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Die Nelke

von

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Entwickelnde Zuneigung

 „Und du möchtest wirklich kündigen?“, fragte Lucian seinen alten Koch. Sie befanden sich im Arbeitszimmer des Hausherren, es war schon Nachmittag.

„Ja, ich denke, meine Zeit ist abgelaufen“, sagte der Alte daraufhin.

„Na gut, wenn du es dir so wünscht. Viel Glück auf deinen weiteren Wegen“, wünschte Lucian ihm noch, ehe er aus dem Zimmer schritt.

Den richtigen Grund der Kündigung kannte sein ehemaliger Herr natürlich nicht. Er hatte befürchtet, dass etwas sein über die Jahre wohlbehütetes Geheimnis, das gestohlene Kind, durch eben diesen Knaben offen gelegt werden konnte. Vielleicht wünschte er sich einmal nur etwas Falsches und alles war hinüber. Um dem zuvorzukommen hatte der Koch seine Stelle gekündigt. Nun machte er sich auf dem Weg zu der Hütte im Wald, wo er den Jungen die ganzen Jahre über versteckt hatte.

„Julian, komm her!“, rief er, nachdem er die Wohnstätte des Jungens betreten hatte.

„Ja, was gibt es, Thomas?“, schallte es sogleich von oben, wo der Junge sich normalerweise aufhielt. Er kam schnell heruntergelaufen, als er seinen Ziehvater gehört hatte. Er war zu einem stattlichem jungen Mann herangewachsen, sein hellbraunes Haar schnitt er sich regelmäßig unordentlich kurz. Er trug die Klamotten, die der Koch Thomas ihm immer mitgebracht hatten. Seine dunkelblauen Augen schauten immer neugierig durch die Welt, und das seit nun fast 15 Jahren im Wald.

„Wir ziehen weg.“

„Was? Wohin denn?“ Julian staunte nicht schlecht, als er diese Überraschung hörte.

„In die weite Welt. Pack deine Sachen, ich will heute noch los.“ Thomas machte es sich auf dem Stuhl, der im Flur stand, bequem.

„Ich bin sofort wieder da!“ Aufgeregt lief der Knabe wieder nach oben. Er würde die Welt endlich sehen! Hastig hatte er all seine Sachen gepackt. Es waren nicht viele, aber alles, was er sich je gewünscht hatte. Eine Schere zum Haareschneiden, Schokolade und andere Süßigkeiten, ein kleines Rehkuscheltier – damals wollte er unbedingt eine Rehnachbildung haben – und noch andere Sachen, die ihm die Amme und Thomas ihm mitgebracht hatten.

Aber das wichtigste trug er immer direkt bei sich. Eine Kette, von der er nicht wusste, von wem sie war, doch niemand, der es je versucht hatte, konnte sie ihm abnehmen. Er hütete sie selbst im Schlaf wie seinen Augapfel.

Als er alles zusammen hatte, sah er sich noch einmal in seinem Zimmer um. Es war ein kleines, sauber aufgeräumtes Zimmer mit eher wenigen Sachen. Er verbrachte oft Zeit draußen und genoß die warmen Sonnenstrahlen oder beobachtete die sprießende Natur. Im Winter zog er es aber auch vor, die Nächte drinnen zu verbringen.

„Wir können los!“ Er war schnell wieder nach unten gelaufen, hatte seine Schuhe angezogen und seine Jacke vom Haken genommen. Nun stand er erwartungsvoll blickend vor der Tür, darauf wartend, dass Thomas die Tür öffnen würde und ihn mit in die Außenwelt nahm.
 

Viel von der erhofften Welt bekam er leider nicht zu sehen, da sein Ziehvater andere Pläne mit ihm hatte. Sie durchschritten den Wald und gingen danach zu Fuß durch Einöde. Dank einer Karte erreichte der Koch und Julian ungesehen und sicher den nächstgelegenen Ort. Es war das Dorf ganz in der Nähe des Anwesens. Dort angekommen quartierten die beiden sich in ein Gasthaus ein, da der Abend schon dämmerte.

„Thomas? Wohin gehen wir?“, fragte Julian Thomas, als die Sterne schon lange hell am Firmament standen und der Mond über den Himmel wachte. Sie lagen in ihren Betten, aber Julian konnte einfach nicht einschlafen, er war viel zu aufgeregt auf den morgigen Tag.

„Irgendwohin weit weg“, murmelte der Befragte. Dann drehte er sich im Bett um und schlief weiter.

Julian seufzte und bemühte sich ebenfalls, einzuschlafen.
 

Der nächste Tag dämmerte schon früh. Er lockte den erkundungslustigen Jungen aus dem Bett, während der herrliche Morgen beim ehemaligem Koch eher für müdes Grummeln sorgte.

„Los, wir müssen doch weiter“, rief Julian voller Energie. Mürrisch erhob sich der alte Mann sogleich, von seiner Ausstrahlung gezwungen, und sie gingen schon zeitig weiter. Lange liefen sie eine Landstraße entlang, die vom Dorf und auch immer weiter von dem Anwesen der Mairs weg führte.

Summend beschritt der weltfremde Spross die Welt, die sich plötzlich um ein gutes Stück vergrößert hatte. Er summte unbewusst das Lied, das seine Mutter Maria ihm immer vor gesummt hatte, wenn sie fröhlich war, und sie war das Jahr nach seiner Geburt sehr oft glücklich und von Freude erfüllt.

Viel Gepäck hatten die Wanderer nicht dabei. Scheinbar endlos lange liefen sie den Weg entlang, machten ab und zu Essenspausen, schwiegen aber sonst. Zufrieden betrachtete Julian immer wieder die vor sich entfaltende Karte, sah die für normale Leute sich kaum verändernde Landschaft wie einen neu gefundenen Schatz an.

Am Abend des ersten Tages kamen sie wieder in ein Dorf, aber diesmal war es größer als das vorherige. Thomas kaufte sich und Julian Fahrkarten und sie fuhren in ein noch weiter weg gelegenes Dorf, das man wohl schon als Stadt bezeichnen kann. Rasend schnell wechselten die Landschaften eines Landes in der Dämmerung und in der Nacht dahin, zogen mit dem Fortschreiten des Zuges davon. Julian klebte förmlich an der Fensterscheibe des Zuges und konnte sich kaum an den dahinschwindenden Landschaften sattsehen.

Aber auch seine Energie war nicht unermüdlich. Immer noch an das kühle Glas angelehnt schlief er schon bald wieder ein, erholte seine Reserven, um sie für den kommenden Tag aufwenden zu können. Im Gegensatz zu ihm blieb Thomas mit seinem energiesparenderem Verhalten noch bis in die Nacht wach. Als der Junge eingeschlafen war, bereitete er den Plan für die nächsten Tage vor.
 

„So, Junge. Wir sind jetzt da“, sagte Thomas, nachdem er sich einmal gestreckt hatte. Sie waren aus dem Zug gestiegen, der sie bis hierher gebracht hatte. Mit glänzenden Augen blickte Julian verzückt um sich. Sie befanden sich an einem modern wirkendem Bahnhof in einer Stadt. „Wir gehen gleich zum Immobilienmakler.“

Julian nickte eifrig, selbst wenn er kein Wort verstand, es klang nur so unfassbar aufregend.

„Und du wünschst dir bestimmt ein großes Haus mit Garten und so, nicht wahr?“, fragte Thomas mit einem aufgesetztem Lächeln.

Da legte der andere den Kopf schief. Das hatte er sich nie gewünscht...

„Du wünschst es dir, nicht wahr?“ Das Lächeln bekam einen gruseligen Unterton. Jetzt nickte er noch eifriger als normalerweise, etwas verschreckt von diesem Lächeln. Dieses entspannte sich dann wieder. Geschickt manövrierte Thomas ihn und Julian aus dem Gedränge der Menschenmassen hinaus.

Julians Reize wurden regelrecht geflutet, was wohl zu Thomas' Glück beitrug, denn so konnte der Junge sich nicht auf etwas wirklich konzentrieren und es sich wünschen, sodass Thomas es ihm kaufen musste.

Nachdem der Ältere der beiden sich an einem Stadtplan orientiert hatte, fand er zügig einen Immobilienmakler in der Nähe. Sie betraten das große Glashaus, nachdem er Julian noch einmal den Wunsch eingebläut hatte.

„Willkommen! Was kann ich für sie tun?“, fragte die Dame am Empfang die beiden, als sie sich ihr näherten. „Ein großes Haus mit Garten und allem, was dazu gehört? Gerne!“, fügte sie sogleich hinzu. Es war für Außenstehende unerklärlich, weshalb sie es sofort schon wusste, für Julian aber normal und Thomas hatte sich auch schon daran gewöhnt, auch wenn es ihm immer wieder die Sprache verschlug. „Folgen Sie mir bitte, ich werde sie in die Abteilung leiten.“

Da fiel Julians Blick auf die kleine Glasschale mit Bonbons. Neugierig sah er sie an. Er starrte regelrecht zu ihnen, fragte sich, ob er wohl einen haben dürfte...

„Du darfst dir ruhig einen nehmen“, lächelte die Dame daraufhin sofort, obwohl sie ihm den Rücken zugedreht hatte. Sie und Thomas waren schon fast hinter dem Empfangsschalter zu den verschiedenen Abteilungen verschwunden. Hastig nahm Julian sich eins und folgte den beiden dann.

Die Dame verabschiedete sich wieder, nachdem sie die beiden Kunden an den Makler abgegeben hatte.

„Sie wünschen also ein großes Haus mit Garten?“, fragte der Makler in seinem weißen, gepflegt aussehendem Anzug.

„Ja.“ Sie hatten auf den Stühlen vor dem Tisch Platz genommen. Julian entrollte das Bonbon aus dem weißem Papier, es war rot und schmeckte nach süßen Himbeeren mit viel Zucker.

„Da hätte ich ein wunderschönes Angebot für sie! Ein großes, mit Holz verkleidetes, eben erst saniertes Haus mit einem großem Garten und Pool“, fuhr der Makler fort. Er legte ihnen eine Bilderserie eines wirklichen hübschen, imposantem Haus vor. Es war ein österreichisches Landhaus, gebaut aus einem braunem Holz, welches dem Braun von Julians Haaren glich. „Es hat 10 Zimmer, einen großen Pool und einen wirklich großen Garten.“ Julian entdeckte auf den Bildern, dass es auch eine Terasse hatte. Er war sofort begeistert und wünschte sich das Haus wirklich sehr.

„Das ist wirklich hübsch. Wie viel kostet es?“

„850.000 Euro.“

Thomas hatte diese Antwort schon erwartet. Er verspürte den starken Drang, das Haus zu haben, weshalb er vermutete, dass Julian seine Pheromone oder was auch immer im Spiel hatte. „Das ist sehr bedauerlich, wir haben nur 500.000.“

Direkt nachdem Julian die Zahl gehört hatte, war er niedergeschlagen. Wenn es doch nur 500.000 kosten würde, dann...

„Ach, ich denke ich kann etwas beim Verkäufer machen, dass der Preis gesenkt wird.“

Julians Blick hellte sich merklich auf.

„Das wäre sehr freundlich von Ihnen.“ Zufrieden lächelte Thomas und die beiden Erwachsenen beglichen den Vertrag mit einem Händedruck.

„Gerne doch.“ Der Makler lächelte, auch wenn er nicht wusste, wieso er den Preis so drastisch gesenkt hatte. Das war mehr als kontraproduktiv, was sollte er nur dem Verkäufer sagen?

„Könnten wir es jetzt direkt mit dem Verkäufer regeln? Wir haben es eilig, wissen Sie.“

Der Gedanke daran, sofort in dieses Haus zu ziehen, gefiel Julian.

„Aber gerne, kommen Sie.“ Mit einer Geste führte er seine Kunden durch das Glashaus nach draußen, nachdem er mit dem Verkäufer telefoniert hatte. Dieser kam dann einige Zeit später zu dem Landhaus, zu dem die drei schon vorgefahren sind.

Der Noch-Besitzer des Hauses war ein älterer Herr, der in das Altenheim ziehen würde und das Haus nicht mehr benötigte.

„Guten Tag. Sie wollen das Haus kaufen?“, fragte er die beiden sofort. Er schüttelte ihre Hände mit erstaunlich starkem Druck.

„Guten Tag. Es ist mir ein wenig peinlich, aber könnten Sie den Preis auf 500.000 mit Möbeln senken?“, fragte Thomas mit einem verlegenem Lächeln.

Erwartungsvoll sah Julian ihn an.

„Sicher, ich brauch es ja sowieso nicht mehr“, lächelte der Verkäufer. Es war wirklich verwunderlich, wie Julian alle dazu brachte, seine Wünsche zu erfüllen, ob er selbst es nun wollte oder nicht. Die Erwachsenen klärten in einiger Distanz zu Julian die geschäftlichen Sachen. Angeregt diskutierten sie miteinander, während Julian sich auf die Wiese, die das Haus umgab, setzte und die Umgebung betrachtete.

Das Haus lag auf einem sanft ansteigendem Hügel, man hatte eine wunderbare Aussicht auf das untenliegende Tal und auf den Wald, der hier wie die Wiesen allgegenwärtig war. Es erinnerte ihn ein wenig an etwas, woran er sich nicht mehr erinnerte.

Das machte ihn stutzig. Grübelnd vertiefte er seinen Blick auf das grüne Gras, versuchte aus ihm Erinnerungen an vergessene Tage heraufzubeschwören.

Da fiel Thomas wieder Julian ein, dem er das alles ja zu verdanken hatte. Er unterbrach kurz die Diskussion mit den anderen beiden und näherte sich Julian.

„Hey, Junge. Es ist nicht so schön, alleine zu sein, nicht wahr?“, fragte er mit falscher Einfühlsamkeit.

Der Angesprochene schüttelte den Kopf.

„Und langweilig ist dir sicherlich auch?“

Diesmal nickte er.

„Willst du nicht mal nach unten in das Dorf im Tal, vielleicht findest du dort ja deine Traumfrau“, zwinkerte Thomas, hob den Jungen an seinem rechtem Arm hoch und stieß ihn sachte hinunter. Er winkte ihm noch zum Abschied zu.

Julian winkte zurück und machte sich dann an den Abstieg, eine leise Hoffnung wurde in ihm geweckt.
 

Das Dorf war ein ruhiges Örtchen. Altertümlich Aussehendes reihte sich an moderne Haarsalons, überall herrschte gemächliche Betriebsamkeit. Staunend ging Julian durch die Stadt, erfreute sich an den vielen, ihm nicht bekannten Sachen.

Als ein händchenhaltendes Pärchen an ihm vorbeiging, erinnerte er sich wieder, weshalb er hergekommen war. Eine Weile versuchte er, sich auf die Mädchen in seiner Nähe zu konzentrieren, aber sein Blick schweifte immer wieder zu den für ihn manchmal recht wunderlichen Sachen im Dorf um. Er konnte sich wirklich sehr schnell für Dinge begeistern, und das zeigte sich jetzt besonders deutlich.

Während er durch die Straßen und Gassen bummelte, fielen ihm immer wieder bestimmte Dinge auf, die seine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Mal waren es kleine Brunnen am Straßenrand, dann wieder das Handarbeitsgeschäft im Herzen des Ortes. Dann waren es die bunten Vögel der Zoohandlung, danach die Verzierungen an einer vorbeifahrenden Kutsche. Die schönen Pferde auf den Bildern, das Gebäck der Bäckereien.

Er schlenderte nun schon eine Weile durch das Dorf und hatte immer noch nicht alles gesehen. Er war nun am anderen Ende angekommen, doch es war noch nicht zu Ende. Er ging aus dem Ort hinaus, weil er einer Landstraße folgte. Er fragte sich, wohin sie führte. Ob sie ihn wohl zu besagter „Traumfrau“ führte? Da fühlte er es wieder. Diese leise Hoffnung. Er hatte noch nie zuvor mit Gleichaltrigen geredet, geschweige denn welche gesehen. Würde er wissen, wie er sich benehmen sollte? Nervosität mischte sich in anfängliche Freude, doch dann beschloss er, es einfach passieren zu lassen.

Er summte ein Lied.

Die Landstraße verlief lange nur geradeaus, als sie dann, vollkommen unerwartet, eine Abzweigung aufwies. Diese war jedoch nicht von demselben hellen Braun wie die eigentliche Straße, sondern viel, viel dunkler und unebener. Julian sah sich kurz nach hinten um, noch konnte er die Umrisse des Dorfes sehen. Es war Nachmittag, es dürfte also wohl nicht schaden, wenn er kurz...

Gedacht, getan. Frohen Mutes betrat er die dunkle Abzweigung des Hauptweges, die in einem Wald verschwand. Der Wald wuchs auf dem Anstieg zum Berg. An einigen Stellen wirkte es nicht so, als ob da viele Bäume dicht an dicht wachsen würden, vielmehr schien es, als wären hier und da vereinzelte Lichtungen verteilt. Der Wald bestand größtenteils aus Nadelbäumen, aber am unterem Saum konnte Julian auch ein paar Laubbäume entdecken.

Er fragte sich, was ihn wohl in diesem Wald erwartete. Er konnte sich kaum noch zusammenhalten, so sehr wollte er loslaufen und unter den Dächern der Bäume verschwinden. Als ihm das in den Sinn kam, dachte er wieder nicht lange nach. Schnell hatte er sich seiner Schuhe und Socken entledigt, die feuchte Erde unter seinen Füßen war angenehm kühl, und lief, rannte. Er spürte den Wind in seinen Haaren, seiner Kleidung, an seinem Gesicht.

Laufend hatte er schnell die Distanz zwischen ihm und dem Ort mit den vielen Bäumen verringert, als er jauchzend auch schon regelrecht in den Wald sprang. Er lief immer weiter, spürte die Nadeln unter seinen Füßen und rannte. Er war von Lebensfreude erfüllt, wie schon seit langem nicht mehr. Zufrieden ließ er sich, nachdem er wahrscheinlich das Herz des Waldes erreicht hatte, auf weichen Grasboden sinken. Genüsslich atmete er die frische Luft ein, der Wind blies ihm ins Gesicht, streichelte seine Haut. Die Vögel zwitscherten.

Da hörte er etwas, was er noch nie in einem Wald gehört hatte.

Das Kratzen von Bleistift auf eine Leinwand.

Irritiert setzte Julian sich wieder aufrecht hin, als er tatsächlich etwas Fremdartiges erblickte, was er noch nie in einem Wald gesehen hatte.

Die Welt, die sich vor dem Rücken eines jungen Mannes entfaltete, war unbeschreiblich. Mit kraftvollen Strichen zog der Künstler seine Linien auf den weißen Untergrund. Obwohl es nur simple Linien, nicht viel mehr als ein paar vielleicht zusammenhanglose Striche auf Weiß waren, konnte Julian die Kraft hinter jedem einzelnen spüren. Die Energie. Die Leidenschaft, die von dem Maler ausging.

„Wow...“, brachte er atemlos hervor, ergriffen von der sich entwickelnden Welt aus schwarzen Linien.

Der Zeichner schreckte aus seiner Versunkenheit hoch. Ertappt drehte er sich zu der fremden Stimme um und blickte in das strahlende Gesicht eines Jungens, der kaum älter als 15 sein konnte. Die Augen des Unbekannten funkelten leuchtend den Meister und sein Werk an. Mit hopsenden Schritten kam er näher, woraufhin der unbekannte Zeichner sich in die Büsche schlagen wollte, es aber nach kurzem Überlegen unterließ.

„Das Bild... ist... tooll!“, rief Julian mit glitzernden Augen und sah zu dem größerem Zeichner hinauf. Dieser war überrumpelt, peinlich berührt und hatte keine Ahnung, wie man auf so etwas reagieren sollte. Kurzum gesagt, er war nicht für Situationen wie diese geschaffen.

Julian hingegen ging in seiner erst kürzlich aufgeflammten Leidenschaft auf. Mit leuchtenden Augen wandte er sich – sehr zum Glück des Unbekannten – von dem Künstler ab und betrachtete verträumt das Bild. Es war unfertig, so viel war ihm auch klar, aber dennoch liebte er es jetzt schon innig. Er wusste nicht wieso, es war einfach so. Seine Hand schickte sich an, die feinen Linien zu berühren, ihren Verlauf zu verfolgen, aber er hielt einen minimalen Abstand. Lächelnd ging er mit seinen Fingern die Linien nach, beginnend irgendwo in der Mitte und endend, als die eine Linie zu Ende ging.

Dann erwachte er aus seinem beinahe schlafwandlerisch verträumtem Verhalten.

„Oh, entschuldige bitte!“, rief er erschrocken aus und sprang ruckartig nach hinten zurück. Verlegen kratzte er sich am Hinterkopf. „Entschuldige nochmals. Ich war nur... nur so...“ Ihm fehlten die Worte. So etwas wie eben hatte er noch nie in seinem Leben zuvor gespürt. Es war aus ihm herausgesprudelt, aber was es war, davon hatte er keine Ahnung. „Ähm... Würdest du... Vielleicht...“, druckste herum. In seinen Gedanken hatte sich schon lange der Wunsch gebildet, der den Zeichner erreichen sollte.

Und auch erreicht hatte.

Zögerlich nahm er wieder den Bleistift, den er vor Schreck auf den Boden fallen gelassen hatte, und setzte an der unvollendeten Linie, die Julian eben verfolgt hatte, wieder an. Während des ganzen Vorgangs hatte Julian den wahrscheinlich älteren Jungen nachdenklich betrachtet.

Dieser kam langsam wieder in Fahrt. Die erst zaghaften, gar zögerlichen Linien gewannen an Schwung und Kraft. Das Bild, die sich entfaltende Welt, breitete sich weiter vor den zwei Beobachtern aus. Es entstanden reißende Bäche, dahinplätschernde Wasserfälle mit geheimnisvollen Blüten und Pflanzen, Wälder und Häuser.

Bewundernd beobachtete Julian den Fremden, während dieser sein Bild vollendete. Wer war er? Wie er wohl hieß? All das waren Fragen, auf die er sich eine Antwort wünschte.

Der Stift hielt mitten in der Bewegung inne. Die hellgrünen Augen des Fremden, dessen Grün beinahe türkisfarben wirkte, schwenkten zu ihm hinüber. Sein Mund öffnete sich, doch dann schloss er sich wieder. Er schien zu zögern. Irgendetwas hielt ihn von dem Verlangen ab, einem Fremden seinen Namen zu verraten. Wieso verspürte er auch plötzlich dieses Verlangen?

Julian sah ihn fragend an. Es war merkwürdig. „Habe ich etwas im Gesicht?“, versuchte er, das Schweigen zu brechen. Der Angesprochene verneinte hastig mit einem Kopfschütteln.

Wie gerne er doch mal seine Stimme hören wollte!

„Ich bin Liang Shen.“ Die Worte waren einfach aus dem Mund des bis eben stummen Künstlers gefallen, als das Verlangen in ihm weiter gewachsen war. Durchdringend blickte er den anderen an.

„Äh, ich heiße Julian“, erwiderte Julian peinlich berührt. Es war ihm unangenehm, er wünschte sich sehnlichst, dass Liang den Blick von ihm nehmen würde!

Was dieser dann auch im nächsten Moment tat. Er war sichtlich verwirrt. Er wusste wirklich nicht, wie man mit einem Jungen wie Julian umgehen sollte. So entschloss er sich, den Jungen erst einmal zu ignorieren.

Das passte dem Jüngeren auch gerade sehr gut, denn er musste erst einmal seine Gefühle ordnen. Mit roten Wangen blickte er auf den Boden. Was war nur los mit ihm? Seine Gedanken spielten verrückt, fuhren Achterbahn und das Ende war nicht in Sicht. Sein Herz hatte unter dem intensiven Blick von Liang auf einmal angefangen, sehr laut und heftig zu pochen. Er hatte so etwas wirklich noch nie in seinem Leben gefühlt.

Wie sollte er damit umgehen? Er hatte keinen einzigen Plan oder auch nur den Hauch einer leisesten Ahnung.

Wieso klopfte sein Herz so sehr? Er konnte es ahnen, wollte es aber irgendwie nicht wirklich wahrhaben.

Er hatte in vielen Büchern, die Thomas für ihn ausgeliehen hatte, sehr oft davon gelesen. Wenn man Herzrasen kriegt, das Gesicht ganz heiß wird und man nicht mehr klar denken kann, dann war das eigentlich ein klarer Fall. Jedenfalls meistens, wenn die Temperaturen nicht so hoch waren, dass das auch ohne eine gewisse Person geschah.

Aber war es wirklich wahr?

Und vor allem, in dieser kurzen Zeit?

Gab es die Liebe auf den ersten Blick wirklich?

Hatte Julian sich wirklich in einen Jungen verliebt?
 

Eins wurde Julian nach diesen Fragen klar.

Er wollte eine eindeutige Antwort wissen. Aber wie er das anstellte, wusste er noch nicht.

Noch nicht.

Ihm würde bestimmt etwas einfallen, wenn er denjenigen, in den er vermeintlich vermutete, verliebt zu sein, betrachtete. Also tat er es. Und starrte ihn nach einer kurzen Weile verträumt an. Liang hatte schwarze Haare, die im Licht jedoch einen bräunlichen Glanz erhielten. Sein Pony war so lang, dass er ihm etwas in das Gesicht fiel, aber es schien ihn nicht zu stören. Seine hellgrünen Augen sahen konzentriert die Leinwand an, dessen Weiß er mit seinen Bleistiftstrichen füllte. Er hatte makellose Haut.

Julian hätte ihn Stunden so ansehen können!

Inzwischen hatte er sich auf den Boden gesetzt und sah zu dem größerem Jungen hinauf. Er legte den Kopf in den Nacken, um diesen besser sehen zu können. Viel zu schnell, als dass er es hätte verhindern können, formte sich ein Wunsch in seinen Gedanken.

Er würde so gerne von dem Jungen, den er erst seit nicht einmal einer Stunde kannte, geküsst werden.

Nicht lange nachdem der Wunsch sich unwiderruflich in seinem Gedankenbild festgesetzt hatte, spürte er weiche, warme Lippen auf den seinen. Liang hatte den Stift schon wieder in das weiche Gras fallen lassen und sich zu dem auf den Boden sitzenden Jungen hinuntergebeugt. Während er gezeichnet hatte, hatte er sehr wohl Julians bohrende und träumende Blicke auf ihm gespürt, weshalb er sich möglichst versucht hatte, sich auf sein Bild zu konzentrieren.

Denn die Wahrheit war, dass er sich auch unvermeidbar in die offene Frohnatur verliebt hatte.

Er selbst wusste nicht, wann es wohl passiert war, aber ihm gefiel Julians leicht unbeholfene Art. Sie weckte eine Art Beschützerinstinkt in ihm.

Doch woher die Sehnsucht, diesen erst kürzlich kennen- und lieben gelernten Jungen zu küssen, kam, wusste er nicht, wobei er ahnen konnte, dass er es wohl früher oder später so oder so verspürt hätte.

Er wusste nur ganz sicher, dass der Kuss sich gut anfühlte.

Genauso erging es Julian. Ihn hatte es zwar überrascht, als er aus heiterem Himmel geküsst wurde, aber er hatte es sich ja gewünscht. Ja, es war sein Wunsch gewesen. Doch er hatte nicht erwartet, ihn erfüllt zu bekommen. Er wusste von seiner komischen Eigenheit, dass ihm die anderen jeden Wunsch erfüllte, ohne dass er es aussprechen musste, aber konnte er damit wirklich einen Jungen dazu bringen, ihn zu küssen? Und dieser Junge wahrscheinlich nicht einmal in ihn verliebt war? Und auf Frauen stand?

Ihm wurde es zu viel.

Mit zerrissenem Herzen stieß Julian Liang von sich weg, riss sich aus dieser traumhaften Vision heraus. Und weinte. Er machte sich ganz klein und weinte.

Er wollte das nicht. Egal wie sehr er den Kuss von Liang genossen hatte, so wollte er es nicht.

Liang war verwirrt. Julian hatte ihn nicht sehr hart getroffen, aber es hatte gereicht, ihre Lippen voneinander zu lösen. Er berührte seine Lippen. Er konnte noch den Kuss auf ihnen spüren und war umso mehr verwirrt. Hatte er den Blick von Julian falsch gedeutet? Wollte dieser nicht von ihm geküsst werden?

Wahrscheinlich. Ein trockenes Lachen entglitt aus Liangs Kehle. Julian war bestimmt nicht schwul. Er setzte sich auf den Grasboden und nahm den Stift wieder in die Hand.

Erst jetzt hörte er Julians Schluchzen. Sofort fühlte er sich schlecht. Vermutlich hatte er dem armen Jungen seinen ersten Kuss geraubt, den dieser wohl eher mit einem schönen Mädchen haben wollte.

„Entschuldige bitte“, begann er, „Ich... ich weiß auch nicht, was mit mir los war. Ich...“ Er versuchte, sein Handeln zu erklären, konnte es jedoch nicht. Er seufzte und strich sich in einer verzweifelt anmutenden Geste die Haare aus dem Gesicht. Ihm fiel kein anderer Grund als die Wahrheit ein. Aber er wusste nicht, ob er sie ihm zumuten konnte. Julian wirkte ziemlich jung auf ihn. Innerlich argumentierte dann doch er mit dem Grund, dass er dennoch ein Recht auf die Wahrheit hatte.

Liang seufzte noch einmal und holte tief Luft. Er rieb mit einer Hand über seine Augen und ließ diese dann auf seinem Gesicht ruhen und atmete noch einmal ein und aus. „Ich glaube, ich habe mich... in dich verliebt.“ Jetzt war es raus, aber Erleichterung darüber wollte sich nicht in ihm breit machen.

Julians Herz machte einen Sprung. Für einen Moment hörten seine Tränen auf zu fließen. Doch wenn er daran dachte, dass das vielleicht auch Einwirkung seiner verfluchten Eigenheit war, kamen die Sturzbäche zurück.

Und Liang deutete sie falsch.

Er dachte, er hatte den Jungen damit endgültig verschreckt. Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Julian war ihm so schon ein Rätsel gewesen, aber nun... Er konnte keinen Jungen, der wegen seinem Kuss und seiner Liebeserklärung weinte, in den Arm nehmen und beruhigen. Nein, das würde diesen wohl eher noch mehr zum Weinen bringen.

Und das war es auch nicht, was der weinende Junge wollte. Seine Gedanken spielten verrückt, und das spiegelte sich auch in Liangs Gefühlchaos wieder. Er wollte ihn küssen, sich von ihm fernhalten, ihn in den Arm nehmen, weit weg rennen, ihn beruhigen, mit ihm reden, sagen, dass er etwas Falsches gesagt hatte...

Die Liste zog sich in die Länge.

Und dann, als der Abend dämmerte, konnte Julian endlich einen klaren Wunsch formulieren, von dem er sich sehnlichst eine Erfüllung erhoffte. Er wünschte sich, Liang würde ihm die Wahrheit sagen.

Mit dem Abklang von Julians innerem Sturm wurde auch Liangs Gefühlswelt geordnet. Klar zeichneten sich deutliche Gefühle in ihm ab, denen er sogleich Worte verlieh: „Ich liebe dich.“ Jedoch verstand dieser auch nicht so genau, wieso er seiner Liebeserklärung eine zweite folgen ließ.

Julian horchte auf. Waren diese Worte wirklich real gewesen? Er konnte sich noch genau erinnern, dass er nur den einen Wunsch hatte. Es hatten sich keine Wünsche eingeschlichen, die wollten, dass Liang ihn liebte.

Diese Worte waren wirklich.

Erneut brach er in Tränen aus, diesmal weinte er jedoch vor Freude. Er weinte vor Glück.

Die nochmals fließenden Tränen verwirrten den ohnehin schon sehr konfusen Liang noch einmal mehr. Unsicher, wie er sie deuten sollte, überlegte er und beobachtete Julian. Als er einmal sein glückliches lächelndes Gesicht sehen konnte, war er erleichtert. Er nahm dieses für ihn wunderschöne Lächeln zum Anlass, die vorigen Bedenken über Bord zu werfen, und ihn zu sich in seine Arme zu ziehen.

Zufrieden lächelte er und drückte Julian. Dieser schmiegte sich an ihn, wobei er Liangs Hemd mit seinen Tränen befeuchtete. Er atmete tief seinen Geruch ein. Er fühlte sich in den Armen von dem älteren Jungen geborgen.

Und er wusste, dass Liangs Gefühle nicht gelogen waren.
 

Die Sonne war gerade dabei, unterzugehen, als die beiden frisch Verliebten sich gezwungenermaßen aus ihrer Umarmung lösten. Es war Zeit, den Wald zu verlassen. Julian half Liang dabei, die Zeichenutensilien einzuräumen. Den Stift steckte er in seinen Malkasten, in dem auch verschiedenste Farben aufbewahrt wurden, die Staffelei wurde eingeklappt und über die Leinwand wurde eine Folie gezogen. Liang schulterte seinen Rucksack, den Julian gar nicht bemerkt hatte.

Zum Aufbruch bereit schickten sich die beiden an, die Lichtung zu verlassen. Liang wollte eigentlich alles tragen, aber Julian ließ ihn nicht. Wenigstens den Malkasten bekam er in die Hände. Amüsiert über das Engagement von ihm, ließ Liang ihn. Er nahm seine Hand und gemeinsam verließen sie den Wald.

Sie hatten, als sie auf dem Wiesenboden gesessen hatten, nicht geredet. Viel zu sehr hatten sie die Stille und die Wärme des anderen genossen. Doch nun, auf dem Heimweg merkten sie, dass sie außer dem Namen des anderen nichts voneinander wussten.

„Wo wohnst du eigentlich?“, fragte Julian Liang.

„Ich? Ich habe, um ehrlich zu sein, keinen festen Wohnsitz.“

Julian sah ihn mit großen Augen an.

„Lass es mich dir erklären, okay? Also, ich bin ein freier Künstler und ziehe meistens einfach durch die Welt und male. Meinen Unterhalt verdiene ich mit meinen Bildern, die ich meistens auch vor Ort wieder verkaufen kann. Verstanden?“ Er hatte Angst, dass Julian womöglich ein falsches Bild von ihm bekam.

„Achsooo. Dann kannst du ja bei uns einziehen!“, rief dieser freudig aus und hüpfte freudestrahlend herum.

„Ja? Geht es auch in Ordnung?“

„Ich denke schon. Komm, beeil dich!“ Julian nahm ihn bei der Hand und zog ihn aufgeregt wie ein kleines Kind durch das Dorf zum Landhaus zurück. Dort erwartete Thomas ihn schon im Haus, er hatte sich schon darin umgesehen. Der Makler und der Verkäufer waren schon lange weg.

„Julian, da bist du...“ Ihm blieb das Wort im Mund stecken, als er Liang hinter seinem Schützling erblickte. „Wer ist das?“

„Das ist Liang! Darf er bei uns einziehen?“ Julian strahlte über das ganze Gesicht.

„Ja, wieso nicht?“ Thomas kniff sich innerlich in die Wangen.

„Juhuuu“, gellte der Freudenschrei durch die Umgebung. Aufgeregt hüpfte er erneut herum. „Hast du schon ein Zimmer für mich ausgesucht? Darf ich eines neben Liang haben?“

Die Energie des Jungen war etwas zu viel für den alten, ehemaligen Koch. Er nickte einfach nur und sagte seufzend: „Jaja, nur hör bitte mit dem Hüpfen auf. Und nimm nicht das Zimmer mit dem blauem Kranz an der Tür. Die Schlafzimmer sind alle oben.“

Augenblicklich war Julian mit Liang nach oben gedüst. Schnell hatte er das ideale Zimmer für sich gefunden. Es befand sich an der Bergseite, also an der Seite, wo der Berg anstieg, und er konnte schnell aus seinem Fenster auf die Veranda und dann auf den Berg hopsen. Liangs Zimmer war direkt nebenan, wie er es sich gewünscht hatte. Die beiden Zimmer teilten sich eine Veranda und befanden sich gegenüber dem großem Raum mit dem blauem Kranz an der Tür, welches sich auf der Talseite finden ließ.

„Ah, ich freue mich so!“, rief Julian strahlend aus und warf sich Liang an den Hals. Dieser musste den Schwung erst einmal ausgleichen, um nicht hinzufallen. Dann lächelte er, schlang seine Arme um das Energiebündel und streichelte ihm über die weichen Haare.

„Ich mich auch.“

So standen sie eine Weile auf dem Flur, bis er sich sachte von ihm löste und sagte: „Na komm, es ist Zeit, ins Bett zu gehen.“

Julian nickte, als er knallrot anlief. Er schüttelte den Kopf, als ob er etwas aus seinem Kopf verscheuchen wollte, aber dann war es schon zu spät.

Liang beugte sich zu dem einem Kopf kleinerem hinunter und flüsterte in sein Ohr: „Magst du nicht heute bei mir schlafen?“ Spitzbübisch grinste er.

Und Julian überhitzte.

„Ich tue dir auch nichts“, fügte Liang hinzu.

Dennoch wollte Julians Kopf nicht aufhören, knallrot zu sein. Sein Herz klopfte wie wild und er verfluchte seinen Wunsch bitterlich, auch wenn er irgendwie immer noch nicht verschwinden wollte. Er holte tief, tief, tief Luft.

„Und du wirst mir auch nichts antun?“, fragte er sicherheitshalber nochmal nach.

„Nichts, was du nicht willst.“

Julian dachte noch einmal scharf nach. Wenn Liang es sagte, würde er sich wohl daran halten, oder...?

Da spürte er Liangs warme Hand auf seiner Wange. „Du musst wirklich nicht, wenn du nicht willst, das weißt du, oder?“ Er lächelte sanft.

„Hmmm.“ Julian schmiegte seine Wange an die Hand des Anderen. „... ja.“ Dann fasste er sich ein Herz und sagte: „Ja.“

Daraufhin wurde er ganz fest von Liang gedrückt.

„Mhh? Was ist los?“, fragte Julian und atmete den angenehmen Geruch von ihm ein. Es hatte etwas von allem, was er mochte und auch immer etwas von dem, das er noch nicht kannte. Ob er wohl Parfüm benutzte?

„Ich freue mich einfach, dass du mir so sehr vertraust.“ Dann machte er eine kurze Schweigepause. „Willst du zuerst duschen gehen? Oder soll ich?“

„Du kannst zuerst gehen, wenn du willst.“

„Mir ist es egal.“

„Soll ich gehen?“

„Meinetwegen. Soll ich dich begleiten?“ Wieder ein freches Grinsen, während Julians Kopf erneut in einem tiefem Rot leuchtete. „Das war ein Scherz, na komm, ab ins Bad mit dir!“ Er gab dem Jüngerem einen kleinen Schubs in die Richtung, in der er das Bad vermutete und überließ ihn dann sich allein.

Taumelnd schwankte der überhitzte Geselle zum Bad. Er stützte sich an den Wänden ab und fand schnell eine Tür, die mit der Aufschrift Bad versehen war. Er öffnete die Holztür, betrat den geräumig und gemütlich wirkenden Raum. Er lehnte sich, nachdem er die Tür hinter sich abgeschlossen hatte, seufzend an die Tür. Er sank nach unten, sah nach oben zur weißen Decke. An ihr hing eine helle Lampe in einer rosenartigen Form, sie verbreitete durch den Lampenschirm, der durchsichtig rot war, ein leicht rotes Licht an einigen Stellen des Raumes.

Liang liebte es scheinbar, ihn aufzuziehen. Es war nicht gut für sein Herz, welches trotz Liangs Abwesenheit nicht aufhören wollte, lautstark und heftig zu pochen. Immer noch knallrot im Gesicht begann er, sich zu entkleiden. Von den kürzlichen Ereignissen durcheinander stieg er in die Duschkabine.

Während Julian noch im Bad um seine Fassung kämpfte, war Liang nach unten gegangen und suchte Thomas auf. Er wollte ihn nach frischen Kleidern für Julian fragen. Bei dieser Gelegenheit konnte er sich auch gleich über eventuelle Unterhaltskosten reden. Er wollte die beiden ja nicht ausnutzen, vor allem den Jungen nicht, in den er sich innerhalb kürzester Zeit hoffnungslos verliebt hatte. So schnell war es bei ihm bisher noch nie gegangen. Und dennoch waren diese Gefühl Realität.

Nachdem er ein wenig im Erdgeschoss des Hauses durch das große Wohnzimmer, durch die Flure und auch durch die Küche gewandert war, fand er Thomas endlich. Dieser stand auf der Terrasse und sah nachdenklich zur Bergspitze hinauf, auch wenn er sie sicherlich nicht wahrnahm.

„Ahm... Entschuldigen Sie die Störung, aber ich möchte sie gerne etwas fragen.“

Überrascht drehte Thomas sich zu dem Neuankömmling um, er schien ihn nicht bemerkt zu haben. „Ach, du bist es. Wie hießt du gleich?“

„Liang Shen, Herr.“

„Achja, genau. Sag mal, was bist du eigentlich für Julian?“ Mittlerweile hatte er sich auf einen der umstehenden Stühle gesetzt und bedeutete Liang dasselbe zu tun.

„Ich? Ich...“ Liang überlegte. Er wusste nicht, ob er sich als den Geliebten von Julian bezeichnen konnte. Sie hatten sich schließlich auch erst heute kennengelernt. Und wie würde Thomas wohl darauf reagieren, wenn er erfuhr, dass Julian sich als schwul entpuppt hatte? Schließlich kam er zu dem Ergebnis, dass es am besten wäre, wenn auch Julian dabei wäre, wenn sie Thomas davon erzählten.

Dies teilte er dann auch seinem Gesprächspartner mit: „Ich würde das... lieber mit Julians Anwesenheit klären.“

Er konnte in Thomas' Gesicht nicht wirklich eine Emotion herausfiltern, aber es schien ihm letztlich egal zu sein: „Na gut. Weswegen bist du noch einmal zu mir gekommen?“

„Haben Sie vielleicht Wechselkleidung für Julian da?“, fragte Liang schließlich das, worum es ihm ging.

„Hmm? Achja, ja. Sie müsste direkt vor dem Bad liegen, wenn ich mich recht erinnere.“ Er schien nichts Weiteres mehr zu erwarten, also wandte er sich von dem Jüngeren ab und widmete sich erneut seinen eigenen Gedankenflüssen.

Liang hatte sich, nachdem sich Thomas von ihm abgewandt hatte, wieder durch das Erdgeschoss wieder über die Treppe nach oben bemüht. Dort angekommen ging er nun ebenfalls in die Richtung, in die er Julian geschickt hatte. Auch er fand relativ zügig die Tür mit der Aufschrift Bad. Er klopfte an die Tür und wartete, von innen hörte er, wie ein Wasserhahn zugedreht wurde. Scheinbar schien Julian noch geduscht zu haben.

„Ja?“, ertönte es daraufhin von innen.

„Frischkleidung liegt übrigens hier vor dem Bad“, rief der Außenstehende hinein.

„Okay, danke. Sag mal, wie sieht es mit Wechselkleidung für dich aus?“

„Ich hab welche in meinem Rucksack, keine Sorge.“

„Achso. War das alles?“

„Ja, ich warte in meinem Zimmer. Sag Bescheid, wenn du fertig bist, ja?“

„Klar.“

Liang entfernte sich von dem Badezimmer. Julian drehte derweil das Wasser wieder auf und versuchte, sein schnell schlagendes Herz wieder zu beruhigen. Er wusste nicht, wieso es dermaßen schnell schlug. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Liang bei ihm vorbeischauen würde, während er sich duschte. Es hatte widersprüchliche Gefühle in ihm ausgelöst, seine Stimme zu hören, als Julian, naja... nichts an hatte.

Hastig schüttelte er sie sich aus seinem knallrotem Kopf.

Er verbrachte noch einige Zeit im Badezimmer, aus dem simplen Grund, dass er sich nicht bereit dazu fühlte, Liang wieder gegenüber zu treten. Er verfluchte diesen sogar einige Male, hob es aber jedes Mal unmittelbar danach wieder auf, in der Hoffnung, es würde nicht wahr werden.

Als er sich dann endlich mehr oder minder bereit fühlte, atmete er noch einmal tief ein, ehe er die Klinke hinunterdrückte und hinausging. Dort stand niemand, niemand war weit und breit zu sehen. Liang war wohl wirklich in sein Zimmer gegangen. Es kostete ihn wieder ein kleines bisschen Mut, um an seiner Tür zu klopfen. Er hörte, wie jemand sich erhob und dann die Tür öffnete. Liang erschien im Türrahmen.

„Ah, du bist fertig?“

„Ja, du kannst jetzt.“

„Danke. Wartest du vielleicht auf der gemeinsamen Veranda auf mich? Da ist es unauffälliger, wenn ich dich dann in mein Zimmer entführe.“ Verwegen grinste er, bevor er auch schon wieder verschwunden war.

Und Julians Herz pochte erneut nicht gerade leise.

Mit hitzigem Gesicht trat er in sein Zimmer ein, öffnete die Tür nach draußen und genoss den kühlen Windzug in der klaren Luft. Der kühle Wind umschmeichelte sein Gesicht mit ihren Fingern, strich über seine Stirn und Wangen. Er beruhigte sich langsam wieder. Er setzte sich auf die Holzbank, die hier aufgestellt war, und überließ seine Gedanken einfach sich selbst. Natürlich wanderten sie erst einmal zu Liang, derjenige, der seine Gefühle schon an dem ersten Tag, an dem sie sich kannten, gehörig durcheinander gewirbelt hatte.

Sein Lächeln, Grinsen. Seine Stimme, Leidenschaft. Seine Wärme. Seine Worte. Seine Art und Weise. Alles, was er war und was Julian an ihm noch nicht kannte.
 

„So, ich bin dann auch fertig“, ertönte Liangs reale Stimme ganz dicht flüsternd in Julians Ohr. Warmer Atem kitzelte ihn.

Und ließ ihn aufschrecken.

„Liang!“

„So ist mein Name.“ Grinsend bot der Gerufene ihm eine Hand an. Zögernd ergriff er sie. Galant wie ein Gentleman führte Liang ihn in sein Zimmer.
 

In der folgenden Nacht redeten sie sehr lange, während Julian in Liangs Armen immer schläfriger wurde. Sie erfuhren viel von dem anderen, dass sie nicht wussten oder nur ahnen konnten. Dass Liang chinesischer Herkunft war, wusste Julian nicht, er kannte die Welt ja gar nicht. Auch die Bedeutung von dessen Namen fand er wunderschön, „Liang“ für „Licht“ und „Shen“ stand für „tief“. Aber auch Liang staunte nicht schlecht über Julians Wünsche, die immer in Erfüllung gingen.

Sie lernten einander noch viel mehr lieben.



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