund waren, ins Auge. Nun musste sie doch wieder grinsen.

Sie wusste nicht, ob es Liang bewusst war, dass er sich und Julian in diese Szenerie gesetzt hatte.
 

„Danke, Mica. Die Kette ist wirklich schön geworden.“ Liang hielt die Kette, die der Julians sehr ähnelte und die nun um seinen Hals baumelte, in das goldene Abendlicht.

„Das will ich wohl hoffen! Ich habe schließlich einen ganzen Tag damit verbracht“, erwiderte sie schnippisch, jedoch auch nicht ganz ohne Stolz auf ihr vollbrachtes Werk. „Dein Bild ist aber auch nicht schlecht.“ Sie hatte ihre Beobachtung keinem der beiden erzählt und es schien auch niemand anderem aufgefallen zu sein. Egal, sie mussten es ja nicht unbedingt wissen.

„Danke auch von mir“, lächelte Julian. Sein Nacken schmerzte zwar ein wenig, aber das war es wert. Liang und er trugen ähnliche Ketten! Das grenzte an Paarketten oder Partnerlook.

„Gern geschehen!“ Sie nahm seine Hände und schüttelte sie lachend. „Kommt mich doch mal wieder besuchen, ja?“

„Gerne!“, rief Julian aus, auch er stimmte in ihr fröhliches Lachen ein. Liang stand etwas abseits und lächelte nur. Sie fragte sich insgeheim, ob es derselbe war, der mit Julian so vergnügt und innig durch das Atelier getanzt war.

„So, dann bis bald!“ Julian winkte ihr noch einmal zu, ebenso Liang, ehe sie beide den Weg nach Hause einschlugen. Sie winkte ihnen auch noch eine kurze Weile nach, verschwand dann aber wieder in ihr Haus. Sie hatte ein Bild aufzuhängen und sie war auch versucht, diese zwei Menschen im Hintergrund irgendwie einzukreisen, ließ es aber sein.

Die Erinnerung, dass sie da waren, musste genügen.
 

„Heute war ein toller Tag!“ Julian streckte sich im abendlichem Licht. Sie waren heute den ganzen Tag außer Haus gewesen. Mit einem Hauch von Rot dachte er an den Tanz mit Liang. Ihn wunderte es immer noch, wie er so fröhlich und locker sein konnte, doch es verunsicherte ihn nicht. Er wollte ihn öfter so sehen, noch viel, viel öfter.

„Ja“, sagte auch Liang nach einer Weile. Sein Lächeln war mit jedem Schritt ein wenig verblasst, ihm machte wieder ein trüber Ausdruck der Sorge Platz. Nun, da die Musik in seinem Kopf aufgehört hatte zu spielen, kehrten seine alten Sorgen wieder zurück.

Angespannt verkrampfte er seine Hand, in der Julians lag.

„Liang, du tust mir weh“, kam es abrupt von Julian. Ruckartig ließ Liang los, ein entschuldigender Ausdruck lag auf seinem Gesicht. „Mann, Liang!“ Ohne ein weiteres Wort sagen zu müssen, glättete der Angesprochene seine Sorgenfalte. Daraufhin brach Julian in ein Kichern aus, welches rasch zu einem herzhaftem Lachanfall wurde. Liang wusste nicht wieso, aber als er sah, wie Julian sich vor Lachen den Bauch hielt und den befreienden, wunderbaren Klang von seinem Lachen hörte, überkam es ihn auch.

Lachend und Lachtränen weinend gingen sie die Landstraße bis zu ihrem zu Hause entlang, während ihre Hände fest ineinander geschlungen waren, als würden sie sich nie wieder los lassen wollen.
 

Doch bald nahm der Ernst des Lebens wieder die Oberhand. Liang bat Julian, in sein Zimmer zu gehen, und nicht vor morgen wieder herauszukommen. Etwas skeptisch und neugierig erklärte er sich einverstanden, auch wenn er sich wohl heimlich raus schleichen würde. Nun wollte er doch endlich wissen, was es mit dieser Heimlichtuerei auf sich hatte.

Während Julian sich erst einmal in sein Zimmer zurückzog, tigerte Liang im Wohnzimmer auf und ab. Die Kette hatte er sich inzwischen vom Hals genommen und hielt sie in der Hand. Wann würde Thomas endlich kommen, damit er das endlich hinter sich hatte? Aber warte. Was würde er danach machen? Er konnte Julian nicht den Rest von Thomas' Leben verstecken.

Da wurde ihm auch die Zeit, darüber nachzudenken, genommen. Erneut stand Thomas in der Tür, blickte erleichtert auf die Kette in Julians Hand.

„Du hast es also vollbracht.“ Er lächelte zufrieden. „Das hätte ich aber als allerletztes von dir gedacht“, gab Thomas dann zu. Liang starrte ihn die ganze Zeit einfach nur hasserfüllt an, in seinem Inneren regte sich ein Hauch Genugtuung. Er ahnte ja nicht, dass Julian noch lebte. „Naja, jedenfalls ist dieser Bengel Julian also endlich tot. Jetzt habe ich meine Ruhe.“ Er hatte sich inzwischen hingesetzt und entspannt die Augen geschlossen, die Kette wollte er gar nicht näher betrachten.

„Du wolltest was?“, rief dann plötzlich eine laute, sehr vertraute Stimme. Julian stand dort, wo eben noch Thomas gestanden hatte. Sein Gesicht war mit Zorn und Hass erfüllt. Wann war er dorthin gekommen? Wie viel hatte er mitbekommen?

„I-ich? N-nichts“, stotterte Thomas vor sich hin, fassungslos starrte er regelrecht auf den quicklebendigen Jungen. Hatte Liang gelogen? Ja, so musste sein. Aber woher kam die Kette? Missmutig blickte er auf die Kette, die gerade überdeutlich um seinen Hals baumelte und auf das geschickte Plagiat. Erst bei näherem Betrachten erschloss er, dass es zwei unterschiedliche waren. Sofort war ihm klar, wer dieses Plagiat angefertigt hatte. Es gab nur eine Person im Umkreis, die solche Werke so anfertigte. Auch in ihm hatte sich mit dem Fortschreiten seiner Gedanken Hass aufgestaut.

„Ach wirklich?“, schnitt Julians Stimme durch den Raum. „Du hast Liang dazu gezwungen, mich zu töten!“ Ihm war alles klar geworden. Alles erschien ihm klar vor seinen Zorn erfüllten Augen. Der Grund, weshalb Liang diese Kette anfertigen ließ. Wieso er die letzten Tage so merkwürdig war.

„Ja, was regt dich denn so auf?“, fragte Thomas betont ruhig. Ihm wurde wieder die Gefährlichkeit seiner Situation bewusst, als seine Hand unwillkürlich zuckte.

„Ich denke, dass weißt du ganz genau“, knurrte Julian. Sein Wunsch hatte sich schon entfaltet. Langsam und mit gequältem Gesichtsausdruck näherte sich Thomas dem Kamin, nahm kalte, schwarze Asche und rieb sich damit ein.

Liang verfolgte diese Prozedur mit Staunen. Was hatte Julian nur vor?

Bald war Thomas ganzer Körper mitsamt seiner teuren Kleidung voll von den schwarzen Überresten der warmen Abende am Kamin. Nur feine Spuren dort, wo Tränen sich einen Weg durch den Ruß gebannt hatten, sah man Spuren von sauberer Haut. Nun hinterließ er eine feine Spur aus schwarzen, sehr feinen Körnern, als er in die Küche ging. Mit immer noch fuchsteufelswildem Blick folgte Julian ihn. Was zur Hölle hatte er sich gewünscht? Für Liang war es immer noch ein einziges Rätsel.

Er würde Thomas doch nicht dazu bringen, sich selbst umzubringen, oder?

Liang packte Julian am Arm. „Julian, was hast du mit ihm vor?“ Er sah ihn besorgt an.

„Was sollte ich schon mit ihm vorhaben?“ Julians Verstand klärte sich allmählich wieder. Als es ihm wie Schuppen von den Augen fiel, wurde ihm das Ausmaß seiner Handlung bewusst.

„Was hattest du mit ihm vor?“, fragte Liang noch einmal, nun sehr besorgt. Er hasste Thomas zwar wie die Pest, aber seinen Tod konnte er nicht verantworten.

„Ich-“ Julians Erklärung wurde überfällig, als Thomas laut aufschrie und in der Küche herum hampelte wie ein Irrer. Schnell eilten die beiden nach, um nachzusehen, warum er so schrie.

Thomas hantierte in der Küche herum, sprang wild auf und ab, fächelte sich mit der Hand Luft zu und weinte. In seiner anderen Hand hielt er etwas Rotes, Langes.

„Ähm... Du hast ihn jetzt nicht ernsthaft...“ Liang sah Julian ungläubig an, der sich hinter einer hochroten, trotzigen Miene versteckte.

„Was denn? Das war eben mein erster Einfall“, verteidigte sich der Angeklagte, während das Opfer immer noch auf der Suche nach etwas war, das seinen brennenden Rachen lindern würde.

„Du bist echt unglaublich.“

Finale Heimkehr

 „Du willst wirklich nicht mitkommen?“ Julian sah Liang mit traurigem Blick an. Sie standen sich gegenüber, der Kleine blickte zum Großem auf. Es herrschte eine Atmosphäre der Trennung.

Nachdem Thomas wieder fähig war zu reden, hatte er geredet. Er hatte Julian alles erzählt, die gesamte Wahrheit. Die Chilischote schien seiner Zunge Flügel und seinen Worten Wahrheit verliehen zu haben. Julian hatte sich entschieden. Er wollte wieder in sein Elternhaus heimkehren, wollte sehen, wie es seiner Mutter ging.

Doch Liang kam nicht mit. „Nein, ich komme später vielleicht noch nach, okay?“, lächelte dieser, nicht minder traurig. Aus einem Impuls heraus umarmte er den kleinen Trauerkloß fest und innig. Unwillkürlich rannen beiden Tränen über die Wangen, als ihre Lippen ein letztes Mal für ein eine unbestimmt lange Zeit sich berührten.

„Also heißt es wohl erst einmal Abschied nehmen“, seufzte Julian und kuschelte sich an Liangs Brust, atmete tief seinen warmen, vertrauten Duft ein.

„Ja, aber ich habe noch ein Geschenk für dich.“ Er lächelte und zauberte aus den Tiefen seiner Jackentasche eine kleine, handliche Leinwand hervor. Zuerst konnte Julian das Motiv nicht sehen, aber als er es schließlich in den Händen hielt, lächelte er wohlig.

Liang hatte ihm mit seiner unverwechselbaren, malerischen Handschrift eine rote Nelke gemalt. Stolz wie eine Rose erhob sie sich aus dem zart wirkenden Glasgefäß, der Hintergrund war in bizarr angeordneten Grün- und Gelbspritzern koloriert, verziert von weißen Sprenkeln, doch nichts schien den Blick von der erhabenen Blume in deren Mitte ablenken zu können. „Es war mal eine Rose, habe ich Recht?“, grinste Julian.

Mit einem gespieltem Hauch der Verlegenheit kratzte der Maler sich den Kopf. „Tja...“

„Ich kenne dich ja.“ Der Beschenkte hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen, als er dann auch schon fort ging. Er winkte ihm zu, der andere winkte zurück, während beide ihrer Wege gingen.

Bis sie wieder zueinanderfinden würden.
 

Julian wählte einen zivileren Weg als den, den er und Thomas auf ihrer Hinreise bestritten hatten. Thomas kam mit ihm mit, ganz in Schwarz gekleidet, aber mittlerweile mit sauberen Sachen und von Ruß befreit. Julian hatte sich dazu entschieden, ihn mitzunehmen, um Rechenschaft für ihn einzufordern.

Beim Planen der Reiseroute hatte Liang ihm geholfen. Er war erstaunlich geschickt daran, das beste Angebot was Züge und Preise betraf herauszufinden und die kürzeste Route zusammenzustellen. Aber vielleicht war es auch nicht so verwunderlich, wenn er vor seiner Begegnung mit Julian und seiner Niederlassung bei ihm ständig durch die Welt gereist war. Unwillkürlich fragte Julian sich, ob Liang das vermisste. Die weite Welt sehen. Er persönlich war nie großartig herum gereist, wer weiß, vielleicht änderte sich das ja, wenn er die Sache mit Thomas und seiner Mutter geregelt hatte.

Vielleicht konnte er dann mit Liang an seiner Seite die Welt endlich entdecken.

Unbewusst hatte er angefangen, zu lächeln, während er die vorbeiziehenden Landschaften betrachtete. Thomas saß ihm direkt gegenüber im Zug und starrte nur argwöhnisch vor sich hin. Dadurch, dass er es verhindern wollte, ist es erst passiert! Es war wirklich dumm von ihm, zu glauben, dass Liang Julian umbringen würde. Nun würde er seiner Strafe entgegen sehen müssen.

Innerhalb von wenigen, schweigsamen Tagen hatten sie schließlich Julians Elternhaus erreicht. Ein leiser Anflug von Wiedererkennen flammte in ihm aus, doch viel war es nicht. Er erinnerte sich nur an die Wärme der Frau, die seine Mutter war. Mehr nicht. Und genau zu eben dieser Frau wollte er nun. Entschlossen betrat er das Gelände und wünschte sich bis zu ihr durch. Die Diener gaben ihm bereitwillig Auskunft. Zügig stand er vor der Tür des Raumes, in der seine Mutter sein sollte.

Doch die Tür war zu und ließ sich nicht öffnen. Nun stand er im Flur, weit und breit keiner zu sehen, der ihm den Schlüssel geben konnte. Gut, dann eben ohne Augenkontakt.

„Mutter, seid Ihr noch am Leben oder tot?“, fragte er mit auf einmal brüchiger Stimme. Er verfluchte sich innerlich für seine Anrede. Sie war doch seine Mutter, wieso also siezte er sie? Er nahm seine tiefe Unsicherheit war.

„Ich habe doch eben gegessen und bin satt“, kam es von einer freundlichen, warmen, vertrauten Stimme. Sie kam ihm bekannt vor, sie war ihm so vertraut. Er war beinahe davor, in Tränen auszubrechen.

„Nein, ich bin es. Ich bin Euer-“ Er unterbrach sich und biss sich auf seine Lippe, schluckte und atmete tief ein. „Ich bin dein Sohn. Ich bin am Leben und nicht tot, ich werde dich bald daraus holen, okay?“

Es kam keine Antwort, doch füllten leise Schluchzer die Distanz zwischen den beiden Herzen.
 

„Habe ich dich richtig verstanden?“, fragte der Mann, der Julian so unheimlich fremd erschien und doch sein Vater sein sollte, nachdem er, ohne es zu wissen, mit nachdenklicher Miene seinem verlorenem Sohn zugehört hatte. „Du willst als Jäger bei uns anfangen?“

Julian nickte, bereute seine idiotische Idee aber auch schon.

„Ja, also, wenn du gut ausgebildet bist, soll mein Wort das letzte sein, dass dich daran hindert, aber es gibt ein Problem: Hier in dieser Gegend ist zu keiner Zeit Wild herumgelaufen. Du wirst nichts haben, dass du schießen könntest“, widersprach sein nichtsahnender Vater dem Vorhaben von Julian.

„Das ist kein Problem, vor mir konnte sich noch kein Wild verstecken“, lächelte dieser aufmunternd, aber auch leicht verkrampft.

„Na gut, dann versuch dein Glück“, meinte sein Vater dann. War da eine Spur von Herausforderung in seiner Stimme? „Geh und verrichte deine Arbeit.“

Das tat Julian auch. Doch Thomas musste ihm helfen, heimlich natürlich. Bald standen sie in einer versteckten Nische des weitreichenden Waldes, der Julian vertrauter war als sein Elternhaus, und Julian fing an, sich ganz stark und krampfhaft Wild herbei zu wünschen. Sein Wunsch musste weit, weit reichen, damit irgendein Hirsch oder was auch immer seinen Wunsch erhörte.

Und tatsächlich, als Julian schon die Schweißperlen den Nacken hinunterliefen, kam hier und da ein Hirsch, ein Reh, zwei Kaninchen und allerlei andere Tiere. Ein präziser Schuss nach dem anderem ertönte von Thomas, der diesen Tieren einen schmerzlosen Tod bereitete. Keines der Tiere schreckte zurück, Julian hatte nun doch ein wenig Mitleid mit ihnen, aber... Es ging nicht anders. So war das Gesetz der Natur nun einmal und er hoffte sehnlichst, dass keine Eltern hierher gelaufen waren. Er würde später, wenn alles geklärt ist, nach Waisen im Wald Ausschau halten.

Mit Liang.

Allein der Gedanke an ihn füllte Julians Bauch mit einem angenehmen Kribbeln. Wann würde er ihn wohl wiedersehen? Wann wieder seinen Geruch riechen?

Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte Julian auf, sich noch mehr Wild herbeizuwünschen. „Das müsste reichen, oder?“ Er schaute den Haufen nur aus den Augenwinkeln an. Ein wenig schauderte ihn der Anblick von Blut doch. Und es war so viel.

„Ja“, antwortete Thomas einsilbig. Er betrachtete den Haufen seinerseits mit großer Bewunderung und, wenn Julian sich nicht irrte, Begeisterung. Sein Jagdgeschick war nicht zu unterschätzen.

„Also, ich rufe Va...“, Julian stockte, zwang sich aber, weiterzureden, „...ter an, damit er das hier abholen kann.“ Schnell hatte er die Nummer in sein Handy eingetippt. Der Mann am anderem Ende der Leitung hob auch relativ schnell ab.

„Ja, Marcel Mair am Apparat?“, ertönte die Begrüßungsphrase.

„Hallo, hier ist Julian. Wi-Ich habe eine Menge Wild erlegen können, es wäre nett von Ihnen“, er schluckte das Fremdartige herunter, „wenn sie es abholen kommen könnten.“

„Was? So schnell?“ Er hörte deutlich die Ungläubigkeit und konnte sich seinen passenden Gesichtsausdruck leicht vorstellen.

„Ja, es war ein Kinderspiel“, log Julian, während er sich mit seinem T-Shirtsaum die Schweißtropfen von der Stirn abtupfte.

„Scheint so. Ich lasse jemanden schicken, wo bist du gerade?“

„Im Wald, ich denke ungefähr in der Nordhälfte, dort bei der großen Eiche mit dem rotem Vogelhaus“, beschrieb er die Lichtung, auf der sie gerade waren.

„Okay, es kommt sofort jemand.“

„Ich warte.“

Das Tuten erklang als Zeichen, dass der Gesprächspartner aufgelegt hatte.
 

Der Mitarbeiter, der das Wild und Julian – Thomas musste sich im Wald versteckt halten – abholte, staunte nicht schlecht, als er den beachtlichen Haufen ansah und auf eine von zwei kleinen, stämmigen Ponys gezogene Kutsche, an die er ein paar Anhänger gehängt hatte, damit das Fleisch transportieren konnte. Er lobte Julian während der Kutschfahrt in den Himmel, er war sichtlich begeistert. Julian hingegen lächelte nur milde, zu müde und auch immer noch mit Ekel und Schrecken beim Anblick der bald vom Regen fortgespülte Blutspur, die sie hinter sich zogen.

„Du hast gute Arbeit geleistet. Heute wird mit einem Festmahl gefeiert!“, lobte auch sein Vater ihn in höchsten Tönen. Er klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. „Du sollst heute neben mir sitzen, Bursche!“

„Ach was, ich bin doch nur ein schlechter Jäger, mir gebührt so eine Ehre nicht“, wies Julian ihn ab, doch lange konnte er seinen Widerstand nicht halten, denn sein Vater bestand fest darauf und ließ sich nicht davon abbringen.

Beim abendlichem Essen fand er sich nun neben seinem Vater wieder, ein wenig unangenehm war es ihm schon. Außer den beiden saß auch noch die halbe, wenn nicht sogar die ganze Dienerschaft zu Tisch, doch richtig herausstechen tat niemand. Sie wirkten alle irgendwie... gleich, auch wenn Julian sich größte Mühe gab, sich all ihre Namen zu merken. Nur ein Zwillingspaar fiel ihm nach einer Weile auf, zwei Frauen, die ihm merkwürdig vertraut vorkamen.

Aus irgendeinem Grund fing er an, an seine Mutter zu denken. Schnell rührte sich der Wunsch in ihm, dass irgendeiner, dem Vater zuhörte, von ihr zu reden anfing.

„Das Essen ist wirklich exzellent. Ich frage mich ja, wie es Eurer Ehefrau geht. Ob sie wohl noch lebt oder schon unter den Sternen weilt?“, fing dann tatsächlich der Verwalter des Anwesens an.

Sofort verzog sich das Gesicht des Hausherren zu einer Grimasse. „Das kann mir egal sein, sie war es doch, die den kleinen Jungen verloren hat.“ Seine Augen waren voll Trauer, als er daran erinnert wurde, doch Liebe hatte er für sie keine mehr.

„Gnädiger Vater, sie ist noch am Leben und ich bin ihr Sohn. Dein Sohn“, erhob sich Julian nun, er konnte es nicht länger ertragen, „Es war nicht Mutter, die mich verloren hatte. Der alte Koch Thomas hatte mich mit einer List geraubt!“ Julian machte eine Pause, in der er den Wunsch formte, dass Thomas, der inzwischen wieder schwarz von Ruß war, hineinkommen würde und so viel Chili essen würde, dass sein Rachen höllisch brannte.

Das geschah kurze Zeit später auch, er war nicht weit entfernt gewesen und irgendeiner der Köche hatte ein besonders scharfes Gericht gezaubert, welches als Chiliersatz herhalten musste. „Das ist der, der dich in diese Trauer geführt hat!“, rief Julian laut und zeigte auf den alten Koch. Bald erklangen die Klagelaute von Thomas, doch hörte er nicht eher auf zu essen, als Julian wieder seine Stimme erhob: „Und nun sollt ihr ihn sehen, wie er ohne Ruß ist!“ Man brachte ihm einen großen Wassereimer, in dem er sich baden konnte.

Sobald der König das Gesicht seines ehemaligen Kochs erblickte und verstand, rührte sich Wut in ihm. „Er war es also! Sperrt ihn in einen finsteren Raum und lasst ihn nie wieder das Tageslicht erblicken!“ Ohne die Hilfe von biologischen Botenstoffen folgten augenblicklich die Diener, die Thomas am nächstem waren, dem Befehl ihres Herrn.

„Vater“, Julian konnte es nun ohne Zögern aussprechen, „möchtest du auch denjenigen sehen, der mir die ganzen letzten Jahre zur Seite stand?“

Sein Vater holte erst einmal tief Luft, versuchte, seinen auf brodelnden Zorn zu zügeln, ehe er antwortete: „Gerne.“

„Hier, sieh mal, das hat er mir gemalt“, sagte Julian dann doch zuerst und zog das Bild, das sein liebster Künstler ihm gemalt hatte, aus seiner Jacke und reichte es seinem Vater. Staunend strich dieser über das Bild, betrachtete die Farben und das Motiv, welches er so noch nie erblickt hatte. Während er in Staunen versunken war, rief Julian Liang an. Nach einmaligem Klingen nahm Liang ab.

„Julian?“

Zuerst stockte Julian. Es war so schön, seine Stimme zu hören, auch wenn sie ein wenig verzerrt klang. „Ja, ich bin es. Kannst du zu mir kommen?“ Julian hatte das Gefühl, dass seine Stimme zitterte, auch wenn es nicht der Fall war. Wieso war er so aufgeregt, nervös?

„Klar. Ich bin auch so schon auf dem Weg zu dir, ich wollte dich sehen.“ Julian stellte sich das Lächeln vor, das ihm mit Hilfe der Stimme übertragen wurde.

„Ich dich auch.“

„Ich dich mehr.“ Erstaunt drehte Julian seinen Kopf Richtung Eingang, in dem Liang grinsend stand und seine Arme ausbreitete. Der Jüngere vergaß all seine Manieren und Bedenken, lief einfach los und warf sich seinem Geliebtem in die Arme. Er weinte, als er dessen Geruch tief einatmete, sich von ihm über den Kopf streicheln ließ und sich an seine Brust klammerte. „Alles ist gut, du musst doch nicht weinen.“

Da ertönte ein Räuspern von Julians Vater. Peinlich berührt lösten sich die Verliebten so weit voneinander, dass sie dem Erwachsenen am anderem Ende des Raumes in das Gesicht sehen konnten. „Julian, magst du mir den jungen Herrn nicht vorstellen?“

„Ä-ähm... Das ist Liang Shen, mein... F-f-f-reund“, antwortete Julian, während er beim letzten Wort sich doch noch dazu entschied, sein Gesicht an Liangs Brust zu vergraben. So bekam er auch nicht die hochgezogene Augenbraue seines Vaters, Marcel, mit und dieser konnte das glühende Gesicht seines Sohnes nur erahnen.

„Aha...“, sagte dieser ausgedehnt und nahm den Freund seines Sohnes näher in Augenschein. Er hätte nie erwartet, seinen Sohn wiederzusehen und selbst in seinen kühnsten Träumen hätte er es sich nicht ausmalen können. Nun, wo dieser aber leibhaftig vor ihm stand erwartete ihn gleich die nächste Hürde: Sein Sohn war schwul. Was war in den letzten Jahren bloß passiert?

Der älterere Herr seufzte. Er würde sich wohl damit vereinbaren müssen, schließlich wollte er seinen Sohn, den er eben erst wiedergefunden hatte, nicht erneut verlieren. Und, zugegebenermaßen, dieser Liang sah auch nicht sooo schlecht aus.

„Also... Willkommen in der Familie, Liang Mair“, scherzte Marcel halb im Ernst, halb zum Spaß.

Danke

Bald wurde auch Maria, Julians Mutter, zur Tafel gebracht. Sie setzte sich zu ihrem Ehemann, dem sie schon lange verziehen hatte, und zu ihrem Sohn und dessen Freund. Ihre beiden 'Töchter' winkte sie zu sich, lachend verbrachten sie den Abend. Auch Maria registrierte, dass Liang nicht die schlechteste Partie für ihren Sohn war. Er schien auch gut für ihn zu sorgen, also sei es drum, dachte sie sich.

Als sie die Geschichte der beiden hörte, musste sie schmunzeln erinnerte sie sich an ein Märchen, welches ihre Mutter immer sehr gerne hatte. Es hieß „Die Nelke“ und passte wirklich hervorragend zu den Ereignissen, als ob ihre Mutter Gott persönlich darum gebeten hatte.

Aber essen tat sie nichts. „Ich habe heute schon gegessen, der liebe Gott hat mir meine zwei Engel geschickt“, sagte sie lächelnd, auch wenn niemand außer den drei Frauen wusste, von wem die Rede war. „Aber ich fühle, dass auch Gott mich langsam zu sich holt.“

Marcel schloss Maria daraufhin sofort in seine Arme, weinte und flüsterte, mehr zu sich selbst: „Nein, nein, du darfst nicht gehen. Nicht jetzt.“

Doch drei Tage später war es so gekommen, wie sie gesagt hatte. Sie hatte ihre letzten Tage am Sonnenlicht genossen, mit Julian, Liang, Marcel und ihren beiden Lieben verbracht, doch nichts konnte, wie sie sagte, Gottes Entschluss ändern. Sie dankte allen vor ihrem Gehen für die schöne Zeit.

Am drittem Tag nach der Vereinigung betrat Maria Mair das Himmelreich und über ihr irdisches Grab würden nun ihre zwei Engel wachen, bis auch diese drei wieder vereint würden.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke an alle, die es gelesen haben und ich hoffe, euch gefällt es wenigstens ein wenig ;)
Ihr dürft mich gerne auf meinem Blog (literatureofmine) weiterverfolgen und vielleicht liest man sich ja wieder?
Unter diesem Link findet ihr alle Postings zu "Die Nelke" und irgendwann könnt ihr da auch die Extras zu dieser Geschichte finden, die ich noch im Kopf habe :) Komplett anzeigen

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