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Chihiro und Kohaku

von

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Hausdrache

Hausdrache
 

Kohaku fing mit seiner Putzaktion im Wohnzimmer an. Zuerst räumte er alle Bücher und sonstigen Gegenstände aus den Regalen, die er zunächst auf dem Boden aufschichtete. Dabei fiel ihm auf, dass es leicht staubte, als er einen Stapel Bücher absetzte. Als beschloss er, zunächst die Teppiche zu reinigen, wobei er entdeckte, dass es davon nicht wenige im Haus gab.
 

Die Perserteppiche in Yubabas Wohnung wurden monatlich von den Angestellten des Badehauses über eine Teppichstange in der Nähe der Schweineställe gehängt, wo sie dann ausgeklopft wurden. Yubaba hätte ihre Teppiche auch leicht mittels Magie vom Staub befreien können, aber wozu hatte sie schließlich Angestellte.
 

Kurz überlegte Kohaku selber, ob er Magie zu Hilfe nehmen sollte, aber es erschien ihm unfair. Die Menschen konnten ja auch keine Magie benutzen und wenn er unter ihnen leben wollte, würde er auf Magie weitestgehend verzichten müssen. Das bedeutete, er würde die Teppiche auf herkömmliche, mechanische Weise vom Staub befreien müssen. Leider schien es keine Teppichstange im Haus der Oginos zu geben, auch nicht im Garten hinter dem Haus.
 

Irgendwie würde er sich selber behelfen müssen, dachte er bei sich, und begann zu suchen. In einer metallenen Kiste mit allerlei Werkzeug darin fand er dann eine Schnur mit ausreichender Festigkeit. Er spannte sie vom Treppengeländer hinüber zu den Garderobenhaken, wuchtete danach der Reihe nach alle Teppiche im Haus über die Schnur, und bearbeitete sie mit einer Bratpfanne, die er in der Küche gefunden hatte.
 

Nachdem er so alle Teppiche ausgeklopft hatte, arbeitete Kohaku sich systematisch durch alle Räume des Erdgeschosses, indem er immer zuerst alle offenen Schränke und Regale leerräumte und dann säuberte. Dabei entdeckte er manche verborgenen Staublagerstätten hinter den Möbeln.
 

Soweit er das konnte, rückte er sie zusätzlich von den Wänden ab, um auch dahinter wischen zu können. Zum Schluss rückte er die Möbel wieder zurück und stellte sämtliche ebenfalls gereinigten Gegenstände wieder millimetergenau an ihren Platz.
 

Nach den höheren Etagen der Wohnungseinrichtung nahm er sich dann die Fußböden vor, deren vereinzelten, kaum sichtbaren Staubbelag er mit einem Besen in den Flur beförderte, wo er ihn zu einem kleinen Haufen zusammenschob, den er der Einfachheit halber zur Haustür hinaus bugsierte.
 

Zur Sicherheit wischte er dann sämtliche Böden noch einmal feucht nach, so wie er es im Badehaus gelernt hatte, bevor er die Teppiche, die er zwischenzeitlich im Wohnzimmer gelagert hatte, wieder an ihre ursprünglichen Stellen auslegte. So ganz zufrieden war er mit dem Ergebnis nicht und im Geiste hörte er Yubaba daran herummotzen. Aber die würde ja auch nicht kontrollieren kommen.
 

Ebenso wie im Erdgeschoss fuhr er danach in der ersten Etage fort, wobei er versuchte, sich noch mehr Mühe zu geben. Da es hier nur drei Zimmer und eine Toilette mit Dusche gab, war er mit dem ersten Geschoss trotzdem relativ schnell fertig.
 

Nachdem er nun auf diese Weise eine komplette Grundreinigung des Hauses vorgenommen hatte, nahm er sich sämtlicher Glasflächen und hier insbesondere der Fenster an, die er zunächst mit einem Schwammtuch aus der Küche abwischte, um sie danach mit einer Art aufgewickeltem Papier-Endlostuch trocken zu reiben, das er auf der Toilette gefunden hatte.
 

Da dieses Papier nicht besonders saugfähig war und schnell zerfaserte, benötigte Kohaku mehrere Rollen davon, bis er in der Toilette nichts mehr davon fand. Die Fenster waren so zwar nicht alle zu seiner Zufriedenheit perfekt streifenfrei sauber geworden, aber er befand, dass es immerhin ein Fortschritt gegenüber dem Ausgangszustand war.
 

Da er nun schon einmal bei den Toiletten angelangt war, untersuchte er auch diese. An der Sauberkeit war oberflächlich nicht viel auszusetzen, doch ein Griff tief in den Siphon offenbarte alte Ablagerungen, denen Kohaku nach einigem Suchen mit einem mit harten, roten Kristallen belegten Papier aus der Metallkiste zu Leibe rückte, in der sich auch das Werkzeug befand.
 

Zufrieden sah er, wie sich hunderte bräunlicher Schwebteilchen im Wasser sammelten, die er einfach herunterspülte. Nacheinander reinigte er alle drei Toiletten im Haus der Oginos auf diese Art. anschließend stellte er fest, dass auch er selbst eine Reinigung benötigte, denn seine Kleidung war voller Schmutz und Staub und seine Hände hatten einen stark muffigen Geruch angenommen.
 

Wiederum in der Küche fand er eine weiche Flasche mit einem grünen, zähflüssigen Inhalt*, die eine starke Reinigungswirkung zu besitzen schien, wie ein kurzer Test ergab. Der Aufdruck wies explizit darauf hin, dass das "Geschirrspülmittel" besonders hautschonend sein sollte. Er nahm sie mit in den ersten Stock, wo sich die Einrichtung Namens "Dusche" befand, die Chihiro ihm gezeigt hatte. Im Prinzip handelte es sich dabei nur um einen heißen Wasserstrahl, mit dessen Hilfe jemand sich bequem reinigen konnte.
 

Kohaku stellte sich also unter die Dusche, hielt die Flasche über seinen Kopf und drückte zu, bis ich etwa der halbe Inhalt über ihn und seine Kleidung entleert hatte. Dann drehte der die Mischarmatur ganz nach links, dort wo sie mit einem roten Pfeil gekennzeichnet war, und zog sie zu sich hin, bis fein verteilte, heiße Wasserstrahlen ihn benetzten.
 

Diese Erfindung der Menschen, diese Dusche war einfach zu herrlich, wie er fand. Als wenn man sich unter eines der Einfüllrohre im Badehaus stellte, aus denen die Wannen befüllt wurden, nur besser. Doch das Wasser war so heiß, dass bereits nach wenigen Augenblicken die Duschkabine so voller Nebel war, dass Kohaku fast nichts mehr sehen konnte. Nicht dass das viel ausgemacht hätte, denn dieses Spülmittel, wie der Aufdruck auf der Flasche verriet, brannte doch erheblich in seinen Augen.
 

Doch er stellte auch beiläufig fest, dass die Temperatur des Wassers den meisten Gästen im Aburaya bereits zu hoch gewesen wäre. Aber egal. Er genoss das heiße Wasser, die Schaumwirkung der flüssigen Seife und das Zitrusaroma, das ihn in seiner Intensität fast betäubte. Die Seife schäumte so stark, dass es fast 10 Minuten dauerte, bis er alles wieder aus seiner Kleidung herausgespült hatte.
 

Hinterher zog er sich, noch in der Duschkabine stehend aus, um zu verhindern, dass seine tropfenden, nassen Sachen auf den gekachelten Boden troffen, den er sonst erneut hätte trockenwischen müssen. Er wrang die Sachen im Waschbecken aus, bis sie nur noch leicht feucht waren und zog sie dann einfach wieder an.
 

Es würde vielleicht ein bis zwei Stunden dauern, bis alles wieder trocken wäre und so machte er sich keine großen Gedanken darum. Er hätte auch jetzt leicht Magie einsetzen können, um sich zu trocknen, doch auch das erschien ihm unfair. Die Menschen kamen ohne Magie aus, also konnte auch er ohne auskommen.
 

Langsam ging Kohaku die Treppe hinunter, zurück in die Küche, wo er sich auf einen Stuhl setzte und nachdachte. Die Küchenuhr zeigte an, dass es gerade erst kurz nach Mittag war und so würde es noch etwa fünf Stunden dauern, bevor Chihiro von der Schule zurückkommen würde, fünf Stunden, die er jetzt irgendwie füllen musste.
 

Chihiro Mutter hatte gesagt, dass sie etwas zu Essen gemacht hatte und in den Kühlschrank gestellt hatte, der dieselbe Funktion erfüllte, wie die Kühlhäuser am Badehaus. Eigentlich hatte er keinen Hunger, so wie er fast nie Hunger hatte, aber ihm war bewusst, dass es Chihiro helfen würde, wenn er etwas ass.
 

Im Kühlschrank fand er einen Teller mit Reis und saurem, eingelegtem Gemüse, sowie eine Schale mit Miso-Suppe. Leider war alles kalt. Zwar hatte er beobachtet, wie Frau Ogino einen Teller in den kleinen, metallenen Schrank mit gläserner Klappe gestellt und auf einen Knopf gedrückt hatte. Die Speisen auf diesem Teller waren danach wie durch Zauberei heiß geworden, doch das Gerät hatte dabei eine sehr unangenehme Ausstrahlung gehabt, sodass Kohaku es lieber nicht benutzen wollte.
 

So ass er die Sachen kalt. Besonderes Vergnügen bereitete es ihm nicht, weil alles muffig und alt schmeckte. Besonders gelungen konnte man die Gewürze, mit denen die Sachen abgeschmeckt waren, auch nicht bezeichnen. Sie waren vielmehr ... aufdringlich. Das schien die richtige Charakterisierung dafür zu sein.
 

Wenn man so etwas den Göttern im Aburaya vorgesetzt hätte, dachte Kohaku bei sich, wäre der Betrieb innerhalb kürzester Zeit pleite gewesen. Er begann deshalb die Küche nach Essbarem zu durchsuchen und stellte schließlich fest, dass fast alle Nahrungsmittel in irgendwelchen Tüten, Dosen oder Beuteln verpackt waren. Nur im Kühlschrank gab es einige frische Sachen.
 

Jetzt wunderte ihn der bescheidene Geschmack der Speisen nicht mehr sonderlich und er verstand, warum sie so penetrant gewürzt waren: um die schlechte Qualität der Lebensmittel zu überdecken. Gleichzeitig wurde ihm auch klar, warum die Menschen so einen, für Dämonen, Geister und Götter so unangenehmen Geruch verströmten. Es lag an diesen Gewürzen.
 

Nur warum merkten die Menschen denn nicht, wie schlecht das war, was sie da täglich assen? Warum bereitete Frau Ogino denn nur keine frischen Speisen zu, fragte er sich und dann fiel ihm auch schon die Antwort ein. Sie musste arbeiten. Herr und Frau Ogino mussten beide arbeiten, um sich das Essen zu verdienen.
 

Was wirkliche Müdigkeit war, hatte Kohaku erst in den letzen beiden Tagen erfahren, seit er mit Chihiro über den Phenaktit-Kristall verbunden war. Mehrfach schon hatte sich ihre Müdigkeit direkt auf ihn übertragen und ihn fast handlungsunfähig gemacht. Genauso wenig wollten Chihiros Eltern, wenn sie müde nach Hause kamen, noch groß etwas kochen, weshalb sie diese vorgefertigten Nahrungsmittel verwendeten, die man einfach und schnell zubereiten konnte.
 

Im Badehaus war letzten Endes es ja auch so gewesen. Alle mussten die ganze Nacht hindurch hart arbeiten und holten sich am Ende eines langen Tages etwas aus der Küche. Nur arbeiteten in der Küche nur Leute, die nichts anderes zu tun hatten, als immerzu neue frische Speisen zuzubereiten. Für diese bedeutete es keinen extra Aufwand, ein wenig mehr für alle anderen kochen.
 

Aber für Frau Ogino bedeutete es viel zusätzliche Arbeit. Sie hatte einen Job, der sie den ganzen Tag außer Haus beschäftigte, musste zusätzlich noch das Haus sauber machen und auch noch Einkaufen und das Essen kochen. Kohaku beschloss, zukünftig die Hausarbeit und das Kochen zu übernehmen, erstens, weil er es den Oginos schuldete, die ihn bei sich aufgenommen hatten, zweitens, weil er die Zeit dazu hatte, und drittens, weil er es konnte.
 

Während er den Teller und die Schüssel spülte, überlegte Kohaku, was er alles benötigen würde, um ein vernünftiges Abendessen zu kochen, ein Abendessen, dass man auch einem Gott vorsetzen konnte. Er suchte eine Weile im Haus der Oginos, bis er einen alten Korb fand, der aus Bambusstängeln geflochten war, und nahm sich einen Haustürschüssel vom Schlüsselbrett.
 

Dann verließ er das Haus der Oginos, um auf dem Wiesenabhang davor einige Kräuter zu sammeln, die ihm am Tag seiner Ankunft, noch als Geist, aufgefallen waren. Zudem war jetzt, Mitte Oktober, die Zeit sehr günstig, um im nahe gelegenen Wald einige Pilze zu lesen. Und wenn er in weniger als einer Stunde zurückkehrte, dann hätte er noch ausreichend Zeit, um sich ein hervorragendes Abendessen für die Oginos und insbesondere für Chihiro auszudenken.
 


 

Bunzo Abes Laune verdüsterte sich augenblicklich. Soeben war er von den Lehrern für den Toilettenreinigungsdienst nach der Mittagspause eingeteilt worden. Toilettenreinigung! Als ob er nichts Besseres zu tun hätte, als in der Scheiße anderer zu schürfen. Das war doch einfach nur ekelhaft.
 

Bunzo beorderte seine persönlichen Vasallen, Hiroaki Matokai und Susumo Takasugi, zu sich, um ihnen den Ernst der Lage klar zu machen. Wenn erst bekannt würde, dass er, Bunzo, Toilettendienst verrichten müsste, wie jeder andere gewöhnliche Schüler der staatlichen Mittelschule von Tochinoki, wäre es mit seinem Ansehen nicht mehr weit her und sie könnten sich die bequemen Nebeneinnahmen in den Wind schreiben.
 

Mit Grausen dachte er an jene Schmach zurück, die ihm dieses Mädchen, diese Chihiro damals auf der Grundschule beigebracht hatte. Als die Schüler gemerkt hatten, dass er nicht einmal in der Lage war, diese winzige Person in ihre Schranken zu verweisen, war es sofort aus gewesen, mit seinem Image als fiesem Typen und damit auch mit den Zusatzeinnahmen.
 

So etwas durfte nicht noch einmal geschehen und so durfte es auch nicht sein, dass er, Bunzo Abe, jemals Toilettendienst abzuleisten hatte.
 

Au jeden Fall hatte er heute Tatsukichi abzukassieren. Tatsukichi war der Sohn einer wohlhabenden, lokalen Bauernfamilie und gehörte nicht, wie die meisten Schüler der Mittelschule, zu denen, die vor drei Jahren hergezogen waren. Eine Weile lang hatte der gutaussehende, durch die sommerliche Feldarbeit kräftige Junge sich für etwas Besseres gehalten und sich über die unsportlichen Stadtkinder lustig gemacht.
 

Aber diesen Zahn hatte Bunzo ihm nach einer Weile gezogen. Zwar war Tatsukichi möglicherweise sogar stärker als er, aber er war auf keinen Fall stärker als er, Hiroaki und Susumo zusammen. Eine Weile hatte er sich ihnen wiedersetzt, doch weil es ihm nicht gelang, jemanden auf seine Seite zu ziehen, hatte er sich mehrfach blaue Flecken und einmal sogar eine blutige Nase geholt.
 

Bunzo wusste, wie wichtig sen Nimbus war und deshalb konnte er es sich im Falle Tatsukichis nicht leisten, Gnade walten zu lassen, auch wenn dies ihm selbst einigen Ärger und viel Rennerei verursachte. Schließlich aber gelang es ihnen Tatsukichi niederzuringen und seitdem war alles viel leichter geworden.
 

Deshalb war es auch nun überaus wichtig, den Wochentribut des Jungen zu kassieren, um keine Unklarheiten aufkommen zu lassen, wer das Sagen auf dem Schulhof der Mittelschule hatte.
 

So wartete er das Mittagessen ab und schlich sich dann mit seinen beiden Faktoten, die ihn bereits seit der Grundschule begleitet hatten, vom Gelände der Mittelschule.
 

Es waren nur etwa zehn Minuten Fußweg, bis er bei sich Zuhause angelangt war. Dort kommandierte er Hiroaki und Susumo in sein Zimmer, um mit ihnen das Vorgehen der nächsten Tage zu besprechen. Wer mit seinen Zahlungen überfällig war, wer eine Abreibung benötigte, neue Taktiken zum Austricksen der Lehrer und ähnlich wichtige Dinge. Dann war da auch noch ein Junge aus der neunten Klasse, der damit gedroht hatte, seinen Vater einzuschalten, der Polizeibeamter war.
 

Doch glücklicherweise für Bunzo hatte Susumo ein Paar Fotos mit seinem Kamerahandy gemacht, auf dem dieser Schüler zu sehen war, wie er in der Besenkammer heimlich mit einem Mädchen aus seiner Klasse knutsche und Bunzo gedachte, das auszunutzen.
 


 

Chihiro war fix und fertig, als sie endlich in der Schule angekommen war. Ihre Augen brannten vor Müdigkeit und schon bei der allmorgendlichen Schulversammlung in der Aula wäre sie beinahe eingenickt. Hinterher konnte sie sich kaum auf den Unterricht konzentrieren. Sie würde Zeniba darum bitten müssen, etwas gegen diese Müdigkeit zu unternehmen. Vielleicht gab es ja einen Zauber, der da half.
 

Ayaka war gut gelaunt und nervtötend wach. In jeder Pause quatschte sie nur über die neuesten Fußballergebnisse der J-Leage vom Wochenende. In der großen Pause um 10:25 entdeckte Chihiro, dass sie vergessen hatte, den Aufsatz über das Sengoku Jidai, die Zeit der streiten Reiche, und hier insbesondere über den Aufstieg Oda Nobunagas zu schreiben.
 

Ayaka bot ihr sofort an, abzuschreiben, aber ein kurzer Blick auf den ebenso kurzen, wie oberflächlichen Text genügte, um Chihiro davon zu überzeugen, dass sie besser schnell selber etwas zusammenschustern sollte. Ihre Freundin entschuldigte sich für den typisch schlampigen Aufsatz damit, dass sie ihn beim Gucken der Fußballergebnisse verfasst hätte.
 

Zum Glück bot sich Ichiyo ebenfalls als Textquelle an und Chihiro schafft es gerade vor Unterrichtsbeginn seinen Aufsatz, inklusive einiger Variationen in der Formulierung, zu Papier zu bringen. Der Lehrerin jedenfalls fiel zu Chihiros und Ichiyos Erleichterung nichts weiter auf.
 

In der Mittagspause hatte sie dann zu ihrer eigenen, sowie Ayakas und Ichiyos Verwunderung überhaupt keinen Appetit. Sie stocherte auf ihrem Teller herum und bekam nur einige wenige Bissen herunter. Ihre Appetitlosigkeit schob sie auf ihre Müdigkeit. Auf die Idee, dass Kohaku etwas gegessen hatte, kam sie nicht.
 

Nach dem Mittagessen gelang es ihnen eines der beiden Beachvolleyballfelder zu ergattern, wo sie mit drei Mitschülern zwei Mannschaften bildeten. Zur Verwunderung Aller machte Chihiro ebenfalls mit, anstatt sich wie sonst irgendwo hinzuzuhocken und zuzusehen.
 

Die körperliche Aktivität tat ihr gut und half die Müdigkeit zurückzudrängen. Außerdem bereitete es Chihiro unheimliche Freude, dass sie endlich etwas tun konnte, ohne dass ihr gleich schwindelig wurde. Sie stellte sich zwar nicht sonderlich geschickt an, immerhin hatte sie sich drei Jahre kaum bewegt, war jedoch mit großem Eifer bei der Sache. Wegen ihr hatten Ayaka und Ichiyo keine große Chance gegen die andere Mannschaft, aber das war Chihiro egal. Ayaka, die immer gewinnen wollte, hingegen fluchte mehrfach laut.
 

Sie gab aber weder ihr noch Ichiyo, der zwar flink, aber nicht besonders zielgenau war, die Schuld daran, denn jedes Mal, wenn sie den Ball bekam, versenkte sie ihn irgendwie problemlos. Sie bekam den Ball nur nicht oft genug, weil die anderen schnell mitbekommen hatten, dass sie Ayaka besser nicht anspielten. Und weder Ichiyo noch Chihiro gelang es oft genug, Ayaka adäquat anzuspielen. Trotzdem gab sie sich selbst die Schuld daran.
 

Chihiro vermutete jedenfalls, dass Ayakas unheimliche Treffgenauigkeit auch beim Volleyball auf den verzauberten Kemari-Ball zurückzuführen war. Sie würde etwas dagegen unternehmen müssen und gedachte auch dazu Zeniba zu fragen.
 

Nach dem Ende der Mittagsfreizeit war sie diesmal zum Reingen der Toiletten eingeteilt, was sie zwar ungern tat, aber ohne zu murren. Denn sie sah ein, dass das Toilettenreinigen den Schülern auf einfachste Weise beibrachte, diesen Ort auch so wieder zu verlassen, wie man ihn selber vorzufinden hoffte. So waren die Toiletten auf japanischen Schulen penibel sauber, ob man sie nun extra reinigte, oder nicht. Aber es ging dabei ums Prinzip.
 

Um Viertel vor zwei begann die fünfte Unterrichtsstunde, Japanischunterricht Sie besprachen gerade die uralten Chroniken, das Nihongi und das Kojiki, und erfuhren zum ersten Mal etwas über den alten Shinto-Glauben, der bis 1945 Staatsreligion gewesen war.
 

Diesmal passierte Chihiro jedoch etwas, dass ihr vorher noch nie passiert war. Sie hatte es zwar schon öfter bei anderen Schülern gesehen, aber nie verstanden, wie man sich so gehen lassen konnte. Sie schlief ein. Mitten im Unterricht. Einfach so. Zwar fühlte sie, wie ihr Ayaka mehrfach mit dem Ellenbogen in die Rippen stieß, doch das war ihr so vollkommen egal. Es störte sie nicht einmal.
 

Wie schon einmal beim Unterricht von Zeniba sackte ihr der Kopf vornüber auf die harte Tischplatte. Aber sie hatte den Eindruck, es wäre ein herrlich weiches Kopfkissen. Das Nächste, was sie wahrnahm, war ein lautes Klatschen, das sie hochschrecken ließ. Der Lehrer, Herr Shigemitsu, hatte mit dem großen Tafellineal auf ihren Tisch geschlagen.
 

Herr Shigemitsu hatte gerade einen längeren Monolog über den japanischen Götterglauben im Allgemeinen und über die Gottheiten von Izumo und Ise im Besonderen gehalten, als ihm ein helles, violettes Aufleuchten aus den Augenwinkeln aufgefallen war. Er blickt ein wenig verwirrt auf und fühlte sich durch den Lichtblitz vorsätzlich gestört.
 

Sofort fiel sein Blick auf das Ogino-Mädchen, das offenbar eingeschlafen war. Ihr Haarband, das ihren Zopf zusammenhielt, funkelte noch verräterisch violett. Chihiro Ogino war eine seine liebsten Schülerinnen gewesen, seit sie auf die Mittelschule gekommen war. Sie war ruhig, aufmerksam und fleißig, sodass er auch nichts dagegen hatte, dass sie im Unterricht häufig Bonbons lutschen durfte, aufgrund ihrer merkwürdigen Erkrankung.
 

Aber das winzige Mädchen beklagte sich nie und war auch sonst sehr angenehm. In der letzten Zeit allerdings ließen ihre Leistungen zunehmend zu wünschen übrig und sie schien im Unterricht ständig abgelenkt. Dass sie jetzt eingeschlafen war, passte in dieses neue Bild des Mädchens. Er beschloss, ihr einen Schuss vor den Bug zu geben. Wenn sie sich aber nicht bald wieder fing, würde er mit ihren Eltern reden müssen.
 

"Ausgeschlafen, Frau Ogino? Könnten sie vielleicht wiederholen, was ich ihnen gerade über die Shinto-Götter erzählt habe, oder waren sie gerade zu beschäftigt?" fragte er mit einem sarkastischen Unterton, den Chihiro so gar nicht von ihm kannte.
 

"Ich äh, o, äh, nein", stammelt sie verlegen, "also äh, die Shinto-Götter, wie zum Beispiel der Daikon-Rettich-Gott, die müssen alle sehr hart arbeiten, weil wir Menschen ihnen das Leben so schwer machen. Und dann sind sie irgendwann sehr erschöpft und brauchen eine Pause. Dann gehen sie ins Badehaus und lassen es sich für ein paar Tage gut gehen. Da werden sie von Fröschen, von Schnecken und manchmal auch von Füchsen bedient. Und da gibt es Kräuterbäder und Massagen und viel gutes Essen und Unterhaltung ... und .."
 

Chihiro blickte in die Runde und stellte fest, dass alle anderen Schüler sie entgeistert anstarrten. Herr Shigemitsu schaute nachdenklich zu ihr hinunter. "Nun, Ogino, sie scheinen ja einen interessanten Traum gehabt zu haben. Immerhin scheint er im weiteren Sinne mit unserem Unterrichtsstoff zu tun gehabt zu haben. Lassen wir es also dabei bewenden. Schlagt bitte alle das Japanisch-Buch auf Seite 126 auf. Sie werden dort zwei Textpassagen finden, eine aus dem Kojiki und die äquivalente Passage aus dem Nihongi. Ich bitte sie, diese Passagen durchzulesen und die wesentlichen Unterschiede in der Beschreibung der Handlung herauszuarbeiten."
 

Chihiro schlug das Buch auf und versuchte sich auf den Text zu konzentrieren. Es ging da um so einen Gott namens Okuni Nushi, der die Herrschaft über die Schilfgefilde übernahm, die Japan symbolisierten. Der Name kam ihr entfernt vertraut vor, doch sie konnte sich nicht erinnern, wo sie schon einmal gehört hatte.
 

Doch letztendlich war Chihiro das gleichgültig und sie versuchte bis zum Ende des Schulunterrichts nicht noch einmal einzuschlafen, was ihr Mühe genug bereitete.
 


 

Kohaku war guter Stimmung. Die meisten Kräuter, die er in Erinnerung hatte, waren noch immer auf der Wiese zu finden. Er sammelte Perilla, Erekanpen, Wasabi, Myoga und Zenmai. Alles Kräuter, die sich hervorragend zum Würzen verschiedener Speisen eigneten und zum Teil sogar spezifische Heilwirkungen besaßen.
 

Aber damit war Kohaku noch nicht zufrieden und er ging ein wenig in den Wald hinein, um dort verschiedene Pilze zu sammeln. Er sammelte Enokidake, Shiitakepilze und ein paar Affenkopfpilze.
 

Während er sich nach weiteren Stellen umsah, an denen er Pilze sammeln konnte, würde Kohaku plötzlich von einem intensiven Müdigkeitsgefühl überrascht. Aus der Erfahrung der letzten beiden Tage wusste er, das Chihiro entweder eingeschlafen oder kurz davor war, einzunicken.
 

Schnell versuchte er geistigen Kontakt zu Chihiro aufzunehmen, um ihr Nickerchen zu unterbinden, doch es war bereits zu spät. Kohaku hatte den Eindruck bei der Kontaktaufnahme, als würde er in einen grauen Nebel hineinfassen. Chihiro war also bereits eingeschlafen.
 

Ihre Schlaftrunkenheit dämpfte sein gesamtes Wahrnehmungsvermögen empfindlich und Kohaku hatte den Eindruck, als wäre er leicht betrunken, so wie er es bei den Gästen im Aburaya öfters erlebt hatte. Eilig machte er sich auf den Weg zurück, zum Haus der Oginos, denn er wollte vermeiden, dass er irgendwo im Wald einschlief, wo er wehrlos und für jedermann sichtbar gewesen wäre.
 

Mühsam und mitunter torkelnd stapfte Kohaku durch das Unterholz, während er versuchte, nichts von den gesammelten Kräutern und Pilzen zu verlieren. Endlich hatte er die Wiese erreicht, wo er sich mühsam nach oben in Richtung des Hauses der Oginos kämpfte.
 


 

Fluchend schaute Bunzo Abe auf die Uhr. Es war bereits kurz nach 14:00 Uhr. Er hatte die Zeit vergessen, und jetzt würde er zu spät zu fünften Stunde kommen. Warum hatte Susumo ihn auch mit den Fotos so lange aufgehalten? Er gab dem Jungen ohne Vorwarnung eine Kopfnuss.
 

"Autsch, warum haust du mich", empörte Susumo sich.
 

"Los, wir müssen auf der Stelle wieder in die Schule zurück", kommandierte Bunzo ungehalten. "Du hast uns mit dieser Diashow aufgehalten. Wir sind zu spät! Also gibst du mir deinen Anteil von den heutige Einnahmen."
 

"Aber Bunzo, das kannst du doch nicht ...", jammerte Susumo, doch dann fügte er sich. Jedes weitere Sträuben hätte nur neue Schmerzen zur Folge gehabt und sein Anteil betrug, wie auch der von Hiroaki, ohnehin nur 10 %.
 

Schnell liefen die Drei in den Hausflur hinunter und zogen sich dort ihre Schuhe an, so wie es die Tradition vorsah. Sie stürmten dann auf die Straße und wollten gerade in Richtung der Schule eilen, als Bunzo ein eigenartiger Junge auffiel, der merkwürdig torkelnd über die Absperrung der Straße zum Abhang hin kletterte.
 

Der Junge, der zwölf oder vielleicht 13 Jahre alt zu sein schien, trug eine Jeans, ein leicht zerknittertes Hemd und Segeltuchschuhe ohne Socken. Seine Haare waren kurz geschnitten und auf der rechten Seite eigenartig asymmetrisch ausrasiert.
 

Mit größter Sorgfalt schien er darauf bedacht zu sein, den Bambuskorb, den er mit sich herumtrug, nicht fallen zu lassen. Vorsichtig hatte er ihn deshalb auf den Boden jenseits der Absperrung gestellt. Dann machte er sich daran, selbst hinüberzusteigen, wobei Bunzo den Eindruck hatte, er wäre besoffen.
 

Bunzo erinnerte sich daran, dass er diesen Jungen bereits einmal gesehen hatte, wie dieser Fettwanst von Chihiros Vater ihn aus der Wohnung geschmissen hatte. Da hatte er allerdings viel abgerissener ausgesehen, als jetzt. Offenbar hatte der Straßenköter irgendwie Gnade bei den Oginos gefunden, was Bunzos Sympathie für ihn nicht unbedingt steigerte.
 

Jedoch wunderte es ihn ein wenig, das der Junge nicht in der Schule war. So etwas konnte schnell Ärger geben, jedenfalls, wenn man es übertrieb, wie Bunzo aus eigener Erfahrung wusste. Inzwischen hatte der Junge seinen Korb wieder aufgenommen und schickte sich gerade an, die Straße zu überqueren, als Bunzo einfiel, dass es etwas kostete, wenn jemand seine Straße überqueren wollte.
 

Er gab Hiroaki und Susumo einen kurzen Wink und zu dritt eilten sie, dem Jungen den Weg zu versperren, wobei Susumo einen kleinen Bogen lief, um ihr Opfer von hinten an der Flucht zu hindern. Sie hatten diese Taktik schon oft geprobt und deshalb ging auch diesmal nichts schief.
 


 

Kohaku war froh, dass er fast am Haus der Oginos angelangt war. Am liebsten hätte er sich sofort hingelegt, um dem überwältigenden Schlafbedürfnis nachzukommen. Seine Umgebung nahm er nur noch verschwommen war. Zwar bemerkte er beim Überklettern der Absperrung die drei Jungen auf der anderen Straßenseite, doch er dachte sich nichts weiter dabei. Eigentlich war er eher froh, dass er nicht gestürzt war, denn er hatte zweimal einfach ins Leere gegriffen, als er sich auf der Absperrung abstützen wollte.
 

Beim dritten Mal zwang Kohaku sich genauer hinzuschauen und dann klappte es auch sofort. Vielleich hätte er doch einfach hinüberspringen sollen, dachte er bei sich, aber er hatte Sorge, dass er in seinem ungewohnten Zustand gegen ein Hindernis hüpfte.
 

Den Korb unter den rechten Arm wollte er gerade die schmale Straße zum Haus der Oginos überqueren, als ihm plötzlich zwei Jungen den Weg verstellten. Beide trugen eine Schuluniform. Der eine Junge war sehr groß, mehr als zwei Köpfe größer als er, und wirkte auch wegen seiner breiten Schultern sehr massig.
 

Der andere Junge war fast einen Kopf kleiner und war sehr schmächtig und dünn. Alle paar Sekunden blickte er zu dem großen Jungen hin, so als wollte er keine Äußerung des anderen verpassen. In dem Moment wurde Kohaku von hinten geschupst und musste einen kleinen Sprung nach vorne machen, um nicht hinzufallen, wobei er mit dem Korb den großen Jungen streifte. Der dritte Junge, dachte er überrascht, den hatte er komplett vergessen.
 

"He, du kleiner Stinker. Was fällt dir ein, mich einfach anzurempeln", brüllte der große Junge sofort auf Kohaku ein und trat mit einer kleinen Drehung nach Kohakus Korb. Der flog in hohem Bogen durch die Luft und verteilte bei Aufprall seinen Inhalt auf dem Asphalt. Der dritte Junge, den Kohaku noch immer nicht gesehen hatte, zog ihn am T-Shirt zurück, bis er genau von dem großen Jungen stand.
 

Vorwurfsvoll sah Kohaku ihn an. "Warum hast du das gemacht?" fragte er und schaute auf die Straße, wo die gesammelten Kräuter und Pilze verstreut waren. Er war weder beunruhigt, noch hatte er Angst. Im Wesentlichen ärgerte Kohaku sich, dass er nicht aufgepasst hatte und so einfach überrumpelt worden war. Doch jetzt war er wieder hellwach und hatte die von Chihiro ausgehende Müdigkeit überwunden.
 

Einen Moment lang überlegte er, ob er sich gegen die Jungen wehren sollte. Er kam jedoch zu dem Schluss, dass es keinen Sinn machte, gegen Kinder körperliche Gewalt einzusetzen. So groß der eine Junge auch sein mochte, neben Torooru wäre er immer noch winzig.
 

"Warum ich das gemacht habe?" knurrte der große Junge mit aufgesetztem Zorn. "Du hast die Straße betreten. Meine Straße. Das kostet etwas. Los, mach deine Taschen leer!"
 

Gehorsam griff Kohaku in alle seine Taschen und stülpte die nach außen. Natürlich war nichts weiter darin, als die Haustürschlüssel. Als Bunzo das begriff, hätte er vor Wut am liebsten aufgeheult. Jetzt hatte dieser Knilch nicht mal Wertsachen bei sich, fluchte er innerlich.
 

"Hiroaki. Durchsuch ihn, ob er auch Nichts versteckt", wies er den schmächtigen Jungen an, der neben ihm stand. Der dritte Junge trat von hinten an Kohaku heran und hielt ihn fest, währen Hiroaki ihn abtastete. Doch Kohaku hatte außer dem Schlüssel nichts dabei.
 

"Also gut, wenn du sonst nichts hast, dann behalte ich eben das", raunte Bunzo und betrachtete grimmig den Schlüssel. "Du bekommst ihn zurück, wenn du mir nachher 1000 Yen gibst, wenn ich von der Schule zurückkomme. Und wenn du den Ogino etwas davon sagst, dann bekommst du morgen eine Abreibung!"
 

Kohaku schüttelte den Kopf. "Ihr könnt den Schlüssel nicht haben. Er gehört mir nicht und ohne ihn komme ich nicht ins Haus. Tausend Yen habe ich auch nicht", sagte er mit endgültigem Tonfall, wobei er Bunzo gelassen in die Augen sah. Er könnte zwar einfach mit einem kleinen Zauber das Türschloss öffnen, aber das durften diese Jungen auf keinen Fall erfahren.
 

"Es ist mir doch egal, wo du die Tausend Yen herkriegst. Beklau doch einfach die Oginos", schlug Bunzo höhnisch vor, wobei der den Schlüssel zwischen Damen und Zeigefinger hin und her schwenkte. "Ha. Da komm mir eine prima Idee. Wir haben ja den Schlüssel und da könnten wir doch ein wenig im Haus der Oginos renovieren. Ich würd ja zu gerne sehen, wie der alte, fette Ogino dich noch mal rausschmeißt." Überheblich und selbstzufrieden grinste Bunzo in die Runde.
 

Das konnte Kohaku auf keinen Fall zulassen. Er musste den Schlüssel zurückbekommen, sofort. Mit einem Ruck riss er seinen rechten Arm vom dritten Jungen los, der ihn noch immer festhielt, und grapschte sich den Schlüssel aus Bunzos Hand. Das Ganze ging so schnell, dass Bunzo zuerst überhaupt nicht reagierte. Er hatte die Bewegung kaum wahrgenommen und nur einen Luftzug gespürt. Wie blöd stierte er einige Sekunden lang in seine leere Hand.
 

Der Junge hinter ihm fing Kohakus Arm sofort wieder ein und nahm ihn jetzt erheblich fester in den Schwitzkasten. Er fürchtete sich davor, was Bunzo mit ihm machen würde, wenn er noch einmal zulassen würde, dass ihr Opfer sich losriss.
 

"Los, rück den Schlüssel wieder raus", brüllte Bunzo Kohaku direkt ins Gesicht, aber der schüttelte nur den Kopf.
 

"Den Schlüssel könnt ihr nicht bekommen", entgegnete Kohaku, scheinbar völlig unbeeindruckt. Tatsächlich war er eher verwirrt über das Verhalten der Jugendlichen und er wusste nicht, was er jetzt am besten machen sollte. Die Menschenkinder, mit denen er früher an seinem Fluss gespielt hatten, waren ganz anders gewesen, als diese Jugendlichen, nicht so aggressiv.
 

Als Nächstes versuchte der große Junge mit verkniffenem Gesichtsausdruck, ihm den Schlüssel aus der Hand zu entwinden. Zu dessen Überraschung schaffte er es aber weder das schmale Handgelenk Kohakus umzuknicken, noch die feingliedrigen Finger aufzubiegen, die den Schlüssel fest umschlossen.
 

"Also gut, du hast es ja nicht anders gewollt", sagte er plötzlich mit ruhiger Stimme, wobei er zufrieden grinste. Jetzt fand er, hatte er endlich Mal einen Grund, richtig unangenehm zu werden. Seit dem Vorfall mit Chihiro Ogino drei Jahre zuvor war er da sehr vorsichtig geworden, sodass er sich meistens zurückhielt.
 

Ein kurzer Blick in die Runde zeigte ihm jedoch, dass er außer seinen beiden Kumpanen kein weiteres Publikum hatte und Vorsicht im Moment nicht notwendig war. Aus praktischer Erfahrung wusste Bunzo, dass ein Schlag in den Solarplexus beim Gegenüber zu einer Erschlaffung der Muskeln führt, durch die er den Schlüssel bekommen könnte. Gerade blickte Bunzo noch nach hinten, die Straße entlang, bevor er im Zurückdrehen zu Kohaku seine Faust hinausrammte.
 

Kohaku sag den Schlag wie in Zeitlupe kommen, doch widerstrebte es ihm, Gewalt gegen die Jugendlichen anzuwenden. Wie leicht wäre es, die Umklammerung des Jungen hinter ihm zu sprengen, die Faust abzuwehren und aus dem Kreis der Jugendlichen zu springen. Doch schnell konnte er dabei auch jemanden verletzen, denn Kohaku konnte seine Kraft im Verhältnis zu den Jungen nur schlecht abschätzen, weil er nur wenig Erfahrung mit körperlichen Auseinandersetzungen hatte. Das wollte Kohaku nicht riskieren.
 

Dabei musste er an Torooru zurückdenken, der ihm auch schon einmal einen Schlag in den Bauch verpasst hatte. Das hatte er auch ausgehalten und so würde er auch diese Situation hier problemlos überstehen. Was konnten ihm die Jugendlichen schon tun?
 

Kurz vor dem Auftreffen der Faust spannte er die Bauchmuskeln leicht an, doch dann passierte etwas, womit Kohaku nicht gerechnet hatte. Der Schlag erreichte ihn nicht und wurde kurz vor der Kleidung getoppt, wobei es violett um ihn herum flackerte.
 

Die Faust wurde mit einem ziemlich lautem, unangenehmen Knackgeräusch zurückgeschleudert und der Junge, der ihn von hinten umklammert hatte, einige Meter weit weggeschleudert. Im ersten Moment zeigte sich nur Überraschung im Gesicht des großen Jungen, bevor es sich plötzlich in eine schmerzverzerrte Maske verzerrte.
 

Im ersten Moment konnte Kohaku sich nicht erklären, was gerade passiert war. Wie in Zeitlupe zog der große Junge seine rechte Hand zurück, wobei er seine andere Hand, zu Hilfe nahm, um den verletzten Arm am Ellenbogen zu stützen.
 

Kohaku benutzte seine magischen Sinne, um festzustellen, was mit der Hand passiert war und erkannte, dass zwei Mittelhandknochen, ein Handwurzelknochen und die Gelenkschale des Ellenknochens zum Teil zertrümmert waren.
 

Allmählich sackte der Junge auf die Knie herunter, während er dabei mit weit aufgerissenen Augen auf seine Hand starrte. Sie begann jetzt bereits sichtbar anzuschwellen. Sein Gesicht wurde kreidebleich und Schweißperlen bildeten sich auf der Stirn.
 

Kohaku wusste nicht, was er tun sollte. Jetzt war genau das passiert, was er hatte vermeiden wollen, als er sich entschlossen hatte, sich nicht zu wehren: Jemand hatte sich ernsthaft verletzt. Irgendwie musste er dem Jungen jetzt helfen. Er trat einen Schritt auf ihn zu. Sofort begann der Junge mit angsterfülltem Blick auf den Knien rückwärts von ihm fortzurutschen.
 

Im selben Moment rannten die beiden anderen Jungen, die jetzt ihre erste Schreckstarre überwunden hatten, laut schreiend weg. Kohaku schaute ihnen verwundert hinterher, bevor er einen weiteren Schritt auf den verletzten Jungen zutrat, der jetzt begann verzweifelt versuchte, wieder auf die Beine zu kommen.
 

"Du, du brauchst keine Angst zu haben", sagte Kohaku freundlich, "ich bin dir nicht böse und ich werde dir nichts tun. Ich möchte dir nur helfen."
 

"Nein, nein, bleib weg von mir", krächze Bunzo, aber Kohaku ließ sich nicht zurückhalten. Er blickte dem verletzten Jungen direkt in die Augen und beugte sich zu ihm herunter. Verwundert blickte der große Junge zurück und bemerkte erst jetzt, dass Kohaku grüne Augen hatte. Dabei fühlte er, wie sich sein Pulsschlag beruhigte und die Panik sich legte.
 

Vorsichtig griff Kohaku nach dem verletzten Arm und der große Junge versuchte nicht mehr, ihm den Körperteil zu entziehen. Er fasste ihm kurz unterhalb des Ellenbogen, was Bunzo dazu brachte, aufzustöhnen. Aber als wäre er hypnotisiert, konnte er sich nicht rühren.
 

Dann sagte Kohaku: "Im Namen des Wassers und Windes in dir, Schmerz weiche." Dazu pustete er auf die zerschmetterte Hand, die bereits auf die Größe einer kleinen Melone angeschwollen war.
 

Augenblicklich verschwand der pulsierende Schmerz aus seiner Hand. Ungläubig schaute Bunzo darauf. War sie etwa geheilt? Er versuchte vorsichtig die Hand zu bewegen, doch es tat sich nichts. Überhaupt nichts. Probeweise berührte Bunzo das Handgelenk mit seiner anderen Hand, doch er spürte nichts. Eigentlich war es eher so, dass er die Hand gar nicht mehr fühlte.
 

Sie schien nicht mehr Teil seines Körpers zu sein. Mit dem Zeigefinger drückte Bunzo etwas in die Schwellung hinein. Es fühlte sich heiß und ekelig weich an, aber er hatte kein Gefühl mehr in der Hand. Panik begann in Bunzo aufzusteigen.
 

"Was, was hast du gemacht", kreischte er, "meine Hand, meine Hand, die ist tot."
 

"Nein, deine Hand ist nicht tot. Du spürst sie nur nicht mehr. Jetzt solltest du einen Arzt aufsuchen", riet Kohaku ihm, "denn in zwei bist drei Stunden wird das Gefühl in die Hand zurückkehren und damit auch der Schmerz. Wenn du willst, bleibe ich bei dir, aber heilen kann ich die Hand nicht. Sag mir, was ich tun kann, um dir zu helfen."
 

"Dann geh weg. Ich will dich nicht mehr sehen", brüllte Bunzo zornig und ängstlich zugleich. Dabei sprang er wieder auf die Beine. In dem Maß, wie der Schmerz gegangen war, war auch seine Kraft zurückgekehrt. Langsam zog er sich, rückwärts gehend und Kohaku argwöhnisch beobachtend zurück. Als er einige Meter Abstand gewonnen hatte, drehte sich um und rannte zu seiner Hautür, die er umständlich aufschloss, weil er die rechte Hand nicht benutzen konnte.
 

Kohaku schaute ihm mit schlechtem Gewissen hinterher. Hätte er nicht noch mehr tun sollen, nein müssen, um zu helfen? Hätte er nicht besser aufpassen müssen, dass den Jungen nichts passiert, auch wenn sie es waren, die ihn angegriffen hatten? Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass das Haarband, das Zeniba Chihiro gegeben hatte, seinen Schutz auch auf ihn ausgedehnt hatte. Doch es konnte nichts Anderes gewesen sein.
 

Durch den Stein, den er und Chihiro jetzt im Bauch hatten, wurde dem Haarband offenbar vorgetäuscht, dass sie ein einziges Wesen waren. Nachdenklich drehte Kohaku sich um, hob den Bambuskorb von der Straße auf und begann von den gesammelten Kräutern und Pilzen das vom Asphalt aufzulesen, was noch zu gebrauchen war. Das Meiste war noch in Ordnung, musste nur gewaschen werden.
 

Die akute Müdigkeit, die ihn vorhin überfallen hatte, war verflogen und Kohaku überlegte, ob er noch einmal in den Wald zurückkehren sollte, um das zu ersetzen, was diese Jugendlichen unbrauchbar gemacht hatten. Aber er entschied sich dagegen. Wenn er für Chihiro und ihre Eltern ein vernünftiges Abendessen machen wollte, dann musste er zuerst herausfinden, wie die verschiedenen Küchengeräte funktionierten.
 

Jedenfalls kochten die Menschen nicht mehr auf Feuer, wie das im Badehaus noch der Fall war. Wasser konnte er problemlos mithilfe von Magie zum Kochen bringen, aber wenn er Öl erhitzen wollte, um darin etwas zu braten, wusste er nicht, wie er das machen sollte. Vorher musste er aber noch die verschiedenen Kräuter sortieren, einige klein schneiden, andere zum trocknen Aufhängen, sowie die Pilze waschen und würfeln.
 

Zwischendurch sah er durch das Küchenfenster, wie vor dem Nachbarhaus ein großes Automobil mit blinkenden blauen Lampen hielt. Zwei Männer in weißer Kleidung gingen mit einer Trage in das Haus hinein und trugen nach einigen Minuten den großen Jungen darauf heraus, bevor das Auto wegfuhr.
 

Gegen halb drei am Nachmittag war er fertig und begann nun die Küche nach Hinweisen zu durchsuchen, wie man die Geräte bedient. In einem der Küchenschränke fand er dann mehrere Kochbücher, sowie einige ziemlich zerfledderte und vollgekleckste Broschüren, die offenbar zu den Geräten gehörten.
 

Mehr als eine Stunde nahm Kohaku sich Zeit, die verschiedenen Druckschriften zu studieren. Dabei stieß er immer wieder auf Begriffe, mit denen er nichts anfangen konnte. So fragte er sich, was Volt, Watt und Ampere sind, was eine Sicherung, ein Magnetron oder ein Wobbler.
 

Alles in allem waren die Erklärungen aber gut verständlich und die Bedienung einfacher, als Kohaku sich das bei der vielfältigen Nutzung der Geräte gedacht hatte. Er probierte alles einmal aus und als er glaubte, dass er alles bedienen konnte, nahm er sich noch kurz die Kochbücher vor, lernte alle Rezepte darin auswendig.
 

Dafür brauchte er gerade einmal eine gute halbe Stunde, denn zum Auswendiglernen genügte es ihm, jede Seite kurz anzuschauen. Als er auf die Uhr schaute, war es gerade einmal 16:00 Uhr. Es würde jetzt noch eine gute Stunde vergehen, ehe Chihiro aus der Schule zurückkommen würde und noch etwa drei Stunden, bis es Abendessen geben würde.
 

Unruhig ging Kohaku ins Wohnzimmer, setzte sich im Schneidersitz auf das Sofa und versuchte zu meditieren, um die Zeit zu überbrücken. Die meiste Zeit seines Lebens hatte er immer etwas zu tun gehabt, sodass es ihm schwer fiel, diese völlige Freiheit bei der Zeiteinteilung zu haben. Nach nur wenigen Minuten wurde seine innere Unruhe immer stärker. Er war jetzt bei den Menschen und musste so viel über sie erfahren, wenn er wie einer von ihnen leben wollte.
 

Vielleicht konnte man ja aus diesem Ding, diesem Fernseher etwas über die Menschen erfahren. Er nahm die Fernbedienung genauer unter die Lupe. Wenn er auf die verschiedenen Knöpfe des Geräts drückte, erzeugte eine kleine Lampe vorne tiefrote Blinksignale ab. Als er sie auf den Fernseher richtete, gab es ein knackendes Geräusch und dann brach die Hölle wieder los. Anders aber, als beim ersten Mal, war Kohaku diesmal vorbereitet und konzentrierte sich auf das Bild und die Geräusche, die er von sich gab.
 

Es wurde eine Art Bildergeschichte gezeigt, der einen kleinen, kräftigen Jungen zeigte, der verschiedene Gegner völlig ohne Sinn und Verstand bekämpfte. Nach nur wenigen Minuten bekam Kohaku von dem Flimmern, Piepen und Brummen, das der Apparat erzeugte, starke Kopfschmerzen, und die Augen begannen, ihm zu tränen. In seiner Not zog er schließlich den Stecker aus der Dose.
 

Die Menschen mussten schon sehr schwache Sinne haben, wenn sie dieses Getöse ertragen konnten, dachte er, und wieder einmal fragte Kohaku sich, wie wohl Chihiro ihre Umgebung wahrnahm. Da er gerade vor dem Bücherregal stand, schaute er sich die Titel an, die dort standen. Da ihm die wenigsten Titel etwas sagten, nahm er sich das erstbeste Buch heraus. Vielleicht konnte er ja aus Menschenbüchern etwas mehr über die Menschen erfahren.
 

Das Buch trug den Titel "Physik für Bauingenieure" und auf dem Einband waren mehrere interessante Diagramme und Zeichnungen abgebildet. Innen auf dem Einband war der Name von Chihiros Vater geschrieben: "Akio Ogino" und die Jahreszahl 1982.
 

Kohaku begann sich in das Buch zu vertiefen und fand es bereits nach kurzer Zeit sehr interessant. Die Betrachtungen, Berechnungen und Formeln folgen einfachen, sehr strengen Formalismen, die ihn stark an die Einführung in die Mathemagie erinnerten, die Zeniba ihnen gegeben hatte.
 

Wann immer er eine Herleitung nicht sofort verstand, vollzog er die Berechnung im Geiste nach und ergänzte sie um die fehlenden Überleitungen. Die Logik war kristallklar und derartig elegant, dass Kohaku davon so vollkommen fasziniert war, wie ihn selten zuvor etwas in den Bann gezogen hatte.
 

Er versank so völlig in den physikalischen Betrachtungen, dass er vergaß, an Chihiros Rückkehr von der Schule zu denken. Daher wurde er völlig überrascht, als er hörte, wie jemand die Haustür aufschloss und hereinkam. Rasch legte er das Physikbuch zur Seite und eilte in den Flur, um nachzusehen. Es war natürlich Chihiro und er hatte ihr Kommen nicht einmal gespürt.
 

Das Mädchen ließ den Schulranzen fallen und fiel ihm sofort um den Arm, als sie ihn erblickte. "Kohaku, ich bin ja so froh, dass du da bist." Dann legte sie ihren Kopf auf seine Schulter und er spürte, wie ihr Körper in seinen Armen schlaff wurde. Schlagartig wurde Kohaku klar, wie sehr Chihiro das Wochenende bei Zeniba mitgenommen hatte und wie sie die langen Nächte erschöpft hatten.
 

Ihr Schlafbedürfnis übertrug sich augenblicklich auf Kohaku. Diesmal hatte er jedoch weder eine Veranlassung ihm zu widerstehen, noch hatte er den Willen. So setzte er sich vorsichtig auf den Boden, sodass Chihiro ihren Kopf auf seinem Bauch legen konnte, um danach direkt neben ihr einzuschlafen.
 


 

Etwa drei Stunden später, gegen 8:00 am Abend, kehrte Chihiros Mutter nach Hause zurück. Sie war gut gelaunt, obwohl sie an diesem Tag besonders lange hatte arbeiten müssen. Gerade hatte sie ihre Schuhe abgestreift und wollte das Licht einschalten, als sie über etwas stolperte, das auf dem Boden lag. Sie stieß einen einem kleinen Fluch aus und versuchte zu erkennen, was dort lag.
 

Schemenhaft erkannte sie einen unförmigen Knubbel, der leicht zu pulsieren schien. Vorsichtig stieg sie über die abstehenden Teile des Haufens hinweg, wobei sie die Wärme spürte, die davon ausging und ein leises Atemgeräusch vernahm. Dann hatte sie den Lichtschalter erreicht und umgelegt.
 

Kohaku schreckte hoch und blinzelte Frau Ogino verdutzt an, während Chihiro, leise grunzte, sich auf die Seite drehte und seelenruhig weiterschlief. Ihr Schulranzen lag neben ihr auf dem Fußboden und die Schuhe hatte sie auch noch nicht ausgezogen. Sanft begann Kohaku das Mädchen jetzt zu rüttlen. "Chihiro, Chihiro, wach auf. Deine Mutter ist da."
 

"He, ihr zwei. Was macht ihr denn da? Warum schlaft ihr denn auf dem Fußboden?" fragte Yuko Ogino verwundert. Dann wurde es auch ihr auf einmal klar. Es war das letzte Wochenende gewesen, dass die beiden Kinder so erschöpft hatte. Sie würde ernsthaft überlegen müssen, ob sie die Beiden noch einmal zu dieser Zeniba gehen lassen sollte.
 

Chihiro öffnete jetzt schlaftrunken ihre Augen und versuchte sich zu orientieren. Als sie erkannte, wo sie sich befand, setzte sich abrupt auf und rieb sich die Augen. Kohaku, von Chihiro befreit, sprang sofort auf. "Guten Abend, Frau Ogino. Verzeihen sie, aber ich muss noch etwas erledigen." Knapp verbeugte er sich vor Chihiros Mutter, bevor er eiligst in der Küche verschwand.
 

Kopfschüttelnd blickte sie hinter ihm her. Sie war es kaum noch gewohnt, dass Kinder sich vor Erwachsenen verbeugten. Aber da sie es unglaublich süß fand, wie höflich der junge Gott immer war, dachte sie sich nichts weiter dabei. "Sag doch mal, mein Kleines, ist Akio denn noch nicht da?" wandte sie sich dann ihrer Tochter zu.
 

Chihiro, die mittlerweile aufgestanden war und sich verlegen die Schuhe auszog, zuckte mit den Schultern. "Nein, Mama. Ich hab' Papa seit heute Morgen nicht mehr gesehen."
 

Yuko Ogino blickte sich jetzt um. Alles um sie herum wirkte, als wäre es wie neu und die Luft im Haus war frisch und duftend. Gleichzeitig vermeinte sie auch, einen leichten Kräuterduft wahrzunehmen, der ihren Appetit anregte. Neugierig geworden schaute sie ins Wohnzimmer. Auf den ersten Blick sah alles, wie immer, doch andererseits wirkte es, wie ein Foto aus dem Prospekt eines Möbelhauses. Sie sah genauer hin.
 

Alle Bücher waren entstaubt, sämtliche Bilderrahmen gesäubert, die Türklinken gewienert, die Leisten gewischt und sogar hinter und unter allen Möbeln war es nahezu beklemmend sauber. Fast augenblicklich bekam Frau Ogino ein schlechtes Hausfrauengewissen, weil sie sich in den letzten drei Jahren nicht so um den Haushalt hatte kümmern können, wie es notwendig gewesen wäre. Aber sie wusste auch, um alles derartig perfekt sauber zu bekommen, musste man den ganzen lieben langen Tag putzen. Und selbst dann war es kaum zu schaffen.
 

Mit widersprüchlichen Gefühlen kehrte sie in den Flur zurück. Einerseits war sie beschämt, wie schlecht sie als Mutter und Hausfrau war und andererseits wollte sie wegen der guten Nachrichten, die sie hatte, am liebsten in Jubel ausbrechen.
 

Deshalb ärgerte sie sich ein wenig, dass Akio noch nicht zu Hause war. Sie hatte nämlich geplant, heute Abend alle zum Essen einzuladen und ein wenig zu feiern. Da sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte, holte sie erst einmal die Post aus dem Briefkasten, setzte sich in einen Sessel und begann zu lesen.
 

Wenige Minuten später hörten Chihiro und Kohaku einen Aufschrei aus dem Wohnzimmer und kamen sofort herbeigelaufen. Sie fanden Yuko Ogino ungläubig auf einen Brief starrend vor.
 

"Mama, ist was Schlimmes passiert?" fragte Chihiro besorgt aber breit grinsend schüttelte ihre Mutter den Kopf. "Mama, was ist denn?" hakte Chihiro nach. Kohaku seinerseits fand das Verhalten der Frau ein wenig merkwürdig.
 

"Ach Chihiro, Kohaku, etwas Tolles ist passiert", meinte Frau Ogino freudestrahlend, "aber das sage ich erst, wenn Akio wieder da ist, damit alle es zusammen erfahren. Sobald er wieder da ist, lade ich euch alle zum Essen ein, denn ich habe heute keine Lust mehr, zu kochen."
 

In diesem Moment bemerkte sie den Essensduft, der jetzt allmählich von der Küche aus über den Flur in das Wohnzimmer drang.
 

"Bitte verzeihen sie, Frau Ogino, aber ich muss zurück in die Küche", meinte Kohaku abrupt, verbeugte sich erneut und zog sich zurück.
 

"Nanu?" stutzte Frau Ogino und blickte dem Jungen verwundert hinterher. "Macht er etwa etwas zu essen?" Sie stand auf und folgte ihm in die Küche und Chihiro begleitete sie. Dort erblickte sie zu ihrem Erstaunen, wie Kohaku gerade ein knusprig braunes Hähnchen aus dem Ofen holte. Auf dem Herd standen mehrere Töpfe, in denen es lustig brodelte und der Küchentisch war bereits für vier Personen gedeckt. Alles duftete einfach herrlich.
 

Gut zehn Minuten später kam Akio Ogino endlich auch nach Hause. Auf der einen Seite war er völlig geschafft, vom vergangenen Tag, andererseits war er aber auch sehr zufrieden mit dem Verlauf.
 

"Schatz, warum kommst du denn so spät nach Hause?" drang Frau Ogino ungeduldig auf ihn ein.
 

"Ach Yuko, ich bin den ganzen Tag durch die Gegend gerannt", seufzte er erschöpft, aber auch zufrieden. "Ich haben nämlich alleine Heute fünf neue Kunden dazu bekommen. Andauernd hat mein Handy geklingelt. Das bedeutet alleine für Monat etwa 60000 Yen Mehreinnahmen. Bald muss ich jemanden einstellen, der den ganzen Schreibkrams und die Buchführung erledigt, sonst schaffe ich die Arbeit nicht mehr."
 

"Akio, das ist doch wunderbar. Aber hör doch erst mal, was mir passiert ist", jauchzte Frau Ogino freudestrahlend, "So viel Glück hatten wir seit Jahren nicht mehr." Als ihr Blick zufällig auf Kohaku fiel, der in der Küchentür stand, stutzte sie. Hieß es nicht, dass Drachen Glück bringen würden?
 

"Genau Schatz! Und deshalb wollte ich euch heute alle zum Essen einladen", sagte er enthusiastisch. "Aber, wie ich feststelle, hast du schon gekocht, Schatz. Stell es einfach kalt. Wir können es morgen Abend aufwärmen."
 

"Nein Schatz, ich habe nicht gekocht. Kohaku hat gekocht", sagte sie daraufhin kopfschüttelnd. "Ich bin doch zu neugierig, was er gemacht hat und es wäre sehr unhöflich, wenn wir es nicht probieren würden."
 

Akio Ogino schaute verblüfft zu dem Jungen herüber. Es duftete zwar ganz annehmbar, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass das Essen so gut wie im Restaurant wäre. Mit Grausen dachte an Chihiros Versuch, ein Mittagessen zu kochen, als sie sieben gewesen war. Damals hatte er auch gute Mine zum bösen Spiel machen müssen. "Also gut, Schatz. Dann gehen wir eben Morgen essen. Schauen wir doch mal, was Kohaku da Schönes fabriziert hat."
 

Kurz darauf waren alle zusammen in der Küche und Kohaku richtete an. Es gab, wie üblich Miso-Suppe, dazu gebratene Nudeln mit Kräutern, Reis mit Gemüse und Pilzen und das Hühnchen, dass Frau Ogino eigentlich kochen wollte, nun aber knusprig braun gebraten war.
 

Alles in allem schien es ein recht normales Abendessen zu sein, wie Herr Ogino befand. Er wünschte sich doch lieber ins Restaurant gegangen zu sein, aber nur solange, bis er probiert hatte.
 

"Schatz, das ist ja fantastisch", brach es aus ihm hervor, aber Yuko Ogino war so konzentriert mit Suppe schlürfen beschäftigt, dass sie nicht antworten konnte. Das Leuchten ihrer Augen dabei sprach aber Bände. Auch Chihiro machte ihren Teller voll, mit Begeisterung essend. Einzig Kohaku sass vor seinem leeren Teller und schaute unsicher in die Runde.
 

"Irgendwann haben wir schon einmal etwa so Leckeres gegessen. Ich kann mich nur nicht mehr erinnern, wo" meinte er weiterhin. Chihiro und Kohaku tauschen einen raschen Blick. Ob sich ihre Eltern doch wieder erinnern würden? An der Art und Weise, wie Herr Ogino zulangte, konnte man eine gewisse Begeisterung nicht verleugnen. "Sag doch Schatz, was waren das für tolle Nachrichten, die du vorhin erwähnt hast?"
 

"O, Akio. Es ist einfach nur fantastisch", legte seine Frau los, "ich bin zur Bereichsleiterin des Bezirks Nakaoka ernannt worden. Damit verdiene ich jetzt mehr als doppelt so viel, wie vorher und stell dir vor, einen Firmenwagen bekomme ich auch. Damit ich alle Filialen besuchen kann. Das Tollste ist aber der Brief von der Krankenkasse, den wir bekommen haben."
 

"Die Krankenkasse hat und geschrieben? Was soll da denn toll dran sein?" fiel Akio ihr ins Wort. "Immer wenn die uns geschrieben haben, ist es teuer geworden."
 

"Was daran toll ist, Schatz. Sie bieten und einen Vergleich an. Sie wollen und 10.000.000 Yen zahlen, wenn wir die Klage gegen sie zurückziehen. Weil es dem Ruf der Kasse schade."
 

Akio Ogino zog die Augenbrauen hoch. Das war wirklich eine erstaunliche Neuigkeit. Und 10.000.000 Yen. Vorsichtshalber ließ er sich von seiner Frau das Schreiben der Kasse zeigen. Es schien tatsächlich echt zu sein. 10.000.000 Yen. So viel hatte er sich nie erhofft. "Na dann herzlichen Glückwunsch, zu deiner Beförderung, Schatz. Und gleich Morgen werde ich mir einen neuen Wagen bestellen. Am liebsten hätte ich wieder einen Audi."
 

Dann machte er sich wieder über das Essen her und schaufelte den Gemüsereis in sich hinein, als hätte er seit einer Woche nichts mehr gegessen.
 

Kohaku dachte schweigend über die Begeisterung von Chihiros Eltern für das Geld nach. 10.000.000 Yen. Bedeutete das soviel, wie 10.000.000 Goldstücke? Waren Chihiros Eltern am Ende genauso goldgierig, wie die Froschmänner und die Schneckenfrauen? Von Yubaba ganz zu schweigen. Das bereitete ihm Sorgen und er hoffte, dass Chihiro später einmal nicht genauso werden würde.
 

Für sein Essen erhielt Kohaku von Chihiros Eltern ein großes Lob. Alle war aufgegessen worden und Herr Ogino erweckte durchaus den Eindruck, als ob er gerne noch mehr gegessen hätte. Beide waren sie hinterher nicht enttäuscht, dass sie nicht auswärts essen gegangen waren. Um ein ähnlich gutes Essen zu bekommen, hätten sie wohl in einen der Gurmetttempel Tokyos oder Kyotos gehen müssen, wie Chihiros Eltern bedeuteten.
 

Nach dem Essen wollte Kohaku auch sofort abspülen, doch Yuko Ogino verwahrte sich dagegen. Ihr war mittlerweile klar geworden, wer im ganzen Haus geputzt hatte. Es war ja den ganzen Tag über auch nur eine Person im Haus gewesen. Akio hatte es natürlich noch nicht bemerkt, aber der Unterschied zu vorher zeigte sich hauptsächlich in den kleinen Details, auf die wohl nur eine Hausfrau achtete.
 

Wenn man vorher nach einem Krümel auf dem Boden suchte, konnte man auch einen finden, wenn man wollte, obwohl es ansonsten sauber war. Wollte man jetzt einen Krümel finden, dann würde eine Suche ergebnislos sein, dessen war sich Frau Ogino sicher. Aber wer hatte auch schon eine, im wahrsten Sinne des Wortes göttliche Reinigungskraft.
 

Als Nächstes zeigte sie Kohaku die Spülmaschine, wie sie zu bedienen war und welche Tabs er benutzen sollte, zeigte ihm die Selbstreinigungsfunktion des Backofens und die verschiedenen Reinigungsmittel, zum Säubern der Töpfe und Pfannen.
 

Da sie schon gerade einmal dabei war, erklärte sie ihm auch noch gleich, wie der Staubsauger funktioniert, welches Mittel für die Toilettenreinigung gedacht war, mit welchem Mittel man Kalkablagerungen von Kacheln beseitigen konnte und was man am besten für die Fensterreinigung benutzt.
 

Kohaku war am Ende eher verwirrt und verwundert darüber, dass die Menschen für alles und jedes ein Mittel oder eine Maschine hatten. Wie faul die Menschen doch waren, dachte er bei sich. Aber waren gewisse Leute in der Geisterwelt nicht ebenso faul, wenn sie für alles und jedes Magie benutzen?
 

In diesem Moment wurden seine Gedanken durch gedämpftes Gebrüll von Chihiros Vater unterbrochen: "Wieso ist das Klopapier schon wieder alle!!!!"



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Kommentare zu diesem Kapitel (48)
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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  KarenChan
2009-05-06T16:33:51+00:00 06.05.2009 18:33
ja, leider... T_T mag weiterlesen >.< da steht auch irgendwie kein autor dran... aber diese fortsetzung ist genial <3
Von:  DawnHargreaves
2009-02-28T09:58:15+00:00 28.02.2009 10:58
also diese story is einfach genial
so stell ich mir eine gute fortsetzung vor!
leider geht es nur nicht weiter...
es würd mich sooo freuen, wenn noch neue kapitel rauskommen
also wollt ich mal sagen:
die geschichte ist einfach wahnsinn, du schreibst total gut, also schreib doch bitte weiter!
lg
Angel of Love
Von:  Nekoryu
2008-11-14T00:59:22+00:00 14.11.2008 01:59
geniale geschichte. leider hat sich der autor abgemeldet und man wird nie erfahren, ob und wie es weitergeht. sehr traurig und sehr schade.
Von: abgemeldet
2008-10-15T13:38:05+00:00 15.10.2008 15:38
Sehr schade, dass es nicht mehr weitergeht.
Gerade wo es anfing, wieder spannend zu werden.
Aber da der Autor sich komplett bei Animexx abgemeldet hat, ist es wohl unwahrscheinlich, dass da noch etwas hinterher kommt, nicht mal nachfragen kann man... Wie blöde.
Von: abgemeldet
2008-01-19T17:43:33+00:00 19.01.2008 18:43
also die geschichte ist hammer und unübertreffbar! ich kann nur sagen, wenn man keine verpflichtungen hätte, dann könnte man den ganzen lieben langen tag ununterbrochen die geschichte lesen, die du unweigerlich fantastisch gemacht hast.. nur schade dass es nicht weiter geht und da du nicht mehr bei animexx bist, jedenfalls nicht als der autor dieser ff, wird es wohl kaum eine fortsetzung geben .. schade. Hätte sich wirklich gelohnt und wir hätten uns alle ziemlich gefreut! naja
Von:  Netari
2007-11-26T22:57:35+00:00 26.11.2007 23:57
einfach ... göttlich ;D
Ech hab die Geschichte vor einigen Jahren schon mal gelesen und sie ist immernoch so ziemlich unübertroffen.
Nur warum gehts nicht weiter???? ;.;
Bitte bitte mal melden wenns (doch noch) weitergeht!! (was ich seeeehr hoffe *bittend anschau*)
Von: abgemeldet
2007-09-11T16:17:47+00:00 11.09.2007 18:17
Die letzte Veröffentlichung liegt 2 Jahre zurück...
Von:  angel060689
2007-09-11T04:19:00+00:00 11.09.2007 06:19
die story ist klasse.
schreib bitte weiter.
würd mich mega freuen.
kannst du mir bescheid sagen sobald ein neues kapi da ist?
MLG
angel060689
Von: abgemeldet
2007-05-04T14:50:27+00:00 04.05.2007 16:50
Man war die FF geil! Schreib weiter!
Von: abgemeldet
2007-03-07T17:15:59+00:00 07.03.2007 18:15
WOAH !!!
ehrlich, ich bin total... keine ahnung, ich kann das gar nich so richtig in worte fassen, deine FF ist der hammer!!!
ich hab das ganze wochenende nur deine geschichte gelesen; man hat mich gar nicht mehr vom bildschirm weggekriegt, meine ma musste mich sogar zum abendessen zerren^^
also ehrlich: respekt!!!
du hast so einen tollen schreibstil, schreibst auch überhaupt nich eintönig oder langweilig oder wasweißich.
und romantik ist auch noch mit drin gewesen... ++ toll ++
aber jetzt bin ich traurig, weil die FF zu ende ist ~heuuul~
ich würde mich so super freuen wenn du weiterschreiben würdest! die geschichte kann man nur lieben! sie kommt so realistisch rüber und einfach glaubwürdig!
ich habe schon den verdacht, dass ich ab jetzt immer unbewusst denken muss, der zweite teil von chihiro wurde verfilmt^^.
wirklich, du hast ein riesenlob verdient!
bist du vielleicht sogar schriftsteller von beruf? wenn nicht, solltest du vielleicht mal drüber nachdenken ~gg~

uaaahhh hammer ~nicht drüber fertig werd~

liebe grüße
miyazaki_love


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