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Bambino Fingono

Pretender Fanfiction
von

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Titel: Bambino Fingono

Autor: ZoeP

Rating: PG-13

Categories: R, A

Spoiler: Staffel 1-4 (die Filme nicht) Handlung in Teil 1 beginnt im April 2001 (4 Monate nach der Explosion in der U-Bahn)

Short-Cut: Jarod versucht, mehr über seine Vergangenheit zu erfahren und krempelt dabei nicht nur das Centre gewaltig um...

Pairing: Alle ;-)

Disclaimer: Die Charas von Pretender und die Vorgeschichte gehört nicht mir. Jedoch ist der gesamte Inhalt, den ich hier fabriziert habe, mein geistiges Eigentum.

E-Mail: janni@feix-jena.de

Anmerkung: Teil 1 bis 3 sind meine ersten Erfahrungen mit dem Schreiben von Pretender Fanfictions gewesen. Deshalb danke ich ganz besonders meiner Betaleserein Nicatlon, für die liebe Unterstützung. Außerdem danke ich allen, die mir Mut machen und Feedback schicken - es ist schließlich der einzige "Lohn", den man für das Schreiben bekommt... Ein riesengroßes Dankeschön geht an Nicatlon, die mit einer total lieben Geduld für mich beta liest. Danke ;-)
 

Bambino Fingono

von ZoeP
 

Teil 1
 

"Was?", meldete sich eine verschlafene, sonst so kalte Stimme am Telefon.

"Hallo Miss Parker." Die Stimme am anderen Ende sprach amüsiert. Der Anrufer schien zu grinsen.

"Jarod!" Miss Parker setzte sich in ihrem Bett auf und strich sich die Haare nach hinten. "Weißt du wie spät es ist?", keifte sie in den Hörer. Stille. "Jarod?" Miss Parker schloss genervt die Augen. "Hör zu, Wunderknabe, ich hatte einen anstrengenden Tag. Mehr als anstrengend, einschließlich einem ausführlichen Gespräch mit Daddy, bei dem vorrangig er gesprochen hat, und ich über mich ergehen lassen musste, wie schlampig ich meine Arbeit mache!", zischte Miss Parker und biss die Zähne zusammen, um nicht lauter zu werden, als sie eh schon war.

"Oh, das tut mir Leid", sagte Jarod, doch sein Grinsen schien breiter zu werden. "Der Schlüssel liegt in der Zeit. Übrigens ist es 23:20 Uhr." Klick. Aufgelegt. Etwas verdattert hielt Miss Parker den Telefonhörer in der Hand und legte ihn dann auf den Nachttisch. "Oh man, der raubt mir noch den letzten Nerv", stöhnte sie und ließ sich zurück in ihr Kissen fallen. Trotzdem musste sie grinsen. Irgendwie hatte sie sich an diese Gespräche gewöhnt, diese Stimme, die sie regelmäßig aus dem Bett holte. Sie ließ sich das Gespräch noch einmal durch den Kopf gehen.

Plötzlich fuhr Miss Parker aus ihren Kissen hoch. Was hatte er gesagt? Es ist 23:20 Uhr? Aber sie war doch mindestens schon seit drei Stunden im Bett gewesen, und war sie nicht kurz vor 23 Uhr nach Hause gekommen? Benommen sah sie auf die Funkuhr neben ihrem Bett. 01:23 stand da, in deutlichen, großen roten Zahlen. Machte Jarod wieder einen seiner Späße mit ihr? Miss Parker hatte keinen Lust, jetzt darüber nachzudenken. Erneut sank sie in ihre Kissen und schloss die Augen. Es dauerte nicht lange, und sie schlief ein.

***

"Broots, sagen sie nichts, wenn es keine gute Nachricht ist!", begrüßte Miss Parker am nächsten Morgen ihren Kollegen, der gerade auf sie zu kam, um etwas zu sagen. Wie ein scheues Reh senkte er den Kopf und drehte sich um.

"Okay, sagen sie's.", gab Miss Parker nach. Sie schritt zu ihrem Tisch, die Stiefel klackten auf dem Boden, setzte sich hin und schlug die Beine übereinander. Broots begann zu erzählen. "Jarod hat uns eine E-Mail geschickt. Ich... ich konnte bisher nichts damit anfangen."

Miss Parker wollte gerade etwas erwidern, als eine tiefe Stimme etwas sagte: "Ich übrigens auch nicht, Miss Parker."

"Sydney. Bin ich denn hier nur von Schwachköpfen umgeben?", sagte Miss Parker eisig und riss Broots das Blatt aus der Hand. "Ist sie das?" Broots nickte stumm. Er wollte sich aus dem Staub machen, aber Parker hielt ihn zurück. "Bleiben sie hier, Broots."

Dann las sie sich die E-Mail durch. "Was hat er denn nun schon wieder im Sinn? Zeit ist das Einzige, was einen weiterbringt. Die Sonne geht im Osten auf...", las sie laut vor. Dann stutzte sie. Natürlich, jetzt ergab das ganze einen Sinn!

"Broots, durchsuchen sie alle Staaten. Wo ist es 23:20, wenn es bei uns 1:20 Uhr ist... Na los!" Miss Parker sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. Verständnislos setzte sich Broots hinter seinen Computer und befolgte den Auftrag. Auf Sydneys fragenden Blick hin, erzählte Miss Parker: "Jarod hat mich heute Nacht aus dem Bett geklingelt. Es war so gegen viertel zwei. Ich war genervt und fragte ihn nur, ob er wisse, wie spät es überhaupt ist. Und darauf meinte er, es sei kurz nach viertel zwölf. Und er Schlüssel läge in der Zeit. Ich verstand es nicht. Aber wenn er noch irgendwo da ist..."

"Miss Parker, ich glaube ich habe etwas gefunden", meldete sich Broots leise.

"Was?"

"Nun, es gibt einige Staaten, die einen Zeitunterschied von drei Stunden haben. Aber er sagte die Sonne geht im Osten auf. Er muss sich an einem sehr östlich Ort befinden. Und ich schätze, wie wir Jarod kennen, sendete er diese E-Mail pünktlich zum Sonnenaufgang ab. Jedoch, als wir diese Mail erhalten haben, ging die Sonne gerade erst in Denver, Colorado auf, das liegt in einer anderen Zeitzone, als die, die wir suchen. Aber es gibt einen kleinen Ort in Nevada, Ely, dort ging die Sonne eben um diese Zeit auf, weil es ziemlich hoch liegt und wegen besonderer Luftströmungen sieht man das Licht eher, wie eine Art Fata Morgana." Broots machte eine Pause und kam dann schnell zur Sache, als er Miss Parkers genervten Blick sah. "Jedenfalls... dieser Ort liegt innerhalb der Zeitzone, die Jarod nannte. Es wäre einen Versuch wert." Broots lächelte scheu. Miss Parker schenkte ihm ein kühlen Grinsen und meinte: "Gut gemacht. Lassen sie den Flieger klar machen."

Broots sah sie verblüfft an. "Was ist?", fragte Miss Parker, als er sich nicht regte. Broots sprang auf und ging Richtung Tür. "Äh, jah. Sie sagten nur gerade, ich ähm, na ja, gut gemacht... das sagen sie sonst... ähm, nie." Und mit diesem Gestotter verließ Broots eilig das Büro. Jetzt war es Parker, die ihm verblüfft nachsah. Sie wandte sich an Sydney. "Bin ich wirklich so schlimm?" Sie sah ihn stirnrunzelnd an. Er lächelte und bedachte sie eines nichtssagenden Blickes. "Nun, sagen wir mal so, das höchste Lob, was Broots bisher bekam, war ein okay fein, das nächste Mal etwas schneller." Er drehte sich wieder seinem Computer zu und tippte etwas ein.

Miss Parker sah ihn noch wenige Sekunden überrascht an. Kopfschüttelnd stand sie auf und ging in eine kleine Nische, einer winzigen Teeküche. Kaffee, sie brauchte jetzt ganz dringend einen Kaffee, und zwar schwarz.

***

"Sagen sie Syd, wie lange braucht so ein verdammter Schrotthaufen bis nach Nevada?", fluchte Miss Parker und sah nervös auf die Uhr. Es würde so oder so Zeitverschwendung sein. Wie immer. Aber es beruhigte ihren Vater, Mr. Parker. Sydney sah sie nur an. Er musste lächeln, als er ihr wütendes Gesicht sah. Miss Parker beugte sich nach vorne und heischte den Piloten an: "Sagen sie, wo haben sie Fliegen gelernt. Im Kindergarten?" Der Pilot bedachte sie keines Blickes. "Hören sie, Ma'am, wir befinden uns in einer gefährlichen Zone. Ich kann hier nicht einfach..."

Miss Parker schnitt ihm das Wort ab. "Wenn sie meinen, der Job würde sie überfordern, dann können sie zurück zu ihrer Mami und ihr mitteilen, dass sie gerne ein Dreirad haben wollen, sobald wir zurück in Delaware sind", zischte sie ihm ins Ohr, und sie musste dabei so wütend geklungen haben, dass der Pilot etwas murmelte, was ganz nach "Frauen" klang, jedoch etwas schneller flog.

***

"So, da wären wir. Und jetzt?", fragte Miss Parker, als sie aus dem Jet ausgestiegen war und sich umsah. Gekonnt lässig setzte sie ihre Sonnenbrille auf und ging voran. Der Pilot flog weiter. Näher hatte er sie nicht absetzen können. Er würde sie am nächsten Tag wieder abholen. Soweit, so gut.

Broots drehte eine Karte in seinen Händen hin und her. Er schien sich nicht ganz schlüssig zu sein, ob sie hier überhaupt richtig waren. Dann zuckte er mit den Schultern und folgte Parker.

"Sagt mal, Jungs, was bitteschön sollen wir hier finden? Hier ist nichts als Wüste! Will Jarod, dass wir Sandburgen bauen?", sie lachte kalt. Broots zuckte unter diesem Lachen zusammen. Sydney grinste amüsiert. Sie war nicht wirklich wütend. Und wenn er den Ausdruck ihrer Augen richtig deutete, dann gefiel ihr Jarods Spielchen.
 

"Da drin hat er gelebt", sagte der alte Mann zu ihr und wies auf die Hütte. Miss Parker kratzte sich Sand von den Schuhen und seufzte. Nach einem langen Marsch hatten sie endlich eine kleine Ortschaft entdeckt. Ely. Sie fanden in einer Art Saloon den Verwalter des Dorfes vor und fragten ihn nach Jarod. Und tatsächlich, er hatte hier als Barkeeper gearbeitet und war heute früh abgereist. Miss Parker nickte nur und schickte den Mann mit einer Handbewegung fort. Sie stöhnte. Ihre Füße taten weh. In Pumps lief es sich nicht gut, wenn der Untergrund aus Sand bestand. Sie griff nach ihrer Waffe und lehnte sich an die Tür. Kein Geräusch. Mit einem Knall öffnete sie die Tür und trat ein, die Pistole entsichert. Erschöpft ließ sie das Metall der Waffe klicken und steckte sie zurück unter ihren Mantel. Es war niemand hier, wie zu erwarten. Damit begann die Hausdurchsuchung. Obwohl Haus eigentlich nicht das rechte Wort war, es war eigentlich nur ein Bretterverschlag mit Tür, indem Jarod gehaust hatte.

Broots begann, ziellos in den Sachen zu wühlen, die Jarod zurückgelassen hatte. Es war diesmal nicht viel, und es schien, als hatte er seine Flucht diesmal nicht so zeitig geplant. Sonst erwartete Parker immer eine kleine Überraschung, ein Hinweis auf seinen neuen Aufenthaltsort. Aber diesmal lagen nur Jarods alte Sachen dort. Miss Parker schritt in der Hütte, bestehend aus nur einem Raum, auf und ab.

Sie erinnerte sich an ihr Telefonat. Er hatte ihr den Hinweis erst gegeben, als sie ihm von ihrem schlechten Tag erzählt hatte. Wollte er sie aufmuntern, indem er ihr den Tipp gab, den er eigentlich nicht geben wollte? Wollte er sie vor ihrem Vater schützen, der mit ihr geschimpft hatte, wie mit einem kleinen Kind? Jarod plante immer alles, aber diesmal schien er dafür nur wenig Zeit gehabt zu haben.

Miss Parker zuckte resignierend mit den Schultern. Dieser Wunderknabe würde ihr immer ein Rätsel bleiben, und gerade das mochte sie an ihm, irgendwie... Auch Sydney sah sich um, nicht so durcheinander wie Broots. Der war gerade dabei, einige von Jarods Sachen zu untersuchen.

"Miss Parker, hier ist nichts, was uns weiterbringt. Kleidung, die Barkeeper tragen, einige Bücher über Getränke und ihre Mixtur und einige verrückte Plüschtiere. Frag mich, was die hier zu Suchen haben." Miss Parker sah sich um. Broots hatte Recht, hier fanden sie nichts Brauchbares. Sie hatten gerade genug, um Mr. Parker ruhig zu stellen. Parker seufzte.

"Ja, am Besten geht ihr raus und befragt die Leute. Foto zeigen, die ganze Routine, ihr wisst schon." Und mit einer kurzen Handbewegung scheuchte sie Broots nach draußen. Sydney folgte ihm. Miss Parker drehte sich im ihre eigene Achse. Es musste doch irgend etwas geben... Jarod hätte ihr keinen Tipp gegeben, wenn er ihr nicht etwas sagen wollte. Miss Parker zog einen Zettel aus ihrer Tasche und las sich die E-Mail erneut durch. Die Sonne geht im Osten auf. Das ergab einen Sinn auf seinen Standort, aber sonst auf nichts. Zeit ist das Einzige, was einen weiterbringt. Auch das ergab keinen Sinn. Verwirrt packte sie Jarods Sachen in eine große Kiste und schleppte sie nach draußen, mit der Notiz zum Center.

Einen letzten Blick ins Innere der Hütte werfend, wollte sie gehen. Plötzlich fiel ihr etwas ins Auge, etwas Unscheinbares, etwas Kleines... Miss Parker ging zu dem zerfallenen Kamin. Auf dem unebenen Sims stand ein Bilderrahmen mit einem Foto. Wieso war er ihr nicht vorher aufgefallen?

Das Foto war ziemlich ausgeblichen. Es war ein Schwarzweißbild, dass sie selbst zeigte. Und Jarod. Miss Parker sog leicht hörbar die Luft ein. Erinnerungen kamen in ihr hoch, sie dachte an die Zeit, als sie noch ein Kind war und Jarod ihr Freund. Sie hatten zusammen im Center gespielt. Es war eine schöne Zeit gewesen.

Ein wenig Betrübt nahm Miss Parker das Bild und legte es behutsam zu den anderen Dingen in der Kiste vor der Hütte. Sie hatte gar nicht mitbekommen, wie spät es bereits war. Zeit, sich ein Quartier zu suchen. Seufzend machte sich Parker auf den Weg zum Motel, was eher eine Absteige für Dorftrottel war, ihrer Meinung nach.

***

"Was?", murmelte Miss Parker, müde aber fest in ihr Handy.

"Nicht was, wer", meldete sich die andere Stimme. Wie immer war es mitten in der Nacht, und wie immer war es Jarod, der sie aus dem Bett klingelte. Miss Parker schloss die Augen und lehnte sich an die schlecht verputzte Wand des Motelzimmers. "Jarod, was wollen sie?" Ihre Stimme klang genervt und überanstrengt.

"Vorsicht, es gibt Kakerlaken in diesen Zimmern", sagte er ohne auf ihre Frage einzugehen.

"Ich weiß", gab Miss Parker ungerührt zurück. Sie erinnerte sich an ihren Versuch, das Fenster des Zimmers zu öffnen, bei dem sie die Bekanntschaft mit einigen dieser widerlichen Krabbeltiere gemacht hatte. So langsam wurde sie wach. Fragen bildeten sich in ihrem Kopf.

"Sie hatten nicht geplant, uns hierher zu locken?", meinte sie, doch es war eher eine Feststellung, als eine Frage. Stille am anderen Ende der Leitung.

"Nein", meinte Jarod dann ausdruckslos. "Noch nicht. Aber ich konnte doch nicht zulassen, dass ihr Daddy böse auf sie ist und sie wütend macht. Obwohl, wenn sie wütend sind, sehen sie unbeschreiblich schön aus." Jarod sagte das, als würde er übers Wetter sprechen und Miss Parker nahm es nicht ernst.

"Lassen sie mich jetzt schlafen?", fragte sie.

"Vielleicht."

"Das heißt nein. Sie wollen, dass ich weiter frage", vermutete Miss Parker trocken. So war es immer. Er sagte etwas, sie sollte fragen, er gab die Antwort.

"Also gut", murmelte sie. Immerhin gab es noch einige Fragen, und jetzt war sie sowieso hellwach. "Wieso haben sie das Foto zurückgelassen?"

"Welches Foto?", fragte er unschuldig. Stille. "Ach das. Ich muss es wohl... vergessen haben." Wieso wich er ihren Fragen immer aus? Miss Parker stand auf und ging in die winzige Küchenzeile des Zimmers. Sie nahm ein Glas aus dem Schrank und goss sich etwas zu Trinken ein. Wasser war besser als nichts, und ihre Stimmbänder konnten jetzt gut ein wenig Flüssigkeit vertragen.

"Miss Parker?", meldete sich Jarod nach einer ganzen Weile. So gefiel ihr das. Nicht sie sollte nach seiner Nase tanzen, nicht am Telefon.

"Was ist?", antwortete sie kurz und nahm einen tiefen Schluck.

"Dieses Bild ist das Einzige, was ich von uns Beiden hatte.", begann er ernst. Miss Parker war sich nicht sicher, ob er meinte, es sei das einzigste Bild, oder es sei überhaupt die einzigste Erinnerung von ihnen. Sie sagte nichts und hörte weiter zu.

"Das heißt, ich habe noch eins." Miss Parker glaubte, ein Grinsen heraus zu hören. "Aber es ist ziemlich neu. Wissen sie, es zeigt nicht dasselbe, wie das Bild, was sie jetzt in den Händen halten." Miss Parker horchte auf. Sie hatte es tatsächlich jetzt in der Hand, nachdem sie sich gestern Abend entschlossen hatte, es doch nicht zu den anderen Sachen zu tun. Aber woher sollte er das wissen?

"Woher haben sie ein... neueres Bild?", fragte sie in den Hörer. Er lachte leise auf. "Erinnern sie sich nicht mehr an unser Treffen am Grab von Tommy? Nun, es gab Zeugen, und diese Zeugen konnten gut mit Kameras umgehen. Ich musste doch die Beweisstücke beseitigen, nicht nur zu meinem Schutz. Und vernichten war dann doch etwas schade."

Miss Parker lächelte. Typisch Jarod. Es interessierte sie, wer diese Zeugen waren, doch sie wusste, dass es sinnlos wäre, ihn danach zu fragen. Irgendwann würde er sie es wissen lassen.

Er unterbrach ihre Gedankengänge. "Miss Parker, sehen sie sich das Bild genau an. Vielleicht erkennen sie, was ich meine. Ich mochte das Bild, aber ich habe es losgelassen, weil es endgültige Vergangenheit zeigt. Ich habe losgelassen. Fast."

Miss Parker sah etwas verunsichert auf das gerahmte Foto. Es war zu dunkel, um etwas zu erkennen. Kopfschüttelnd ging sie zurück zu ihrem Bett, stellte das Glas auf den Nachtschrank und legte das Bild unter ihr Kopfkissen. Langsam beschlich sie die Müdigkeit und so krabbelte sie zurück unter die Bettdecke.

"Was wollen sie damit sagen?", fragte sie schließlich in die schier endlose Stille. War er überhaupt noch dran? Leise Atemzüge verrieten es ihr. "Womit?", entgegnete er.

"Jarod. Was haben sie losgelassen?"

"Die Zeit."

Miss Parker hob die Augenbrauen. Wie konnte so eine einfache Antwort so kompliziert klingen? Es klickte.

"Nicht auflegen!", rief sie, nicht laut, aber deutlich. "Jarod?" Stille. "Jarod, bitte, wieso unterbrechen sie das Gespräch immer mitten in der Unterhaltung?!" Stille. "Jarod!" Immer noch Stille.

Er hatte die Verbindung getrennt. Sie nahm den Hörer vom Ohr und legte ihn beiseite. Erschöpft und müde schlief Miss Parker ein, ohne noch viel überlegen zu können. Ihr letzter Gedanke war, dass sie diese Anrufe liebte, auch wenn alles so absurd war.

***

Ein leises Klopfen weckte Miss Parker am nächsten Morgen. Dazu murmelte ein Stimme dumpf, sie solle aufstehen, der Pilot war wieder da, um sie abzuholen. Benommen öffnete Miss Parker die Augen. Draußen war es hell, die Sonne warf matte Strahlen in das staubige Zimmer. Gegenüber dem Motel öffneten sich erste Fenster, Vorhänge wurden zurückgezogen. Miss Parker raffte sich auf und ging unter die Dusche, was auf sie eher wie eine tropfende Gießkanne wirkte. Nach einer viertel Stunde stand sie vor dem Motel, bereit zum Abflug.

Der Pilot verfrachtete die Kiste mit Jarods Sachen und half den drei Center Mitarbeitern beim Einsteigen. Miss Parker ließ sich in die Polster sinken. Endlich konnte sie von diesem fürchterlichen Ort weg. Zu Hause würde sie als Erstes ein heißes Bad erwarten.

Auf dem Heimflug schweiften Miss Parkers Gedanken immer wieder zu ihrem letzten Telefonat mit Jarod. Seine Worte machten kaum einen Sinn, und obwohl das nichts Neues war, verärgerte es Miss Parker. Sie sah aus dem Fenster und blickte hinaus in das unendliche Wolkenmeer. Er hatte losgelassen. Dass Jarod damit nicht allein das Bild meinte, war ihr klar. Wo hatte sie es eigentlich hingetan? Sicherlich lag es in einer der Reisetaschen, die hinter ihr, Sydney und Broots verstaut waren. Sie wusste es nicht so genau.

Miss Parker drehte sich kurz um, um hinter sich zu sehen. Sie konnte nichts erkennen und sah wieder nach vorne. Auf ihre routinemäßige Frage, wie lange sie noch brauchen würden, antwortet der Pilot genervt: "Wenn sie noch einmal fragen, brauchen sie nicht mehr lange, denn dann steigen sie aus!" Und als sie ihm eines bedrohlichen Blickes bedachte, meinte er trocken: "Das Center hat mich in eine andere Ebene versetzt. Sie bekommen einen neuen Piloten und ich brauche mich nicht mehr mit ihnen herum quälen." Diese Worte waren ganz schön mutig, und Miss Parker glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen, aber jetzt konnte er es sich erlauben. Es war sein letzter Flug mit ihr, und was er heute sagte oder tat, würde in seinem neuen Job keine Rolle spielen. So war es immer im Center. augenverleiernd verschränkte Miss Parker die Arme vor der Brust und beschränkte sich darauf, für den Rest des Fluges aus dem Fenster zu sehen. Es dauerte nicht lange, und sie schlief ein.
 

Als sie gelandet waren, wurde sie vorsichtig von Sydney geweckt. Er wünschte dem Piloten einen guten Tag und viel Erfolg in seiner neuen Stelle. Der Pilot sah ihn lächelnd an und verließ ihre Sichtweite.

Miss Parker grummelte etwas, das verdächtig nach "verrotten soll er" anhörte. Sydney schüttelte den Kopf und ging in sein Büro. Miss Parker sah Broots wortlos an und zeigte auf die Kisten. Als er sich nicht rührte, raunte sie: "Soll ich sie etwa hier draußen untersuchen?" Daraufhin machte sich Broots eilig daran, sie in ihr Büro zu bringen.

***

"Es ist hoffnungslos!", jammerte der kleine Junge, etwa 15 Jahre alt. "Das schaffe ich nie. Und überhaupt, wieso soll ich solche Sachen tun, wo ich doch gerade das Leben entdeckt habe?"

"Damit deine Fähigkeit nicht verloren geht. Ich weiß, dass du es kannst, wenn du nur willst. Und irgendwann wirst du es brauchen!", erwiderte die raue, sanfte Stimme des alten Mannes.

"Dad, ich will nicht. Nicht heute!" Der Junge sah seinen Vater bittend an. Eine junge Frau stand im Türrahmen und lächelte. "Lass ihn Pause machen, er hat es verdient. Und wir müssen uns so oder so in Geduld üben, da kommt es auf den einen Tag auch nicht mehr an."

Der alte Mann nickte. "In Ordnung. Wir machen Morgen weiter. Geh jetzt schlafen." Der Mann wuschelte seinem ungeplanten Sohn durch die Haare. Jetzt würde er Jarod suchen.

***

"Darf ich rein kommen?", spöttelte eine Stimme, die Miss Parker nur allzu vertraut war. Sie sah sich nicht um.

"Sie sind doch schon drinnen, Lyle." Ohne ihn weiter zu beachten sah sie sich wieder die Sachen an, die Jarod hinterlassen hatte. Die Bücher und andere Dinge deuteten auf seinen letzten "Job" hin, nur die Kuscheltiere waren sehr seltsam. Lyle schien Gedanken lesen zu können.

"Vielleicht ist Jarod wieder zum Kind geworden, wo er doch nie die Gelegenheit hatte, eines zu sein...", mutmaßte er selbstsicher.

"Lyle, ich habe den Verdacht, sie sind noch nicht ganz... reif. Zugegeben, er ist in mancher Hinsicht recht niedlich, aber doch nicht so!" Miss Parker schüttelte den Kopf.

"Und was denken sie?", wollte Lyle wissen.

"Das lassen sie mal schön meine Sorge sein." Miss Parker lächelte süffisanft und dachte insgeheim, dass sie ihren Bruder umbringen würde, wenn er eben nicht ihr Bruder wäre. Oder vielleicht gerade deshalb?

Lyle wandte sich von ihr ab und nahm einige der Dinge wahllos in die Hand, um sie gleich wieder auf die Glasplatte des Tisches zu legen. "Na dann machen sie sich mal ihre Sorgen. Ich bin es ja schließlich nicht, den Daddy im Auge behält. Ich habe zu tun." Mit diesen Worten verließ er ihr Büro, falsch und hinterhältig grinsend.

Miss Parker holte tief Luft, um ihm nicht das Buch, das sie gerade in ihrer Hand hielt, hinterher zuschmeißen. Sollte er doch tot umfallen, dieser Bastard mit dem fehlenden Daumen. Konnte er sie nicht in Ruhe lassen?

Jarods Jagd war wieder einzig und allein ihre Sache, seit dem "Unfall", bei dem Ethan verschwunden war. Mr. Parker hatte Lyle etwas Anderes zugeteilt, und ihn somit völlig der Suche entzogen. Sollte er sich auch daran halten!

Miss Parker setzte sich hinter ihren Schreibtisch, um den Bericht zu beginnen, als die Tür aufging und ein nervöser Broots eintrat. "Miss Parker!", rief er hektisch und fuhr sich durch die Haare. Wortlos sah sie ihn an, und er folgte der stummen Aufforderung, ihr zu sagen, was er sagen wollte. Mit einem Blatt Papier wedelte er Miss Parker vor der Nase und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch.

"Also, wir haben eine E-Mail erhalten..."

Miss Parker fiel ihm ins Wort. "Von Jarod? Geben sie her!" Sie schnappte sich das Blatt und las es. Eine seltsame E-Mail. Nur eine Liste mit Zahlen und Orten. Miss Parker überflog sie enttäuscht und dachte gar nicht mehr an Broots. Wenn sie Jarod nicht bald ausfindig machen konnten, würde es Ärger geben. Ihr Daddy war schön wütend genug.

,Wütend', dachte Miss Parker. Was hatte er gesagt? Obwohl, wenn sie wütend sind, sehen sie unbeschreiblich schön aus. Die Worte hallten in ihren Ohren wider. Wie das wohl wieder zu verstehen war? Miss Parker spürte nicht den Funken in sich, der ihr zu sagen versuchte, sie solle sich über diese Äußerung freuen. Sie bemerkte Broots, der sich leise geräuspert hatte. Sie sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. "Entschuldigen sie, Broots. Was ist das hier?" Sie reichte ihm das Blatt zurück. Er nahm es zögernd.

"Nun, wir erhielten eine E-Mail, Absender unbekannt. Sicherlich Jarod, auch wenn er eine Adresse benutzte, die uns unbekannt ist." Er sah sie an und redete weiter. "Wir erhielten einen Zahlencode, der höchstwahrscheinlich Längen- und Breitengrade angibt. Und bei der Entschlüsselung fanden wir diese Orte heraus." Er tippte kurz auf die Liste. "Doch sie liegen quer in den Staaten verstreut. Ich weiß damit nichts anzufangen!"

Miss Parker nickte kurz. "Aber wieso zeigen sie mir das? Meinen sie, es hat etwas mit Jarod zu tun?" Broots nickte unmerklich. "Na ja... Der Betreff der E-Mail... Er ist typisch für Jarod, nämlich sehr verschlüsselt. Bambino Fingono. Es ist auf jeden Fall nicht Latein oder Französisch, die Sprachen, die das Center für seine Projekte verwendet..." Broots hatte noch nicht ganz zu Ende erzählt, da sprang Miss Parker auf. "Habe ich sie richtig verstanden? Bambino Fingono? Broots, finden sie heraus, ob diese E-Mail von Jarod stammt."

Broots sah seine Vorgesetzte erschrocken an. Sie bemerkte es und schenkte ihm ein leichtes Lächeln. "Schon gut, ich drehe nicht durch. Erklärungen gibt es später." Broots nickte und verschwand hinter seinem Laptop. Auf ein Gemurmel von ihm, ob er sich auch um die Übersetzung der zwei Worte kümmern sollte, schüttelte Miss Parker energisch den Kopf. Sie blieb alleine in ihrem Büro zurück und runzelte die Stirn. Wieso eigentlich hatte sie so heftig reagiert? Diese zwei Worte hatten etwas in ihr geweckt, was lange geschlafen hatte. Miss Parker war aufgewühlt, zu aufgewühlt, um einen klaren Gedanken zu fassen. Jarod. Sie musste an ihn denken, sah sein Gesicht vor sich und lächelte zaghaft. Hatte er diese E-Mail gesendet?

Miss Parker biss sich nervös auf die Unterlippe und suchte in den Tiefen ihrer Gedanken nach der Bedeutung dieser Worte. Sie wusste nicht, was sie sagten, aber es musste etwas Wichtiges sein, etwas, dass mit ihr und ihrer Vergangenheit zu tun hatte. Vielleicht sogar mit ihrer Zukunft. Nur was?

Sie schloss die Augen und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Ihr Gedanken schweiften zu ihrem letzten "Treffen" mit Jarod, vor zwei Monaten, als der Todestag von Tommy ein Jahr und sechs Monate her war. Sie hatte ihre Waffe auf ihn gerichtet, als er hinter ihr stand, und ihn gefragt, wie gut er ihn gekannt hatte. Jarod schüttelte den Kopf und nahm ihr langsam die Waffe aus der Hand. Dann hockte er sich zu dem Grabstein und begann, zu erzählen, ihr den Rücken zugewandt. Er kannte Tommy auch noch nicht lange, sie hatten zusammen gearbeitet und er hatte ihm geholfen. Trotzdem hatte Jarod sofort gewusst, dass Thomas Gates der beste Mensch wäre, um Miss Parker zu zeigen, dass auch sie zu Gefühlen fähig war. Miss Parkers Augen füllten sich mit Tränen, als er das erzählte. Dann gab er ihr die Waffe zurück, und ließ sie allein.

Sie schüttelte die Gedanken ab und schweifte noch weiter in die Vergangenheit. Weitere zwei Monate zurück. Ihre Erinnerungen waren verschwommen, sie hatte damals einen Schock gehabt...

Das Einzige, was sie wusste, war, dass sie sich mit Jarod und ihrem Bruder Ethan in einem Zug befand, einer U-Bahn mit dem Namen 7677. Und außer ihnen war niemand dort gewesen... Jarod sagte etwas von einer Bombe, als sie ihn bedrohte. Und dann hatte sie die Stimme ihrer Mutter zum ersten Mal gehört. Es war ein warmes Gefühl gewesen, und auch wenn es nicht lange andauerte, wusste sie, dass sie ihrer Mutter vertrauen konnte. Sie hatte Ethan mit Jarods Hilfe aus dem Zug gebracht. Die Bombe stand kurz vor der Explosion, und wenn sie nicht aus dem Abteil springen würden... Doch sie waren gesprungen, und gerannt, so schnell sie nur konnten. Ethans Gedanken waren wieder klarer geworden, und so konnte er selbstständig rennen. Miss Parker wusste, dass sie noch nie in ihrem ganzen Leben so schnell gerannt war. Und dann setzte ihre Erinnerung aus. Alles war schwarz. Langsam kam das Licht zurück. Ihre Gedanken bestanden aus verschwommenen, roten und gelben Farben, die sich vermischten. Die Druckwelle musste sie zu Boden geworfen haben, und Miss Parker hatte das Gefühl, ihr Körper würde zerbersten. Das letzte, was sie sah, war Jarods besorgtes Gesicht, dann ein Lächeln. Sie spürte seine Hand auf ihrer Wange. Schwer atmend hatte sie die Augen geschlossen, und gedacht, sie würde schweben. Als sie wieder aufgewacht war, befand sie sich in ihrem eigenen Haus, von Jarod keine Spur. Ihrem Vater hatte sie erzählt, Ethan wäre ums Leben gekommen, dabei wusste sie, dass er nur untergetaucht war.

Miss Parker öffnete die Augen und besann sich. Jarod ging ihr nicht aus dem Kopf, er und diese Unruhe in ihr.

"Verdammt!", murmelte Miss Parker und schlug mit der Faust auf den Tisch. Sie schritt zum Fenster und sah nach draußen. Bambino Fingono. Diese Worte weckten Erinnerungen in ihr, die sie zugleich mit Freude und Angst erfüllten. Doch die Gedanken waren noch zu verschwommen, um deutlich erkennbar zu sein. Miss Parker wusste, dass sie Zeit brauchen würde. Aber die Ungeduld umhüllte sie und drängte nach einer Lösung. Das Telefon klingelte, Miss Parker schrak aus ihren Gedanken hoch, zog es hinter ihrem Rücken hervor und bestätigte die Verbindung.

"Was?"

"Wer."

Eigentlich hätte Miss Parker jetzt mit den Augen rollen müssen, genervt etwas sagen sollen, wie was wollen sie oder ihn anschreien, aber Jarods Anruf kam genau zur rechten Zeit. Sie wechselte den Hörer auf die andere Seite.

"Jarod, lange nichts von ihnen gehört." Sie grinste und musste sich bemühen, dass ihre Stimme kalt klang. "Was ist? Sehnsucht nach dem Center?"

"Nein. Haben sie meine Botschaft erhalten?" Er hielt die Luft an.

"Eine Nachricht? ... Jarod, was soll das?" Miss Parker wurde wieder ernst.

"Bambino Fingono", sagte er schlicht. Jetzt war es Miss Parker, die die Luft anhielt. Also war er es wirklich. Warum hatte er dann nicht seinen üblichen Decknamen angegeben? Sie überlegte. Er wartete auf eine Antwort.

"Jarod", presste sie hervor. "Diese E-Mail... Warum haben sie... sie mir geschickt? Und wieso das Ganze so anonym? Sagen sie mir, was sie von mir wollen."

"Nein." Seine Stimme nahm einen seltsamen Tonfall an. Er klang fast erleichtert, aber zugleich enttäuscht. "Wieso ich keine Adresse angab? Ich weiß doch, dass Broots die Nachrichten empfängt, und hier geht es um uns, und nicht um ihn."

"Jarod, sie verschweigen mir etwas." Miss Parker überlegte. Was wollte er ihr sagen?

"Miss Parker, sie kennen diese zwei Worte genauso gut, wie ich!" Er sprach dunkel und ernst.

"Ich... Jarod, was bedeutet das? Ich weiß, da ist etwas, aber ich sehe es nicht!"

"Miss Parker, sie haben die Gabe ihrer Mutter! Sie müssen sie nutzen! Aber..." Er schwieg kurz. "Vielleicht wäre es besser, sie erinnern sich nicht", meinte er knapp und trocken.

"Jarod, verflucht noch mal, sagen sie mir bitte was hier los ist!"

"Nanu, sie haben ihren Wortschatz um ein ganzes Bitte erweitert. Wie edel." Er ging nicht auf sie ein. Miss Parker seufzte und dachte kurz nach. Er hatte die Situation wie immer unter Kontrolle. Nein, nicht ganz. Er würde ihr nichts mehr verraten, soviel wusste sie. Warum sollte sie noch weiter mit ihm telefonieren? Irgendetwas in ihr hielt sie zurück.

>Nicht auflegen, du hörst diese Stimme so selten, und du brauchst sie!< War das ihre Mutter?

>Nein!<, widersprach Miss Parker sich selbst, und dann laut: "Ich habe mir noch ein Wort angeeignet: Bye!" Und damit legte sie auf. Sie hatte es geschafft, diesmal hatte nicht er ihr Gespräch beendet. Miss Parker schallt sich. Wieso benahm sie sich so kindisch? Als ob sie sich stritten, wer den Fernseher ausmachen darf, oder wer das Spielzeug als Nächster bekommt. Sie schüttelte amüsiert den Kopf, wurde dann jedoch wieder ernst, als ihr die Worte zurück in den Kopf kamen: Bambino Fingono.

***

"Dad, wie weit bist du?" Der Junge betrachtete den Bildschirm.

"Was, du bist schon fertig? Das ist gut, ich kann das Programm jetzt gebrauchen. Es ist schwieriger, als ich dachte. Danke, mein Junge." Der Vater wandte sich wieder an seinen Laptop und starrte auf die Zahlen. Jarod hatte eine E-Mail verschickt, und er hatte sie ebenfalls empfangen. Nicht wirklich, eigentlich hatte er sie sich eher aus dem Netz geklaut. Aber so würde es ihm vielleicht gelingen, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Die junge Frau betrachtete die beiden lächelnd und schüttelte gedankenverloren den Kopf.

Der Junge trollte sich gelangweilt in sein Zimmer. Zu gern würde er Jarod einmal wiedersehen wollen. Sein Dad erzählte viel von ihm.

***

Die Pumps hinterließen durchdringende Geräusche auf dem Fußboden. Es war beängstigend still, das fiel Miss Parker heute zum ersten Mal so richtig auf. Sie hatte keine Lust, zu ihrem Vater zu gehen, denn auch wenn sie ihm nur den Bericht vorbeibringen wollte, sicherlich gab es tausend Gründe, weshalb er sie noch kurz da behalten wollte. Und was kurz hieß, wusste sie bereits. Nach einem schnellen Atemzug, um sich Mut zu machen, trat sie ein.

"Daddy!", rief sie überrascht auf. "Was will der denn hier?" Sie zeigte abfällig auf ihren Bruder. "Ich denke, du hast zu tun?!"

"Engelchen, beruhige dich. Ich würde lieber wissen, was du von mir möchtest."

Miss Parker schnaubte kurz auf. "Du wolltest den Bericht über unsere letzten Hinweise auf Jarod. Bitte sehr." Sie gab ihm das Blatt. Natürlich hatte sie die E-Mail mit den zwei verwirrenden Worten nicht erwähnt. Es konnte ihr keiner Nachweisen, dass sie von Jarod stammte. Nicht einmal Broots oder Sydney wussten es, sie vermuteten es nur.

"Danke, Engelchen. Er beginnt sicherlich mit der Zeile Zielobjekt nicht gefunden, hab ich Recht? Nun, damit dass endlich ein Ende hat, wird sich Lyle wieder der Suche nach Jarod widmen. Er fragte mich eben danach, und mit beiderseitigem Einverständnis sind wir zu dem Schluss gekommen, dass First Ch... seine andere Aufgabe warten kann." Mr. Parker sagte das in einem sehr eigenartigen Tonfall. Miss Parker sah auf dem Schreibtisch ihres Vaters eine Akte. Sie war rot! Ihr Vater bemerkte ihren Blick und nahm das Dokument vom Tisch. Sie sah ihn kalt an.

"Mit beiderseitigem Einverständnis? Und wer ist die zweite Seite? Du oder ich, Daddy?", zischte Miss Parker und sah ihren Bruder kalt an. Ihr Vater hatte Recht, ihr Bericht fing mit dem negativen Ergebnis des Falles an, und bisher hatte sie jedes Mal Zielobjekt nicht gefasst darüber geschrieben. Aber gestern war etwas passiert, diese Erinnerungen, die noch so verschwommen waren, hatten etwas in ihr verändert, auch wenn sie nicht genau wusste, was. Diesmal hatte sie ihren Bericht mit Zielperson nicht ausfindig gemacht begonnen. Jarod war ein Mensch, und sogar ein sehr wichtiger in ihrem Leben. Nicht nur beruflich.
 

Ende Teil 1

Titel: Bambino Fingono

Autor: ZoeP

Rating: PG-13

Categories: R, A

Spoiler: Staffel 1-4 (die Filme nicht)

Short-Cut: Jarod versucht, mehr über seine Vergangenheit zu erfahren und krempelt dabei nicht nur das Centre gewaltig um...

Pairing: Alle ;-)

Disclaimer: Die Charas von Pretender und die Vorgeschichte gehört nicht mir. Jedoch ist der gesamte Inhalt, den ich hier fabriziert habe, mein geistiges Eigentum.

E-Mail: janni@feix-jena.de

Anmerkung: Teil 1 bis 3 sind meine ersten Erfahrungen mit dem Schreiben von Pretender Fanfictions gewesen. Deshalb danke ich ganz besonders meiner Betaleserein Nicatlon, für die liebe Unterstützung. Außerdem danke ich allen, die mir Mut machen und Feedback schicken - es ist schließlich der einzige "Lohn", den man für das Schreiben bekommt... Wieder ein ganz großes Dankeschön an Nicatlon, die Zeit und Geduld aufbringt, um BF zu lesen und zu bewerten.
 

Bambino Fingono

von ZoeP
 

Teil 2
 

"Übrigens ist es 23:20 Uhr." Er unterbrach die Verbindung, steckte das Handy ein und grinste in sich hinein, bis er schließlich auch seinen Mund zu einem Lächeln verzog. Es war einfach zu amüsant, sie nachts aus dem Bett zu holen. Und wenn sie wütend und müde war, klang ihre Stimme noch viel schöner.

Jarods Grinsen verschwand. Er hatte jetzt Wichtigeres zu tun. Heute Nacht würde er alles vorbereiten. Eigentlich hatte sie es gar nicht verdient, eine Spur zu erhalten. Auch wenn sie noch so klein war, und das war sie definitiv nicht. Aber wenn Miss Parker wegen ihm Ärger mit ihrem Daddy hatte... Jarod zuckte mit den Schultern und legte seine Bücher ordentlich auf den Tisch der kleinen Hütte, nachdem er ein paar Fingerabdrücke verteilt hatte. Niemals würde er hier wohnen, wenn er es doch im Haus des Verwalters so gut haben konnte!

Jarod legte die Sachen, die er vor einer halben Stunde gekauft hatte, auf die staubige Liege und schüttelte amüsiert den Kopf. Ob sie es glauben würde? Na ja, einem durchgedrehten Pretender war schließlich alles zuzutrauen... Sein Grinsen wurde breiter, als er die Kuscheltiere im Zimmer verstreute. Er besah sich seinen "Wohnsitz" noch einmal. Etwas hatte er vergessen... Sein Lächeln erstarb, als er das Foto auf den Kaminsims stellte. Er hing sehr daran, aber es musste sich endlich etwas ändern, und dies war der Schlüssel dazu. Er musste sie loslassen, vergessen.

"Das ist Ironie", murmelte Jarod. "Andere Leute perfekt verstehen, nur mit meinen eigenen Gedanken nicht klarkommen!" Er schüttelte seufzend den Kopf.

"Jarod, es ist spät." Die Stimme erschrak ihn leicht, doch er ließ es sich nicht anmerken.

"Guten Abend Mr. Weight." Jarod drehte sich um und lächelte den Verwalter von Ely freundschaftlich an. Er war in der kurzen Zeit, die er hier verbracht hatte, zu einem guten Freund geworden. Und er war es auch, der ihm den Job im Saloon besorgt hatte. Jarod hatte es zwar nicht nach Ely gezogen, weil die Stadt noch altertümlich und ganz im Wild Western Stil war, aber er freute sich trotzdem über den abwechslungsreichen Job und die freundliche Begrüßung.

Jarod war nach Ely gekommen, um seinen Vater zu finden. Er war kurz zuvor noch hier gewesen. Mr. Weight war ein guter Freund seines Vaters und er nahm ihn bei sich auf. Ihm brauchte Jarod keine Maskerade vorzuspielen.

"Jarod, wenn ich dir irgendwie helfen kann... Was tust du da?", unterbrach sich der alte Mann selbst und zeigte auf die vielen Kuscheltiere und den anderen Kram.

"Och, nennen wir es... Schnitzeljagd." Jarod grinste. "Sie können mir tatsächlich helfen. In wenigen Stunden werden hier drei Leute eintreffen. Zwei Männer, der eine nur etwas jünger als Sie, graue Haare, der andere so um die 40, vielleicht auch jünger, Halbglatze. Und dann noch eine Frau." Jarod sagte dieses Wort, als könnte er dessen Bedeutung selbst nicht glauben. Nicht für Miss Parker, und dann wiederum doch. "In meinem Alter, groß, Minirock, Pumps, dunkle Haare, hübsch."

Der Mann neben Jarod sah ihn halb belustigt, halb verständnislos an, schwieg aber. Jarod fuhr fort: "Nun, sie suchen nach mir. Es sind Leute vom Center, nicht wirklich gefährlich, aber..." Mr. Weight hatte bei dem Namen Center leicht die Schultern zusammengezogen. "...beachtbar." Jarod klopfte seinem Freund auf die Schulter. "Es wäre sehr nett von Ihnen, wenn Sie die drei hierher führen könnten. Ich wohne doch schließlich hier", meinte er augenzwinkernd. "Nun ja, wenn sie weiterfragen brauchen Sie bloß sagen, ich wäre schon weg. Der Wutanfall der Lady wird Ihnen gefallen, das verspreche ich Ihnen."

Mr. Weight war einverstanden, und so schaffte Jarod es, Sydney, Broots und Miss Parker bei ihren Untersuchungen zuzusehen. Und er sah Sydney wieder. Zwar nur durch den Vorhang seines Zimmers im Hause des Verwalters, aber es tat ihm gut.

Er fand es auch sehr lustig, nachts mit Miss Parker zu telefonieren, während sie in ihrem Motelzimmer war, obwohl er doch gegenüber aus dem Fenster sah. Und ihr Gesicht, als er erwähnte, sie habe das Foto in ihrer Hand... Das würde er nicht vergessen.

***

"Dad, hast du es?", fragte der kleine Junge gespannt. Der Mann nickte.

"Und? Antwortet er?" Stille. Wieder und wieder ging der Junge in dem hellen Hotelzimmer auf und ab. Schließlich tippte der Mann die Entertaste seines Laptops und lehnte sich zurück.

"Nein, so schnell geht es nicht. Aber er wird demnächst unsere E-Mail erhalten. Samt Foto, auch wenn das sehr gefährlich ist. Dank deiner genialen Verschlüsselung", er strubbelte dem Jungen durch die Haare, "ist es mir gelungen, die E-Mail sicher durch das Netz zu bringen."

***

Ein Piepton ließ Jarod von der Couch hochfahren. Es dauerte einen Moment, bis er sich erinnerte. Seit seinem Aufenthalt in Ely waren zwei Tage vergangen. Es war Abend und er war wieder in der Nähe von Delaware. Miss Parkers Reaktion auf seinen letzten Anruf hatte ihm ganz und gar nicht gefallen. Erinnerte sie sich nicht? Diese zwei Worte waren Jarods letzte Hoffnung, sie nicht völlig zu verlieren. In den letzten vier Jahren hatte sie sich mehr und mehr von ihm abgewandt. Jarod kniff kurz die Augen zusammen und zog seinen Laptop auf seinen Schoß. Sie haben Post stand auf seinem Bildschirm.

Jarod öffnete die E-Mail und stieß einen dumpfen Schrei aus. Seine Augen weiteten sich. Sah er richtig? Vor ihm war ein Bild erschienen. Ein Foto, sehr neu. Jarod schüttelte den Kopf und sah genauer hin. Nein, er hatte sich nicht geirrt!

Schnell überflog er die E-Mail. Er machte sich sofort an eine Rücksendung. Schnell begann er zu tippen.

***

Miss Parker hing ihren Mantel auf die Garderobe und ließ sich erschöpft auf das Sofa fallen. Müde schloss sie die Augen, um sie gleich wieder zu öffnen. Es war wieder sehr spät geworden. Sie hatten die E-Mail nur ansatzweise entschlüsseln können. Es schien tatsächlich ein Code aus Längen- und Breitengraden zu sein. Sie waren Paarweise angeordnet - also bezeichnete jeweils ein Paar einen Punkt. Soweit waren sie, Broots und Sydney schon gekommen. Aus den 16 Zahlen ergaben sich 8 Punkte auf der Landkarte. Aber diese 8 lagen quer in den Staaten verstreut, im Osten wie im Westen, in allen Zeitzonen, in allen vier Himmelsrichtungen. Es ergab keinen Sinn. Miss Parker rieb sich die Stirn. Was sie jetzt brauchte, war ein Glas Cognac. Oder... nein. Miss Parker schüttelte energisch den Kopf. Nein, sie brauchte diese Anrufe nicht, sie wollte jetzt nicht Jarods Stimme hören. Er war nur ein entflohener Pretender, und zugleich ihr Ticket in die Freiheit - ohne Rückfahrt.

Trotzdem flogen ihre Gedanken immer wieder zu dieser Stimme, diesem Gesicht... Sie ging gerade in die Küche, als das Telefon klingelte.

Schon wollte sie darauf zustürzen, aber ihr innerer Drang hielt sie zurück. Sie sollte ihn ruhig eine Weile zappeln lassen. Parker hielt das Handy in der Hand, ohne abzunehmen.

>Angel, du darfst deine Gefühle nicht unterdrücken.< Plötzlich vernahm sie die Stimme ihrer Mutter.

>Geh schon ran.< Jetzt sprach Tommy. Sie war verwirrt. Diese Stimmen kamen immer zu den ungünstigsten Zeitpunkten. Jedoch hörte Parker auf sie. Mit einem Räuspern schob sie die Stimmen in sich beiseite, nahm das Handy und drückte, nach dem zigsten Klingeln, endlich auf den grünen Hörer.

***

Jarod lehnte sich zurück und las die E-Mail noch einmal durch. Es hatte über eine Stunde gedauert, die zu schreiben. Er wusste gar nicht, was er sagen oder schreiben sollte. Zuerst hatte er begonnen mit Wie geht es dir, aber so ganz ohne Anrede? Dann versuchte er es mit Hi, lange nichts gehört und Woher hast du diese Adresse, aber das war eher ein Überfall, und drückte nicht seine Freunde aus. Schließlich hatte er sich entschieden, und jetzt empfand er es als natürlichste Anrede, die er finden konnte:
 

Hi Dad,

wie geht es dir? Wir haben ja lange nichts voneinander gehört, und zuerst wunderte ich mich, woher du die Adresse hast, aber der Entschlüsselungscode von Jay ist echt gut. Den hat doch er entwickelt, oder?! (Jarod musste grinsen, als er an seinen kleinen Bruder dachte, der zwar ungewollt entstanden, aber willkommen war.) Mir geht es soweit ganz gut, die Zeitumstellungen sind ja nicht ungewohnt. Vielleicht weißt du es schon, aber wenn nicht, dann sage ich es dir: Ich war in Ely und habe mich mit Jim Weight angefreundet. Du hattest mir nie von ihm erzählt, er ist ein toller Mensch. Geht es dir, Emily und Jay gut? Ich hoffe, ihr haltet euch von Delaware und dem Center fern...

Das Foto von euch dreien gefällt mir. Ich werde es immer bei mir tragen... Zuerst dachte ich, wenn ich Jay sehe, schaue ich in einen Spiegel. Aber wenn du genau hinsiehst, findest du viele Unterschiede. Ich war in seinem Alter etwas größer, hatte eine Narbe über dem Auge und etwas ganz Entscheidendes ist anders: Jay hat grüne Augen, meine sind braun. Das ist seltsam, aber schön.

Hast du etwas von Zoe gehört? Ich habe es bei unserem letzten Treffen nicht mehr geschafft, ihr meine E-Mail Adresse zu geben, die Sweaper waren zu nahe. Wenn du etwas weißt, sag mir bitte Bescheid. Deine E-Mail war so kurz, vielleicht findest du beim nächsten Mal die Zeit, etwas mehr von dir zu erzählen, und vielleicht vereinbaren wir Folgendes: Sucht euch Decknamen. Wenn dann doch einer die Nachrichten abfängt, wird es schwer sein, etwas herauszufinden.

Schöne Grüße von Fingono

Der Laborratte, die aus dem Rattenloch entfloh.
 

Jarod nickte kurz und sendete die Nachricht. Jays Schutzprogramm war wirklich gut, der Junge hatte Talent. Kein Wunder, er war ja auch ein Pretender, und Major Charles schulte ihn sicherlich, so gut er konnte. Ein wenig verwundert war er tatsächlich über den Unterschied ihrer Augen, wo sie sich sonst bis aufs Haar glichen. Das Center musste einen "Fehler" gemacht haben. Jarod dachte an seine Schwester, Emily. Sie war also bei seinem Vater und Jay. Er wünschte sich so sehr, bei den dreien sein zu können, aber das Risiko war zu hoch. Und auch Zoe hatte er ewig nicht mehr gesehen... Ein kurzer Stich erfüllte ihn bei dem Gedanken an sie. Sein Vater hatte sie kurz vor der Explosion in dem Zug befreien können, nachdem Mr. Cox sie entführt hatte, um Jarod zu stoppen. Zwei Wochen war sie noch bei ihm geblieben, und dass sie wegging, war nicht sein Entschluss. Sie hatten viel Zeit gehabt, um zu reden. Und Jarod wusste, dass er sie liebte.

Doch an einem Morgen hatte sie ihm aus heiterem Himmel mitgeteilt, dass sie gehen wollte.

"Jarod, ich gehöre nicht in dein Leben, das weiß ich." Sie sah ihn ernst an.

"Wie kannst du so etwas sagen? Zoe, ich liebe dich..." Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und versuchte zu lesen, was in ihr vorging.

"Das weiß ich, Jarod, du liebst mich - so wie eine Schwester! Dein Vater hat mir viel über dich erzählt, über das Center, deine Kindheit... Ich war beinahe die erste Frau in deinem Leben, die dich geliebt hat. Und weil das so neu für dich ist, hast du es... ausprobiert."

Er wollte widersprechen, aber sie legte einen Finger auf seine Lippen. "Sag nichts, Jarod. Du weißt, dass ich Recht habe. Und ich bin dir nicht böse. Du hast mir geholfen, wieder neuen Lebensmut zu fassen, und ich bin froh, dass ich dich getroffen habe. Aber mit uns, das kann nicht gut gehen."

Er sah sie mit schmerzvollem Blick an. Aber dieser Schmerz kam nicht, weil sie ihn verlassen würde, sondern weil sie tatsächlich Recht hatte. Sie bedeutete ihm unendlich viel, er liebte sie - wie eine Schwester. Für ihn war das Gefühl Liebe so neu gewesen, und er musste erst noch lernen, dass man auf unterschiedliche Art lieben konnte. Er nahm sie in den Arm und sah nicht, dass ihr eine Träne die Wange hinunterlief.

"Jarod, du musst weitersuchen. Ich wünsche dir so sehr, dass du eines Tages herausfindest, wer du bist und wer deine Familie ist. Und ich bin so froh, dass ich dazugehören darf - als deine Schwester." Sie wischte sich unbemerkt die Tränen weg und sah ihn an. "Und irgendwann wirst du eine Frau finden, die du so lieben kannst, wie ich dich liebe." Sie gab ihm einen sanften Kuss auf die Lippen.

"Ich werde mich bei dir melden..." Sie ging ein paar Schritte von ihm fort und er spürte den Stich in sich. Abschied. Sie war der erste Mensch, der in ihm nicht den potentiellen Pretender sah, sondern den Menschen, ihn, Jarod. Und dafür hatte er sie geliebt. Er konnte sie so nicht gehen lassen. Im Bruchteil einer Sekunde hatte er nach ihrem Arm gegriffen und sie zu sich gezogen.

"Zoe, ich danke dir. Dafür, dass du mir gezeigt hast, was Liebe ist. Und dafür, dass du mich nicht verachtest." Er küsste sie, ein letztes Mal, sanft und zärtlich. Dann lächelte er sie an und flüsterte etwas in ihr Ohr. Sie lachte.

"Nein, zu dem gehe ich bestimmt nicht zurück!" Er grinste und küsste sie auf die Stirn. Dann ließ er sie los. Sie ging ein paar Schritte rückwärts und warf ihm eine Kusshand zu.

"Bye bye, Jarod. Und diese Sache mit den Stofftieren... ist doch alles nur Physik und Geometrie." Er wusste dass sie auf den Abend am Pool anspielte. Wie könnte er den vergessen. Sie drehte sich um und ging. Das Cabrio verschwand aus seinem Blickfeld, und er fühlte sich plötzlich leichter. Es hatte weh getan, aber er hatte dazu gelernt. Und Zoe würde immer zu seiner Familie gehören. Zoe, die so wie eine Schwester war.

Jarod schüttelte den Kopf, um sich aus seinen Gedanken aufzurütteln. Er tippte schwungvoll auf die Entertaste, und schloss seinen Laptop. Ein Blick auf seine Uhr verriet ihm, dass es Zeit war für seinen Mitternachtsanruf.

Er nahm sein Handy und drückte auf die erste Schnellwahltaste. Diese Nummer hatte oberste Priorität, gleich danach kam Sydney.

Jarod ließ es Klingeln. Sie hatte die Angewohnheit, nicht zu wissen, was los war, wenn sie geschlafen hatte. Und auch dann ließ sie es manchmal noch klingeln, um ihn hinzuhalten, auszutesten, wie dringend sein Gespräch war. Er tat ihr diesen Gefallen immer gerne, und ließ es Klingeln, bis sie abnahm.

Diesmal ließ sie sich verdammt viel Zeit. Jarod wollte gerade auflegen, als sich eine krächzende Stimme meldete.

***

"Was?" Miss Parkers Stimme versagte leicht, als sie sich meldete. Hatte er schon aufgelegt? Sie lauschte kurz. Nein. Er war noch dran.

"Wer", korrigierte er sie. "Sie haben noch nicht geschlafen?"

"Nein. Woher wissen Sie das", knurrte Miss Parker.

"Intuition. Sind Sie schon weiter gekommen?" Er sprach leise und undurchschaubar.

"Jarod, lassen Sie mich in Ruhe. Ich habe jetzt Wichtigeres zu tun. Um ihre gottverdammte Nachricht sollen sich Broots und Sydney kümmern."

"Nein", fuhr ihr Jarod scharf dazwischen. "Miss Parker, Sie verschließen sich vor der Wahrheit!" Er holte tief Luft, um nicht noch lauter zu werden und lehnte sich an die Wand seines momentanen Aufenthaltsortes. "Parker, hören Sie in sich hinein. Ich weiß genau, dass Sie diese Stimmen hören können! Ihre Mutter konnte das auch, ebenso wie Ethan. Sie sind jetzt die Einzige, die die Wahrheit noch herausfinden kann..."

"Ach, herausfinden so dass ich es als Einzige weiß, oder herausfinden aus dem Grund, weil Sie es schon wissen und nicht herausfinden brauchen?", meinte sie wütend. "Jarod, ich weiß nicht, was Sie von mir wollen, aber sagen Sie mir, was Sie jetzt zu sagen haben. Ich bin fix und fertig, und es gibt nur wenige Menschen, denen ich das sagen würde." Sie knirschte leicht mit den Zähnen. "Wie soll ich diese zwei Worte deuten?" Sie verstummte. So viel hatte sie gar nicht sagen wollen, aber aus irgendeinem Grund vertraute sie ihm. Er antwortete ihr sanft.

"Hören Sie auf die Stimmen und auf sich selbst. Diese zwei Worte sind der Schlüssel zu ihrer... zu unserer Vergangenheit, und zu ihrer... unserer Zukunft." Er unterbrach sich selbst. "Ich weiß selbst erst seit Kurzem, was es damit auf sich hat, und ich weiß, dass das Center daran Schuld ist, dass wir es nicht mehr wussten. Ich habe versucht, es zu verdrängen. Doch mir ist klar geworden, dass nur wir zwei gemeinsam entschlüsseln können, was das Center noch getan hat. Und der Schlüssel ist die Zeit, Bambino."

Klick. Noch ehe sie etwas erwidern könnte, hatte er die Verbindung getrennt. Miss Parker stand ratlos in ihrer Küche, in der einen Hand ihren Cognac, in der anderen Hand das Telefon. Wie hatte er sie genannt? Bambino? Miss Parkers Hand zitterte, und sie musste sich setzen, weil ihre Knie unter ihr nachzugeben drohten.

Eine Szene schoss ihr scharf in den Kopf, raubte ihr alle gegenwärtigen Gedanken...

***

"Wir dürfen das nicht." Die Stimme sprach so leise, dass man sie kaum vernehmen konnte.

"Wer sagt das?", wollte die andere wissen.

"Wenn sie das mitkriegen... Er wird es mir nie verzeihen, weil er auch Ärger bekommt!"

"Niemand wird es bemerken. Du bist zu gut." Die Stimme sprach sanft und liebevoll.

"Ich... Es ist nicht schwer, etwas zu tun, wenn man nur Fakten kennt, aber es ist unglaublich schwer, wenn Gefühle im Spiel sind!" Die Worte kamen leise und gepresst.

"Denk jetzt nicht darüber nach..." Der Tonfall war besänftigend, aber endgültig. Es folgte Schweigen, schließlich ein leises Kichern.

***

"Nein!" Miss Parker öffnete blitzartig die Augen. Was war das? Hatte sie geschlafen? Nein, sie war die ganze Zeit wach gewesen... Was war das gewesen? Sie strich sich mit der Hand einige Haarsträhnen aus dem Gesicht und versuchte, ihren Atem wieder zu verlangsamen, den Herzschlag zu kontrollieren. Sie konnte einfach nicht glauben, was sie da gerade gesehen hatte! Und es fiel ihr schwer, zu sagen, ob es ein Traum war, oder Realität. Und ob es Gegenwart, Zukunft oder Vergangenheit darstellen sollte...

Durcheinander stand sie auf und ging ins Badezimmer. Sie ließ heißes Wasser in die Badewanne laufen und setzte sich auf den Rand. Ihr Badezimmer war groß und schön. Sie hatte erst vor kurzem alles mit dunkelroten Fließen auslegen lassen, den Fußboden und die Wände bis auf Schulterhöhe. Die kieferngrüne Bordüre mir blühenden Rosen und Rosenknospen zog sich durch das gesamte Zimmer, und die restliche Wand war weiß gestrichen. Über der Wanne standen viele kleine Flaschen und Schälchen mit Badesalzen und Badeperlen in einem weißen Regal. Miss Parker nahm eine der Flaschen und öffnete sie. Der Geruch betäubte sie leicht, und zufrieden ließ sie die cremefarbene Flüssigkeit in das Wasser laufen. Die Wanne war halbvoll.

Parker ging in ihr Schlafzimmer und zog sich ihre Kleidung aus. Der weiße, kuschelweiche Bademantel lag noch auf ihrem Bett. Sie nahm ihn sich und wickelte sich darin ein. Sanftes Flanell umhüllte sie zart. Barfuß tapste sie durch die Wohnung zurück ins Badezimmer. Vor dem Spiegel gegenüber der Wanne band sie sich ihre Haare hoch. Wirre Strähnchen schauten aus dem Zopf heraus. Ihre Wangen waren leicht gerötet.

Die Badewanne war jetzt voll gelaufen und Miss Parker drehte das Wasser ab. Sie band den Bademantel auf und ließ ihn zu Boden gleiten. Als sie in die Wanne stieg, plätscherte das Wasser leicht und schlug Wellen. Leise seufzte sie auf, als sie in die Wanne glitt und die wohligwarme Wärme des Wassers sie umhüllte. Schaum war durch das Badeöl entstanden, sanft atmete sie den Geruch des Öles ein.

Sie schloss die Augen und dachte an nichts. Allein das Gefühl des weichen Wassers und der einschläfernde Geruch des Badezusatzes erfüllten sie. Miss Parker dachte grinsend, dass der schönste Platz der Welt definitiv die Badewanne war.

Der Schaum raschelte leise. Ihre Gedanken glitten ungewollt zu Jarod. Sie wollte sie abschütteln, gab sich dann aber ihren Träumereien hin. In ihrer Fantasie gab es kein Center, keinen Lyle, keinen Daddy... Nur sie und Jarod. Allein, irgendwo, wo sie niemand stören konnte. Und sie durften über alles reden, sie brauchte ihre Gefühle und Gedanken nicht verstecken. In ihrem Inneren gab es etwas, dass ihre Gefühle nicht zulassen wollte. Gefühle... Miss Parker lachte sich selbst aus. Gefühle... für Jarod! Das war lächerlich, das einzigste, was man für Jarod fühlen konnte, war Wut und Hass. Oder nicht? Das Wort Gefühl nahm eine ganz neue Bedeutung, einen anderen Klang an. Bisher hörte es sich nach Wut, Zorn und sogar Hass an. Aber in den letzten zwei Jahren hatten sich ihre Ansichten bereits verändert. Zuerst empfand sie Mitleid für Jarod, als sie erfahren hatte, wie sehr er im Center gequält wurde, dass ein Mensch, den er beschützen wollte, vor seinen Augen erschossen wurde, und dass von einem angeblichen Freund... Dann wurde aus Mitleid Zuneigung und sie sträubte sich immer mehr, ihn zu jagen. Und jetzt?

Miss Parker seufzte, die Augen immer noch geschlossen, nur das leise Plätschern des Wassers in ihren Ohren. Wenn sie Jarods Gesicht sah oder seine Stimme hörte, zauberte sich ein Lächeln auf ihr Gesicht, wie sie es zuletzt bei Tommy erlebt hatte. Tommy... Miss Parker bekam Schuldgefühle.

>Wovor hast du Angst?< War er das? War das Tommy, der zu ihr sprach? Ja.

>Tommy, wo bist du? Ich habe keine Angst.<

Tommy lachte leise auf. >Doch. Du hast Angst vor deinen Gefühlen!<

Miss Parker hielt die Augen geschlossen, um seine Stimme nicht zu vertreiben. >Welche Gefühle?<

Sie hörte ihn nur dumpf, aber dennoch eindringlich. >Vertraue ihm!<

Miss Parker wollte das nicht hören, nicht von Tommy, der ihr genommen wurde, weil sie ihn geliebt hatte. >Wem, Jarod? Ich weiß nicht, ob ich das kann... Oh Tommy, du fehlst mir. Jarod war dein Freund. Ich bin so durcheinander...< Stillschweigend setzte sie ihr inneres Gespräch fort.

Jetzt konnte sie sogar Tommys Gesicht vor sich sehen. >Parker, ich werde immer bei dir sein. Aber du kannst dich nicht immer an unserer Erinnerung festhalten, du musst loslassen!< Er verstummte. Miss Parker spürte, dass er wieder weg war. Loslassen... Jarod hatte das Gleiche gesagt. Jarod. Verdammt, wieso dachte sie jetzt wieder an ihn? Sie sehnte sich nach seiner Stimme. Er hatte immer eine beruhigende Wirkung auf sie. Die Schuldgefühle gegenüber Tommy, weil sie sich von Jarod angezogen fühlte, begannen, sich aufzulösen. Wenn Tommy sagte, sie solle ihm vertrauen, konnte sie es dann nicht auch tun? Er hatte Recht. Sie durfte nicht ein Leben lang an ihrer Erinnerung hängen...

Und sie wusste schon lange, dass sie Jarod vertrauen konnte, sie hatte ihn immer auf eine Art gern gehabt, aber jetzt sehnte sie sich nach ihm, mehr, als er ahnen würde. Doch das konnte sie mit ihrem Beruf nicht vereinbaren. Jarod... Miss Parker musste lächeln. Sie ließ sich wieder in ihre Fantasien entgleiten. Vertrauen. Ob sie das je aufbauen könnte? Ob sie ihm je glauben und ehrlich vertrauen könnte? Sie sah ihn direkt vor sich, seine dunklen, sanften Augen, sein kindliches Lächeln. Sie konnte seinen Atem spüren... Und tief in sich drin spürte sie die Bedeutung dieser Worte. Bambino Fingono.

"Bambino..."

Miss Parker öffnete erschrocken die Augen und fuhr herum. Hatte sie sich verhört?

"Jarod!" Ihre Stimme versagte. Sie sah ihn entsetzt an. Hatte sie jetzt Halluzinationen, oder wagte er es wirklich, bei ihr einzudringen? Er hockte hinter ihr und sah ihr direkt in die Augen, hatte ihr die Worte direkt ins Ohr geflüstert.

"Guten Abend, Miss Parker." Er sah sie lächelnd an, und sein Lächeln wurde zu einem Grinsen. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie ja in der Badewanne lag - nur den Schaum schützend um sich gehüllt. Hektisch tauchte sie bis zum Kinn ins Wasser und sah ihn nur zornig an. Die Gedanken der letzten zehn Minuten waren wie weggeblasen. Das hier wirkte wie ein falscher Traum.

"Was... tust du... tun Sie hier?", presste sie hervor. Er legte den Kopf leicht schief und blinzelte kurz. Ihre Wangen waren noch geröteter als vorher, auf ihrer Stirn standen Perlen des Wasserdampfes und ihre leicht zerzausten Haare machten sie besonders schön. Wie, um sich wach zu rütteln, schüttelte er den Kopf.

"Ich wollte Sie nicht stören. Ich konnte ja nicht ahnen, dass sie so spät Abends noch ein Bad nehmen." Er grinste verschmitzt. "Ich habe Sie vermisst." Sein Grinsen wurde breiter. Er war tatsächlich in ihrem Haus, in ihrem Badezimmer! Sie sah ihn fragend an. "Nun ja, eigentlich wollte ich mich nur vergewissern, dass Sie sich auch bemühen, dieser Sache auf den Grund zu gehen. Und wie ich höre, haben Sie das bereits getan." Niemals würde er ihr sagen, dass er sie wirklich vermisst hatte.

"Jarod?!" Miss Parker sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. "Was haben Sie gehört?"

Er lachte. "Nicht, was Sie denken. Es hat sich nichts im Center rumgesprochen, nein. Dafür haben ich gesorgt, so gut ich konnte."

"Wie lange stehen Sie schon da?" Sie verkrampfte bei der Vorstellung, dass er sie die ganze Zeit beobachtet haben könnte.

"Lange genug, um gehört zu haben, wie Sie unsere Worte ausgesprochen haben. Genau wie..." Er biss sich auf die Unterlippe, um sich selbst zum Schweigen zu bringen.

"Wie was?", flüsterte sie und entspannte sich leicht.

"Nichts. Das werden Sie noch herausfinden."

"Warum ist es Ihnen so wichtig, dass ich es selbst herausfinde? Bisher haben Sie mich immer mit der Nase auf Tatsachen gestoßen, aber jetzt legen Sie mir zwei Worte unter die Nase, die mein ganzes Leben umkrempeln sollen?" Sie wurde etwas lauter.

"Tatsachen ist das entscheidende Wort. Ich gebe Ihnen Tatsachen, aber hier geht es um Gefühle und nicht um Fakten, die in versteckten Akten des Centers zu finden sind. Schon, in gewisser Weise schon, aber Sie wissen, was ich meine." Auch er wurde lauter.

"Jarod, ich habe keine Lust mehr auf dieses Katz-und-Maus Spiel." Sie schüttelte lahm den Kopf. Er sah sie erst fragend an, und legte dann wieder sein altbekanntes Grinsen auf.

"Bitte. Ein Wort, dass Ihnen ja jetzt bekannt sein dürfte." Er reichte ihr ein Handtuch und drehte sich um. Sie lächelte, als er sie nicht mehr ansah. Sie spürte, wie sie rot wurde, und dachte an ihre letzten Gedanken, ihre Gefühle, und dass sie die sich jetzt eingestanden hatte. Zumindest vor sich selbst brauchte sie es nicht mehr zu verstecken. Jarod war da ein ganz anderes Problem, er war der einzige Mensch, der sie so sehr durchschauen konnte, und das machte ihr Angst.

Miss Parker stand auf und wickelte sich das Handtuch um. Als sie fertig war, drehte sich Jarod wieder um und sah sie an, für wenige Sekunden ehrliche Faszination in den Augen. Hatte sie sich getäuscht, oder sah er sie mit den Augen eines Mannes, und nicht eines gejagten Feindes an? Sicherlich irrte sie sich... Sie sah ein wenig verlegen zu Boden, verdammt, sonst war doch auch nicht so schüchtern!

"Nun, Jarod, ich muss Sie jetzt festnehmen, das wissen Sie?" Wieder hätte sie sich ohrfeigen können. Wieso sagte sie jetzt so etwas?

"Ja? Weiß ich das? Nun, dann wäre ich nicht her gekommen, Bambino." Er lächelte.

"Verflucht Jarod, das ist Erpressung. Sie wissen genau, dass ich nicht mehr viel über meine... unsere Vergangenheit herausfinden kann, wenn Sie im Center sind!", zischte sie und versuchte, wütend zu klingen. Doch es klang eher gleichgültig.

"Ich würde Sie niemals erpressen", meinte er unschuldig. "Nennen wir es... gut argumentieren."

Sie standen immer noch im Bad. Er blickte ihr direkt in die Augen und sie fühlte sich so durchschaut. Für einen Moment legte sie all ihre Gedanken und Gefühle in ihre Augen, und sie war sich sicher, dass er sie lesen konnte. Sie musste sich zusammenreißen. Miss Parker konnte ihren Blick nicht von seinen dunklen, liebevollen Augen abwenden, aber immerhin gelang es ihr, ihren eigenen Blick zu verschleiern.

Plötzlich merkte sie, dass er ihr ganz nahe gekommen war. Viel zu nahe. Sie konnte seinen Atem in ihren Gesicht spüren, und ihr Herz begann, schneller zu schlagen. Ihre Augen flackerten unsicher und sie war wie benebelt. Was hatte er nun schon wieder vor?

Miss Parker bemerkte erst nicht, dass sich ihr Handtuch leicht gelöst hatte. Es war lockerer geworden. Wenn sie jetzt nicht danach greifen würde, würde es sich weiter lockern, auf den Boden fallen und sie entblößen. Obwohl ihre Gedanken nur um das Handtuch kreisten, schaffte sie es nicht, sich zu bewegen. Ihr Körper war wie gelähmt. Das Einzige, was sie tun konnte, war in seine kastanienbraunen Augen zu sehen und darin zu versinken. Das Handtuch! Es hatte sich gelockert und würde gleich fallen.

Miss Parker spürte schon, wie es wenige Millimeter an ihrem Körper herunterrutschte, da bemerkte sie Jarods Hand auf ihrer Schulter. Sie fühlte sich warm an.

Das Handtuch rutschte nicht weiter. Was tat er da? Sie konnte seine Hand jetzt deutlich durch das Handtuch auf ihrem Rücken spüren. Es dauerte einige Augenblicke, bis sie bemerkte, dass er es festhielt.

Er war ihrem Gesicht jetzt so nahe, dass sie ihn riechen konnte. Er roch wunderbar. Sie registrierte die Hand, die immer noch das Handtuch hielt, und seine Augen, die auf ihrem Gesicht ruhten wie durch einen Nebelschleier. Sie musste irgend etwas sagen, diese Stille war gefährlich.

"Jarod, ich muss Sie festneh...", begann sie, doch er ließ sie nicht zu Wort kommen.

Bevor sie noch etwas sagen konnte, spürte sie seine Lippen mit sanftem Druck auf ihren. Blitze schienen ihren Körper zu durchzucken, und wenn sie eben noch gedacht hatte, ihr Herz würde rasen, so hatte sie jetzt das Gefühl, es war stehen geblieben.

Sie dachte an nichts mehr, ihre Sinne waren ausgeschaltet, da war nur dieses warme Gefühl, das sie nach und nach ausfüllte. Seine Lippen berührten die ihren nur zart und weich, aber gerade diese leichte Berührung war es, die ihr den Verstand raubte. Sie schloss die Augen und überließ sich diesem Gefühl, obwohl sie etwas daran hindern wollte.

Es konnten nur wenige Sekunden gewesen sein, wie sie so dastanden, als Jarod sich auch schon wieder von ihr löste. Langsam öffnete sie die Augen. War das alles nur wieder einer ihrer Träume? Nein, er stand noch da.

Sie sah ihn verwirrt an, nahm das Handtuch und wickelte es wieder fester um sich. Sie fröstelte. Er bemerkte ihr leichtes Zittern und hob den Bademantel, den sie vor ihrem Bad auf den Boden hatte fallen lassen, auf, um sie darin einzuhüllen.

Sie war es, die zuerst dazu im Stande war, etwas zu sagen.

"Jarod... Was... was sollte das eben?", ihre Stimme war nur ein Flüstern. Sie sah ihn verwirrt an.

Wenige Augenblicke blieb sein Blick noch so weich und verletzlich, wie er die letzten paar Sekunden gewesen war, dann verschwand er und machte dem typischen Grinsen Platz, einer Maskerade, wie sie jetzt nüchtern feststellte. Er sah ihr direkt in die Augen.

"Ich habe mal ein Sprichwort gehört... Alle großen Verführer haben gewusst, dass Frauen erst dann den Mund halten, wenn sie geküsst werden. Marcel Aymé. Wussten Sie, dass ein Kuss der beste Weg ist, eine Frau zum Schweigen zu bringen?"

Miss Parker traute ihren Ohren nicht. Verwirrt schloss sie die Augen für einen winzigen Moment. Als sie sie wieder öffnete, war er verschwunden.
 

Ende Teil 2

Titel: Bambino Fingono

Autor: ZoeP

Rating: PG-13

Categories: R, A

Spoiler: Staffel 1-4 (die Filme nicht)

Short-Cut: Jarod versucht, mehr über seine Vergangenheit zu erfahren und krempelt dabei nicht nur das Centre gewaltig um...

Pairing: Alle ;-)

Disclaimer: Die Charas von Pretender und die Vorgeschichte gehört nicht mir. Jedoch ist der gesamte Inhalt, den ich hier fabriziert habe, mein geistiges Eigentum.

E-Mail: janni@feix-jena.de

Anmerkung: Teil 1 bis 3 sind meine ersten Erfahrungen mit dem Schreiben von Pretender Fanfictions gewesen. Deshalb danke ich ganz besonders meiner Betaleserein Nicatlon, für die liebe Unterstützung. Außerdem danke ich allen, die mir Mut machen und Feedback schicken - es ist schließlich der einzige "Lohn", den man für das Schreiben bekommt... Danke an Nicatlon für die Unterstützung, und dafür, dass du die Zeit und Geduld hast, um BF zu lesen und einzuschätzen.
 

Bambino Fingono

von ZoeP
 

Teil 3
 

"Was?"

"Miss Parker, warum hat Ihnen nie jemand beigebracht, dass man sich am Telefon höflich meldet?" Er grinste und wartete ab.

"Jarod. Wer sonst... Ich denke nicht, dass ich Sie zu fragen brauche, wie spät es ist?"

"Nein, sicherlich nicht. Hatten Sie noch einen schönen Abend?" Er gab sich Mühe, seine Frage gleichgültig klingen zu lassen.

Sie war kurz davor, ihm zu sagen, wie verdammt schlecht ihr Abend nach seiner Flucht gewesen war. Sie hatte über seine Worte und seinen Reaktion, seinen Kuss nachgedacht. Sie hatte sich mit ihren Gefühlen gequält, und dem Gedanken, dass er gar nicht ahnte, wie sehr er sie mit seinen Spielchen verletzte.

"Ja, mein Abend war nach Ihrem... Verschwinden noch sehr schön." Lügen, alles Lügen. Sie seufzte und wanderte durch die Wohnung. Nach und nach losch sie die Lichter und ging in ihr Schlafzimmer. Sie schaltete die dumpfe Nachttischlampe an und krabbelte unter ihre Bettdecke, wie ein kleines, schutzloses Kind. "Ich habe nachgedacht", teilte sie ihm mit.

"Worüber?", wollte er wissen.

"Die Zeit, wie Sie so schön sagen." Miss Parker drehte sich auf die Seite, den Hörer in der rechten Hand.

"Und zu welchem Schluss sind Sie gekommen?" Jarod redete sanft. Miss Parker musste sich zusammen nehmen, um ihm nicht alles zu erzählen. Wo war ihre kalte Hülle geblieben?

"Das werden Sie noch herausfinden", meinte sie schlicht.

"Schlafen Sie gut, Bambino. Es wird eine Weile dauern, bis wir wieder voneinander hören." Klick. Wieder hatte er aufgelegt. Und wieder hatte er sie Bambino genannt. Sie hatte nachgedacht. Über Jarod. Und sie spürte ein neues Gefühl in sich heranwachsen, wie ein kleiner Funken. Sie konnte es noch nicht deuten, aber es fühlte sich gut an, unkontrolliert gut.

Miss Parker legte den Hörer neben ihr Kopfkissen und schloss die Augen. Kurz darauf war sie eingeschlafen.

***

"Guten Tag, ich bin der neue Pfleger."

"Wie ist Ihr Name?", wollte die Dame hinter dem Empfang wissen und blickte ihn über den Rand ihrer Brillengläser an.

"Buddy. Jarod Buddy", stellte er sich vor und lächelte die Dame freundlich an. Dann reichte er ihr seinen Ausweis. Sie sah ihn sich an, nickte kurz und meinte:

"Okay, Buddy. Sie sind der neue Freizeitbetreuer? Sie bekommen das Zimmer 81, Haus 9. In diesem Haus befinden sich zwei Unterkünfte für Pfleger."

Jarod nickte, nahm seinen Ausweis zurück und den Schlüssel, den er erhalten hatte. Noch als er in Nevada war, hatte er davon Wind bekommen, dass es in diesem Kinderheim ein Kind gab, dass seine Hilfe brauchte. Kat war ihr Name, einfach nur Kat. Keinen Nachnamen, keine Herkunft, keine Vergangenheit.

Sie hatte sich seit je her völlig von den anderen Kindern zurück gezogen, sprach kaum, aß normal, zeigte keine Auffälligkeiten, nicht einmal hatte sie Ärger im Heim. Das Heim suchte einen neuen Pfleger, weil es einen Zuwachs von Kindern gab. Diesen Posten hatte jetzt er, Jarod.

Jarod war bei Haus 9 angekommen. Das Kinderheim befand sich auf einen großen Grundstück nahe des Waldes, und auf ihm gab es mehrere Gebäude. Im Haupthaus lagen die Büros, die Aufenthalts- und Speiseräume. Ebenso eine Turnhalle und ein Schwimmbad. Um das Haupthaus waren einzelne, mittelgroße Häuser verstreut, in denen die Kinder und Pfleger lebten.

Jarod betrat den Vorraum seiner neuen Unterkunft und schloss das Appartement mit der verschnörkelten Aufschrift 81 an der Tür auf. Links neben seiner Tür gab es noch eine andere mit der Nummer 80.

Seine Wohnung bestand aus zwei Zimmern, Schlaf- und Wohnzimmer, einer kleinen Küchenzeile im Wohnzimmer und einem Bad. Er trat genau ins Wohnzimmer, links von sich die Küche, die durch eine Anrichte vom Rest des Raumes getrennt war. Rechts war eine Stufe, die abwärts zu einer Couchecke führte, und einem niedrigen Tisch. Geradeaus ging es ins Schlafzimmer, das etwas schmaler war, als der andere Raum. Denn vom Schlafzimmer aus kam man rechts zum Bad, das mit Dusche und Badewanne ausgestattet war. Mit einem zufriedenen Nicken stellte er seine Reisetasche auf das Bett und öffnete die Vorhänge, um das Sonnenlicht hereinzulassen.

Der Flug hatte bisher gut geklappt, diesmal war er kein Sicherheitsrisiko eingegangen, und hatte sich nicht einmal Jarod genannt, sondern Jason Gowell. Es sollte ihm niemand folgen, und seine Spielchen konnte er hier nicht gebrauchen. Jetzt war er also in London, Großbritannien.

Jarod ging ins Wohnzimmer und öffnete auch hier die Vorhänge. Er konnte direkt auf eine kleine Veranda gehen, und davor lag der See. Links von ihm erstreckte sich der Wald, rechts von sich konnte er den Spielplatz sehen.

Nachdem er eine Weile an der Verandatür gestanden hatte, ging er zurück ins Wohnzimmer und in die Küche. Dort setzte er sich einen Kaffee auf. Er wollte sich gerade auf den Weg machen, um seine Kleidung in den Schrank zu räumen, als es klingelte. Überrascht öffnete er die Tür. Eine brünette, fast schon schwarzhaarige Frau stand lächelnd vor ihm. Sie war etwa in seinem Alter, recht groß, und machte einen netten, zugleich geheimnisvollen Eindruck. Ihr schulterlanges Haar hatte sie zu einem Zopf gebunden, der bei jeder Bewegung wippte.

Strahlend lächelte sie ihn an und begrüßte Jarod. "Hallo. Sie müssen der neue Pfleger sein, Jarod Buddy?"

Jarod nickte. Sie trat in sein Appartement und sprach weiter. "Fein. Ich wohne gleich neben Ihnen, in der 80. Mein Name ist Jessy." Sie sah ihn mit Augen an, die die von einem Kind hätten sein können. Neugierig und zugleich vorsichtig.

"Hallo... Jessy", sagte Jarod und musterte die Frau. "Weiter?"

"Was, weiter?", fragte Jessy und ging in sein Wohnzimmer.

"Sie müssen doch einen Nachnamen haben. Oder sollen wir uns duzen?" Jarod hatte sich wieder gefangen und schloss die Tür.

"Ach so, das. Jessy Orphan. Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich lieber beim Du bleiben. Schließlich werden wir die nächsten fünf Monate zusammenarbeiten." Sie grinste und musterte ihren neuen Kollegen. Ihre dunklen Augen wanderte von seinem Kopf bis zu seinen Schuhen, und wieder zurück. "Ich bin eine der Hauptbetreuerinnen. Herzlich Willkommen in der Truppe der geplagten Erwachsenen, Jarod." Sie streckte ihm grinsen deine Hand entgegen, die er ebenso grinsend annahm.

Sie sah ihm genau in die Augen, und es war ihm, als kannte er diesen Blick. Verwirrt schloss er die Augen für einen winzigen Moment. Er drehte sich zur Veranda und fragte sie:

"Zwanzig Kinder, richtig? Das Jüngste ist 6 und das Älteste 17 Jahre alt?" Er wartete ihr Nicken ab. "Gut. Ich werde mich noch einarbeiten müssen..."

"Hast du schon oft mit Kindern zusammengearbeitet?", fragte sie ihn.

"Schon sehr oft. Weißt du, ich war selbst nie ein Kind." Er grinste nichtssagend. Sie lächelte und schien es nicht ernst zu nehmen.

"Wo kommst du her?" Sie setzte sich auf die Lehne des Sofas.

"Och... Von überall." Er grinste geheimnisvoll. "Und nirgendwo."

"Jarod", lachte Jessy. "Du bist ein seltsamer Typ. Ich kenne dich keine zehn Minuten, und habe das Gefühl, dich mein Leben lang gekannt zu haben!"

"Mir geht es ähnlich." Er ging in die Küche und holte sich seinen Kaffe. "Du auch einen?" Er nickte ihr zu.

"Ja, gerne. Schwarz, ohne alles." Sie nahm lächelnd ihre Tasse entgegen. "Wann beginnt deine Schicht?"

"Ich glaube nicht, dass ich Schichten machen werde. Ich bin nicht hier, um meine Überstunden aufzuzählen. Wenn mich ein Kind braucht, werde ich da sein." Er setzte sich neben sie und trank einen Schluck. Sie tat es ihm gleich.

"Bei mir ist es genauso. Der Job ist mein Leben. Die Kinder bedeuten mir alles. Besonders..." Sie verstummte.

Er glaubte, einen Funken Traurigkeit in ihren Augen zu sehen.

"Was?", fragte er. Sie schüttelte abwehren den Kopf.

"Ach nichts. Du musst wissen, dass ich hier vor etwa 12 Jahren angefangen habe. Und da wachsen einem die Kinder ans Herz. Viele wollen gar nicht zu Pflegefamilien, für sie ist das Heim ihr zu Hause."

"Zu Hause. Mit diesem Begriff sollte man vorsichtig umgehen."

"Jarod, du sprichst in Rätseln." Sie stellte ihre Tasse auf den Tisch, sprang auf und nahm ihm seine Tasse weg. Dann zog sie ihn an den Händen zur Tür.

"Komm, ich will dich den Kindern vorstellen."

Jarod lächelte. Mit ihrer frischen, fröhlichen Art erinnerte sie ihn an Zoe. Zoe.. wieder dachte er an sie. Kopfschüttelnd folgte er Jessy.

***

Es war kurz nach der Mittagspause. Miss Parker saß an ihrem Schreibtisch und hielt das Blatt mit den Zahlen in ihren Händen. Verflucht, wieso musste er es immer so schwer machen? Seit drei Tagen hatte er sich nicht mehr gemeldet. Kein Anruf, keine E-Mail, kein Hinweis. Es war, als wäre Jarod vom Erdboden verschwunden.

Sie seufzte leise und hielt sich den Kopf fest. Ihre Migräne war wieder da. Sie konnte sich jetzt sowieso nicht recht konzentrieren, warum also heute nicht eher Schluss machen und nach Hause fahren? Miss Parker stand schwungvoll auf, schnappte sich ihre schwarze Lederjacke und kritzelte Broots und Sydney eine Nachricht hin.

Bin in dringenden Notfällen zu Hause zu erreichen. Kümmern Sie sich bitte um die E-Mail. Parker

Bitte. Sie hatte tatsächlich bitte geschrieben. In der letzten Zeit hatte sie sich erheblich verändert. Ihr kalter, sarkastischer Tonfall war etwas freundlicher geworden. Sie ließ ihre schlechte Laune nicht mehr an ihren Mitarbeitern aus und sah auch das "Projekt" Jarod mit anderen Augen.

Gerade als sie das Büro verlassen wollte, kam Sydney herein gestürmt. Beinahe wäre er mit Miss Parker zusammengeprallt.

"Oh, entschuldigen Sie, Miss Parker." Er lächelte sie an. Dann bemerkte er, dass sie im Begriff war, zu gehen und sah sie leicht fragend an. Sie lächelte kühl.

"Hier werde ich eh nicht gebraucht. Meine Handynummer haben Sie ja, schönen Tag noch, Syd."

"Warten Sie, Miss Parker. Jetzt werden Sie gebraucht." Er ging zu ihrem Schreibtisch und legte ihr eine Akte hin. Dann las er den Zettel und schüttelte lächelnd den Kopf. Ihm war auch aufgefallen, dass sie sich innerlich verändert hatte, auch wenn sie das nach Außen hin nicht zeigte.

"Was ist das?", fragte Miss Parker genervt, ging zurück an ihren Schreibtisch und hängte ihre Jacke wieder über die Lehne des Stuhls. Sie nahm die Akte und öffnete sie.

"Ich habe diese Akte von Angelo erhalten. Sie zählt zu den sogenannten verfallenen Akten. Es gibt im Center zwar keine Projekte, die aussortiert werden, aber es gibt gestoppte Projekte, die später einmal weiter behandelt werden sollen, oder abgeschlossen sind." Sydney sprach eindringlich und gedämpft, als könnte man sie abhören.

"Und was ist hier drinnen?", murmelte Miss Parker, während sie las.

"Diese Papiere sind unter dem Namen Olvidan zusammengefasst, was spanisch ist und Vergessen heißt." Sydney wies auf eine Liste mit Ausgaben, die dieses Projekt betrafen.

"Das sind Arztrechnungen", meinte Miss Parker. Sydney nickte.

"Aber was hat das mit Jarod zu tun?", fiel Miss Parker plötzlich auf. "Sydney, wir sind nicht hier, um nach alten Schandflecken des Centers zu buddeln, wir sollen Jarod finden."

Sydney wiegte seinen Kopf hin und her. "Miss Parker, diese Akte hat etwas mit Jarod zu tun. Sehen Sie." Wieder zeigte er ihr etwas, diesmal war es eine Liste mit Terminen, genaue Daten und Uhrzeiten. Und daneben... Miss Parker atmete hörbar ein und hielt die Luft an. Daneben standen ihr Name, und der von Jarod!

"Sydney, was ist das?" Sie klappte erschrocken die Mappe zu und sah ihn fragen an.

"Sie scheinen als Kind eine Reihe von Arztterminen gehabt zu haben. Bei dem gleichen Arzt, den Jarod besuchte. Er heißt Dr. Gorges und ist ein spezieller Psychologe. Jarod hatte mehrere Sitzungen, in dem sein Unterbewusstsein untersucht wurde. Ich war niemals anwesend, das hat man mir nicht gestattet. Aber dass Sie auch da waren?!" Er ließ Argwohn in seiner Stimme mitschwingen.

"Sydney, ich war nie bei einem Seelendoktor!", fuhr Miss Parker auf.

"Das bezeichnet man allgemein als Psychiater, was Sie meinen, eine Person die Seelenleiden heilt. Hier geht es um einen Psychologen, der erkennt die Seelenleiden nur." Sydney blieb ruhig und wartete ungerührt auf ihren Ausbruch. Miss Parker atmete tief durch und zischte: "Es ist mir egal, ob Seelendoktor oder Seelenklempner! Ich - war - noch - nie - bei - einem - dieser - Ärzte!" Sie betonte jedes einzelne Wort.

"Dann weiß ich nicht, wie Ihr Name auf diese Terminzettel kommt. Und das Projekt heißt Vergessen, das muss etwas bedeuten", meinte Sydney trocken und nahm ihr die Mappe aus der Hand, um sie zu öffnen und sich die Termine genauer anzusehen, was er die letzte Nacht immer und immer wieder getan hatte.

"Ich weiß es auch nicht", stockte Miss Parker. Erst jetzt wurde sie sich der Tatsache bewusst, dass es wirklich ihr Name war. "Sydney, welche Leiche haben wir jetzt schon wieder aus dem Keller des Centers geborgen?"

"Ich weiß es nicht, Miss Parker, ich weiß es nicht...", murmelte er und so standen sie Beide da, unwissend und verwundert.

***

"Jarod, sieh mal, ich habe es geschafft!" Der 7jährige Junge kam fröhlich zu Jarod angelaufen und zeigte ihm sein Kunstwerk.

"Fein. Jonny, gehst du zu Ann und bringst es ihr auch bei?", Jarod hockte sich hin, nahm den Papierschwan in seine Hand und begutachtete ihn. "Der ist gut geworden."

"Ich schenke ihn dir", strahlte der Junge und rannte zurück zu dem Tisch, auf dem Papier, Buntstifte, Scheren, Klebstoffe und Vorlagen verstreut waren.

"Die Kinder mögen dich", stellte eine Stimme hinter ihm fest. Jarod brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer da stand.

"Ja. Und ich mag die Kinder, genau wie du, Jessy." Jetzt drehte er sich um, und sie lächelte ihn an.

Ein Mädchen kam unauffällig zu ihnen, Jarod bemerkte es nur in den Augenwinkeln. Sie hatte ein Buch in der Hand.

"Jessy" sagte sie, fast flüsternd. Jessy sah das Mädchen an und lächelte. "Was ist, Kat?"

Das etwas 14jährige Kind reichte ihr das Buch und sah Jarod leicht verunsichert an. "Ich habe es durch." Sie wandte sich wieder Jessy zu. Die seufzte theatralisch.

"Ok, ich überleg mir was. Geh zu den Anderen." Kat nickte stumm und ging an einen der Tische. Sie setzte sich neben ein anderes Kind, aber sie wirkte, als würde sie alleine dasitzen. Jarod registrierte ihren müden Blick.

"Kat. Sie ist ein schwieriges Kind."

"Das würde ich nicht sagen", erwiderte Jessy. "Man braucht nur etwas Zeit, um an sie heranzukommen."

"Ja...", murmelte Jarod und er erkannte etwas in Jessys Blick, dass ihm vorher nicht aufgefallen war. Da fiel ihm etwas ein. "Ich habe eine Idee, was wir morgen machen könnten. Es ist solange nichts Aufregendes mehr passiert."

Jessy sah ihn fragend an. Er grinste amüsiert und ging zu den Kindern. Laut schwatzend wurde er bestürmt und in Beschlag genommen.

"Jarod, was verbirgst du?", flüsterte Jessy und ihr Blick verfinsterte sich.
 

Am Nachmittag versammelten sich die Kinder unter 15 Jahren im Schwimmbad. Kat war auch dabei. Schwimmen war eine der wenigen Ablenkungen, die es außer den Gemeinschaftsstunden gab.

Für manche Neuzugänge war es die erste Schwimmstunde. Jarod und Jessy halfen den Jüngeren, ihre Angst vor dem Wasser zu überwinden. Jessy trug einen schwarzen Bikini und ein weißes T-Shirt darüber. Jarod musste feststellen, dass sie verdammt gut aussah. Ihre Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden, der bei jeder Bewegung wippte.

Jarod tauchte ein paar Bahnen, mit kräftigen Zügen, und kam kurz vor Jessy an die Wasseroberfläche. Sie grinste und wendete sich wieder Jonny zu, der gerade dabei war, den Kopf unter Wasser zu stecken und dabei wild mit den Armen zu schlagen. Sie zeigte ihm einige Bewegungen und lächelte Jarod zu, als sie mitbekam, dass er sie immer noch beobachtete.

Jarod drehte sich um und zog eine letzte Bahn unter Wasser. Dann schwamm er zum Rand.

Er kletterte aus dem Becken und sah den größeren Kindern dabei zu, wie sie sich im Wasser balgten. Seine Augen wanderten suchend übers Wasser. Wo war Kat? Er entdeckte sie schließlich, sie hielt sich am Beckenrand fest. Dann holte sie tief Luft und tauchte unter. Zügig schwamm sie eine ganze Bahn unter Wasser, wendete und tauchte zurück. Jarod vermutete, dass sie jetzt auftauchen würde, aber sie drehte wieder um - und tauchte noch eine Bahn. Jarod staunte nicht schlecht, als sie zu seinen Füßen auftauchte. Sie war bestimmt drei Minuten da unten gewesen, und durch das Tauchen hätte ihr Sauerstoffverbrauch eigentlich noch höher sein müssen.

"Wow!", grinste er sie an und hockte sich an den Rand.

"Was?", grinste sie zurück und ließ sich kurz unter Wasser gleiten, um wieder aufzutauchen und dabei ihre Haare hinter zu streichen.

"Ich kenne kein Kind, das solange tauchen kann, wie du." Er machte eine ausschweifende Bewegung mit dem Arm über das Becken.

"Und ich kenne keinen Betreuer, der so lange tauchen kann, wie du." Sie grinste immer noch. Er biss sich auf die Unterlippe. War er vorhin wirklich so ungewöhnlich lange unter Wasser gewesen? Er wusste es nicht, beim Tauchen vergaß er die Welt um sich herum. Und er konnte tatsächlich seinen Körper kontrollieren, so dass sein Sauerstoffverbrauch minimal war.

Er grinste sie wieder an und hielt ihr die Hand hin. Sie nahm sie und ließ sich von ihm rausziehen.

"Danke", lächelte sie und sah ihn nichtssagend an. "Nur an meiner Technik muss ich noch üben."

Er nickte leicht uns reichte ihr das Handtuch. "Ein bisschen..."

Sie wickelte sich in ihr Badetuch ein und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Ohne sich noch einmal umzudrehen, tapste sie um das Becken herum und beugte sich herunter. Sie sagte etwas zu Jessy, worauf diese sich umdrehte und Jarod kurz ansah.

Er tat, als hätte er es nicht bemerkt und sah zu den Kindern aufs Wasser. Aus den Augenwinkeln heraus registrierte er, wie Jessy den Kopf schüttelte und "Nein" sagte. Kat ging zu den Umkleidekabinen.
 

Jarod lehnte sich in einem Sessel zurück und klappte das Buch zu. Quantenphysik und Integralrechnung stand in dicken Lettern darauf. Es war ein dicker Wälzer, der zwei Bücher umfasste. Jarod kannte den Inhalt längst, er hatte diese beiden Bücher als Junge lesen müssen. Sie waren sehr professionell geschrieben, und es wunderte ihn, dass ein 14jähriges Kind sich mit solchen Themen befasste.

Er hatte das Buch aus der Bibliothek des Heimes, nachdem Jessy es dorthin zurückgebracht hatte. Es war das Buch, das Kat gelesen hatte. Andere Mädchen quälten sich in diesem Alter normalerweise mit Äquivalenz und Bruchthermen. Aber Kat war kein gewöhnliches Kind, das war ihm gleich am ersten Tag aufgefallen.

Ihretwegen war er hergekommen, und anfangs dachte er, es würde werden, wie immer. Doch hinter diesem Job steckte mehr, als er zuerst vermutet hatte. Wenn er richtig läge, würde Kat einmal ein schweres Leben haben. Ob jemand etwas von ihrer Begabung wusste? Er streckte sich und legte das Buch auf den Couchtisch. Dann nahm er sein rotes Notizbuch zur Hand und notierte sich etwas.

Kat, namenlos. Geburtstag unbekannt, 13 Jahre alt.

Mit 2 Jahren ins Kinderheim gekommen.

Vor der Tür gefunden mit $500, Nachricht "bitte aufnehmen".

Kontonummer daneben, monatliche Einzahlung eines Unbekannten.

Kinderheim hat Pflegschaft, hebt monatliche Summen ab.

Augenfarbe braun, Haarfarbe dunkelbraun, hüftlang.

Kann sehr lange tauchen.

Er las sich seine Aufzeichnungen noch einmal durch und schloss das Buch. Es klopfte an der Tür. Jarod ging mit großen Schritten hin und öffnete. Es war Jessy.

"Guten Abend", begrüßte sie ihn. "Ich habe mir Sorgen gemacht, weil du vorhin einfach so verschwunden bist. Sonst bist du nach dem Abendessen doch noch im Gemeinschaftsraum geblieben..." Damit trat sie ein.

Er grinste. "Ich hatte noch zu tun."

Sie sah auf den Tisch. Ihr Blick blieb zuerst auf dem roten Notizbuch, und dann auf dem Buch über Physik und Mathematik hängen. Ihre Augen weiteten sich kurz. "Ich wusste gar nicht, dass du dich für Physik interessierst."

Er ging zum Tisch und nahm die beiden Bücher an sich. Dann verstaute er sie in einem Regal. "Und ich wusste nicht, dass Kat es tut." Er beobachtete ihre Reaktion genau. Sie sah ihn nicht an.

"Kat ist... außerordentlich neugierig."

"Das scheint mir auch so. Fragt sich nur, warum sie sich dann immer so zurückhält." Er nahm sich sein Glas und trank einen Schluck. Dann sah er sie fragend an.

"Sie hatte nie eine Familie. Und die anderen Kinder können ihr nicht geben, was sie braucht." Sie ging in die Küche und zeigte mit hochgezogenen Augenbrauen auf ein Glas. Er nickte, und sie goss sich ebenfalls ein Wasser ein.

"Was braucht sie denn, deiner Meinung nach?", fragte er.

"Jarod, ich bin nicht hergekommen, um mit dir über Kat zu diskutieren. Ich wollte dich fragen, was du für morgen geplant hast. Schließlich arbeiten wir zusammen." Sie grinste und er stellte fest, dass sie gekonnt vom Thema ablenkte. Aber so leicht ließ er sich nicht irritieren.

"Wenn wir zusammenarbeiten, musst du mir mehr über Kat erzählen. Schließlich können wir kein Team sein, wenn du mehr weißt, als ich", meinte er schlicht. Sie seufzte. Ihr Finger spielten mit dem Glas.

"Ich kann mir nicht vorstellen, was du meinst." Sie sah ihn lächelnd an. Aber in ihren Augen stand Unsicherheit.

"Das kannst du sehr wohl...", flüsterte Jarod, und meinte dann laut: "Ich dachte mir, wir könnten morgen eine Art Erste-Hilfe-Kurs durchführen. Es ist wichtig, sich bei Unfällen gut auszukennen, und auch Kinder sollten es lernen." Er sah Jessy nichtssagend an.

"Jarod, das ist eine gute Idee!", erwiderte Jessy strahlend, froh, dass er sie nicht weiter gefragt hatte. "Ich wunder mich, dass ich selbst nie darauf gekommen bin!"

"Ich mich auch." Jarod brachte sein Glas zurück in die Küchenzeile. Auch Jessy stand auf. Sie stellte ihr Glas, das noch halb gefüllt war, neben seines und stützte sich auf die Bar.

"Jarod, du bist ein seltsamer Typ."

Er sah erstaunt auf. "Wieso?"

"Du bist so... ich weiß nicht, es ist, als ob jedes deiner Worte eine zweite Bedeutung hat. Und ich weiß so gut wie nichts über dich. Wo du herkommst, zum Beispiel." Sie sah ihn mit verschränkten Armen an. Es war kein Vorwurf in ihrer Stimme, ihre Frage war rein sachlich. Sie trank einen weiteren Schluck und sah ihn über den Rand ihres Glases an.

"Wenn du es genau wissen willst, war ich überall schon mal. Die meiste Zeit meines Lebens war ich in Delaware, in den USA."

Ein Knall ließ ihn blitzschnell aufschauen.

Jessy hatte ihr Glas fallen gelassen.. Ihre Augen wurden dunkel und unheimlich, beinahe beängstigend. Erschrocken ging Jarod zu ihr. "Was ist? Kennst du diesen Ort?"

"Klar", meinte sie leise, fast abwesend. Ihre Augen schienen ausdruckslos, als würde sie sich in Erinnerungen verlieren, die nicht unbedingt angenehm waren. Sie sah ihn nicht mehr an und bückte sich, um die Scherben aufzuheben. Ihre Hand zitterte, und so rutschte ihr eine Scherbe aus der Hand und hinterließ einen langen Schnitt. Sie fluchte und presste die Lippen aufeinander. Jarod führte sie zur Couch und brachte einen Verbandskoffer.

"Dazu ist Erste-Hilfe gut...", murmelte er und klebte ihr ein Pflaster über die Schnittwunde. Sie nickte nur. Es war keine gefährliche Verletzung, nur ein tiefgehender Schnitt, der ordentlich weh tun würde. Eine Woche, länger nicht...

Er ließ die Verschlüsse des blauen Plastikkoffers zuschnappen und lächelte sie an. Sie lächelte auch.

"Warst du dein ganzes Leben lang hier in London?", fragte Jarod nun seinerseits, nicht nur, um sie abzulenken.

"Nein. Ich war schon an so manchen anderen Orten, bevor...", sie unterbrach sich selbst. "Bevor ich diesen Job bekommen habe." Sie rieb sich den Arm, als ob ihr kalt wäre. "Ich glaube, ich werde dann mal wieder rüber gehen. Es ist schon spät. Gute Nacht, Jarod." Sie sah ihn liebevoll an, vielleicht auch dankbar, dass er nicht weiter fragte.

"Schlaf gut, Jessy", meinte er und begleitete sie zur Tür. Er schloss sie hinter ihr, lange nachdem sie schon in ihrem Appartement war. Er hatte sie in der kurzen Zeit, die er hier war, wirklich lieb gewonnen. Sie war immer so fröhlich, gut gelaunt, offenherzig... aber auch furchtbar neugierig. Er mochte sie, und vertraute ihr, und er spürte, dass sie ihn nicht anlog, nicht willentlich. Nur wenn es um Kat ging, war sie seltsam. Er ging zur Bar und ließ die Scherben in eine Tüte gleiten.

Jarod war jetzt seit knapp drei Wochen hier, und es gefiel ihm. Er liebte die Arbeit mit Kindern, und hier würde ihn das Center nicht so schnell finden. Jarod ging ins Badezimmer und sah in den Spiegel. Er fuhr sich durch die Haare und tapste ins Schlafzimmer. Gerade, als er seinen Laptop anwerfen wollte, um zu schauen, ob er eine Nachricht von seinem Vater erhalten hatte, hörte er ein Geräusch.

Es kam von draußen, und er nahm es nur wahr, weil es nicht in die Umgebung passte. Da war es wieder. Jarod ging zum Fenster auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers und drückte sich an die Wand. Das Licht hatte er ausgeschalten. Seine Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit. Das Geräusch tauchte in regelmäßigen Abständen immer wieder auf. Es waren Schritte!

Ging da draußen eines der Kinder spazieren? Und das um diese Zeit? Jarod ging ins Wohnzimmer zur Veranda, öffnete sie und schlich hinaus. Lautlos ging er links um das Haus, zu seinem Schlafzimmerfenster. Er schlug die Richtung ein, aus der die Schritte kamen und stoppte am Waldrand. Schemenhaft erkannte er die Gestalt eines Kindes.

Jarod duckte sich hinter ein Gebüsch und beobachtete die Szene. Eine weitere Person kam hinzu, und er erkannte sie sofort. Es war Jessy! Aber wer war die erste Person?

Jarod starrte konzentriert in die Finsternis, die nur vom leichten Schein des Mondes und einzelnen Lichtern im Haupthaus durchbrochen wurde. Kurzzeitig konnte er erkennen, wer sich da mitten in der Nacht mit Jessy traf, und es verschlug ihm den Atem: Kat!

Jarod wechselte seine Position leicht, so dass er es bequemer hatte, und lauschte den gedämpften Stimmen der beiden.

"Psst, nicht so laut, wenn uns jemand findet, gibt es nur unangenehme Fragen." Das war Jessy.

"Ja, schon gut. Warum wolltest du, dass wir uns hier treffen?" Kat sprach leise. Jarod hatte sie noch nicht oft reden hören. Es fiel ihm auf, dass sie eine schöne Stimme hatte.

"Ich muss dir etwas sagen." Jessy setzte sich ins feuchte Gras.

"Ich war doch nicht auffällig?" Kat sprach schneller.

"Nein, es ist harmlos, schätze ich. Jarod hat dein Buch gelesen, und ist neugierig geworden."

"Aber du hast ihm nichts gesagt?"

"Nein", meinte Jessy.

"Wie lange soll das noch so weitergehen? Ich habe keine Lust, mich immer zu verstecken, und mir ist langweilig. Können wir nicht einfach weg von hier?", drängelte Kat, als hätte sie das schon des Öfteren gefragt.

"Damit sie uns finden? Dich finden? Kat, du weißt, dass du hier sicher bist! Bisher ist alles gut gegangen."

"Ja, aber die Kinder hier sind so anders!"

"Ich weiß... Aber hier geht es dir doch gut. Und du bist geschützt! Nun ja, Jarod macht mir etwas Sorgen..."

Jarod horchte auf. Worum ging es hier? Wusste Jessy etwas über Kat? Kannte sie ihre Vergangenheit, ihre Herkunft? Jarod blinzelte, um die Szene genauer erkennen zu können.

"Jarod?", fragte Kat etwas ungläubig.

"Ja, er ist so... undurchschaubar. Ich mache mir eben so meine Gedanken."

Kat machte eine Bewegung, die deutlich nach einem Kopfschütteln aussah. "Bisher dachte ich immer, dass du die Menschen gut einschätzen kannst. Jarod ist nicht gefährlich. Er scheint sich sehr für mich zu interessieren, aber nicht bedrohlich. Ich glaube, er will, dass ich aus dem Schneckenhaus herauskomme, was wir mir aufgebaut haben."

Jarod konnte den Inhalt, den Sinn des Gespräches nicht verstehen. Wieso hatten Kat und Jessy ihr eine Höhle gebaut? War es ein Plan, dass Kat nicht mit den anderen redete, sich zurückzog?

"Kat, du darfst niemandem vertrauen, hörst du? Auch wenn dir Jarod nicht gefährlich vorkommt, wir wissen nichts über ihn. Sein Lebenslauf ist zu perfekt, ich glaube nicht, dass er echt ist. Sei vorsichtig!", warnte Jessy das Mädchen.

"Ich glaube, wir könnten ihm vertrauen. Und er ist der erste Pfleger, der mich nicht links liegen lässt! Ich mag ihn, er ist nett zu den Kindern, er ist... wie ein Vater!"

"Kat, du wirst ihm nichts erzählen", zischte Jessy.

Kat seufzte leise. "Natürlich nicht. Wie immer. Ich geh jetzt zurück, sonst suchen sie mich noch. Auch Ann und Sophie wachen ab und zu aus dem Tiefschlaf aus, der ja der einzigste Grund war, weshalb ich in ihr Zimmer wollte." Kat umarmte Jessy und schlich dann leise zu den Häusern der Mädchen. Bei ihrem Abschied redete sie Jessy mit einem Wort an, dass Jarod den Atem raubte. Hatte er sich verhört? Nein, ganz sicher nicht... Aber das konnte doch nicht sein...

Jessy blieb noch eine Weile am Waldrand sitzen, und machte sich dann auch auf den Weg zu dem Haus, in dem sie und Jarod wohnten. Jarod machte einen Bogen um ihr Appartement und gelangte über die Veranda wieder in seine Wohnung. Ungläubig schüttelte er den Kopf. Was war mit dieser Kat, und was hatte Jessy damit zu tun?

Sein Blick fiel auf den Laptop. Er setzte sich davor und schaltete ihn an. Er konnte hören, wie im Nebenzimmer eine Person auf und ab ging. Jessy machte sich wegen etwas Sorgen. War er der Grund? Bisher glaubte Jarod, sie würde ihm vertrauen. Sie schien so lebenslustig und offen, und doch verbarg sie ein Geheimnis, das spürte Jarod.

Er gab seine Anmeldung und ein Passwort ein.

Die Verbindung zum Internet baute sich auf. Sie haben Post. Jarod öffnete seinen E-Mail Explorer und sah drei neue Nachrichten. Die erste war von Angelo.

Jarod öffnete sie, und fand ein Überwachungsvideo des Centers. Gespannt öffnete er die DSA und sah sich an, was auf dem Monitor zu sehen war.

Es war sehr dunkel. Das Überwachungsvideo zeigte als Datum den 13. März 1963. Das war kurz vor seiner Zeit im Center. Zu sehen war ein Kind, schwer zu sagen, ob Mädchen oder Junge, die Haare waren strubbelig und kurz, die Augen frech. Sie kamen ihm irgendwie bekannt vor, er hatte sie schon einmal gesehen... Wahrscheinlich war es ein Mädchen, das da im Zimmer umherstreifte und sich suchend umsah. Es war 4, vielleicht 5 Jahre alt.

"Hallo?", rief eine neugierige Kinderstimme in den Raum. "Haaalloooo. Ich bin hier so alleeeeiiiine." Die Rufe klangen nicht sehr betrübt, eher belustigt. Nichts tat sich. Das Kind ließ sich auf den Boden plumpsen.

"He, was isn los?", quiekte das Kind. "Warum habt ihr mich hierher gebracht und was soll ich hier? Kann ich nicht wieder zurück in mein Zimmer?" Das Mädchen wurde ungeduldig.

Da öffnete sich die Tür. Ein Mann trat ein, recht jung und wahrscheinlich sehr aufstrebend im Center. Er sah kurz in die Kamera und Jarod erkannte ihn, auch wenn er damals noch 39 Jahre jünger war. Raines!

Der damals noch glatzenfreie Mann hockte sich zu dem Kind und sah ihm direkt in die Augen.

"Hallo", murmelte er und das Mädchen legte den Kopf schief. "Wie geht es dir?"

"Gut, und dir?", erwiderte das Mädchen.

"Ich stelle hier die Fragen!", keifte Raines, und als sie zusammenzuckte, legte sich ein Lächeln auf seine Lippen.

"Wo ist Catherine?", wollte sie wissen, ohne Raines weiter zu beachten.

"Nicht hier", meinte er knapp. "Sie hat keine Zeit mehr für dich." Man sah die Lüge in seinen Augen. Jarod fragte sich, was Catherine Parker mit diesem Mädchen zu tun hatte. Dass es weder Miss Parker noch Faith waren, sah er auf Anhieb.

"Jemand anderes wird sich jetzt um dich kümmern." Raines ging Richtung Tür und klopfte dreimal. Sie öffnete sich und Raines steckte seinen Kopf durch. Dann sah er sich noch einmal das Kind an, und ging dann endgültig aus dem Raum. Ein jüngerer Mann betrat den Raum. Sydney!

Jarod hielt die Luft an. Was hatte Sydney mit diesem Kind zu tun?

Er hockte sich hin und sagte: "Hallo, ich bin Jacob, ich werde mich eine Weile um dich kümmern."

Jarod atmete verblüfft aus. Also doch nicht Sydney, sondern Jacob, Sydneys Zwillingsbruder. Die DSA brach ab, der Bildschirm wurde schwarz. Jarod registrierte wieder, wo er sich eigentlich befand. Kopfschüttelnd schrieb er an Angelo den üblichen Code, wenn er eine E-Mail erhalten hatte: J. THX. TCOMP.

Die Bedeutung der Worte kannten nur er und Angelo. Jarod öffnete die nächste E-Mail, sie war von seinem Vater, Major Charles.

An Fingono,

es geht uns gut, wir haben deine Nachricht erhalten. Du hast Recht, die Augen des Twins sind grün, nicht braun. Wir haben einen sicheren Unterschlupf. Ich habe eine deiner E-Mails an Miss Parker erhalten. Betreff: Bambino Fingono. Wenn du mir nicht erklären willst, was es bedeutet, ist es deine Sache, aber ich kenne zumindest die Übersetzung der beiden Worte. Als du sie verwendet hast, warst du gerade dabei, spanisch zu lernen. Wie du siehst, wusste ich stets über dich Bescheid, ich hatte meine Quellen im Rattenloch.

Twin ist gerade mit einem neuen E-Mail Abfangprogramm beschäftigt. Es wird uns helfen, mehr über das Mädchen im Center herauszufinden. Tulpe geht es gut, ich bin froh, dass sie hier ist. Sie beschäftigt sich oft mit Twin, wenn ich keine Zeit habe. Und deiner neuen Schwester geht es auch gut. Du weißt, wen ich meine... Sie hat mir erzählt, was an dem Morgen eueres Abschieds passiert ist. Sie lebt bei ihrer Schwester. Es wundert mich, dass sie keinen Kontakt mehr zu dir hat, vielleicht hält sie es für zu gefährlich. Also dann, pass auf dich auf.

Grüße von Twin,

bis bald, Dragon.

Jarod lehnte sich zurück und las die Nachricht ein zweites Mal durch. Sein Vater wusste also auch über das Kind Bescheid. Sicher hatte Angelo die Mail an den Major geschickt, oder er hatte sie... erhalten, so, wie er auch die Mail an Miss Parker erhalten hatte. Jarod schmunzelte über den höflichen Ausdruck für abgefangen.

Er freute sich, dass es seiner Schwester gut ging, und er wusste sofort, warum der Major den Namen Tulpe für sie gewählt hatte: Emily liebte gelbe Tulpen über alles. Dass Twin für Jay stand, war ja nicht schwer zu erraten... Jarods Gedanken flogen wieder zu Zoe, seiner "neuen Schwester". Sein Vater schien ihn gut zu kennen, und es tröstete ihn, dass er noch Kontakt zu Zoe hatte. Das hieß, dass sie sich nicht ganz von ihm abgewandt hatte. Jarod begann, ihr Verhältnis wieder lockerer zu sehen. Wie es schien, waren ihre Gefühle für ihn auch eher brüderlich geworden. Er grinste.

Doch etwas beunruhigte ihn. Sein Vater wusste über die Sache mit Miss Parker Bescheid. Er hatte Recht, Bambino Fingono war spanisch, und Jarod hatte diese Sprache sehr gefallen, als er sie damals lernen musste, im Alter von 10 Jahren. Diese zwei Worte waren Koseworte gewesen. Jarod zuckte zusammen. Er hatte das Gefühl, durch seinen Kopf würde ein Blitz schlagen. Eine Szene trat in sein Gedächtnis, und er wusste, was jetzt kommen würde...

***

"Nicht, wenn sie uns erwischen?" Der Junge widersprach leise.

"Sie haben uns noch nie erwischt! Ich kenne ein neues Versteck." Das Mädchen lächelte ihn an.

Er folgte ihr widerspruchslos und sie führte ihn durch die Gänge des Centers, in denen es keine Überwachungskameras gab. Niemand würde es mitbekommen... Er duckte sich und kroch durch einen Lüftungsschacht, immer hinter ihr her. Schließlich kamen sie in einem leerstehenden Raum an.

Sie ließ sich zu Boden gleiten und er sprang hinterher. Nach wenigen Sekunden hatten sich ihre Augen an die vollkommene Dunkelheit gewöhnt. Hier gab es weder künstliches noch natürliches Licht. Er spürte ihre weichen Hände auf seinen Wangen...

***

"Nein!" Miss Parker fuhr aus dem Schlaf hoch. "Nicht schon wieder!"

Sie saß kerzengerade in ihrem Bett. Da war wieder einer dieser Träume gewesen. Träume, die ihr so fremd und zugleich so vertraut waren, dass sie nicht wusste, ob sie Realität oder Fantasie waren. Sie lagen tief in ihrem Inneren verborgen und gruben sich einen Weg an die Oberfläche ihrer Gedanken.

Schweißgebadet stand sie auf und ging in die Küche. Miss Parker suchte das Bild, das Jarod ihr hinterlassen hatte. Schon gestern Abend hatte sie es gesucht. Wann und wo hatte sie es das letzte Mal gesehen? Miss Parker wusste nicht genau, ob sie es überhaupt noch einmal gesehen hatte, nachdem sie wieder in Blue Cove waren. Hatte sie es verlegte? Sie schüttelte schlaftrunken den Kopf.

Der Tag war nicht sehr schön gewesen. Ihr Vater hatte sie zu sich bestellt und ihr die übliche Standpauke gehalten, von wegen sie würde die Suche vernachlässigen.

Miss Parker hatte alles über sich ergehen lassen, jedes Wort, jede Anschuldigung, jede Behauptung, jede Erniedrigung. Dann war sie aus seinem Büro gegangen, wortlos, ohne sich umzudrehen.

Drei Wochen ohne jede Spur von Jarod. Das war zu viel für das Triumvirat. Und Mr. Parker wusste das, und nur deshalb machte er solch einen Druck. Miss Parker schloss für einen Moment die Augen und lehnte sich an die Kühle Tür des Kühlschrankes. Dann öffnete sie sie und nahm sich eine Flasche Saft. Eigentlich könnte sie jetzt ein Glas Cognac gebrauchen, aber sie bekam immer Kopfschmerzen davon. Also trank sie hastig den Saft, direkt aus der Flasche.

Dieser Bastard! Sie verfluchte Jarod. Sie verfluchte ihn dafür, dass er sie geküsst hatte, dafür, dass er sie immer so quälen musste mit seinen Spielchen, dafür, dass er sie mit seiner Reaktion auf diesen Kuss so verletzt hatte, dass auch das für ihn nur ein Spiel war, dafür... dass er existierte!

Wütend knallte sie die Flasche auf die Anrichte und fasste einen Entschluss. Es war 5 Uhr morgens. Sie ging ins Bad, und nach 10 Minuten war sie geduscht, angezogen, gekämmt und ihr Make-up saß perfekt.

Sie machte sich auf den Weg zu ihrem Auto, schloss es auf, setzte sich hinein und fuhr los. Warum nicht ein wenig im Center schnüffeln? So früh war so wie so kaum einer dort. Keiner der Angestellten, nur die, die etwas Verbargen, viel zu tun hatten, oder etwas suchten. Und zur letzteren Gruppe gehörte Miss Parker.

Das Auto hielt mit quietschenden Reifen vor dem Center und Miss Parker stieg aus.
 

Sie fror ein bisschen, es war kalt in den Mauern des Centers. Aber das war jetzt unbedeutend. Sie war bereits sehr fündig geworden. Aber um die Wahrheit herauszufinden, musste sie tiefer buddeln, und dazu brauchte sie Hilfe, Jarods Hilfe. Broots konnte sie das unmöglich zumuten, für ihn wäre das zu gefährlich. Sie musste lächeln. Vor ein paar Wochen hätte sie noch nicht an das Wohl von Broots gedacht, sie hätte es ihm einfach befohlen.

Miss Parker tippte eilig auf den Tasten ihres Laptops und sah nur ab und zu auf den Bildschirm. Sie zitterte, als sie sich die E-Mail noch einmal durchlas, und sie dann abschickte. Wie gut, dass Broots den Code von Jarods E-Mail Adresse geknackt hatte. Eigentlich war er immer die letzte Person gewesen, an die sie sich gewendet hätte, aber wem konnte sie jetzt noch vertrauen, außer ihm? Und Jarod, das gestand sie sich widerwillig ein, hatte ihr nie wirklich weh getan. Er hatte sie oft wütend gemacht, zornig, oder auch traurig. Aber er hatte sie nie so verletzt, wie er könnte, wenn er wollte. Und das rechnete sie ihm hoch an. Jeder andere, der soviel über sie wusste, hätte es mit Sicherheit benutzt, um ihr seelisch zu schaden. Jarod hatte es immer nur dazu benutzt, ihr zu helfen.

Ihre Hand ruhte noch immer auf der Maus, und sie bemerkte, dass sie noch immer zitterte. Nachdem sie das erledigt hatte, brauchte sie nur noch warten. Und während sie wartete, lief das Suchprogramm auf Hochtouren. Wenn sie Glück hatte, würde sie innerhalb der nächsten Stunde weiter fündig werden, und solange würde sie sich mit Jarod "unterhalten".
 

Ende Teil 2

Titel: Bambino Fingono

Autor: ZoeP

Rating: PG-13

Categories: R, A

Spoiler: Staffel 1-4 (die Filme nicht) Handlung ist inzwischen etwa bei Mai 2001

Short-Cut: Jarod versucht, mehr über seine Vergangenheit zu erfahren und krempelt dabei nicht nur das Centre gewaltig um...

Pairing: Alle ;-)

Disclaimer: Die Charas von Pretender und die Vorgeschichte gehört nicht mir. Jedoch ist der gesamte Inhalt, den ich hier fabriziert habe, mein geistiges Eigentum.

E-Mail: janni@feix-jena.de

Anmerkung: Ein supergroßes Danke an Nicatlon, meine Betaleserin, die mir immer wieder hilft, weil sie einfach viiiieeeel mehr Ahnung von tP hat, als ich ;-) Danke!!!
 

Bambino Fingono

von ZoeP
 

Teil 4
 

Es war Mittag, die meisten der Kinder spielten draußen oder hatten sich in ihre Zimmer zurückgezogen. Jarod war dabei, die dritte E-Mail zu lesen, er war gestern zu müde dazu gewesen. Sie war sehr unsicher formuliert, und ungewöhnlich, da sie von Broots privatem Computer stammte.

Hallo Jarod,

Sie wissen sicherlich, wer ihnen hier schreibt, wie ich Sie kenne. Es hat sehr lange gedauert, bis ich ihre E-Mail Adresse zurückverfolgen konnte, und ich vermute, wenn Sie es gewollt hätten, dann wäre sie ganz verschlüsselt geblieben. Ich danke ihnen, weil ich bei der Entschlüsselung auf eine neue Technik gestoßen bin, was Sie sicherlich beabsichtigt hatten. Aber warum ich ihnen schreibe...

Ich weiß nicht, was Sie getan oder nicht getan haben, auf jeden Fall scheint es Miss Parker nicht sonderlich gut zu gehen. (Ich möchte ihnen nicht die Schuld geben, aber die Ursache hat mit ihnen zu tun.) Nach außen hin wirkt Miss Parker wie eh und je stark und eiskalt, aber wenn sie sich unbeobachtet fühlt, dann tritt eine tiefe Unsicherheit in ihre Augen. Sie hält mich für einen unsensiblen Tollpatsch, und sie hat nicht so unrecht, aber ich sehe ihr deutlich an, dass sie leidet. Jarod, ich bitte Sie, wenn es in ihrer Macht stehen sollte, etwas dagegen zu tun, dann tun Sie es.

Ich weiß, es könnte Ihnen eigentlich egal sein, was mit Miss Parker geschieht, aber Sie haben sich die letzten vier ein halb Jahre für die schwachen Menschen eingesetzt, und Miss Parker ist einer dieser schwachen Menschen.

Sie haben ihr immer wieder auf die Beine geholfen, wenn es ihr schlecht ging. Damals, nach dem Tod ihrer Mutter, und nach der Sache mit Thomas Gates auch... Bitte, helfen Sie ihr auch diesmal. Ich kenne den Grund für ihre Schwäche nicht, aber es gibt nur wenige, die sie wieder zu der alten Miss Parker machen können. Und ihr Vater gehört definitiv nicht dazu...

Mit freundlichen Grüßen, Broots.

Jarod war erstaunt über die Sensibilität, die Broots zeigte. Er machte sich ernsthaft Sorgen um Miss Parker. Und Jarod begann, dies auch zu tun. Nach Broots Beschreibung schien es ihr wirklich nicht gut zu gehen. Und er war gar nicht so tollpatschig, wie er meinte. Ein Tollpatsch hätte nie bemerkt, dass Jarod sich bisher um Miss Parker gekümmert hatte.

Jarod rieb sich die Augen und sah auf die Uhr. Kurz nach elf. Er dachte an den letzten Abend. Nach der Erinnerung, die ihn überrollt hatte, wie eine Lawine, hatte es lange gedauert, bis er sich beruhigen konnte. Danach hatte er beschlossen, sich schlafen zu legen. Er hatte diese Phasen vor einiger Zeit des Öfteren gehabt, und einmal waren sie so deutlich, dass er die Bedeutung von Bambino Fingono hatte entschlüsseln können. Danach waren die Szenen in seinem Kopf wieder abgeebbt.

Ein Geräusch ließ ihn aufsehen. Sein Laptop bedeutete ihm, dass er eine weitere E-Mail erhalten hatte.

Erstaunt öffnete er sie. Sie stammte von Miss Parker. Schnell las er sie sich durch. Es waren nur wenige Zeilen, und doch erkannte er die kalte, gefühllose Miss Parker der letzten Jahre nicht wieder. Jarod konnte eine tiefe Bitterkeit und Ironie herauslesen.

Jarod,

was ist denn los, dass Sie ihre Spielchen eingestellt haben? Es war nicht besonders nett, dass Sie mich neulich haben alleine gelassen, nachdem Sie mich so überrumpelt hatten. Haben Sie auch an meine Gefühle gedacht? Nicht, dass man Gefühle für sie haben könnte, aber... Ich dachte bisher, dass ich Ihnen vertrauen kann, Sie haben mich bisher nie verletzt. Aber das neulich... Ich wusste nicht, dass Sie so skrupellos sein können.

Parker

Jarod sah sie die Nachricht noch einmal an, und dann noch einmal. War sie wirklich fähig, solche Zeilen zu schreiben? Er erkannte, dass sie eine No-Return-Mail versendet hatte. Nur er konnte sie lesen, und sie würde sich nach zehn Minuten von selbst aus dem gesamten Netz löschen. Er druckte sie sich aus und sah dabei zu, wie sich das Fenster auf dem Bildschirm schloss und die Mail verschwand.

Als er das Blatt in der Hand hielt, fiel ihm etwas auf, was er vorher übersehen hatte. Unter der eigentlichen Nachricht stand eine Internetadresse.

Er gab die Adresse ein und befand sich in einem Chat Programm. Sie wollte also Kontakt zu ihm aufnehmen. Er gab einen Namen ein und bestätigte den Logg in. Seine Abwehrsoftware würde ihn davor schützen, dass sie ihn ausfindig machen konnte.

Es war keiner außer ihm und Miss Parker da. Er gab ein Wort ein. Sein Name erschien, gefolgt von seiner Nachricht.

Jarod: "Was?"

Erst antwortete sie nicht, dann erschien ihr Text.

Parker: "Wo sind Sie?"

Jarod: "Weit weg. Ich sagte doch, dass wir uns eine Weile weder sehen noch voneinander hören werden."

Parker: "Ich nehme ihre Worte nicht ernst."

Jarod: "Meine letzten haben Sie aber ernst genommen."

Parker: "Welche?"

Jarod: "Das Zitat von Aymé."

Parker: "Wer sagt Ihnen das?"

Jarod: "Sie selbst. Ich würde Ihnen nie weh tun, das wissen Sie."

Parker: "Das haben Sie auch nicht. Ich bin nur verwirrt."

Jarod: "Nanu, so ehrlich?"

Parker: "Ich habe nicht die Kraft, mich mit Ihnen zu streiten. Wenn ich Glück habe, werde ich nur zu den Cleanern versetzt."

Jarod war verblüfft. Wieso sollte sie degradiert werden? Er tippte weiter und fragte sie danach.

Jarod: "Was ist passiert?"

Parker: "Wenn ich Ihnen sage, dass Daddy wieder böse mit seinem Engelchen ist, geben Sie mir dann wieder einen Tipp und fliehen, so wie letztes Mal auch?"

Jarod: "Ich bin nicht geflohen."

Parker: "Dann nennen wir es weglaufen."

Jarod: "Auch das nicht. Ich war die ganze Zeit da, Sie haben mich nur nicht gesehen. Broots' Hawaii Hemd sah schrecklich aus. Und sie hätten ihre dunkelblauen Vorhänge zumachen sollen."

Parker: "Sie waren die ganze Zeit in Ely und haben uns beobachtet? Ich fass es nicht! Das erklärt die Sache mit dem Bild."

Miss Parker musste daran denken, dass sie verwundert gewesen war, woher Jarod davon gewusst hatte. Dass sie das Bild in der Hand gehalten hatte, welches er ihr kurz vorher hatte zukommen lassen.

Jarod: "Das Bild..."

Parker: "Was ist damit?"

Jarod: "Wenn ich Sie verwirrt habe, tut mir das Leid, es war nie meine Absicht. Aber Sie haben mich verwirrt, weil Sie etwas weggeworfen haben, was mir sehr viel bedeutet. Ich arbeite daran, es wieder aufzubauen, und Sie werfen es einfach weg. Das tut weh!"

Miss Parker saß vor ihrem Laptop und konnte in ihrer Fantasie deutlich seine Stimme hören und sein Gesicht vor sich sehen. Nur den Inhalt seiner Worte verstand sie nicht. Seufzend schrieb sie weiter.

Parker: "Ich schätze, Angelo hat ihnen auch die DSA zugeschickt?"

Jarod: "Ja. Wer ist das Mädchen?"

Parker: "Ich weiß nicht. Ich habe ein Gespräch zwischen Daddy und meinem kleinen Bruder mit angehört, und Daddy sagte, es würde Zeit, die alte Akte wieder hervor zu holen. Es ging um eine rote Akte. Ich habe sie auf dem Schreibtisch meines Vaters gesehen."

Jarod: "Welche Akte?"

Parker: "Ich hätte nicht gedacht, dass es etwas im Center gibt, was ich vor ihnen weiß."

Jarod: "Dann freuen Sie sich, dass es endlich mal so ist und verschweigen Sie es mir."

Parker: "Das würde ich auch tun, aber mit ihrer Hilfe finde ich vielleicht schneller heraus, worum es geht."

Jarod: "Wieso sollte ich ihnen helfen?"

Parker: "Weil ich Sie darum bitte."

Jarod musste grinsen. Kein gutes Argument.

Jarod: "Also gut, ich werde ihnen helfen. Aber nur damit!"

Miss Parker wusste, wie er das meinte. Hinter Bambino Fingono sollte sie selbst kommen.

Parker: "Ich habe ein bisschen herumgesucht. Die Akte nennt sich First Child. Es geht um ein Projekt, ähnlich dem von ihnen. Es ist eine rote Akte. Ich konnte nur einen Blick auf die ersten Dokumente werfen, danach kam mein Brüderchen und ich musste mich verstecken" Sie schauerte bei dem Gedanken daran, dass er sie beinahe erwischt hätte.

Jarod: "Sie meinen, es geht um einen Pretender?" Jarod traute sich fast nicht, das Wort hinzuschreiben. Sollte es vor ihm tatsächlich einen anderen Pretender gegeben haben? Und wenn ja, wieso hatte man dann ihn geholt? War der erste Pretender nicht geeignet, oder war er entkommen? Aber wieso hatte er bisher nichts darüber gefunden? Eine Menge Fragen staute sich ihn ihm zusammen. Er schluckte sie herunter.

Parker: "So genau weiß ich das nicht. Broots wird es nicht schaffen, so tief in den Zellen der Centercomputer zu wühlen. Aber Sie schaffen es vielleicht."

Jarod überlegte kurz.

Jarod: "Einverstanden. Aber Sie müssen mir alles sagen, was Sie wissen."

Parker: "Ich vertraue ihnen, das wissen Sie, es liegt in ihrer Hand, dass es weiterhin so bleibt. Mein Wissen gegen Jarod. Das Mädchen ist am Tag seiner Geburt ins Center gebracht worden. Eltern unbekannt. Die letzte Aufzeichnung existiert vom 13. März 1963. Die DSA ist das letzte Lebenszeichen des Mädchens."

Jarod: "Das war kurz vor meiner Entführung. Hat sie einen Namen?"

Parker: "Ja, ich grabe seit einer halben Stunde in den Daten. Bisher gab es nur einen Treffer."

Jarod: "Bitte sagen Sie es mir. Es wird die Suche erleichtern."

Parker: "Es gibt eine Datei vom Januar 1963. Ein Fax von Raines an das Triumvirat. Ich sende es Ihnen zu."

Jarod: "Gut. Was ist eigentlich, wenn ich sie gefunden habe? Soll ich sie dann bitten, Ihnen eine Karte zu Weihnachten zu schicken?"

Parker: "Ja, das auch. Bitte halten Sie mich einfach auf dem Laufenden, was sie erfahren haben.

Jarod: "In Ordnung. Ich muss jetzt aufhören. Meine Arbeit wartet."

Parker: "Es ist doch erst dreiviertel sechs."

Jarod: "Das hatten wir doch schon..."

Parker: "Verstehe. Zeitzonen. Sie arbeiten nicht zufällig in einer Kuscheltierfabrik?"

Jarod musste lachen. Das war sie wieder, die alte Miss Parker.

Jarod: "Nein, aber meine Freunde mögen die Plüschtiere trotzdem."

Parker: "Welche Freunde?"

Jarod: "Einen schönen Tag noch."

Dann loggte er sich aus. Es war schön gewesen, von ihr zu hören. Er musste verhindern, dass sie degradiert werden würde. Die ersten Hinweise hatte sie bereits. Und den Rest würde sie auch bald bekommen. Jarod grinste. Dann begannen seine Spielchen also von Neuem.

Sein Laptop piepste erneut. Das Fax war angekommen. Er öffnete die Datei, und ein weißes Blatt zeigte sich auf dem Bildschirm. Es war das Centerlogo zu sehen, und die Unterschrift von Raines prangte in der unteren linken Ecke.

Jarod las es sich durch, und was er da las, verschlug ihm die Sprache. Immer und immer wieder las er diese Zeilen, die so eindeutig waren, und gleichzeitig so verwirrend. Er musste der Sache auf den Grund gehen, das konnte einfach nicht wahr sein!

Er öffnete eine DSA, die Angelo ihm geschickt hatte, und sah sie sich an. Schweigend saß er vor dem Bildschirm. Er traute seinen Augen kaum, aber das ergab endlich einen Sinn. Sicherlich würde Miss Parker diese DSA auch bald sehen, und sie musste wissen, dass er sie auch kannte.

Jarod sendete schnell eine E-Mail an Miss Parker, und fuhr dann den Computer herunter. Sie enthielt nicht viel, nur vier Worte: Nicht zu Hause suchen!

Als der Bildschirm schwarz wurde, klappte er den Laptop zu und legte ihn zurück in seinen Koffer. Dann ging er nach draußen. Die Sonne schien warm und freundlich, die meisten Kinder waren draußen.

"Jarod! Wo warst du solange?" Jessy kam lächelnd zu ihm.

"Ich habe etwas... gelesen, und nicht gemerkt wie spät es schon ist. Sorry."

"Die Kinder fragen schon dauernd nach dir. Sie langweilen sich, und ich habe ihnen von deiner Überraschung erzählt." Jessy stand jetzt vor ihm. Er musste an vergangene Nacht denken. Man sah ihr nichts von dem an. Weder Sorgen noch Fragen standen in ihrem Gesicht. Das alleine bestätigte bereits seine Vermutung.

"Du hast Recht, es wird Zeit für unsere kleines Projekt." Er grinste Jessy an, drehte sich dann zu den Kindern und rief: "Hey, Kids. Hört mal alle her. Ich dachte mir, dass wir heute etwas machen könnten, was zugleich nützlich ist, und Spaß macht."

Die Kinder stellten ihre Gespräche ein. Jarod versicherte sich, dass auch alle da waren. Ja, keiner fehlte. Jessy hatte sie alle zusammengetrieben.

"Also, wie wär's, wenn wir heute einen Erste-Hilfe-Kurs durchführen? Das kann man immer brauchen!" Er sah die Kinder fragend an.

Begeisterte Zurufe ertönten, und vereinzelte skeptische Blicke wandelten sich in strahlende Lächeln. Jarod liebte fröhliche Kinderaugen. Er ging kurz in sein Appartement und kam mit einem Armeerucksack wieder. Er band die Schleife auf und rollte das Bündel auf dem Boden auf. Er hockte sich daneben, die Kinder hatten sich um ihn versammelt. Kat stand im Hintergrund.

"Also", begann er, "alles, was man braucht, ist hier drinnen." Er tippte auf den grünen Stoff. Dann breitete er eine Decke auf dem Boden aus, und begann, grundlegende Dinge zu erklären.

"Erste Hilfe beginnt damit, eine geeignete Person zu suchen, die professionelle Hilfe leisten kann." Ein Junge unterbrach ihn.

"Und du bist so eine?"

Jarod nickte grinsend. "In gewisser Weise... ja." Dann fuhr er fort. "Wenn man weder eine Person noch ein Telefon erreichen kann, um den Notarzt zu holen, ist es wichtig, dass man sich selbst ein bisschen mit Gefahrsituationen auskennt. Nehmen wir mal an, jemand stürzt von der Schaukel, und bleibt regungslos liegen. Ihr könnt keinen Erwachsenen finden, und die größeren Kinder sind ebenfalls nicht da. Was tut ihr?"

Arme schossen in die Höhe. Jarod nahm nach und nach einige der Kinder dran. In den nächsten drei Stunden, die wie im Flug zu vergehen schienen, brachte er den Mädchen und Jungen bei, wie man Menschen in die stabile Seitenlage bringt, wie man Verbände korrekt anlegt, wie man Vergiftungen, Verbrennungen und andere Wunden unterscheiden kann, und was man tut, wenn sich jemand eine Vergiftung zugezogen hat.

Jarod merkte, dass alle eine Menge Spaß daran hatten, und auch ihn erfüllte es mit Freude, so viele aufmerksame Gesichter zu sehen. Dennoch behielt er Kat die ganze Zeit im Auge. Sie schien ihm aufmerksam zuzusehen, und jedes Wort, jede Information in sich aufzusaugen. Ihre Augen hatten keinen besonderen Ausdruck, und Jarod musste sich beherrschen, nicht allzu oft zu dem Mädchen hin zu sehen.

"Ich denke, das reicht für heute. Schaut mal auf die Uhr." Jarod sammelte seine Dinge zusammen und verpackte sie. "Das heißt... für alle die, die wollen, habe ich noch eine kleine Zugabe." Er grinste in erwartungsvolle Gesichter.

"Zur ersten Hilfe gehört auch etwas Tapferkeit. Und wir haben etwas Entscheidendes weggelassen..."

"Jarod, was fehlt denn noch?", fragte Kat. Jarod sah sie überrascht an. Sie hatte ihn noch nie direkt angesprochen. Fast nie.

"Nun, habt ihr schon mal Blutproben abgegeben?", fragte Jarod und sah amüsiert, wie sich einige schüchtern ansahen. Kat blieb gelassen.

"Wer wäre freiwillig dazu bereit? Es tut nicht weh, und ich glaube, es würde euch doch alle interessieren, was da eigentlich in uns herum schwimmt...", er sah leicht provozierend in die Runde. Keiner meldete sich. "Wenn ihr nicht wollt, müsst ihr nicht. Aber ich dachte mir, weil einige von euch im Unterricht gerade dieses Thema behandeln, da wäre es doch ganz gut, es an einem praktischen Beispiel zu sehen." Er redete sanft und beruhigend.

"Ich mache es."

Er sah überrascht auf. Kat hatte sich gemeldet. Innerlich grinste Jarod, aber äußerlich ließ er sich nichts anmerken. Er bemerkte aus den Augenwinkeln, das Jessy ihr Gewicht auf ein anderes Bein verlagerte, und Kat beunruhigt ansah.

"Wirklich?" Er hockte sich hin, und nahm etwas aus seiner Tasche.

"Unter einer Bedingung." Sie hatte eine feste, und dennoch mädchenhafte Stimme. Er nickte nur. "Ich werde die Ampulle entsorgen. Die gehört nicht in den normalen Müll." Sie grinste.

"Natürlich. Komm her..." Die anderen Kinder klatschen bewundernd. Kat sah sie lächelnd an, und Jarod wusste nicht, ob er nicht ein klein wenig Überlegenheit in ihren Augen sehen konnte. Sie streckte ihm den Arm hin. Er schnürte ihn ab und nahm eine Ampulle.

Als sie ihn fragte, ob er das überhaupt dürfe, meinte er nur, es sei alles mit der Leitung abgesprochen. Und ehe sich die anderen versahen, hielt er eine Ampulle mit einer roten Flüssigkeit in die Luft.

"Na bitte, und hat es weh getan, Kat?" Sie schüttelte amüsiert den Kopf und grinste. Wenn sie ihre starre Maske fallen ließ, war sie richtig hübsch. Sie erinnerte Jarod in ihrer Art an Miss Parker.

"In Ordnung, ich schlage vor, dass wir das drinnen machen. Es wird langsam dämmrig." Er stand auf und nahm seinen Rucksack.

"Ich bringe ihn rein", meinte Jessy.

"Danke, stell ihn einfach vor die Tür", grinste er. So leicht würde er sie nicht alleine in seine Wohnung lassen. Und eigentlich, das wusste er, brauchte sie keinen Schlüssel dazu...

Die anderen folgten ihm in das Haupthaus, wo sie in einen Klassenraum gingen. Jarod schloss den Schrank mit den Mikroskopen auf und nahm sich eines. Er schloss es an seinen Laptop an und legte das Glasplättchen unter das Mikroskop.

"Ah!" und "Oh!" ging durch die Reihen. Manche tuschelten. Jarod stellte das Mikroskop scharf und erklärte den Kindern, was sie auf dem Bildschirm sahen. Jessy tauchte hinter Kat auf. Jarod bemerkte, wie Kats Miene sich verfinsterte, als sie ihr Blut auf dem Bildschirm sah.

Nach einer halben Stunde hatte Jarod alle Fragen beantwortet. "Na, dann wird sich euer Biologielehrer aber freuen, wenn ihr so gut Bescheid wisst." Er grinste, als leises Protestgemurmel ertönte. Er gab Kat das Röhrchen mit der Blutprobe und sie ging nach draußen. Die anderen Kinder verließen den Raum und Jarod schloss ihn hinter sich zu. Er brachte seinen Laptop zu seinem Appartement und nahm beim Eintreten seinen Rucksack mit.

Er verstaute seine Sachen und ging wieder nach draußen. Dann klopfte er an Jessys Appartement und wartete. Drinnen war ein Poltern zu hören, leises Getuschel, für normale Ohren nicht zu hören. Dann ging die Tür auf und Jessy strahlte ihn an.

"Guten Abend, Jarod. Das war eine tolle Vorstellung. So viel Spaß hatten die Kinder lange nicht mehr. Komm doch rein." Sie bedeutete ihm, einzutreten. Ihre Wohnung sah genauso aus, wie seine, nur spiegelverkehrt. Sie hatte die gleichen Teppiche, die gleichen Möbel und die gleiche Küchenzeile. Nur ihre Vorhänge zur Veranda waren violett, seine waren dunkelrot.

"Hallo Jessy." Er trat ein und ging ins Wohnzimmer. Die Verandatür stand offen. Ihr "Besuch" war also nicht mehr da.

"Was verschafft mir die Ehre?" Sie grinste ihn an und setzte sich auf die Couch.

"Ich langweile mich drüben, und bis zum Abendessen ist es noch eine Weile." Er setzte sich ihr gegenüber.

"Da haben wir etwas gemeinsam. Wenn mich die Kinder nicht so auf Trab halten würden, ich glaube, ich wäre schon gestorben vor Langeweile..." Sie grinste.

"Ich mache mir Sorgen wegen Kat", begann Jarod.

"Wieso?", fragte Jessy und stützte ihre Ellenbogen auf ihre Knie.

"Sie ist so... in sich zurückgezogen, und so besonders." Er beobachtete jede Reaktion von Jessy.

"Ich denke, du wirst nach und nach Zugang zu ihr finden", meinte Jessy und lächelte. Sie setzte sich neben ihn und nahm seine Hand. "Du machst dir zu viele Sorgen. Ich kenne Kat schon sehr lange. Sie ist eben so."

Er nickte nur. Dann stand er auf.

"Ich muss noch etwas erledigen." Er ging zur Tür. Die schwarze Lederjacke schlug Falten.

"Was denn?", fragte sie belanglos.

"Nennen wir es... familiäre Verpflichtungen." Er lächelte sie noch einmal an und schloss dann die Tür hinter sich. Bis zum Abendessen war noch genug Zeit. Er würde in Ruhe Kats Blutprobe untersuchen können.

Er betrat seine Wohnung und schaltete den Laptop an. Dann nahm er sich die Ampulle und untersuchte das Blut mithilfe eines Elektronenmikroskops, dass er sich aus der Schule "ausgeliehen" hatte. Das Blut, das er den Kindern gezeigt hatte, war nicht Kats gewesen. Er hatte die Ampullen vorher ausgetauscht und Kat auch die falsche zurückgegeben.

Jarod ermittelte ihre Blutgruppe und entschlüsselte die Genstruktur. Dabei stieß er auf etwas, das ihm den Atem raubte. Nein, das war nicht möglich! Er sah sich die Zahlen und Buchstaben noch einmal an. Nein, ihm war kein Fehler unterlaufen.

Jarod ließ sich nicht beim Abendbrot blicken. Er saß hinter dem Bildschirm und durchforstete das Center. Er war nicht richtig bei der Sache. Zu sehr beschäftigte ihn die Sache mit Kat. Und dann war da noch Jessy... Nie im Leben hätte er gedacht, dass er hier, in Europa, Großbritannien, London auf eine Person stoßen würde, die mehr mit ihm zu tun haben könnte, als drei Wochen gemeinsame Aufsicht einer Horde Kinder...

***

Miss Parker empfing die Nachricht und biss sich auf die Unterlippe. Wie sie vermutet hatte, schickte Jarod ihr Hinweise, die gerade mal reichen würden, um ihren Vater zu beruhigen. Aber nicht, um ihn zu finden.

Sie rieb sich die Stirn und las die kurze Mitteilung. Nicht zu Hause suchen!

Er war also nicht mehr in den Staaten.

Broots betrat den Raum.

"Ähm, Miss Parker?" Er räusperte sich kurz. Sie sah zu ihm auf und nickte. "Was ist, Broots? Haben Sie die Zahlen entschlüsselt?"

"Nein, das nicht, aber... Ich habe etwas über First Child herausgefunden." Er flüsterte und beugte sich zu ihr. Miss Parker zog die Augenbrauen hoch.

"Nun ja. Ich war gestern von zu Hause aus in Lyles Daten." Er schauderte bei dem Gedanken an seine Nervosität, man könne es ihm nachweisen. "Und da gab es eine DSA. Ich habe sie heruntergeladen und noch nicht angesehen. Das steht Ihnen zu..."

"Danke Broots. Sie wissen, was das für mich bedeutet..." Es war eine einfache, dankbare Feststellung. "Geben Sie her." Er reichte ihr die Disk und sie legte sie ein. Der Bildschirm flammte kurz schwarz auf, dann sah man ein Überwachungsvideo. Die üblichen Grautöne zogen sich über den Bildschirm. Miss Parker sah gebannt darauf.

Ein Mädchen wartete auf einem Stuhl. Jacob stand ihr gegenüber, es war das gleiche Kind, wie auf dem ersten Video. Es war eine Woche später.

"Ich habe aufgegessen." Stille.

"Jacob, wieso zitterst du?", fragte die unschuldige Kinderstimme.

"Nichts nichts. Also, wir werden uns eine Weile nicht sehen. Eine große Weile." Er hockte sich zu ihr.

"Wieso nicht? Magst du mich nicht mehr?" Ihre Augen waren so unwissend.

"Natürlich mag ich dich! Du musst weg von hier, gerade weil ich dich mag. Es wird dir hier nur schlecht gehen, du bist nicht sicher hier. Die Leute, die über dich bestimmen, sind nicht nett." Er redete leise und eindringlich.

"Wo soll ich denn hin? Ich habe es hier doch gut! Und die Leute sind alle sehr nett." Sie verschränkte die Arme.

"Wer weiß, wie lange noch!" Er schüttelte widerwillig den Kopf. "Ich bitte dich, sei ganz still, was auch immer passieren wird, und tu, was Catherine dir sagt." Er nahm die Arme des Mädchens. "Versprichst du mir das?"

Sie nickte. Hinter den Beiden öffnete sich eine Tür. Eine junge Frau trat ein, Catherine Elaine Parker. Sie lächelte das Kind an. Es entdeckte sie und lächelte zurück. Sie mochte diese Frau sehr, sie war von Anfang an für sie da gewesen, wie eine Mutter.

"Wo werde ich hinkommen?", wollte sie wissen.

"An einen Ort, wo es dir gut gehen wird. Nicht hier. Es gibt nur wenige Orte, wo man sicher ist. Dort werden sie dich niemals finden. Denn sie sollten nicht zu Hause suchen, was sie aber tun werden." Catherine nahm das Kind lächelnd auf den Arm, nachdem es Jacob gedrückt hatte. Dann schloss sich die Tür, und Jacob stand alleine da. Die DSA brach ab.

Miss Parker starrte verblüfft auf den schwarzen Bildschirm. "Also hat man sie weggebracht. Meine Mutter hat sie aus dem Center geschleust, wie sie es später auch mit Jarod und Angelo vor hatte!" Sie schnaufte kurz auf und nahm die Disk aus dem Laufwerk. Da fiel ihr etwas auf.

Ihre Mutter hatte etwas gesagt, "...sie sollten nicht zu Hause suchen...", das waren die Worte aus Jarods E-Mail. War das ein Zufall? Oder hatte er diese DSA auch gesehen?

Sie musste wissen, wer dieses Kind war, ob es noch lebte, und wenn ja, wo es lebte!

"Broots, weiß Sydney davon?" Sie tippte auf die Disk.

Der Techniker schüttelte den Kopf. "Ich glaube nicht, dass man ihm überhaupt von First Child erzählt hat. Jacob war sein Bruder, und Familie ist im Center etwas, das einen gefährden kann. Wenn Jacob es ihm nicht gesagt hat, dann weiß er es nicht."

"Ja, das denke ich auch..." Sie schloss für einen Moment die Augen. Als sie sie wieder öffnete, meinte sie: "Broots, ich danke Ihnen. Bitte beschäftigen Sie sich jetzt wieder mit der Suche nach Jarod, in Ordnung?"

Er nickte und wollte gehen.

"Warten Sie, Broots. Ich habe da etwas, dass Ihnen helfen könnte. Ich erhielt eine E-Mail von unserem Pretender. Er verwendete die Worte nicht zu Hause suchen, wie in der DSA, vielleicht bringt uns das weiter."

Broots zog die Augenbrauen hoch. "Miss Parker... Wissen Sie, was ich glaube?"

Miss Parker schüttelte den Kopf.

"Jarod wird das Video auch gesehen, und uns einen Tipp gegeben haben. Er hat seine Spielchen wieder begonnen." Broots war froh, dass Jarod Miss Parker "half", anscheinend hatte er seine Nachricht über sie ernst genommen. Erleichtert atmete er auf. Und wenn er diese DSA gesehen hatte... "Miss Parker, wenn wir den Aufenthaltsort dieses Kindes finden, das jetzt kein Kind mehr sein dürfte, wissen wir, wo Jarod sich aufhält!"

Miss Parker sah ihn fragend an. Seit wann hatte Broots solche Geistesblitze, und was meinte er damit?

"Was hat denn das Eine mit dem Anderen zu tun?"

"Nun ja..." Brots sah zu Boden. "Dieses Kind ist an einem Ort, der eben nicht zu Hause ist. Und Jarod schrieb das in der Mail, also könnte es doch sein... ich meine, theoretisch... dass er auch dort ist. Nicht zu Hause."

Miss Parker verstand. Er hatte sie gefunden! Er hatte dieses Mädchen, diese Frau aufgespürt! Leise Enttäuschung kam in ihr auf, weil er es ihr nicht gesagt hatte. Sie hatte ihm vertraut, geglaubt, er würde mit ihr zusammen arbeiten, und er hatte die ganze Zeit über gewusst, wo sie war! Aber immerhin hatte er ihr zu verstehen gegeben, dass er es wusste, und sie konnte Verbindung zu ihm aufnehmen, um mehr zu erfahren. Das Gefühl verschwand wieder. Es war richtig gewesen, Jarod in die Sache einzuweihen und ihn um Hilfe zu bitten. Auch wenn es ihr unglaublich schwer gefallen war, ausgerechnet ihn um etwas zu bitten.

Miss Parker nickte Broots zu und rollte mit ihrem Stuhl durchs Zimmer hinter einen zweiten Computer. "Okay, suchen wir die Datenbank des Centers über Jarods ehemalige Aufenthalte außerhalb der Staaten durch." Miss Parker wusste, dass sie das nicht weiterbringen würde. Aber ihr Vater wollte Ergebnisse, und sie würde ihm welche liefern, ohne dieses Kind erwähnen zu müssen.

Sie war völlig in ihre Arbeit und ihren Bericht versunken, als Sydney hereintrat.

"Guten Abend, Miss Parker", begrüßte er sie.

"Hallo Syd", erwiderte sie. Für einen winzigen Moment zog sie es in Erwägung, ihm die DSA zu zeigen, doch sie verwarf diese Idee sofort wieder. Sydney würde schmerzhafte Erinnerungen haben. Nutzlos.

"Ich habe etwas für Sie." Er reichte ihr ein Paket. Braunes Papier, schwarze, handgeschrieben Druckbuchstaben. Die Adresse des Centers, ihr Name.

"Von wem ist es?", wollte sie wissen. Er zuckte mit den Schultern. "Steht nicht drauf. Aber das kennen wir ja schon..."

"Der Wunderknabe lässt von sich hören." Miss Parker öffnete die Paketschnur und streifte das Papier ab. Zum Vorschein kam ein brauner Karton. In seinem Inneren lag ein Bild. Miss Parker nahm es heraus. Sie drehte es um und ihre Augen wurden schmaler.

"Aber...", stockte sie. Ihr war gar nicht bewusst, dass sie die Luft anhielt.

"Was ist es diesmal?", wollte Sydney wissen. Sie drehte und wendete es, und er sah sie nur fragend an.

"Dieses Bild... Ich habe es in Ely gefunden. Hier." Sie gab es Sydney. Dieser sah es sich kurz an und meinte dann knapp: "Das habe ich gemacht. Es wundert mich nicht, dass Jarod es noch besitzt. Aber dass er es Ihnen zukommen lässt..." Er gab es ihr zurück.

"Sie haben es gemacht?" Sie konnte sich an diese Zeit nicht so genau erinnern. "Er hat es mir in Ely hinterlassen, auf dem Kaminsims. Ich dachte, ich hätte es eingepackt. Aber dem Anschein nach habe ich es dort liegen lassen." Sie seufzte. Jetzt verstand sie Jarods Bemerkung.

"Es steht etwas hinten drauf. Werfen Sie das Wertvolle in ihrem Leben nicht weg!" Er hatte bereits bei ihrem Telefonat in Ely gesagt, dass dieses Bild etwas Wertvolles war, und bei ihrem letzten Gespräch hatte er ihr vorgeworfen, sie hätte ihn verletzt, weil sie es dort vergessen hatte. War es wirklich nur das Bild, was ihm so viel Bedeutete? War es nicht viel eher der Inhalt... Miss Parker traute sich nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Nein, sie bedeutete Jarod nicht wirklich etwas.

"Danke Syd", meinte sie, und verstaute das Bild in ihrem Schreibtisch. "Vielleicht können Sie Broots helfen. Er ist im Technikerraum." Er folgte der indirekten Aufforderung, sie alleine zu lassen. Auch wenn er in ihr immer noch die kleine Miss Parker sah, respektierte er sie auch als erwachsene Person.

Sie blieb alleine in ihrem Büro. Nervös und unsicher ging sie auf und ab, sah aus dem Fenster und klapperte mit den Fingernägeln auf der glatten Tischplatte. Dann entschloss sie sich, zur Krankenstation des Centers zu gehen.

Sie verließ ihr Büro und machte sich auf den Weg. Man begrüßte sie dort freundlich und führte sie zu Baby Parker, obwohl sie den Weg kannte. Sie war oft bei ihrem kleinen Bruder. Er hatte noch nicht einmal einen Namen erhalten, obwohl er jetzt schon knapp acht Monate alt war.

Miss Parker nannte ihn liebevoll Baby Parker, und überlegte sehr oft, wie sie ihn richtig nennen würde. Er lächelte sie an und streckte die Hände nach ihr aus, als er sie erkannte. Manchmal war sie jeden Tag hier gewesen. Ihr Vater kümmerte sich nicht um seinen Nachfolger.

Das Baby war anfangs sehr schwach gewesen, und zeigte auch jetzt immer wieder Immunschwächen. Lyle hatte es nach Raines Tod unter bisher ungeklärten Umständen wieder zurück ins Center gebracht, nachdem Raines es zuerst entführt hatte. Mr. Parker war es egal, wodurch sein Sohn wieder zurück ins Center kam, Hauptsache, er war jetzt da. Miss Parker nahm das Kind zärtlich auf den Arm und sah es sich an. Es war so unschuldig. Wie es sie mit seinen braunen Kulleraugen ansah, fühlte Miss Parker sich schuldig, dass es im Center würde leben müssen. Sie konnte ihre Mutter gut verstehen, dass sie die Centerkinder retten wollte.

Seufzend legte sie das Kind wieder zurück in sein Bettchen und ging zurück in ihr Büro. Das kleine Wesen gab ihr Kraft, ihre Barrikade, bestehend aus kalten Worten und eisigen Blicken, aufrecht zu erhalten.

Das konnte sie auch brauchen, denn in ihrem Büro wartete Lyle auf sie.

"Was machen Sie in meinem Büro?", fragte sie langsam und beherrscht.

"Ich warte auf Sie..." Er grinste hämisch.

"Hier bin ich, also, was ist ihr Problem?" Sie ging zu Lyle uns stellte sich vor ihn.

"Nicht mein Problem, das Problem unseres Vaters..." Wieder grinste er. "Er ist gar nicht gut zu sprechen auf Sie." Er genoss den Augenblick der Kontrolle.

"Wieso?", fragte sie.

"Nun, er hat zufällig erfahren, dass Sie neulich etwas zeitiger hier waren, und in den Daten des Centers rumgeschnüffelt haben. Und das Sie auf das Projekt First Child gestoßen sind, stimmt ihn nicht gerade milde... Des Weiteren haben Sie sich mit Jarod getroffen, und ihn einfach so gehen lassen. Was haben Sie sich nur dabei gedacht?" Seine Stimme war süß wie Honig und er ließ jedes Wort nur so triefen.

Miss Parker war wie erstarrt.

"Ich habe ihn sicherlich nicht freiwillig gehen lassen." Es stimmte, sie hatte nicht gewollt, dass er ging. Aber nicht etwa, weil sie ihn festnehmen wollte, sondern, weil sie sich nach ihm sehnte, weil er ihr Kraft gab. Es hatte lange gedauert, bis sie sich das einigermaßen eingestanden hatte. Aber Lyle wusste das nicht, nie würde er es wissen.

"Und über First Child bin ich zufällig gestolpert, als ich nach Informationen über unsere Laborratte gesucht habe." Es tat ihr leid, ihn so zu nennen, aber vor Lyle musste sie kühl bleiben. "Ich interessiere mich nicht für dieses Projekt!"

"Ach nein? Na dann ist ja gut..." Er stand auf und ging zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um. "Damit wir uns nicht falsch verstehen... Daddy hat es nicht gerne, wenn man sich um fremde Angelegenheiten kümmert. Besonders nicht, wenn sie in roten Akten stehen. Lassen Sie ihre Finger davon!" Seine Stimme wurde drohend.

"Verschwinden Sie, Lyle!", zischte sie, und als er aus dem Büro raus war, seufzte sie laut. Dieser Bastard!

Unruhig ging sie in ihrem Büro auf und ab. Seit Raines tot war, fühlte Lyle sich sicherer und mächtiger. Er hatte viele Projekte übernommen. Unter anderem auch First Child. Sie musste etwas tun, sie konnte doch nicht tatenlos hier herumsitzen und nach Jarod suchen! Sie würde ihn so oder so nicht finden...

Entschlossen ging sie zum Fahrstuhl, um zu ihrem Vater zu fahren. Sie musste mit ihm reden! Er hatte sie in gewisser Weise immer vor dem Triumvirat beschützt, und er würde es auch diesmal tun... oder?

Sie blieb abrupt stehen. Nüchtern wurde ihr klar, dass ihr Vater niemals sie vor dem Triumvirat geschützt hatte, sondern nur sich selbst. Er würde mit beschuldigt werden, wenn sie etwas anstellen würde. Sie stand direkt vor seinem Büro und wollte gerade die Tür aufmachen, als sie von drinnen Stimmen hörte.

"Mr. Parker, ich halte das für keine gute Idee." Wer war diese Person? Miss Parker kannte die Stimme.

"Mir liegt nichts an diesem Kind. Tun Sie, was ich Ihnen sage." Das war ihr Vater. Von welchem Kind redete er? Von dem Pretender?

"Wenn es älter ist, könnte es erheblich mehr Nutzen haben, als tot." Miss Parker erschrak. Sie wollten sie umbringen!

"Wenn unser Vorhaben gelingt, können wir Dutzende von diesen Kindern herstellen. Mr. Cox, ich habe Brigitte nur deshalb schwängern lassen! Sie dachten doch nicht allen Ernstes, dass ich so einen Quälgeist haben wollte?"

"Nun, es ist Ihre Entscheidung, Mr. Parker... Ich werde es heute nacht nach Donaterase bringen und Zellen entnehmen." Er wurde etwas leiser. Miss Parker war wie gelähmt. Es ging überhaupt nicht um den Pretender! Es ging um Baby Parker, ihren Bruder! Sie wollten ihn nach Donaterase bringen, wo sie auch schon Jarods Klon hergestellt hatten... Miss Parker wurde übel und sie verspürte das dringende Bedürfnis, sich zu übergeben.

Als sie aus der Toilette herauskam, war nicht nur ihr Magen, sondern auch ihr Kopf völlig leer. Sie hatte ihrem Vater so lange vertraut, und auch als sie das nicht mehr getan hatte, hätte sie ihm das niemals zugetraut! Er war so gefühlskalt, so skrupellos...

Er wollte seinen Sohn und damit ihren Bruder umbringen! Ein Familienmitglied. Familie...

Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie das Baby retten musste! Sie rannte in ihr Büro und druckte ein paar Dateien aus. In ihrem Kopf reifte ein Plan. Sie musste ihren Bruder retten, sie konnte doch nicht zulassen, dass man diesen unschuldige Wesen... kaltblütig ermorden würde!

"Guten Abend, Miss Parker."

Die Stimme erschrak sie beinahe zu Tode.

"Broots!" Sie keuchte und wirbelte herum. "Erschrecken Sie mich nie wieder so!"

"Tut mir Leid, Sie haben mich nicht bemerkt. Ich wollte ihnen etwas zu Olvidan bringen." Er reichte ihr eine dunkelblaue Akte und trat schüchtern wieder einen Schritt zurück.

"Vielen Dank, Broots. Ich nehme sie mit nach Hause. Ich hab's eilig. Machen Sie's gut." Sie nahm die Akte und legte sie zu den anderen Dokumenten und den ausgedruckten Blättern in ihren silbernen Metallkoffer, in dem sich auch ihr Laptop befand.

"Nanu, wollen Sie verreisen?" Er klang amüsiert. Sie war noch nie im Urlaub gewesen.

"Nicht ganz, Broots. Aber wir werden uns lange nicht sehen. Passen Sie auf Syd auf." Sie zwang sich ein Lächeln ab.

"Nicht nötig", erklang eine Stimme aus einer dunklen Ecke. "Das kann ich auch selbst tun. Lassen Sie uns alleine, Broots." Der Techniker folgte der Aufforderung und verließ den Raum. Sydney betrachtete Miss Parker. Sie sah gehetzt aus.

"Wo wollen Sie hin?" Er setzte sich auf ihren Tisch und verschränkte die Arme.

"Das kann ich Ihnen nicht sagen, zu ihrem eigenen Schutz." Sie verschloss den Koffer und ging Richtung Tür. "Ich melde mich gelegentlich. Und Syd... Sie wissen von nichts!" Damit verschwand sie aus ihrem Büro. Sydney verstand nicht, was sie vorhatte, aber er wusste, dass es sehr wichtig sein musste. Er würde ihr Verschwinden vor Lyle und Mr. Parker vertuschen. Schließlich hatte er "keine Ahnung"...
 

Miss Parker duckte sich, um aus dem Sichtfeld der Kamera zu entkommen. Die Krankenstation war leer, um diese Zeit. Keine Schwester weit und breit.

Sie stand direkt unter der Kamera und streckte sich, um an sie heran zureichen. Klack. Miss Parker hatte die Kamera auf Standby geschaltet. Sie würde ungesehen bleiben, für eine Weile... So schnell sie konnte, nahm sie Baby Parker aus dem Bettchen, wickelte ihn in eine Decke und legte ihn in sein Tragekörbchen. Er schlief und atmete ruhig und gleichmäßig. Hoffentlich würde das so bleiben, bis sie außer Hörweite waren...

Sie ließ die Kamera weiterhin so, wie sie war und ging ins Nebenzimmer. Von hier aus führte eine schmale Feuertreppe nach unten. So schnell es mit dem Babykorb in der einen und dem Koffer in der anderen Hand nur möglich war, kletterte sie nach unten. Sie huschte im Schatten der Centermauern zu ihrem Auto, legte das Körbchen auf den Beifahrersitz und stellte den Koffer an ihre Füße. Dann gab sie Gas und fuhr nach Hause.

***
 

Ende Teil 4

Titel: Bambino Fingono

Autor: ZoeP

Rating: PG-13

Categories: R, A

Spoiler: Staffel 1-4 (die Filme nicht)

Short-Cut: Jarod versucht, mehr über seine Vergangenheit zu erfahren und krempelt dabei nicht nur das Centre gewaltig um...

Pairing: Alle ;-)

Disclaimer: Die Charas von Pretender und die Vorgeschichte gehört nicht mir. Jedoch ist der gesamte Inhalt, den ich hier fabriziert habe, mein geistiges Eigentum.

E-Mail: janni@feix-jena.de

Anmerkung: Wieder möchte ich ein riesen Danke an Nicatlon richten, was würde ich bloß ohne dich machen *seufz*
 

Bambino Fingono

von ZoeP
 

Teil 5
 

Es ging ziemlich lautstark her, man verstand sein eigenes Wort kaum noch, es sei denn, man brüllte gegen den Lärm an. Die jüngeren Kinder an Tisch drei stritten sich, wer mehr Soße bekommen hatte, und bei den älteren auf der anderen Seite des Speisesaales war eine heftige Diskussion ausgebrochen, weil irgend jemand das Salzfass umgeworfen hatte.

Jessy war ständig damit beschäftigt, um Ruhe zu bitten und zwischen den einzelnen Tischen umher zu wandern. Jarod hatte sich gerade wieder an ihrem Tisch niedergelassen. Am Tisch neben ihm saß der Hausmeister des Heimes, Harry Tompson, und ihm gegenüber saß ein Küchenmädchen, dass heute frei hatte und nichts mit sich anzufangen wusste.

Harry war kurz vor Jarod neu dazu gekommen, weil der erste Hausmeister in Pension gegangen war. Jarod kannte ihn nicht sehr gut, er hatte in den Wochen seines Aufenthaltes in London nicht die Zeit gefunden, ihn näher kennen zu lernen. Ein bisschen erinnerte Tompson ihn an den Hausmeister aus dem Center, den sein angeblicher "Freund" umgebracht hatte. Vor Jarods Augen, nachdem er ihm die letzte Simulation abgenommen hatte...

"Jarod?" Eine leise, fast schon schüchterne Stimme holte ihn aus seinen Gedanken zurück. Er sah sie lächelnd an.

"Kat, warum bist du nicht bei den Anderen und isst?" Er sah dem Mädchen direkt in die Augen. Sie blickte sich kurz um, wahrscheinlich, um festzustellen, was Jessy gerade tat.

"Jarod, ich wollte dich fragen, ob du heute Abend kurz Zeit hast." Ihre Stimme war wieder die, der neugierigen Kat, die er kannte. Ein bisschen Vorsicht schwang noch darin mit.

"Warum?" Es wunderte ihn, dass sie ihn so offen ansprach.

"Ich muss mit dir reden", meinte sie knapp.

Er überlegte kurz und sah über ihre Schulter zu Jessy. Sie schimpfte gerade mit einem Jungen, der nicht essen wollte und die anderen Kinder ärgerte.

"Klar." Er grinste sie an.

"Gut." Sie grinste zurück. "Kann ich halb acht zu dir kommen?"

Er nickte. Sie grinste weiter und ging ohne ein weiteres Wort zu ihrem Platz zurück, als hätten sie mal eben über das Wetter von morgen geredet.

Jarod schüttelte amüsiert den Kopf. Kat war wirklich seltsam, aber seit er ihr Rätsel gelöst hatte, wunderte ihn so gut wie nichts mehr. Vielleicht würde er sie heute Abend darauf ansprechen, er hatte sowieso vorgehabt, mit ihr zu reden.

Jessy kam zurück. Sie seufzte theatralisch und tat, als hätte sie eben eine Horde Affen gebändigt, und nicht Kinder beim Essen. Jarod mochte ihre lockere Art.

"Du hättest mir ruhig mal helfen können." Sie lachte und drehte sich noch einmal zu den Kindern um, bevor sie sich setzte und auf ihre Suppe starrte, die inzwischen ziemlich kalt war.

"Ich wollte meine Suppe gerne warm genießen." Er schob den leeren Teller von sich weg.

"Genießen? Ich weiß ja nicht, wie man Kartoffelsuppe, die wie drei-tage-alte Schuhsohle schmeckt, genießen kann..." Sie sah ihn belustigt an.

"Ich glaube nicht, dass Schuhsohlen besonders verträglich sind", stellte er sachlich fest.

Sie lachte laut und sah ihn an, als hätte sie ihn das erste Mal gesehen. "Jarod, du bist... der merkwürdigste Mensch, der mir je begegnet ist."

"Möglich", grinste er und sah zu, wie sie angewidert die Suppe von sich schob und murmelte, sie hätte doch lieber Kartoffelbrei mit Soße nehmen sollen.

"Jessy", begann er plötzlich ernst.

"Mmh?" Sie sah von ihrem Teller auf.

"Hast du heute Abend schon etwas vor?" Er beobachtete jede Regung in ihrem Gesicht. Es kam ihm irgendwie komisch vor, sie das zu fragen.

"Nein, ich wollte mir heute eigentlich etwas Ruhe gönnen..." Sie nickte zu den Kindern hinter sich. "Wieso fragst du?"

Er grinste. "Nicht, was du denkst."

Jarod hatte den belustigten Funken in ihren Augen gesehen, und es ärgerte ihn, dass er sich anstellte, als wolle er ein Date verabreden. Das hatte er nun wirklich nicht vor!

Sie sah ihn grinsend an. "Ach nein?"

Einen Moment lang dachte er, sie hätte seine Gedanken gelesen und auf die Feststellung in seinem Kopf geantwortet, aber dann bemerkte er, dass es lediglich eine Erwiderung seiner letzten Aussage war. Jetzt wurde er auch noch rot, na toll!

"Ich muss mal mit dir reden." Er sah sie mit gespieltem Ernst an.

"Worüber denn?", wollte sie wissen.

"Sagen wir, ich möchte gerne jemandem Helfen, und brauche dazu deine Hilfe." Sie brauchte nicht zu wissen, dass es um sie und Kat ging. Dann würde sie vielleicht nicht kommen. Dann sollte sie lieber denken, er wolle sie wegen anderen Dingen treffen. Er musste sich bei dem Gedanken ein Lachen verkneifen. Die Situation war zu absurd.

"Wenn du darauf bestehst..." Sie zuckte mit den Schultern. "Kommst du dann rüber?"

Er schüttelte den Kopf.

"Was denn, soll ich zu dir kommen?", meinte sie scherzhaft, vorwurfsvoll.

"Klar." Sie gefiel ihm, wenn sie so unschuldige Augen machte. Er nickte leicht und grinste wieder. "Halb Acht."

Jarod stand auf und verließ den Speisesaal.

***

Es war dunkel, als sie ihr Haus betrat.

Miss Parker hatte ihr Auto direkt vor dem Haus geparkt und soeben die Tür aufgeschlossen. Sie hatte mit einem Griff das Licht angemacht und sich kurz in ihrem Flur umgesehen.

Das Körbchen mit dem Kind hatte sie neben der Tür abgestellt.

Parker ging in ihr Schlafzimmer und kramte eine Reisetasche unter dem Bett hervor, die sie schwungvoll auf die Matratzen stellte. So schnell es ging, zog sie sämtliche Schubladen ihrer Kommode auf und öffnete die Schrankfächer.

Mit einem raschen Blick hatte sie den Inhalt inspiziert und holte die wichtigsten Kleidungsstücke heraus. Nacheinander flogen Socken, Winterhosen und Jeans, Blusen und T-Shirts, Pullover und Sweatshirts auf ihr Bett. Wahllos stopfte sie alles in die Tasche und schleppte sie mit ins Badezimmer.

Dort sammelte Miss Parker das nötigste Waschzeug und Duschzubehör zusammen und steckte es in ihre Kosmetiktasche. Gedankenverloren suchte sie auch ihre Kosmetikutensilien heraus. Als sie alles, was sie unbedingt brauchte, in ihrer Reisetasche verstaut hatte, sah sie sich in ihrer Wohnung um. Sie seufzte schwer.

Sie würde das Haus vielleicht nie wieder sehen. Es war das Haus ihrer Mutter! Aber hatte sie eine Wahl? Konnte sie ihren Bruder, dieses winzig kleine, unschuldige Wesen, einfach so im Center zurücklassen? Durfte sie zulassen, dass Raines es umbrachte, wie zuvor auch ihre Mutter und Kyle, vielleicht sogar Thomas Gates? Nein, das konnte sie nicht...

Sie würde ihr zu Hause vermissen. Sie hatte hier so viel erlebt, Gutes wie Trauriges, Schönes wie Schreckliches... Aber es war immer noch ihr zu Hause, ein Ort, an dem sie sich wohl gefühlt hatte. Sie dachte an ihr letztes Treffen mit Jarod, in ihrem Badezimmer, und eine Gänsehaut lief ihr den Rücken herunter.

Parker versuchte, so wenig wie möglich daran zu denken. Es war so verwirrend, sie wusste absolut nicht, was er damit bezwecken wollte. Sydney hatte oft genug gesagt, dass Jarod in Sachen Liebe so gut wie gar keine Erfahrungen hatte, und sein "Entdeckungsdrang" und seine Neugierde manchmal einfach Überhand nahmen.

Deshalb konnte es gut passieren, dass er sich zu der nächstbesten Frau hingezogen fühlte und seinen Gefühlen freien Lauf ließ. Parker fragte sich, ob es genau so gewesen war. Vielleicht hatte er gerade wieder einen Hormonschub gehabt, und sie war nur sein Versuchskaninchen gewesen.

Der Gedanke war zwar nicht besonders angenehm, aber er war immer noch besser, als die Vermutung, dass er sie absichtlich verletzen wollte. Sie konnte und wollte nicht weiter daran denken.

Ein leises Brabbeln holte sie in die Gegenwart zurück. Sie durfte keine Zeit verlieren! Wenn sie erst einmal hier weg war, konnte sie genug nachdenken...

Parker nahm die Bilder und Fotos ihrer Vergangenheit aus einer Schublade und packte sie zusammen mit anderen Erinnerungen zu ihren Sachen in der Tasche. In ihrer Wohnung befanden sich jetzt außer den Sachen, die sie nicht mitnehmen konnte - ihr Kleidungsbestand war immerhin so groß, dass er ohne Weiteres eine Flughalle hätte füllen können - kaum noch persönliche Dinge. Viel hatte sie nicht besessen. Die Einrichtung, ihre Küche und das Badezimmer... Mehr würde sie nicht zurücklassen. Die Cleanerteams würden weder Hinweise auf sie noch auf ihr Vorhaben vorfinden. Ihren Laptop nahm sie mit, er war in einem der silbernen Centerkoffer. Jarod hatte bei seiner Flucht so einen mitgenommen. Jarod! Konnte sie denn nicht an etwas anderes denken?

Seufzend nahm sie die schwere Tasche und verfrachtete sie auf dem Rücksitz ihres Autos.

Sie ging zurück in ihr Haus und nahm einen Zettel. Sie schrieb eine Nachricht drauf, legte ihn auf den Couchtisch und löschte das Licht in allen Räumen. Sie nahm den Schlüssel und das Körbchen mit ihrem kleinen Bruder. Nachdem Parker noch einen letzten Blick ins Innere ihres Hauses geworfen hatte, ließ sie die Tür ins Schloss fallen und drehte den Schlüssel zweimal herum.

Ohne sich umzudrehen ging Miss Parker zu ihrem Auto, öffnete die hintere Tür und stellte den Tragekorb ab. Als sie den Gurt angelegt hatte, warf sie die Autotür zu und ging um das Auto herum. Sie setzte sich hinter das Steuer und ließ den Motor an.

Im Rückspiegel sah sie ihr Haus. Es wirkte so verlassen.

Parker schüttelte den Kopf. Sie würde jetzt nicht sentimental werden. Wenn sie nicht innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden geschnappt werden wollte, musste sie einen klaren Kopf behalten!

Sie gab Gas und fuhr leise los. Wenn die Cleaner eintreffen würden, war sie schon längst verschwunden. Sie hatte einen Ort gefunden, an dem man sie so schnell nicht finden würde. Ihre Mutter hatte sie, Lyle, Ethan, Angelo und Jarod immer dort hinbringen wollen. Die Arme des Centers reichten nicht bis nach Kanada...

***

Jarod stand an der Verandatür und sah nach draußen. Es war schon dunkel und im Haupthaus waren die Lichter sehr zeitig erloschen.

Die Wolken hatten sich schon am Nachmittag verzogen, und so konnte man in einen sternenklaren Himmel sehen. Im Osten war der Himmel bereits tiefschwarz, im Westen durchzogen noch rubinrote Streifen den Horizont, die sich aufwärts violett verfärbten.

Jarod schob den dunkelroten Vorhang wieder vor das Fenster und schritt durch das Zimmer.

Es würde nicht mehr lange dauern, bis Kat kommen würde. Er musste sich jedes Wort genau überlegen, wenn er die ganze Wahrheit erfahren wollte.

Jarod hatte gestern Mittag noch lange an seinem Laptop gesessen. Er konnte es immer noch nicht fassen! Seit mehr als drei Wochen arbeitete er hier, um mehr über Kat herauszufinden, und dabei hatte er Jessy kennen gelernt. Zur gleichen Zeit hatte ihn Miss Parker gebeten, ihr bei der Suche nach einem ehemaligen Centerkind zu helfen, das inzwischen schon erwachsen war. Und da traf er hier, in Europa, wo er es niemals vermutet hätte, auf sie...

Es klopfte.

Mit wenigen Schritten war Jarod an der Tür und öffnete sie. Es war Kat.

"Hallo Kat", begrüßte er sie.

"Hi." Sie grinste und ging an ihm vorbei in die Wohnung. Ihre langen braunen Haare hatte sie zu einem Zopf geflochten.

"Oh, komm doch rein", meinte er und schloss die Tür.

"Ups, tut mir Leid, ich bin immer so ungestüm." Sie setzte sich auf die Couch und er ließ sich ihr gegenüber nieder.

"Davon merkt man allerdings nicht sehr viel." Er sah sie ernst an. Vielleicht war jetzt der Zeitpunkt gekommen, mit ihr über ihr Verhalten zu reden. Ihre Zurückgezogenheit.

Sie nickte. "Mmh, darüber möchte ich gerne mit dir reden..." Sie sah ihn vorsichtig an, und ihre Augen drückten Unsicherheit und Nachdenklichkeit aus.

"So etwas konnte ich mir schon denken", ermutigte er sie lächelnd, weiter zu reden.

"Also... Mmh, ich denke ich würde ganz schön Ärger mit M... Jessy kriegen." Sie sah ihn nicht an, und er konnte erkennen, dass sie nach den richtigen Worten suchte.

"Ich weiß", meinte er nur.

Sie sah auf, etwas verwirrt. "Wie meinst du das?"

Bevor er etwas sagen konnte, unterbrach ein Klopfen ihre Unterhaltung.

"Erwartest du noch jemanden?", fragte Kat, jetzt gänzlich verunsichert.

"Kat, ich weiß Einiges mehr, als du denkst. Bleib einfach hier sitzen, ok?" Er sah sie eindringlich an. Sie nickte stumm.

Jarod stand auf und ging zur Tür. Von der Couch aus konnte man nicht sehen, wer davor stand. Er vergewisserte sich, das Kat auch wirklich sitzen blieb und öffnete dann die Tür.

"Hallo Jessy", meinte er so laut, dass Kat es auch hören konnte.

"Hi Jarod." Sie grinste ihn an und ging an ihm vorbei in die Wohnung. Er hatte nicht die Gelegenheit, etwas zu sagen, da war sie schon im Wohnzimmer. Aber es kam nicht der erwartete erstaunte Ausruf. Er folgte ihr und sah, dass Kat verschwunden war.

Jessy setzte sich auf den Platz, auf dem Kat vorher gesessen hatte.

"Ich will dich ja nicht überfallen", grinste sie. "Aber du wolltest mit mir reden. Ich würde gerne wissen, wobei du meine Hilfe brauchst. Geht es um eines der Kinder?"

"Ja." Er hatte ihr kaum zugehört. Bestimmt war Kat im Schlafzimmer. Aber auch da würde sie keine Gelegenheit zur Flucht haben. Er seufzte.

"Kat, ich habe doch gesagt, du sollst sitzen bleiben! Komm wieder her...", rief er in Richtung Schlafzimmer.

"Kat?", fragte Jessy ungläubig. "Ist sie hier, oder willst du mich auf den Arm nehmen?"

Jarod ignorierte ihre Frage und ging zu seinem Zimmer. Noch bevor er dort war, öffnete sich die Tür und sie kam mit zusammengepressten Lippen heraus. Kat sah zu Jarod.

"Du hast ja alles abgesperrt!", meinte sie zugleich verteidigend und vorwurfsvoll.

"Ja, um genau das zu vermeiden." Er legte ihr die Hände auf die Schulter und führte sie zum Sofa. Widerwillig ließ sie sich neben Jessy nieder, sah sie nur kurz an.

Jarod hatte tatsächlich dafür gesorgt, dass man das Appartement nur durch die Tür verlassen konnte. Die Fenster waren verriegelt, ebenso die Veranda.

Er setzte sich wieder hin, gegenüber von Jessy und Kat. Jessy, die bisher nichts gesagt und nur mit großen Augen zugesehen hatte, blickte nun Jarod an.

"Was wird das denn? Ist Kat das Kind, über das du mit mir reden willst?" Sie schien schwer zu überlegen.

"Ja." Er wusste nicht, wie er es anfangen sollte.

"Jarod, das haben wir doch schon so oft." Sie wollte Zeit schinden.

"Aber diesmal geht es nicht nur um sie. Es geht um euch." Er beobachtete sie genau. Nach außen hin wirkte sie kühl und gelassen, aber er sah in ihren Augen, dass sie innerlich aufgewühlt war.

"Wie meinst du das?", fragte sie.

"Kat, was wolltest du mir vorhin erzählen?" Er sah dem Mädchen in die Augen.

"Es war nichts Wichtiges. Ähm, ich wollte nur..." Sie biss sich auf die Unterlippe. Mit ein bisschen Training würde ihr das demnächst nicht mehr passieren. Aber ob sie das überhaupt wollte?

"Kat, Jessy..." Er sah die beiden abwechselnd an. "Ich habe etwas herausgefunden." Er sah, dass sie beide unruhig wurden.

"Jessy Orphan. Das ist nicht dein richtiger Name." Er sah sie ernst an.

"Wie.. wie kommst du darauf?", fragte sie vorsichtig. Jarods Blick wurde fest und durchdringend.

"In Wirklichkeit kennst du deinen Nachnamen gar nicht. Du existierst auch gar nicht, zumindest nicht nach dem Gesetz! Du bist ein Versuchsobjekt des Centers in Blue Cove, Delaware. Man hat dich als Kind dorthin gebracht, um dich zu einem Pretender auszubilden, aber dank Catherine Parker konnte man dich dort wegbringen!" Er warf ihr diese Dinge mit harter Stimme an den Kopf.

Sie sah ihn geschockt an.

"Jarod, was... Woher willst du das alles wissen?" Ihr Blick wurde sehr unsicher, fast schon ängstlich.

"Und Kat ist auch nicht irgendein Kind, sie ist deine Tochter, und ebenso ein Pretender, wie du!" Er sah sie durchdringend an.

"Das ist nicht wahr!", sagte sie laut.

"Nein? Merkwürdig, dass ihr exakt die selbe Blutgruppe habt, und die Gene in eurem Blut die Gleichen sind."

"Woher willst du das wissen?", wiederholte sie sich.

"Erinnerst du dich an den Abend, an dem du dich geschnitten hast? Dein Blut war noch an dem Glas. Und Kats Blutprobe zu vertauschen, beim Erste-Hilfe-Kurs, das war nicht besonders schwer."

"Ich habe es aber bemerkt." Kat sah ihn offen an, und in ihren Augen glänzte leichter Stolz. "Als du uns die Probe unter dem Mikroskop gezeigt hattest. Es war Blutgruppe A positiv."

"Genau, und du und Jessy, ihr habt die seltenste Blutgruppe, die es gibt: AB negativ. Und ihr besitzt eine Besonderheit, die schwer nachzuweisen ist. Bestimmte Gene, die euch ermöglichen, jede Person zu sein, die ihr sein wollt." Er nickte.

Jessy wollte ihm widersprechen, aber er brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen.

"Und als ihr euch neulich am Waldrand getroffen habt, hast Kat dich zum Abschied mit Mum angeredet! Streite es nicht ab, Jessy!", meinte er, als sie den Mund aufmachte um etwas zu sagen. "Ich habe euch beobachtet. Ihr trefft euch sehr oft heimlich. Doch das ist nicht alles... Kein normales Kind liest Bücher über Quantenphysik und Integralrechnung oder ähnliche Sachen, wie Kat, und das in diesen Mengen! Niemand ist in der Lage, so lange zu Tauchen! Nur ein Pretender kann solche Dinge tun, mit etwas Training sogar weitaus mehr! Brauchst du noch

andere Beweise? Ich hätte da ein Fax von Raines, in dem dein Name, deine genetischen Daten und deine biologischen Daten stehen..."

"Jarod, was redest du da?", flüsterte sie, nicht in der Lage, ihren Blick von ihm abzuwenden. Dann fing sie sich und schüttelte den Kopf. "Was willst du von uns?"

"Jessy..." Seine Stimme wurde jetzt leiser, er sprach warm und sanft. "Ich möchte dir helfen. Ich möchte euch helfen! Es gibt Menschen, die euch suchen und für ihre Zwecke missbrauchen wollen." Er sah wieder Kat an. "Ich kenne diese Menschen besser, als du denkst. Sie suchen nicht nur dich - sie wollen auch mich haben."

"Jarod... Ich hatte gehofft, dass dieser Alptraum nie wieder kehren würde" Jessy schüttelte langsam den Kopf. Sie war wie betäubt. Wie hatte er es herausgefunden? Was hatte er damit zu tun? Noch ehe sie fragen konnte, begann Jarod, zu sprechen. Er hatte sich wieder beruhigt und sah sie fast schon um Verzeihung für seine Härte bittend an.

"Ich glaube, ich muss etwas weiter zurückgreifen", meinte er und stützte sich mit den Ellenbogen auf den Knien ab. "Eigentlich müsste ich zurück in meine Kindheit gehen." Er seufzte. Sie sah ihn aufmerksam an.

"Jessy, du fragtest mich, wo ich herkomme... Und ich sagte, ich war die meiste Zeit meines Lebens in Delaware gewesen. Du weißt doch sicherlich, was es mit dem Center auf sich hat?"

"Mmh." Jessy nickt, noch immer völlig benommen. Sie fühlte, dass Jarod nicht gegen sie spielte. "Aber ich weiß nicht, was du damit zu tun hast." Ihre Worte waren nur ein heiseres Flüstern.

"Das versuche ich die ganze Zeit." Er suchte nach Worten. "Jessy, das Center hat nach deinem Verschwinden nicht aufgegeben. Sie haben sich einfach einen neuen Pretender geholt. Sie haben mich geholt."

Jessy sog hörbar die Luft ein.

"Natürlich hat Catherine versucht, auch mich dort heraus zu holen, aber es ist ihr nicht gelungen. Sie wurde für einige dunkle Machenschaften des Centers missbraucht... und ermordet."

"Nein!", rief Jessy und sah ihn entsetzt an. "Nein, das glaube ich nicht!"

"Es ist aber so." Er sah auf den Boden, um nicht ihren schmerzvollen Blick sehen zu müssen und weiterreden zu können.

"Ich wurde fast mein ganzes Leben lang dort festgehalten, getrennt von meiner Familie, ohne jemals das Center verlassen zu dürfen. Erinnerst du dich noch an Jacob?" Er sah auf und blickte sie fragend an.

Sie nickte stumm. "Natürlich."

"Das, was er damals für dich werden sollte, wenn du noch da wärst, war sein Zwillingsbruder Sydney für mich."

"Ist Sydney... Dein Mentor gewesen?", fragte Jessy. Offenbar konnte sie sich doch noch ganz gut erinnern.

"Ja. Er hat meine Fähigkeiten als Pretender geschult und ich musste Simulationen durchführen. Für mich gab es nichts anderes. Mein Leben bestand aus Simulationen. Ich wusste nicht, dass das Center sie benutzt, um dreckige Geschäfte durchzuführen. Als ich es erfahren habe... bin ich geflohen."

Wieder sah er Jessy an.

"Wie hast du das geschafft?", wollte sie wissen.

Er zuckte mit den Schultern. "Ich weiß nicht. Es hat sich so ergeben... Das Einzige, was ich habe, ist ein Koffer voller DSAs und ein paar Fotos."

"Du hast DSAs vom Center erhalten?", fragte Kat ihn.

"Nein, ich habe sie mir geholt. Es ist schließlich mein ganzes Leben!" Er zeigte auf den silbernen Koffer, der unter dem Tisch lag.

"Mum hat auch DSAs. Catherine hat sie ihr gegeben." Kat sah sich den Koffer an.

"Es sind nicht viele. Ich war nur vier Jahre im Center." Jessy strubbelte Kat durch die Haare, immer noch verwirrt über diese plötzlichen Ereignisse.

Jarod nickte. "Nach meiner Flucht habe ich Vieles lernen müssen. Ich habe mich schuldig gefühlt, für all die Menschen, die sterben mussten, durch das, was ich mir ausgedacht hatte."

Jessy sah ihn mit einem Blick an, der halb ungläubig und halb mitleidig war. "Ich habe von Catherine Einiges über das Center gelernt, und immer ihren Anweisungen gefolgt. Aber ich habe nicht geglaubt, dass das Center wirklich zu solchen Dingen fähig sein könnte. Obwohl..." Sie schauderte.

Jarod erinnerte sich an etwas. "Das Center ist noch zu viel schlimmeren Dingen fähig. Weil ich ihnen nicht gut genug war, oder weil sie zu machthungrig waren, haben sie neue Projekte angelegt. Zum Beispiel Mirage. Ich bin nicht auf natürlichen Weg gezeugt worden. Meine Eltern waren in einer Befruchtungsklinik, die unter Aufsicht des Centers stand. Sie haben damals Eizellen meiner Mutter und Samenzellen meines Vaters eingefroren, und mit den Zellen meines Vaters Catherine Parker befruchtet."

Jessy saß schweigend da. Sie sah ihn an und kaute auf ihrer Unterlippe herum.

"Ich weiß", meinte sie schließlich.

Jarod sah sie erstaunt an.

"Catherine hat mir immer alles erzählt, fast alles, auch, als ich schon längst nicht mehr in den Staaten war. Ich weiß über Ethan Bescheid."

"Und das Projekt Gemini kennst du auch?" Er musste an seinen kleinen "Bruder" denken.

"Gemini? Nein... Nachdem sie mir von Ethan erzählt hatte, hatte sie sich nie wieder gemeldet. Ich dachte, es wäre zu gefährlich. Dass sie tot sein könnte, hatte ich nie vermutet." Ihr Blick verlor sich irgendwo im Raum.

"Raines hat sie nach Ethans Geburt... erschossen." Er sagte es leise und sah sie nicht an.

"Raines? Ich... kannte einen Raines", meinte sie ebenso leise.

"Ja, der Raines, der dich an Jacob überwiesen hat, der hat sie..." Er sagte es nicht noch einmal.

"Diesen... arrogante Fiesling habe ich nie gemocht." Es folgte eine Weile Stille. "Aber sag mal, woher weißt du von mir? Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Center es dir auf nie Nase gebunden hat... Und bist du deshalb hierher gekommen?"

Er schüttelte den Kopf. "Nein. Ich habe bis vor Kurzem nichts von deiner Existenz gewusst. Kat war der Grund meines Aufenthaltes hier."

Sie sah ihn fragend an.

"Seit ich ausgebrochen bin, helfe ich anderen Menschen. Ich möchte wieder gutmachen, was ich mit meinen Simulationen angerichtet habe. Und nach meinem letzten Job habe ich von Kat erfahren. Es hieß, sie habe keine Vergangenheit. Doch die kenne ich jetzt... Eigentlich wollte ich herausfinden, wer sie ist und wo sie herkommt, aber das lag wohl nicht ganz in eurem Interesse." Er grinste.

"Mmh." Jessy lächelte etwas. Kat grinste breit. Sie hielt sein rotes Notizbuch über den aktuellen "Fall" hoch.

"Interessant. Ich kann dir einige Lösungen geben. Meinen Namen kenne ich nicht, mein Geburtstag ist der 28. 12. 1987... Jessy hat hier angefangen zu arbeiten, kurz bevor ich herkam, was alles Teil ihres Plans war, mir eine sorgenfreie Zukunft zu bieten, ohne, dass jemand auf mich aufmerksam werden würde: Als ich zwei Jahre alt war, legte sie mich vor die Tür des Heimes, mit einer Nachricht und 500 Pfund. Auf das Konto, dessen Nummer mit auf dem Zettel stand, zahlt sie monatlich Geld für mich ein. Und hier im Heim weiß niemand, dass sie meine Mutter ist." Sie grinste immer noch und Jarod musste lachen. So einfach war das...

"Ok, so weit so gut!", meinte Jessy. "Aber du hast mir immer noch nicht gesagt, woher du das alles weißt!"

"Das ist schon etwas komplizierter." Jarod seufzte. "Ich bin jetzt seit fast fünf Jahren frei. Mehr oder weniger... Das Center hat eine Person darauf angesetzt, mich zu jagen: Miss Parker, die Tochter von Catherine Parker. Wir haben als Kinder im Center zusammen gespielt und..." Er stockte. "Nach meiner Flucht habe ich nie den Kontakt zum Center abgebrochen. Dank meiner Fähigkeiten ist das nicht sehr gefährlich. Auch mit Sydney telefoniere ich ab und zu."

Jessy sah ihn fragend an.

"Vielleicht verstehst du das nicht, aber ich brauche die Verbindung, um etwas über mich, meine Familie und meine Vergangenheit herauszufinden. Ich suche seit fünf Jahren nach meiner Familie."

"Ich habe selbst nie nach ihr gesucht, weil Catherine mir nichts darüber geben wollte... Aber ich kann dich verstehen. Hast du sie gefunden?"

"Mit meinem Vater und meiner Schwester habe ich regelmäßigen Kontakt. Ethan ist untergetaucht, nachdem Parker und ich ihn sozusagen aus dem Center befreit haben. Und mein Bruder Kyle... Ich habe ihn nur kurz gekannt. Er war genau wie ich in den Fängen des Centers, und auch er konnte entkommen. Aber er wurde von Raines Kugel getroffen, als er mir das Leben retten wollte." Bitterkeit schwang in seiner Stimme mit.

Jessy nickte.

"Du erwähntest vorhin ein Projekt namens Gemini...", fing Kat an.

"Ach ja, Gemini. Das ist das Sternzeichen Zwilling."

Jarod stand auf und ging in die Küchenzeile. Er nahm drei Gläser aus dem Regal und füllte sie mit Mineralwasser. Dann ging er zurück zu den anderen Beiden und stellte die Gläser auf den Tisch. Jessy nahm sich eines und setzte es an die Lippen. Jarod fuhr fort.

"Es handelt sich bei Gemini um ein Genprojekt. In einem Labor weit oben im Norden haben sie meine DNA entschlüsselt und nachdem sie es geschafft hatten... Haben sie mich geklont."

Jessy verschluckte sich beinahe an ihrem Wasser.

"Wie bitte? Mit der heutigen Technik ist klonen doch unmöglich!" Sie sah ihn erstaunt an.

Er schüttelte den Kopf. "Im Center ist nichts unmöglich. Sie sind den Forschungen weit voraus, weil sie gegen alle Gesetze Gott gespielt haben. Nicht einmal die vielen Fehlschläge haben sie davon abgehalten, einen eigenen Pretender aus den Eizellen meiner Mutter und den Samenzellen meines Vaters zu bauen."

Jessy schüttelte sich, bei dem Gedanken an die "Fehlschläge".

"Hat einer... überlebt?" Sie fragte das sehr leise und vorsichtig.

Jarod nickte. "Ich hatte gerade meinen Vater getroffen - das erste Mal - und er wollte, dass ich die Verbindung zum Center trenne. Aber ich war Gemini auf der Spur..." Er nahm sein Glas und trank einen Schluck. Dann ließ er es wieder auf den Tisch sinken.

"Schließlich haben wir eine weitere Forschungsstation entdeckt: Donaterase. Dort befand sich das Projekt bis dahin. Ich kam mit meinem Vater hinter das Geheimnis, und stand dem Klon gegenüber. Es war unglaublich, er sah genauso aus, wie ich! Heute weiß ich allerdings, dass seine Augen grün sind. Warum auch immer..."

"Wieso weißt du das, hast du ihn noch einmal gesehen?" Jessy drehte ihr Armband nervös zwischen den Fingern hin und her.

"So kann man es auch sagen... Es ist meinem Dad und mir gelungen, ihn zu befreien. Jay lebt heute bei Major Charles." Er seufzte leise. Es war alles so kompliziert geworden.

"Major Charles? Ist das nicht ein Freund von Catherine Parker?" Sie sah zu ihm auf.

"Er ist mein Vater", meinte Jarod, erstaunt, dass sie ihn kannte.

"Major Charles ist dein Vater?", hakte Jessy nach. "Das hätte ich nicht gedacht..."

"Wieso?", wollte er wissen.

"Catherine wollte mich erst zu ihm bringen, nachdem sie mich befreit hatte. Es war dann aber zu riskant."

Jarod nickt. "Man verfolgt ihn heute noch."

Kat hatte die ganze Zeit schweigend zugehört.

"Jarod, was willst du jetzt tun?", fragte sie ihn nun.

Er blickte zu ihr auf. "Wie meinst du das?"

"Na ja, du bist hierher gekommen, um etwas über mich herauszufinden. Die Dinge haben sich nun geändert... Es hält dich doch nichts mehr hier."

Er lachte. "Stimmt, daran habe ich noch gar nicht gedacht." Er sah sich in seinem Appartement um. "Aber du hast nicht ganz Recht..."

Sie sah ihn fragend an.

"Es gibt noch Dinge, die mich hier halten." Er legte den Kopf leicht schief. "In all den Jahren habe ich viele dreckige Geschichten des Centers ausgegraben. Nicht nur Dinge, die mich betrafen, auch Miss Parker ist darin verwickelt. Und jetzt das hier... Ich muss wissen, was Catherine mit euch zu tun hatte, und wo du hergekommen bist. Vielleicht... können jetzt die Geheimnisse des Centers aufgeklärt werden."

"Jarod!", rief Jessy. "Das geht mich aber nichts mehr an. Ich will damit nichts zu tun haben!"

Er zog die Augenbrauen hoch. "Warum nicht?"

"Ich habe keine Lust, Kat irgendwelchen sadistischen Psychopaten auszuliefern. Dann hätte ich sie nicht hier rein zu schmuggeln brauchen!" Sie schüttelte energisch den Kopf.

"Jessy, Kat kann doch nicht ewig so leben! Sie langweilt sich, das sehe ich. Und hier kannst du ihr nicht das bieten, was sie braucht."

"Ihre Sicherheit ist wichtiger, als ihre Neugierde!" Jessy sah Kat kurz an.

"Mum, Jarod hat Recht. Es kann doch nicht so weitergehen, bis ich alt und grau bin. Vielleicht kann Jarod mich besser trainieren, er hat viel mehr Erfahrung." Kat sah ihre Mutter bittend an.

"Vielleicht könnte er das, ja. Aber du sollst kein Pretender werden, nur, um dann in die Fänge des Centers zu geraten." Jessy presste ihre Lippen aufeinander und schien innerlich mit sich zu ringen. "Es ist besser, wenn Jarod wieder in die Staaten fliegt. Solange er Kontakt zum Center hat, ist er eine Gefahr für uns."

"Mum, Jarod ist ein ausgebildeter Pretender! Ich weiß genug über dieses seltene Phänomen, auch, wenn du es immer vor mir geheim halten wolltest. Ich komme auch allein in die Bibliothek!" Kats Blick wurde eindringlicher.

"Du kannst diese Begabung nicht stoppen! Und sieh doch, was Jarod macht, er nutzt sein Talent, um anderen zu helfen. Wenn wir ihm nicht vertrauen können, wem dann?"

Jessy seufzte. "Ich vertraue Jarod, das habe ich von Anfang an..." Sie sah ihn mit einem warmen Lächeln an, doch gleich darauf trat wieder die Spannung in ihr Gesicht. "Aber ich möchte nicht zurück und in die Nähe des Centers. Catherine hat mir das immer wieder gesagt!"

"Jessy, die Zeiten haben sich geändert. Wir könnten etwas über deine Eltern herausfinden! Und ich könnte dir helfen, Kat zu trainieren. Gemeinsam wird es sicherlich leichter sein." Er grinste. "Und wenn wir uns zusammentun, werden wir vielleicht deine Familie finden."

Jessy stutzte. Ihr Blick heftete sich durchdringend und fragend an Jarod.

"Du... könntest wirklich etwas über meine Eltern herausfinden?" Zweifel trat in ihre Augen.

Jarod nickte. "Und mit deiner Hilfe würde es schneller gehen."

Sie sah zu Boden und ihre Augen wanderte unruhig hin und her.

Nach einigen Sekunden Totenstille sah sie schließlich auf. "Also gut, Jarod."

Kat und Jarod sahen sie gleichzeitig an.

"Ich... komme mit in die Staaten. Aber nur, wenn du mir garantieren kannst, dass Kat nichts passieren wird!"

Sie wusste so gut wie er, dass es keine Garantie gab. Dennoch nickte er.

"Ich werde alles tun, damit niemand eine Verbindung zwischen ihr und dem Center entdeckt. Nicht über dich, und nicht durch ihre Fähigkeiten." Er sprach warm und sanft. Nie hätte er gedacht, so weit zu kommen. Er hatte nicht einmal wirklich geglaubt, dass sie es alles zugeben und nicht einfach flüchten würde. Und jetzt war sie vielleicht sogar bereit, mit in die Staaten zu kommen und den letzten Staub im Center aufzuwirbeln.

Jessy nickte langsam. "Ich... brauche jetzt etwas Zeit zum Nachdenken."

Dann stand sie auf und ging Richtung Tür.

"Komm Kat", meinte sie und bedeutete ihrer Tochter, dass es Zeit fürs Bett war.

Murrend verabschiedete sich Kat von Jarod und ging zu dem Haus, in dem ihr Zimmer war. Jessy und Jarod blieben im Türrahmen stehen. Jessy grinste und schüttelte kurz den Kopf. Jarod sah sie mit ernstem Blick an.

"Jessy, vor einer Stunde hast du gedacht, ich will mit dir über irgendein winzig kleines Problem reden. Und jetzt stelle ich dein ganzes Leben auf den Kopf... Ich weiß auch nicht, weshalb du mir vertraust."

"Deshalb...", flüsterte sie, zeigte auf seine Augen und drehte sich um. Noch ehe er etwas sagen konnte, hatte sie ihre Wohnungstür hinter sich geschlossen und ihn verwundert zurückgelassen.

Jarod ließ die Tür ins Schloss fallen und setzte sich an seinen Tisch. Er musste noch etwas erledigen... Der Laptop surrte kurz, als Jarod ihn hochfuhr.
 

Ende Teil 5

Titel: Bambino Fingono

Autor: ZoeP

Rating: PG-13

Categories: R, A

Spoiler: Staffel 1-4 (die Filme nicht)

Short-Cut: Jarod versucht, mehr über seine Vergangenheit zu erfahren und krempelt dabei nicht nur das Centre gewaltig um...

Pairing: Alle ;-)

Disclaimer: Die Charas von Pretender und die Vorgeschichte gehört nicht mir. Jedoch ist der gesamte Inhalt, den ich hier fabriziert habe, mein geistiges Eigentum.

E-Mail: janni@feix-jena.de

Anmerkung: Ich möchte mich für die viel zu lange Pause entschuldigen und verspreche euch Besserung. Hoffentlich gefällt euch die Fortsetzung ;-)
 

Bambino Fingono

von ZoeP
 

Teil 6
 

Der Himmel vor ihr war noch graublau, erst allmählich zeigten sich die violetroten Nebelschleier rechts von ihr und kündigten die Sonne an. Vor sich sah sie eine endlos lange, graue Straße. Neben ihr lagen nur unendliche Weiten, ausgefüllt mit aschgelben Feldern, auf denen der Wind das Getreide verwehte.

Miss Parker rieb sich müde die Augen und sah kurz in den Rückspiegel. Rote Ringe zeichneten sich unter den Lidern ab, die Pupillen waren geweitet und die Iris hatte ihre Farbe verloren. Der Blick verlor sich gläsern in der Ferne.

Das schwarze Auto hielt am Straßenrand. Miss Parker stieg aus und lehnte sich an die Motorhaube. Sie streckte sich ausgiebig und breitete dann eine Landkarte auf der Motorhaube aus. Sie hatte mehr geschafft, als sie geplant hatte. Eigentlich brauchte sie dringend eine Pause, aber noch hatte sie die Grenze nicht überquert. Am Liebsten hätte Parker sich jetzt ein Hotelzimmer genommen und zehn Stunden durchgeschlafen. Aber das Risiko, gefunden zu werden, war zu groß. Ihr Tank war auch nicht mehr besonders voll, auf flacher Straße würde er vielleicht noch fünfzig Meilen schaffen. Sie seufzte und faltete die Karte wieder zusammen.

Im Wageninneren schlief das Kind. Fast die ganze Nacht hatte es geschlafen, während sie sich am Steuer mühsam wachgehalten hatte. Die ganze Zeit nur die dunkle Straße, die regelmäßigen weißen Markierungen auf dem Asphalt, die in gleichen Abständen an ihr vorbeizogen und sie nur noch müder machten... So gut wie nie war ihr ein Auto entgegengekommen, der Höhepunkt ihrer Begegnungen war ein Truck gewesen. Die Musik konnte sie nicht anschalten, weil sonst vielleicht das Kind, welches so artig auf dem Rücksitz schlief, als wüsste es, in was für einer Situation Miss Parker sich befand, aufwachen könnte. Nur einmal war es aufgewacht und hatte nach einem Fläschchen verlangt.

Andere Kinder im Alter von acht Monaten machten erste Sprechversuche und übten sich im Krabbeln. Aber das jüngste Familienmitglied der Parkers war kein normales Kind, es wurde von Anfang an wie ein Projekt behandelt. Wie Jarod, dachte Miss Parker bitter.

Den Schwestern war es nicht erlaubt, in der Gegenwart des Kindes zu sprechen, und auch ihre Besuche bei Baby Parker waren unerwünscht gewesen, doch sie hatte es sich nicht nehmen lassen. Das Kind lag den ganzen Tag in seinem Bettchen, wenn es schrie, wurde es gefüttert oder gewickelt, und wenn es dann immer noch nicht leiser wurde, überhörte man es einfach. Miss Parker lief eine Gänsehaut den Rücken herunter, bei dem Gedanken daran, dass es hätte ermordet werden sollen.

Und tiefste Abscheu gegenüber ihrem Vater erfüllte sie. Sie hatte ihm jahrelang vertraut und geglaubt, nach seiner Anerkennung gestrebt und sich stets bemüht, es ihm recht zu machen. Und was hatte sie geerntet? Nichts als Ablehnung, Missachtung und harte Worte.

Miss Parker musste das ungute Übelgefühl in ihrem Magen unterdrücken, dass sich heranbahnte.

Immer noch unglaublich müde setzte sie sich wieder in ihr Auto und drehte den Zündschlüssel herum. Sie drückte das Gaspedal durch und fuhr weiter in Richtung Norden.

Bis zur Grenze waren es noch etwa hundertfünfzig Meilen. Danach konnte sie sich endlich etwas Schlaf gönnen... Ihr Handy klingelte, und sie nahm ab.

"Was?", fragte sie müde.

"Miss Parker? Hier ist Sydney... Ich habe keine Zeit, mich mit höflichen Floskeln aufzuhalten."

"Dann tun Sie es auch nicht."

"Also gut: Ihr Vater hat letzte Nacht ihr Haus durchsuchen lassen, ist jedoch auf nichts Brauchbares gestoßen. Jedenfalls war seine Laune sehr schlecht. Er hat mehrere Sweaperteams nach Norden und Süden geschickt. Sie fliegen mit Höchstgeschwindigkeit und suchen vor Allem die Landstraßen ab. Seien Sie vorsichtig!" Er räusperte sich kurz.

"Danke Syd." Sie bemühte sich gar nicht erst, wach zu klingen, es wäre ihr so oder so nicht gelungen.

"Ach, und Miss Parker?"

"Was?"

Es trat eine kurze Stille ein. Schließlich räusperte sich Sydney ein zweites Mal.

"Broots ist der Sache mit den Orten weiterhin auf der Spur."

"Danke", wiederholte sich Parker. "Ich melde mich."

"In Ordnung. Viel Glück. Vielleicht schaffen Sie das, was ihre Mutter nicht mehr erreichen konnte."

Parker horchte auf. "Und das wäre?"

"Kinder aus den Fängen des Centers zu retten." Er schwieg.

"Vielleicht, Sydney. Passen Sie auf Broots auf."

Ehe Sydney noch etwas sagen konnte, unterbrach Miss Parker die Verbindung. Sie schaltete das Handy ganz aus. Daran hätte sie viel eher denken sollen, das Center könnte sie orten, wenn sie es anlassen würde. Ihre einzige Hoffnung war die Grenze.

Sie sah auf ein Schild. Zwanzig Meilen bis zur nächsten Tankstelle. Gut.

***

"Ok. Schließ die Augen." Seine Stimme war warm und weich.

Es roch nach Honig und Blüten. Der Duft benebelte sie und sie hatte das Gefühl, jeden Moment einzuschlafen.

"Was siehst du?"

Wieder sprach er leise und warm

"Es ist dunkel. Beängstigend dunkel. Ich vermisse sie so."

"Ist da sonst noch etwas?" Eine kurze Pause trat ein, und auf Jessys Stirn bildeten sich Falten.

"Nein", meinte sie schließlich. "Da ist nichts. Ich bin alleine und es ist dunkel. Ich sitze auf dem Boden und frage mich, was ich hier soll."

"Geh weiter in deinen Gedanken. Wie lange bist du dort?" Wieder trat Stille ein. Dann atmete sie schneller.

"Ich weiß nicht. Ich habe jedes Gefühl für Zeit verloren. Und ich habe Hunger. Ich spüre, dass da etwas nicht stimmt. Catherine würde mich hier nie alleine lassen."

Jarod ließ ihr kurz Zeit, tiefer darüber nachzudenken, dann fuhr er fort. "Was passiert jetzt?"

"Jemand betritt den Raum. Ich kann ihn nicht erkennen, es ist immer noch alles dunkel. Aber ich weiß, dass er nichts Böses will."

"Ist es Catherine?"

Jessy schüttelte den Kopf. "Ich weiß nicht, nein."

"Und Jacob?"

Diesmal nickte sie, erst langsam und dann erhellte sich ihre Miene. "Ja. Er nimmt mich auf den Arm und bringt mich irgendwohin. Es ist immer noch dunkel. Ich spüre einen Stich, und dann werde ich so müde. Sie haben mich betäubt. Aber sie wollen mir nichts Böses."

"Sie?", fragte Jarod nach.

Jessy nickte wieder. "Da ist noch jemand. Ein Junge."

"Wie heißt er?", wollte Jarod wissen.

"Ich weiß es nicht. Ich bin so müde. Ich sehe nichts mehr. Ich höre auch nichts mehr." Jessy fuhr sich mit den Händen durch die Haare.

"Was passiert, als du wieder aufwachst?", fragte er weiter.

"Ich bin in einem Raum. Und da ist Licht. Auf dem Tisch steht etwas zu Essen. Ich sehe mich um... Und da ist Jacob! Er lächelt mich an und meint, ich solle aufstehen. Ich gehe zu dem Tisch und esse ein bisschen. Aber eigentlich habe ich keinen Appetit. Es sind zu viele Fragen in meinem Kopf, manche an Jacob. Er hockt sich zu mir hin und meint, wir würden uns eine Weile nicht wieder sehen. Wir reden ein bisschen. Irgendwann kommt Catherine. Ich habe sie so vermisst!"

Jessy lief eine Träne über die Wange. Jarod würde sie ihr so gerne wegwischen, aber das könnte die Hypnose gefährden.

"Und dann?", gab er ihr einen Anstoß, weiter zu erzählen.

"Sie nimmt mich mit. Ich soll weggebracht werden. Zu einem ganz lieben Menschen, sagte sie. Ich erinnere mich..." Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

"In Ordnung, Jessy. Ich glaube, das reicht. Komm jetzt wieder zurück." Er legte ihr eine Hand auf den Arm. Sie öffnete die Augen und sah Jarod an. Er hatte ihr gerade geholfen, einige der wenigen Situationen wieder in ihr Gedächtnis zu rufen, an die sie sich nicht mehr erinnern konnte. Es hatte so gut getan, Catherine zu sehen, wenn es sich auch nur im Kopf abgespielt hatte. Jessy atmete tief durch.

"Ich weiß, wo ich dann war. Und diese Erinnerung von eben, ich kenne sie auch von einer DSA, die mir Catherine gegeben hat. Es ist aber ein Unterschied, ob man sich nur sieht, oder auch die Gefühle von damals hat."

Jarod nickte langsam. "Ja. Das war ganz gut, für den Anfang."

Jessy grinste. "Man wird nicht jeden Tag hypnotisiert."

"Stimmt." Er musste lachen, weil sie die ganze Sache so locker nahm.

"Was ist?", fragte sie ihn daraufhin.

Jarod schüttelte den Kopf. "Nichts, ich verstehe nur nicht, warum du das alles so einfach hin nimmst, so locker siehst."

Sie sah ihn überrascht an. "Tue ich das?"

"Es macht zumindest den Eindruck."

"Na ja..." Sie kaute auf ihrer Unterlippe. "Es ist immerhin schon eine ganze Weile her. Fast achtunddreißig Jahre, um genau zu sein." Sie schmunzelte ein bisschen. "Und es bringt mir ja doch nichts, mich über Vergangenes aufzuregen. Wenn ich mein ganzes Leben nur dem Geschehenen nachgetrauert hätte, wäre es mir sicherlich nicht gelungen, Kat zu beschützen."

Sie zuckte resignierend mit den Schultern. Und Jarod musste ihr Recht geben. Er hatte nie die Verantwortung für eine andere Person tragen müssen, nicht direkt. Ja, er fühlte sich irgendwo für Miss Parker verantwortlich, aber das konnte man nicht vergleichen. Auch das Gefühl, die Verantwortung für all die Simulationen und die misshandelten Menschen zu tragen, stand nicht auf einer Ebene mit der Verantwortung für ein eigenes Kind.

"Warum habe ich nur immer das Gefühl, dass du niemals aufhören kannst, über deine Vergangenheit nachzudenken?", meinte sie kopfschüttelnd und ihr Mund verzog sich zu einem frechen Grinsen.

"Damit muss man bei mir klarkommen", erwiderte er und grinste zurück.

Plötzlich wurde Jarod ernst. Ein Gedanke war ihm gekommen, etwas, das ihn interessiert hatte, seit er wusste, dass sie ein Pretender war und kurze Zeit im Center gelebt hatte. Eigentlich brauchte er nur Bestätigung.

"Jessy?", fragte er sie, und die Angesprochene hob rasch den Kopf und sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. "Ja?"

"Wie ist es eigentlich weitergegangen?"

"Weitergegangen... was?" Sie drehte sich um und blies energisch die Duftkerzen aus. Für Hypnose waren sie ja ganz gut, aber nicht, wenn man ein vernünftiges Gespräch führen wollte. Als sie ihn wieder ansah, sprach er weiter.

"Ich meine, als du nicht mehr im Center warst? Wo hat Catherine dich hingebracht?" Er wusste nur, dass sie nicht lange in Amerika geblieben war.

"Nach Europa." Sie zuckte mit den Schultern.

"Das wusste ich auch schon...", grinste er. "Ich meine davor. Als du noch in den Staaten, aber nicht mehr im Center warst. Da musst du ja irgendwo gewesen sein."

"Jarod, du hast da doch einen Verdacht!", meinte sie mit einem amüsierten Unterton in der Stimme.

"Jaaah...", erwiderte er gedehnt. "Aber ich möchte es gerne bestätigt haben.

"Ich werde es dir aber nicht sagen." Sie sah ihn mit schief gelegtem Kopf an.

"Nein?" Er blickte sie erstaunt an. "Wieso nicht?"

"Weil es unser Geheimnis war. Das von Catherine und mir." Sie lehnte sich geheimnisvoll lächelnd zurück und schlug die Beine übereinander.

"Ah." Mehr fiel ihm nicht ein.

Eine Weile schwiegen sie. Jarod wusste nicht, was er sagen oder fragen sollte. Und Jessy schien über etwas nachzudenken. Er beschloss, die neusten Nachrichten vom Center zu checken.

***

"Tut mir Leid, Ma'am, so etwas bekommen Sie hier nicht", gab ihr der Tankstellenwärter Auskunft.

"Vielen Dank", zischte sie zurück.

Der Mann mit dem drei-Tage-Bart und dem blauen Heimwerker Outfit zuckte mit den Schultern. "Brauchen Sie mich nicht anmurren, wenn Sie Probleme mit ihrem Kind haben. Und übrigens haben Sie furchtbare Augenringe. Schlaflose Nacht, was?"

Wut staute sich in ihrem Magen auf. Was bildete sich dieser Schnösel denn ein? Parker schluckte den Flammenball in sich herunter und sah den Mann hinter der Theke nur mit einem eiskalten Blick an.

"Was macht das dann, Mr. Blueman?", fragte sie kalt und kramte Geld aus ihrer Hosentasche. Früher hätte sie das nie getan, Geld in der Hosentasche lassen, aber es hatte alles so schnell gehen müssen, und sie hatte es nicht mehr geschafft, ihr gesamtes Kleingeld in eine vernünftige Brieftasche zu tun.

"Achtundsiebzig Dollar fünfzig, Ma'am." Der schmierige Typ grinste breit und streckte ihr eine Hand entgegen.

"Was?", keifte sie. "Das ist Ausbeutung!"

"Nein, das ist Geschäft! Schließlich sind wir die einzigste Tankstelle im Umkreis von dreiundsiebzig Meilen." Sein Grinsen wurde breiter, als sie das Geld abzählte und ihm vier Zwanzig-Dollar-Scheine auf die Theke knallte.

"Oh, so viel Trinkgeld? Wie großzügig." Er griff nach dem Geld, aber Miss Parker hielt seine Hand fest.

"Nichts Trinkgeld. Ich bin heute hochexplosiv, und wenn sie mich nicht bei einer Detonation erleben wollen, dann bekomme ich jetzt auf der Stelle einen Dollar und fünfzig zurück!" Sie sah ihm direkt in die Augen, und durchbohrte ihn mit ihrem Blick.

"Schon gut, schon gut... Ich, ähm, hier... bitte sehr...", stotterte der Typ verblüfft und reichte ihr das Wechselgeld. Damit hatte er bei dieser ungewöhnlichen Kundin nicht gerechnet. Sie sah zwar kalt aus, aber nicht so hart.

Miss Parker verließ wutentbrannt den kleinen Laden und stakste zu ihrem schwarzen Auto. Als sie ihre Autotür aufgemacht, sich hinein gesetzt und den Schlüssel ins Zündschloss gesteckt hatte, war ihr Zorn jedoch schon wieder einigermaßen verflogen.

Irgendwo konnte sie diesen Typen verstehen. Welche Frau mit Minirock, Lederjacke und Stiefeln kam schon in eine Provinztankstelle und verlangte nach Windeln? Das erste was sie ihn Kanada tun würde, war nach einem Laden zu suchen, in dem es - verdammt noch mal - Windeln gab.

Sie musste beinahe lachen über den Tankstellenwärter. Was musste sie wohl für einen Eindruck auf ihn gemacht haben? Wenn das Center ihn befragen würde... Oh je. Und sie hatte nach Babyutensilien gefragt, wie clever!

Seufzend legte Miss Parker den Rückwärtsgang ein und fuhr los.

Siebzig Meilen noch bis in die Freiheit. Es war so absurd. Sie war jetzt frei, und gleichzeitig so gefangen wie Jarod. Baby Parker war gerade mit dem Versuch beschäftigt, sich hinzusetzen, was allerdings mit jedem Huckel wieder zunichte gemacht wurde. Das Center würde sie und ihren kleinen Bruder genauso jagen und suchen, wie sie es selbst bei Jarod getan hatte.

Doch das musste sie in Kauf nehmen. Für das letzte Mitglied ihrer Familie, das seine Seele noch nicht dem Center verschrieben hatte. Für ihren kleinen Bruder, Baby Parker.

Wieder kam ihr der Gedanke, dass er ja noch gar keinen Namen hatte. Verblüfft stellte sie fest, das er überhaupt keine Identität hatte. Es würde äußerst schwer sein, ihm eine zu besorgen, sie besaß keine Geburtsurkunde, nichts... Parker war sich nicht einmal sicher, dass es überhaupt eine gab. Baby Parker war ein Projekt, und kein Mensch mit Namen und Geburtstag.

Sie würde sich etwas einfallen lassen müssen. Nicht nur einen Namen, sondern auch einen Weg, ihm eine Zukunft zu bieten, die weder sie an das Center erinnerte, noch ihn in Gefahr brachte. Seufzend blickte sie auf die Straße und konzentrierte sich wieder ausschließlich auf den Verkehr, der eigentlich nirgendwo zu sehen war.

***

Der Bildschirm flimmerte vor seinen Augen und ein kleines Fenster verkündete ihm, dass er keine neuen Nachrichten erhalten hatte.

"Und?", fragte Jessy und beugte sich über seine Schulter.

Jarod schüttelte den Kopf. "Nichts."

"Also noch mal zum Mitschreiben... Du hast dreißig Jahre dort verbracht, es war die reine Hölle und du warst froh, nein, unglaublich erleichtert, als du deine Freiheit hattest. Und dennoch hältst du die Verbindung zum Center aufrecht, nur wegen deiner Familie? Ich verstehe das immer noch nicht so ganz!" Jessy lehnte sich an seinen Tisch im Schlafzimmer, auf dem er den Laptop stehen hatte.

"Es ist nicht so einfach, wie du denkst."

"Ich dachte auch gar nicht, dass es einfach sein könnte", meinte sie trocken. Dann ging sie zum Fenster und schob den Vorhang etwas beiseite. Ihr Blick schweifte nach draußen.

Seufzend drehte Jarod sich zu ihr um.

"Ich kann ohne das Center nicht besonders viel über meine Familie herausfinden. Es ist sozusagen meine einzige Quelle. Sie wissen alles über mich und meine Abstammung. Sie kennen mich fast besser, als ich mich selbst!" Er machte eine kleine Pause.

"Und außerdem sind das noch Sydney und Miss Parker. Sydney ist keiner der centertypischen Menschen, die nur die Karriereleiter im Auge haben. Er hat mir sehr geholfen, in der Zeit, die ich dort verbracht habe. Er ist etwas... ganz Besonderes." Jarod schwieg bei dem Gedanken an seinen Mentor. Wie es ihm wohl ging?

"Und was ist mit dieser Miss Parker? Du hast sie schon ein paar Mal erwähnt..." Sie kam wieder zurück zu seinem Tisch und stützte sich rücklings mit den Händen auf der Platte ab.

"Sie ist die Tochter vom Leiter des Centers, Mr. Parker." Er sah sich seinen Bildschirm an. Hatte sie seine Mail noch nicht bekommen? Und warum schrieb Angelo ihm nicht?

"Ja und?" Jessys wurde langsam ungeduldig. Ohne sie anzusehen antwortete er ihr.

"Sie war das erste Mädchen, das ich je gesehen habe. Als wir noch Kinder waren, haben wir oft im Center gespielt und..." Er verstummte. Nein, das brauchte sie nicht zu wissen.

"Ich habe sie sehr gemocht. Irgendwann gab es einen... Zwischenfall. Danach haben wir uns nicht wiedergesehen." Seine Stimme wurde monoton und ein bisschen von Traurigkeit verfärbt. "Als wir erwachsen waren, haben wir und mehr uns mehr von einander entfernt. Und nach meiner Flucht war es dann sowieso ganz anders."

"Mmh." Jessy hatte ihm aufmerksam und schweigend zugehört. "Soweit komme ich mit. Aber für mich wäre das kein Grund, den Kontakt zu halten." Sie wollte es unbedingt verstehen. Jarod schüttelte leicht lächelnd den Kopf. Sie hatte Recht, das alleine war auch nicht der Grund. Es gab so Vieles, das Jessy nicht wusste.

Parker hatte ihm seinen ersten Kuss gegeben. Sie hatten eine schöne Zeit gehabt, im Center, und sie war im näher gewesen, als je ein anderer Mensch. Jarod sah Jessy an.

"Anfangs war es das auch nicht, ich habe mich in der Welt so gut wie gar nicht ausgekannt. Ich habe oft mit Sydney telefoniert, er hat mir immer geholfen. Und irgendwann habe ich auch Miss Parker angerufen. Sie war meine Jägerin, und ich hatte eine Menge Fragen an sie. Außerdem ist es ein lustiges Spiel."

Jessy nickte. Darauf wollte sie hinaus.

"Nach welchen Regeln wird denn dieses... Spiel gespielt?" Sie grinste wieder.

"Nach meinen", meinte er prompt.

Sie sah ihn an und fing an zu lachen. Nach einiger Zeit, in der sie sich wieder beruhigt hatte, stellte sie schließlich etwas fest, das viele vor ihr schon bemerkt hatten.

"Jarod, du bist manchmal wie ein kleines Kind! Das ist doch total verrückt."

"Wieso?", wollte er wissen.

"Ich habe eine Tochter, die sich ständig wie eine Erwachsene benimmt, immer und überall alles wissen will und ihre Neugierde nur schwer zurückhalten kann. Und auf der anderen Seite habe ich einen Freund, der eigentlich erwachsen sein sollte, sich aber wie ein Kind benimmt."

Jarod schmunzelte. So betrachtet hatte sie Recht und es war ziemlich amüsant.

Jarod drehte sich zu seinem Laptop um und tippte etwas ein. Jessy beugte sich über seine Schulter und sah aufmerksam zu.

"Du hackst dich in die Centerdatenbank?"

"Mmh." Er ließ seine Finger über die Tasten fliegen und stoppte schließlich. "Nicht direkt. Ich kontaktiere einen Freund."

Jessy sah ihn überrascht an. "Du hast Freunde im Center?"

"Einen, ja. Er heißt Angelo und wenn ich wissen möchte, was gerade vor sich geht, brauche ich bloß ihn zu fragen."

"Ach ja? Und was geht gerade vor?" Sie grinste. Jarod war doch immer wieder für eine Überraschung gut.

"Sieh doch selbst." Jarod lehnte sich zurück und gab ihr somit die Sicht frei.

"Wer ist das denn?", meinte Jessy und zeigte auf den Bildschirm. Eine Person lief auf und ab, gezeichnet von vielen kleinen grauen Streifen.

"Das ist Raines, aufgenommen vor einem Jahr." Jarod grinste und beobachtete Jessy. Sie sah fasziniert auf den Bildschirm. Jarod wusste schon sehr viel über sie, auch, dass sie eine Pretenderausbildung "genossen" hatte. Catherine hatte das veranlasst, damit Jessy sich später einmal selbst schützen könnte. Es war nicht so eine hartes Training gewesen, aber ihre Fähigkeit war stark ausgeprägt.

"Dieses alte Ding da..." Sie verzog ihr Gesicht zu einer abfälligen Grimasse. "Das ist Raines? Aber der hängt ja an einer Sauerstoffflasche!" Sie schien sich nicht entscheiden zu können, ob sie lachen oder weinen sollte. Raines hatte immerhin die einzige Person umgebracht, zu der sie je einen vertrauten Bezug gehabt hatte. Und doch war sein Anblick eher kümmerlich.

"Hast du keine neuere Aufnahme?", wollte Jessy wissen. Jarod schüttelte den Kopf.

"Nein, er lebt nicht mehr." Er beugte sich wieder vor und tippte etwas ein. Ein Foto folgte, auf dem wieder Raines zu sehen war, zerschunden und abgemagert. Er klammerte sich an Gitterstäbe und sah mit einem entsetzten Gesicht in die Kamera. Es war die letzte Aufnahme vor seinem Tod. Im Hintergrund konnte man die verschwommenen Umrisse von Mr. Parker erkennen. Ein Schatten ließ die Vermutung zu, dass Miss Parker am rechten Bildrand stand.

"Was ist passiert?" Jarod hörte deutlich die leichte Zufriedenheit aus Jessys Stimme. Sie musste sehr an Catherine gehangen haben.

"Mr. Parker hat ihn erschossen, bevor er reden konnte. Ich weiß von Angelo, dass Miss Parker ihn kurz vor seinem Tod nach etwas gefragt hatte, doch er schaffte es nicht mehr, ihr die Antwort zu geben. Es ging um sie, unseren gemeinsamen Halbbruder Ethan und Lyle. Genaueres weiß ich nicht." Jarod sah sie von der Seite an.

Kopfschüttelnd wandte Jessy sich von dem Laptop ab. Sie schien sich seit ihrer Befreiung wirklich überhaupt nicht mehr für die Tätigkeiten des Centers interessiert zu haben. Allerdings war das nicht verwunderlich, ihm wäre es sicherlich genauso gegangen, wenn er nicht schon dreißig Jahre seines Lebens in diesem Rattenloch verbracht hätte. Er sah auf die Uhr und blinzelte kurz. Es war fast Zehn. Morgen war Wandertag der größeren Kinder und sie mussten zeitig raus aus den Betten. Wenn er jetzt nicht schlafen gehen würde, könnte er sich den Tag abschreiben.

Jessy schien seinen Blick bemerkt zu haben, sah ebenfalls auf die Uhr und zog ihre Augenbrauen in die Höhe.

"Ups, ich sollte mir die Neugierde abgewöhnen. Kostet zu viel Zeit." Ein Grinsen trat auf ihr Gesicht. "Ich werde mich dann mal aufraffen. Mein Bett schreit förmlich nach mir." Sie streckte sich und ging dann in Richtung Tür.

"Wie bitte?" Jarod machte ein erstauntes Gesicht. "Wie kann denn ein Bett rufen?"

Jessy musste über seinen kindlich erstaunten Gesichtsausdruck lachen. Anfangs hatte sie ziemlich für diesen gutaussehenden Mann geschwärmt, der so locker mit Kindern umgehen konnte und dessen Blicke so faszinierend waren. Aber jetzt war das anders. Sie fühlte sich einfach nur wohl in seiner Gegenwart, weil er genauso war, wie sie. Da war ein tiefgründige Mögen, es war, als gehörte er seit Jahren zu ihrer Familie, als guter Freund und Kumpel.

"Das ist doch nur so eine Redewendung", belehrte sie ihn, als ihr auffiel, dass sein fragender Blick noch immer auf ihr haftete. "Gute Nacht, Jarod." Sie lachte immer noch leise, und auch als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, konnte Jarod ihr amüsiertes Kichern hören.

***

Miss Parker rückte sich die Sonnenbrille auf der Nase zurecht und sah den Pförtner an, mit ihrem typischen Eisblick. In ihrem Inneren war sie doch etwas nervös. Sie hatte es bis an die Grenze geschafft - jetzt bloß keine Schwäche zeigen! Kalt lächelnd reichte sie dem Mann, der sich an ihr Fenster herunter gebeugt hatte, ihren gefälschten Pass und beobachtete ihn genau. Er nickte stumm und sah kurz in das Innere des Wagens. Mit einem Nicken und einer schnellen Handbewegung bedeutete er ihr, weiterzufahren. Sie nahm ihre Papiere und gab Gas. Ein erleichtertes Aufatmen entfuhr ihr, und sie lehnte sich entspannt zurück in die weichen Polster ihres Autos. Es war ihr tatsächlich gelungen, sie hatte es geschafft!

Der falsche Pass wäre gar nicht notwendig gewesen, wenn man einmal auf kanadischem Grund und Boden war, stellte das Untertauchen kein Problem mehr dar. Aber sicher war sicher, und wenn man das Center im Rücken hatte, musste man auf alles gefasst sein. Lächelnd sah Miss Parker in ihren Rückspiegel und nickte grinsend. Der Pförtner hatte das Kind nicht gesehen, er konnte es gar nicht gesehen haben. Es lag direkt hinter ihrem Sitz, und sie hatte einen Berg aus Decken darüber gelegt, so dass es Luft bekam, aber nicht zu erkennen war. Mit einem einzigen Handgriff hatte sie die Decken wieder heruntergezogen.

Etwa fünfzehn Minuten später entdeckte Parker die ersten Anzeichen von Zivilisation. Ein zerfleddertes Schild, das offensichtlich zu viel Sonne und Regen abbekommen hatte und dementsprechend aussah, kündigte ein Motel an. Wenn auch die Meilenanzahl nicht stimmte, und aus zwei Meilen fünf wurden, war Miss Parker froh, als sie die ersehnte Unterkunft erreicht hatte. Einsam und verlassen stand das Gebäude am Straßenrand, nur ein einziges Auto parkte davor.

Als sie ausstieg und das Kind nahm bemerkte sie nicht einmal, wie heruntergekommen und baufällig das zweistöckige Haus war. Sie betrat die "Rezeption" und drückte kurz auf die Klingel. Nach einiger zeit kam eine alte, gebeugte Frau aus dem Hinterzimmer und musterte ihr Gegenüber abschätzend.

"Name?", fragte sie kratzig und mürrisch.

"Foster", erwiderte Parker kühl und gab ihr den Pass, den auch schon der Pförtner zu Gesicht bekommen hatte.

"Wie lange wollen Sie bleiben?" Die Frau sah über den Rand ihrer schmutzigen Brille.

,Wer sagt den, das ich überhaupt hier bleiben will?', lag ihr auf der Zunge, aber sie hatte keine Lust auf einen Clinch mit dem Hausdrachen. Statt dessen meinte sie müde: "Eine Nacht."

"Fünfundzwanzig Dollar. Mit Frühstück Dreißig. Lärmbelästigung nach zehn Uhr ist verboten, und Kinder haben sich nur in den Zimmern aufzuhalten", zischte die Frau und nickte zu Baby Parker, den seine große Schwester in seinem Körbchen trug.

"Zimmer 8, erster Stock, gute Lage", fuhr die alte Frau fort. Ihre knappen Sätze klangen monoton und desinteressiert. Parker nahm den Schlüssel und ging in die Richtung, die ein Lageplan auswies, ohne sich noch ein ,Danke' abringen zu können. Hexe schien der treffendste Begriff für diese nette Frau.

Nachdem sie ihre Reisetasche schwungvoll auf das Klappbett geschmissen hatte befreite sie ihren Bruder aus seinem Körbchen und trat mit ihm zum Fenster. Seine Augen waren müde und er sah sehr zerknautscht aus. Parker sah, wie die alte Hexe gerade über den Platz schlurfte und hinter dem Haus verschwand. Kopfschüttelnd zog Parker das Rollo nach unten und fluchte, als es immer wieder von alleine hoch rollte. Irgendwann hatte sie es am Heizungsrohr festgebunden. Erschöpft setzte sie sich auf die harte Liege und ließ sich zur Seite fallen. Mit dem Baby im Arm schlief Miss Parker schließlich ein.

***

"Ich weiß nicht, wieso. Dad, kannst du mir nicht noch einen Tipp geben?" Jay sah seinen Vater bittend an. Der schüttelte den Kopf.

"Jarod hat mir diese Simulation geschickt. Er hat gesagt, sie würde dich eine Weile beschäftigen und hätte ein interessantes Ergebnis. Ich weiß auch nicht mehr. Aber wenn du eine Pause machen möchtest, dann komm essen." Der Major strich seinem Sohn über die Haare und stand auf.

"Nee, ich will das jetzt rauskriegen. Heb mir was für später auf." Und damit hatte sich der Junge wieder seinen Aufzeichnungen zugewandt. Major Charles lächelte amüsiert. Auf der einen Seite war der junge Pretender wissbegierig und hartnäckig, und dann gab es auch wieder Momente, da war ganz einfach nur ein Kind, das die Welt entdeckte. Er würde nie verstehen, was im Kopf eines Pretenders vor sich ging. Gott sei dank half Jarod ihm bei der Erziehung und Ausbildung. Er verstand immerhin etwas mehr davon.

***

Etwas Zappeliges, das gerade ihren Arm weg drückte, weckte Miss Parker. Etwas benommen noch sah sie ihren kleinen Bruder neben sich, wie er versuchte, sich aus ihrem Arm zu befreien. Lächelnd tat sie ihm den Gefallen und setzte sich auf.

Das Kind krähte und streckte die kleinen Händchen in die Luft. Parker strich ihm sanft über die Wange und stand dann auf. Ihre Uhr zeigte an, dass sie über zwölf Stunden geschlafen hatte. Es war früh am Morgen und sie würde gleich weiter fahren. Irgendwo musste es ein besseres Quartier geben, als diese Bruchbude. Und wenn sie sich zu lange an ein und demselben Ort aufhielt, würde es dem Center leichter sein, sie zu finden.

,Jetzt denkst du schon, wie Jarod. Nur noch die Flucht vor dem Center!', fuhr es ihr durch den Kopf. So langsam begann sie, nachzuvollziehen, was er jahrelang wegen ihr durchgemacht haben musste. Wegen ihr, dem Center und dem Triumvirat. Und ihr würde es jetzt nicht anders gehen. Sie hatte ein Projekt entführt, das in den Augen des Centers sehr wertvoll war. Die Worte ihres Vaters kamen ihr in den Sinn und sie schüttelte sich. Ihr eigener Vater... Nein, dieser skrupellose Mann war nie wirklich ein Vater für sie gewesen, und er würde es niemals sein. Weder biologisch noch emotional.

Miss Parker zog ihren silbernen Koffer unter dem Bett hervor und ließ die Schnallen aufschnappen. Sie stellte den Laptop auf das Bett und kniete sich davor. Einen Tisch gab es in diesem Zimmer nicht. Selbst Toilette und Dusche waren nur einmal vorhanden - einmal auf jedem Gang. Seufzend wartete sie, dass sich alles aufgebaut hatte und öffnete die Verbindung zum Internet. Sofort zeigten sich neue Nachrichten an.

"Jarod, dass du dich auch mal wieder meldest!", entfuhr es ihr und sie las sich die Nachricht durch. Schnell flogen ihre Augen über die Zeilen, und als sie fertig war, musste sie es noch einmal lesen. Er hatte sie tatsächlich gefunden, den verschollenen Pretender. Wo sie war, wollte er ihr nicht sagen, aber er würde ihr weitere Informationen zukommen lassen. Parker atmete tief durch. Sie hatte es zwar gehofft, aber nicht wirklich geglaubt, dass er es ihr wirklich sagen würde. Sie schrieb ihm eine kurze Mitteilung zurück und trennte die Verbindung. Er war also in Europa. Ob der Pretender bei ihm war, wusste sie nicht, aber es war ziemlich unwahrscheinlich. Jarod hatte die Angewohnheit, unerwartet zu handeln. Und das würde sie auch tun. Es wurde Zeit, dass sie ihm einen kleinen Besuch abstattete.

Doch bis es soweit war, brauchte sie eine neue Bleibe. Parker raffte ihre Sachen zusammen, sie hatte nicht viel gebraucht, und verließ das Zimmer. Als sie alles im Kofferraum verstaut hatte und ihr Bruder wieder auf seinem Stammplatz saß, ging sie zurück zur Rezeption und hinterlegte den Schlüssel. Bezahlt hatte sie im Voraus. Parker war nicht besonders scharf darauf, der mürrischen Hexe noch einmal zu begegnen. Sollte sie doch in ihrem Loch versauern.

***

"Sydney, ich habe es gefunden." Die schüchterne Stimme des Technikers war kaum hörbar, und doch fuhr der Angesprochene sofort herum.

"Was haben Sie, Broots?" Er wartete die Antwort gar nicht erst ab, sondern nahm ihm gleich die Papiere aus der Hand. Broots kratzte sich verlegen am Hinterkopf. Er hatte offiziell nichts mehr getan, seit Miss Parker verschwunden war, und doch war er ständig auf der Suche gewesen. Er hatte tief im Center nach Informationen zum Projekt Olvidan gegraben. Sydney hatte ihn darum gebeten. Allerdings bezweifelte Broots, dass sein Kollege sehr erfreut sein würde über die Ergebnisse seiner Suche. Er hatte die Akte bereits Miss Parker gegeben, kurz vor ihrem Verschwinden.

"Das darf ja wohl nicht wahr sein!", fuhr Sydney auf und er schien sich mit seinen Augen an dem Blatt fest zu saugen.

"W...Was?", fragte Broots, nachdem er sich von seinem ersten Schrecken erholt hatte. Nein, solche Ausbrüche könnte er nicht leiden, besonders wenn sie so überrascht kamen.

"Diese widerlichen Schw..." Sydney brach ab und räusperte sich. ,Keinen Anfall vor den Augen des Centers, keine Reaktion vor den Kameras!', rief er sich zurück ins Gedächtnis.

"Schon gut, Broots. Ich danke Ihnen. Sie können jetzt Feierabend machen...", murmelte er, sichtlich gefasst. Dann drehte er sich um und ließ seine Aufmerksamkeit den anderen Papieren zukommen. Was er da alles las, verschlug ihm die Sprache. Raines hatte das Projekt Olvidan geleitet, und zwar im Auftrag von Mr. Parker. Genauer gesagt handelte es sich um ein Projekt, das kurzfristig einberufen worden war und auch nach kurzer Zeit wieder abgeschlossen war. Sydney überflog die Aufträge erneut, und stieß auf die Stelle, wegen der er vorhin so geflucht hatte. Raines hatte Jarod aus dem Center gebracht, an einen geheimen Ort - er stand auch nicht in den Papieren - an dem er von einem gewissen Dr. Gorges behandelt worden war. Sydney wusste von mehreren Sitzungen, er war zwar nie dabei gewesen, aber er besaß Überwachungsvideos. Zumindest hatte er sie besessen, bevor Jarod sie mitgenommen hatte. Nur von diesen wenigen Sitzungen wusste er nichts.

Es waren mehrere Flüge aufgelistet, ohne Zielort, den Zeitpunkt des Startes immer mitten in der Nacht. Man hatte Jarod ohne sein Wissen entführt! Dann wurde Sydney stutzig. Der letzte Termin, den sein Schützling bei Gorges gehabt hatte, lag auf einem Datum, dass ihm sehr bekannt vorkam. Sein Verdacht bestätigte sich, als er eine Disk aus seinem Schreibtisch kramte, sie einlegte und abspielte. Es war jene zerstörte Aufnahme, die Broots und Miss Parker aus dem Haus am Stadtrand geborgen hatten, nachdem Raines sie vernichten wollte. Die Aufnahme zeigte den jungen Jarod in diesem Haus, wie er an der Tür stand und etwas verunsichert zu Catherine Parker sah. Sie lächelte ihn an, und bedeutete ihm, sich hinzusetzen. Dann erzählte sie ihm von der Schwangerschaft, und von Ethan, dem Halbbruder von Parker und Jarod. Das Datum dieser Aufnahme stimmte mit dem Termin von Jarods letztem "Arztbesuch" überein.

Das also war es gewesen! Raines hatte Jarods Gedächtnis bearbeiten lassen, damit er alles vergaß, was Catherine ihm erzählt hatte. Und darum hatte Jarod sich erst unter Hypnose wieder an die Geschehnisse jenes Tages erinnern können. Aber war das wirklich schon alles? Sydney wurde das Gefühl nicht los, dass noch mehr dahinter steckte. Ebenso fand er keine Antwort auf die Frage, weshalb auch Miss Parker bei Dr. Gorges in Behandlung war.

Grübelnd ließ sich der Psychiater in seinen Schreibtischsessel fallen und vergrub sich in seinen momentanen Forschungen. Seine Gedanken wanderten immer wieder zu Jarod. Er hatte sich so lange nicht gemeldet. Zu lange. Sydney spürte einen kleinen Stich, bei dem Gedanken, dass Jarod dem Center den Rücken kehren könnte.

***

Sie hatte endlich ein passendes Hotel gefunden. Es war preislich zu verkraften, lag direkt in der Stadt und war vor allem eines: sauber! Miss Parker zahlte dem Pagen ein Trinkgeld und schloss die Tür hinter ihm. Sie hatte sich ein Appartement bestehend aus Wohnzimmer, Schlafzimmer und Bad gemietet. Die Einrichtung war ziemlich edel, etwas verspielt und detailgetreu. Genau Parkers Stil, sie würde sich hier sicherlich wohl fühlen. Schon alleine das Ehebett, das sie ganz für sich alleine haben würde, war ein Traum. Aber zum Schlafen hatte sie jetzt keine Zeit. Sie musste sich um andere Dinge kümmern.

Miss Parker begann, ihre Sachen auszupacken. Die Fotos ihrer Mutter und das Bild, was sie von Jarod bekommen hatte, verstaute sie in ihrem Nachtschränkchen. Als sie die Schublade wieder zuschieben wollte, bemerkte sie, dass irgend etwas klemmte. Nach einem kurzen, kräftigen Ruck fiel ein Lederbündel aus dem Schrank. Es hatte hinter der obersten Schublade gesteckt. Miss Parker nahm es auf und betrachtete es prüfend. Nachdem sie es ausgekrempelt und die zerschlissenen Falten einigermaßen geglättet hatte, zeigte sich, was es war: Ein schwarzer Lederhandschuh!

,Lyle', fiel Miss Parker sofort ein und sie warf den Handschuh angeekelt fort. Es war paranoid, aber sie war sehr schreckhaft geworden, und ständig aufs Höchste konzentriert. Sie hatte sie wieder etwas beruhigt und untersuchte das Lederding nun genauer. Tatsächlich, solche Handschuhe hatte Lyle immer getragen, um seinen fehlenden Daumen an seiner linken Hand zu kaschieren. Miss Parker fand es lächerlich, ihr hatte diese Hand aber auch immer einen Schauer über den Rücken gejagt. Lyle wäre der Letzte gewesen, der dies erfahren hätte...

Plötzlich stutzte sie. Sie kniff die Augen zusammen und sah dann noch einmal genauer hin. Konnte das denn sein? Im Innenfutter des Handschuhs standen tatsächlich drei Buchstaben. B. L. P. Bobby Lyle Parker - Lyles vollständiger Name. Nach seiner Geburt hatte Raines Catherine mitgeteilt, er wäre eine Totgeburt gewesen und hatte ihn entführt - um ihn als Psychopathen großzuziehen. Das war ihm auch fehlerfrei gelungen... Bobby kam zu einer Familie und hieß jetzt Bobby Lyle. Erst später "aktivierte" Raines sein geisteskrankes Projekt wieder, und Lyle tötete seine Eltern. Es wurde ihm jedoch nie nachgewiesen. Als herauskam, dass Mr. Parker Lyles Vater war - wie er zumindest annahm - entschied sich Lyle dazu, den Namen Parker zu tragen, und hieß fortan Bobby Lyle Parker.

Miss Parker schüttelte den Kopf, als könne sie so alles abschütteln. Und doch schien der Gedanke, dass ihr Bruder, Lyle, diesen Handschuh hier verloren haben könnte plötzlich so greifbar. Sie musste der Sache auf den Grund gehen. Nachdem sie sich versichert hatte, dass Baby Parker friedlich auf dem Boden lag und mit einem Stoffbären spielte, verließ sie das Appartement und machte sich auf den Weg zum Empfang. Sie wurde freundlich begrüßt, und man erkundigte sich, ob sie zufrieden wäre. Miss Parker nickte flüchtig und fragte, ob man ihr eine Auskunft geben könnte.

"Worum handelt es sich denn, Ma'am?", fragte die junge Frau hinter der Theke nach.

"Ich würde gerne wissen, wer vor mir das Appartement 723 bewohnt hat." Miss Parker bemühte sich, dass ihr Ton zu nebensächlich wie möglich klang.

"Es tut mir Leid, darüber dürfen wir Ihnen keine Auskunft geben." Die Lady rückte sich ihre modische Brille zurecht und lächelte entschuldigend. Parker lächelte zurück.

"Wissen Sie, ich habe etwas gefunden, was vielleicht dem vorherigen Besitzer gehörte. Sicherlich wird er es brauchen." Sie setzte ein falsches Lächeln auf und klimperte unschuldig mit den Wimpern. Dabei kam sie sich sehr albern vor, und am Liebsten hätte sie es aus der Frau herausgepresst, aber das war sicherlich nicht der richtige Weg.

"Es tut mir wirklich leid. Sie können es uns geben, und wir werden dafür sorgen, dass er es bekommt." Die Frau zuckte mit den Schultern und machte sich eine Notiz. Miss Parker seufzte innerlich, ließ sich jedoch nichts anmerken. Sie kramte einen Schein aus ihrer Hosentasche und steckte ihn der Lady unauffällig zu.

"Hören Sie", begann sie leise und beschwörend. "Ich habe den Verdacht, dass es mein Bruder war, der hier wohnte. Wissen Sie, ich bin seit Langem auf der Suche nach ihm." Ihre Stimme nahm einen tragischen Tonfall an. "Er heißt Parker. Könnten Sie mir bitte sagen, ob er hier wohnte?"

Die Lady fühlte sich sichtlich unwohl. Sie zog sie Stirn in Falten und sah auf den Bildschirm des Computers, der vor ihr stand. "Also gut", seufzte sie. "Aber lassen Sie das bloß nicht meinen Chef wissen!" Ihre Finger flogen kurz über die Tastatur. Nach wenigen Sekunden stoppte sie. "Zimmer 723?" Sie sah auf und wartete auf Miss Parkers Nicken. "Ja... Dort hat tatsächlich ein Mr. Parker gewohnt. Ein Mr. Lyle Parker... Ist er das?"

Miss Parker hätte jetzt zu gerne ihre Wut ausgelassen, musste das Spiel jedoch zu Ende spielen. "Oh ja..." Ihre Stimme war ein Hauchen. "Das ist er! Oh Miss, sie haben mir ja so geholfen! Vielen Dank." Sie lächelte noch einmal und drehte sich dann um. Das Grinsen verschwand und machte einem Augenverleiern Platz.

"Ähm, Ma'am?", rief ihr die Lady nach.

"Ja?" Das falsche Lächeln trat sofort wieder auf Parkers Lippen. Sie drehte sich langsam um.

"Ich... möchte ja keine Familie auseinander bringen. Vielleicht kann ich ihnen noch etwas helfen." Sie sprach leise und fragend. Na also, mit ein bisschen Geld und einer tragischen Familiengeschichte konnte man so gut wie alles erreichen.

"Wissen Sie noch etwas?", fragte Miss Parker vorsichtig.

Die Lady nickte. "Ja. Er hat genau eine Woche hier verbracht. Anfangs war er mit einem älteren Herren hier gewesen, doch nach zwei Tagen kehrte er alleine zurück. Er sah sehr wichtig aus. Wenn Sie mich fragen, hat er für eine hohe Gesellschaft gearbeitet. FBI oder vielleicht sogar CIA..." Die Lady sprach wichtigtuerisch und weise.

,Sicher', dachte Miss Parker ,Lyle, stets darum bemüht, anderen zu helfen. Der und CIA!' Aber sie lächelte tapfer weiter und nickte nur. "Wie sah denn der Mann aus?"

"Klein und irgendwie müde. Als würde er schon sehr lange keine Kraft mehr haben. Ich glaube er hieß Raines, oder so." Parker sog scharf die Luft ein. Raines?!

Die Lady lehnte sich über die Theke. "Kurz vor seiner Abreise hat jemand eine Nachricht für ihn hinterlassen. Die Anschrift des Absenders gehörte zu einem Heim, hier ganz in der Nähe."

Miss Parker horchte auf. Was wollte Lyle denn in einem Heim? Was wollte er überhaupt hier?

"Könnten sie mir die Adresse vielleicht geben?", wollte sie wissen. Die Lady nickte, nahm einen Zettel und kritzelte etwas darauf. Schwungvoll riss sie das Blatt ab und reichte es Miss Parker.

"Ich wünsche Ihnen viel Glück." Sie lächelte und schien sich sehr wichtig vorzukommen. Mutter Theresa wäre der passende Ausdruck gewesen. Parker nahm den Zettel, bedankte sich und schlug den Weg zum Fahrstuhl ein. Als sie aus dem Sichtfeld der Frau entkommen war, legte sie die freundlich lächelnde Maske ab und atmete tief durch. Was sie da alles erfahren hatte, das musste sie erst einmal verarbeiten.
 

Ende Teil 6

Titel: Bambino Fingono

Autor: ZoeP

Rating: PG-13

Categories: R, A

Spoiler: Staffel 1-4 (die Filme nicht)

Short-Cut: Jarod versucht, mehr über seine Vergangenheit zu erfahren und krempelt dabei nicht nur das Centre gewaltig um...

Pairing: Alle ;-)

Disclaimer: Die Charas von Pretender und die Vorgeschichte gehört nicht mir. Jedoch ist der gesamte Inhalt samt den neuen Charas, den ich hier fabriziert habe, mein geistiges Eigentum

E-Mail: janni@feix-jena.de

Anmerkung: Dieser Teil ist einer der Schlüsselteile, in dem es sehr viel um Miss Parker und ihren Wandel, ihre Gefühle geht. Irgendwie war mir gerade danach zumute. Ich hoffe, die Melancholie stört euch nicht. Jemand hat mir geschrieben, er wolle, dass Jarod und Jessy zusammen kommen. Ich habe eigentlich ganz andere Pläne mit ihr... Bitte schreibt mir, was ihr davon haltet! Ich widme diesen Teil Jarod Parker, denn ihm und seinem Feedback habt ihr es zu verdanken, dass ich mich endlich mal wieder ran gesetzt habe.
 

Bambino Fingono Teil 7

von ZoeP
 

Teil 7
 

"Sydney Green." Die Stimme am anderen Ende der Leitung blieb für einen Moment still, atmete dann tief ein und meldete sich.

"Hallo Sydney."

Einen Moment lang herrschte Stille.

"Jarod!" Sydney wechselte den Hörer auf die andere Seite und verlagerte das Gewicht. Sein Schützling hatte sich lange nicht gemeldet, eigentlich viel zu lange. In den letzten Tagen war Sydney wieder einmal mehr bewusst geworden, dass Jarod wirklich nicht mehr zum Center gehörte, und wenn er wollte, könnte er ihm und allem, was mit dem Center zu tun hatte, den Rücken kehren. Irgendwie gefiel ihm der Gedanke nicht, dass Jarod für immer aus seinem Leben verschwinden könnte, wenn er wollte.

"Bist du noch dran?" Jarods Stimme holte ihn in die Gegenwart zurück.

"Ja..." Kopfschüttelnd lehnte sich Sydney an den Fensterrahmen und sah in den Wolkenverhangenen Himmel. "Du hast lange nichts mehr von dir hören lassen." Sydney wusste nicht, wie er ein Gespräch in Gang bringen konnte.

"Nein... Ich habe nicht viel Zeit. Was ist mit Parker los?", kam Jarod zu seinem Anliegen.

"Wieso? Was ist denn mit ihr?" Sydney zog es für einen winzigen Moment in Erwägung, Jarod die Wahrheit über Miss Parkers Verschwinden zu sagen. Jarod schien weit weg zu sein, wenn er über die neusten Ereignisse nicht informiert war. Eine große Entfernung bedeutete gleichzeitig Sicherheit, und die wollte Sydney nicht gefährden.

"Ich habe schon mehrmals versucht, sie zu erreichen. Aber sie geht nicht ans Telefon und ihr Handy ist ausgeschalten. Und dann diese seltsame Nachricht heute Morgen... Macht sie Urlaub?" Jarod grinste.

"Ja", erwiderte Sydney.

"Sydney", meinte Jarod ungläubig, "das war nicht ernst gemeint... Parker hat noch nie Urlaub gemacht!"

"Einmal ist immer das erste Mal." Sydney seufzte. Jarod machte sich schon wieder zu viele Sorgen um Andere.

"Also gut, wo ist sie hin?", startete Jarod erneut.

"Das weiß ich nicht. Ihr Vater übrigens auch nicht." Ein Schatten huschte über Sydneys Gesicht.

"Aha." Jarod verstummte. Sydney vernahm ein Rascheln und leises Gemurmel.

"Hast du Besuch?", fragte er Jarod.

"Nein, ich bin der Besuch." Aus Jarods Stimme war ein Grinsen heraus zu hören. Dann räusperte er sich. "Sydney?"

"Ja?" Sydney beobachtete die grauen Wolkenmassen, die sich am Horizont auftürmten.

"Ich muss dann auflegen."

"Seit wann warnst du mich vor, wenn du unser Gespräch beenden willst?" In seiner Stimme schwang Ironie mit. "Ich will dich nicht aufhalten. Melde dich mal wieder." Es war eine einfache Bitte, die Sydney aussprach.

"Mach ich. Machs gut, Syd." Jarod wartete gar nicht erst eine Antwort ab und legte auf. Sydney legte den Hörer auf seinen Tisch und setzte sich. Die Hände zusammengefaltet starrte er ins Nichts.

***

"Und?" Jessys neugieriger Blick ruhte auf dem Hörer, den Jarod in seiner Hand hielt.

"Was, und?" Jarod grinste. Jessy war einfach zu wissbegierig, genau wie er selbst. Es war irgendwie ungewohnt, einen zweiten Pretender um sich zu haben.

"Wo ist deine geheimnisvolle Freundin?" Jessy zog ihre Augenbrauen nach oben.

"Wer, Miss Parker?" Er blinzelte kurz. Jessy nickte, und Jarod lachte auf. "Also erstens bin ich hier der Geheimnisvolle und zweitens ist sie nicht meine Freundin. Sie jagt mich!"

Jessy zuckte mit den Schultern. "Dann eben nicht." Es entstand eine Pause, ehe sie fortfuhr. "Das war also Sydney."

Jarod nickte. Seine Gedanken flogen zu dem Gespräch, das er eben geführt hatte. Der Hörer lag noch immer in seiner Handfläche und war schon ganz warm. Irgendwie hatte es ihm gut getan, mit seinem Mentor zu reden. Aber ihn ließ das Gefühl nicht los, dass Sydney besorgt war. War es wegen ihm? Jarod schüttelte unmerklich den Kopf. Irrte er sich, oder hatte Sydney ihm nicht die Wahrheit gesagt? Er kannte ihn schon zu lange, um sich täuschen zu lassen. Irgend etwas war nicht in Ordnung, etwas, das Sydney verändert hatte. Jetzt galt es, herauszufinden, was das war.

Jarod erhob sich und ging zur Tür. Im Gehen drehte er sich noch einmal um. "Danke übrigens, dass ich dein Telefon benutzen durfte. Ich hatte noch nicht die Gelegenheit, eine abhörsichere Leitung zu installieren."

Jessy nickte nur.

***

Das Gebäude war ein zweistöckiger, altmodischer Bau mit Vorbauten und Erkern in jedem Winkel. Parker schob sich die Sonnenbrille von der Nase, um das Schild zu lesen. Seniorenheim am Peribonca. Sicherlich würde der Name einmal in die Geschichte eingehen. Seufzend rückte Miss Parker ihre Brille wieder zurecht und betrat das Gebäude.

Sie ließ ihren Finger auf die Klingel schnippen und lehnte sich an die Rezeption. Während sie wartete, hatte sie die Zeit, sich umzusehen. Eigentlich war es hier recht gemütlich. Hohe Topfpflanzen und freundliche Gemälde lockerten die Atmosphäre, die ein typisches Altenheimflair ausstrahlte, etwas auf.

"Kann ich Ihnen helfen?"

Miss Parker blickte auf. Vor ihr stand ein lächelnder, junger Mann in einer Pflegeruniform.

"Ähm... Ja. Mein Name ist Parker. Ich suche jemanden." Sie setzte eines ihrer falschen Lächeln auf.

"Und wen, wenn ich fragen darf?" Der Mann stützte sich auf die Theke und kramte nach einem Notizblock. "Parker, richtig?"

Parker nickte. Als er sie wieder ansah, antwortete sie ihm. "Er heißt Raines. Es ist... mein Onkel." Vielleicht würde die Nummer mit der Familie ja noch einmal funktionieren. Einen Versuch war es wert.

"Er ist mit Ihnen verwandt? Einen kleinen Moment bitte..." Der Pfleger suchte in einer Schublade mit Kärtchen nach dem richtigen Namen. Nach einer Weile zog er eine Karte hervor und legte sich auf den Tisch.

"Raines, William. Vor einer Woche eingewiesen aufgrund von Altersschwäche. Ist er das?" Er blickte fragend zu Parker auf.

Die nickte flüchtig und sah auf die Karte. Außer den gewöhnlichen Daten war nur an den Rand gekritzelt, dass Raines unter leichtem Alzheimer litt. Bestimmt hatte Lyle nicht damit gerechnet, dass jemand hinter sein kleines Geheimnis kommen könnte und diesmal nicht sonderlich viel Aufwand betrieben. "Dürfte ich vielleicht zu ihm?"

"Verzeihung, aber können Sie sich auch als Verwandte ausweisen?"

Verdammt! Damit hatte Parker nicht gerechnet. Sie überlegte kurz, wie sie es noch versuchen könnte. "Nein, aber wenn er mich sieht, wird er es Ihnen bestätigen." Hoffentlich ging er darauf ein, das war ihre einzige Chance.

"Nun ja, so einfach ist das nicht." Er sah etwas verlegen zu Boden.

"Seine Krankheit ist noch nicht so stark, dass er mich vergessen hat. Ich kann mit seinem Alzheimer umgehen. Lassen Sie mich zu ihm, mein Besuch wird ihm sehr gut tun", meinte sie und lächelte noch mehr. Raines würde ihren Besuch mit Sicherheit nicht vergessen, dafür würde sie schon sorgen.

"A-also gut", gab der Pfleger nach. Vielleicht hatte es ihn überzeugt, dass sie von seiner Krankheit wusste. "Wenn er zustimmt, dass Sie zu ihm gehören, dürfen Sie sich eine halbe Stunde mit ihm unterhalten. Und wundern Sie sich nicht, wenn er manchmal wirres Zeug redet." Er öffnete den Durchgang zur Rezeption, trat auf den Flur und führte Parker durch das Gebäude. Raines Zimmer lag ziemlich Abseits im ersten Stock. Viele Fragen gingen Parker durch den Kopf. Ob er wirklich an Gedächtnisschwund litt? Oder war das nur ein Vorwand von Lyle, um den Versuchen von Raines, etwas über das Center zu erzählen, zuvorzukommen? Und wieso war Raines überhaupt hier! Ihr Vater hatte ihn doch erschossen - vor ihren Augen...

Während sie durch die hellen Gänge liefen, wurde Parker erst klar, was überhaupt passiert war. Und dass sie ein ziemliches Glück gehabt hatte, bis hierher zu kommen. Das Heim hatte keine aufwändigen Sicherheitsvorkehrungen. Aber wahrscheinlich rechnete man hier in dieser gottverlassenen Gegend nicht mit besonderen Zwischenfällen. Wer interessierte sich schon für einen Haufen altersschwacher Leute? Trotzdem musste Parker sich ein triumphierendes Grinsen verkneifen, als sie an Lyles Nachlässigkeit dachte. Wenigstens den Nachnamen hätte er ändern können...

"Hier ist es." Der Pfleger wies auf eine Tür. Parker sah ihn fragend an.

"Warten Sie bitte einen Moment." Er verschwand in dem Zimmer und Miss Parker hörte leise Stimmen. Dann wurde sie hereingebeten. Das Zimmer war erstaunlich freundlich, nicht so steril, wie sie es erwartet hatte. Ein schlichter Tisch mit zwei Stühlen, Gemälde und Pflanzen zierten das Zimmer. Das Bett war vom Rest des Raumes abgetrennt. Als Parker Raines erblickte - er saß in einem der Korbstühle - musste sie sich zurückhalten, um sich nicht zu verraten. Der Pfleger hockte neben Raines.

"Kennen Sie diese Frau?", fragte er und deutete auf Miss Parker, die noch im Türrahmen stand. Raines' Kopf hob sich langsam an. Miss Parker sah vor sich einen alten, gebrechlichen Mann mit einem Schlauch in der Nase. Als er sie erblickte, weiteten sich seine Augen.

"A-aber das ist ja... Miss Parker!" Als er sich von der Überraschung erholt hatte, blickte er den Pfleger an. "Ja, ich kenne diese Frau..."

"Hallo Onkel Willie", begrüßte Miss Parker ihn und bemühte sich, freundlich zu klingen. Sie musste zugeben, dass ihr das schwer fiel, zu viele Fragen formten sich in ihren Gedanken.

"Wieso nennen Sie sie dann Miss Parker, wenn Sie die Frau kennen?", fragte der Pfleger argwöhnisch.

"Ich... ich habe ihren Namen vergessen." Raines schüttelte betrübt den Kopf. Sah Miss Parker richtig, oder spielte er seine Betroffenheit nur? "Sie ist... meine Nichte."

"Mmh." Der junge Mann sah von Parker zu Raines und von Raines wieder zu Parker. "Also gut, wenn das so ist!", meinte er schließlich und schritt zur Tür. "Eine halbe Stunde, nicht länger."

Die Tür fiel ins Schloss und Miss Parker stand da, unfähig, etwas zu sagen oder sich zu bewegen.

"Was soll ich davon halten?", begann Raines und man hörte deutlich die Erschöpfung aus seiner Stimme.

"Das könnte ich Sie auch fragen." Miss Parkers Stimme hatte wieder ihren kalten Tonfall angenommen. "Wieso sind sie hier? Wieso sind sie noch am Leben?"

"Das wüsste ich auch gerne", war die knappe Antwort. "Ich dachte, das wüssten Sie alles, wo Sie doch extra meinetwegen hergekommen sind."

"Ich bin nicht im Auftrag des Centers hier. Auch nicht im Auftrag von Lyle. Mein Besuch ist... privat." Parker setzte sich auf den Stuhl, der noch frei war und saß nun direkt gegenüber von Raines.

"Und nun erzählen Sie mir, was Sie hier zu suchen haben?" Ihre Worte klangen hart.

"Ich... Lyle..." Raines überkam ein Hustenanfall. Gedächtnisschwund hatte er nicht, aber körperlich schien es ihm nicht sehr gut zu gehen. Als der Husten nachließ, setzte er erneut an.

"Lyle hat mich hierher gebracht." Seine Stimme war flach und heiser.

"Wieso?", wollte Parker wissen.

"Nachdem Mr. Parker mich fast erschossen und in der Zelle liegengelassen hatte, kam Lyle zu mir. Er hatte alles über die Kameras beobachtet." Raines räusperte sich kurz. "Ich war nicht tot, aber schwer verwundet. Und so sorgte Lyle dafür, dass ich in ein anderes Sublevel verlegt wurde und dort versorgte er mich mit dem Nötigsten. Die Schusswunde verheilte, jedoch nur, weil ich Lyle alles gesagt hatte was ich wusste. Über den Aufenthaltsort von dem Baby und Brigitte, über Mr. Parker und das Triumvirat... Ich wusste nicht was Lyle vorhatte."

Ein neuer Hustenanfall schüttelte Raines und Miss Parker stand auf, ging zum Waschbecken und nahm sich von der Ablage darüber ein Glas, das zwischen irgendwelchen Pillen und Tabletten stand. Nachdem sie es zur Hälfte mit Wasser gefüllt hatte, gab sie es ihm. "Erzählen sie weiter."

Raines nahm ein paar Schluckte und setzte es dann auf dem Tisch ab. "Als ich mich von den Verletzungen erholt hatte, brachte er mich hierher. Er hatte mich unter ein starkes Psychopharmaka gesetzt, und so glaubten ihm die Pfleger sofort, dass ich nicht klar denken könne. Er ließ mich hier zurück, und als ich mich von den Wirkungen des Medikamentes erholt hatte, fand ich mich in einem Heim in Kanada vor!" Raines lachte kalt auf, was eine Welle des Hustens auslöste.

"Aber wissen sie was?" Er sah Miss Parker direkt in die Augen. Sie sah ihn fragend an, und er blickte auf das Glas in seiner Hand. "Er meinte es nicht... böse."

Parker glaubte, sich verhört zu haben. Stand Raines noch immer unter dem Einfluss von Medikamenten, oder meinte er das ernst, was er hier von sich gab? Lyle erpresste ihn nach unendlichen Qualen, ließ ihn hier einsperren und meinte es nicht böse? Parker war sich nicht einmal sicher, dass Lyle überhaupt etwas tat, das er nicht böse meinte.

Sie unterdrückte die Wut auf ihren Halbbruder, die in ihr aufstieg und wandte sich wieder an Raines. "Also schön. Smalltalk beiseite - ich bin hier, um Antworten auf ein paar Fragen zu finden."

Raines hustete erneut. Parker wurde langsam ungeduldig, deshalb ignorierte sie den Anfall. "Sie wollten mir etwas sagen, bevor... mein Vater auf sie geschossen hat." Parkers Gedanken schweiften kurzzeitig zu dem Moment zurück. Sie war so nah dran gewesen, zu erfahren, welche Geheimnisse ihre Mutter ihr noch mitteilen wollte. Der, der alle Geheimnisse kennt, ist... Das waren seine letzten Worte gewesen. Sie musste es wissen.

"Raines, bitte..." Miss Parker betonte das Wort, als hätte sie es das erste Mal in ihrem Leben gehört. "Bitte sagen Sie mir, wer diese eine Person ist, von der Sie mir damals erzählen wollten." Ihre dunklen Augen schienen die seinen zu durchdringen. Ihr Blick fesselte Raines mit einer ihm unbekannten Macht. Er holte tief und rasselnd Luft. Miss Parker bemerkte erst jetzt aus den Augenwinkeln heraus die Sauerstofflasche, die neben seinem Korbsessel stand. Sie wiederholte ihre Frage: "Wer ist der Schlüssel zu den Geheimnissen des Centers?"

Raines Augen weiteten sich, sein Atem ging schneller. Parker war sich nicht sicher, aber es wirkte, als hätte er Angst vor ihr. Sie sah eine Ader an seiner Schläfe heftig pulsieren, Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Schließlich brachte er röchelnd hervor: "First Child. Fragen Sie First Child, Catherine. Ich will meinen Seelenfrieden finden." Seine Augen zuckten unruhig hin und her. Parker zog ihre Augenbrauen nach oben - hatte er sie Catherine genannt? Kopfschüttelnd stellte sie fest, dass er anscheinend doch noch unter der Wirkung irgendwelcher Medikamente stand. Trotzdem beunruhigten ihn seine Worte. First Child war die Person, die alles wissen sollte? Die Frau, die Jarod irgendwo in Europa gefunden hatte? Eine innere Unruhe breitete sich in Miss Parker aus. Langsam stand sie auf, strich sie ihre Kleidung glatt und ging zur Tür. Dort drehte sie sich noch ein letztes Mal um und ihr bot sich ein mitleiderregendes Bild: Raines saß zusammengesunken in seinem Sessel und zitterte. Sein Atem ging noch immer schwer. Parker dachte an all die Dinge, die er getan hatte - dieser Bastard hatte ihre Mutter ermordet! Trotz allem tat er ihr Leid, als sie ihn so sah.

"Danke, Raines. Ich hoffe, Sie finden ihren...Seelenfrieden." Mit diesen Worten öffnete sie die Tür drehte sich endgültig um. Sie ging mit festem Schritt den Gang zurück, den sie vor knapp einer halben Stunde gekommen war. In der Eingangshalle nickte sie dem Pfleger flüchtig zu und murmelte ein "Auf Wiedersehen", bevor sie sich auf den Weg zu ihren Auto machte.

***

"Es geht nicht mehr. Heute nicht. Vielleicht nie mehr." Er sah ihr in die Augen und erkannte die Enttäuschung. Sie zog ihre Knie an und lehnte ihren Kopf an die Wand. Er setzte sich zu ihr und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. "Es tut mir Leid."

Sie hatte geahnt, dass es soweit kommen würde und nickte nur stumm. Sie verlor alle Personen, die sie liebte - und nun auch noch ihn.

"Ich werde gleich weggebracht." Er senkte seinen Kopf, um sie nicht ansehen zu müssen.

"Wohin?", fragte sie leise, monoton.

Er hob unwissend die Schultern, und ließ sie traurig wieder sinken. "Ich weiß nicht."

"Hoffentlich bringen sie dich bald zurück." Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter und eine Träne lief ihr über die Wange.

***

"Verdammt!" Parker riss das Lenkrad herum und versuchte, den Wagen zum Stehen zu bringen. Das war ein schwieriges Unterfangen, denn die Straße war nass und glatt. Schließlich gelang es ihr und sie hielt entsetzt die Luft an. Was war das gewesen? Warum überfielen diese Visionen sie immer so plötzlich? Sie stieß die Luft wieder aus und schloss die Augen. Langsam beruhigte sich ihr Puls und ihr Atem ging wieder flacher. Der Regen prasselte auf das Auto und die Scheinwerfer gaben ein monoton ratschendes Geräusch von sich. Parker ließ ihren Kopf in den Nacken fallen und presste die Lippen zusammen. Was spielte Jarod für ein Spiel mit ihr? Diese Visionen hatten erst begonnen, nachdem er ihr dieses Rätsel aufgegeben hatte. Bambino Fingono. So fremd und doch so vertraut.

Parker fühlte sich plötzlich einsam. Sie saß hier draußen im Niemandsland in ihrem Auto, hätte es eben beinahe in den Straßengraben befördert und um sie herum war nichts. Nichts außer grauen Nebelschwaden, durchzogen von prasselndem Regen. Eine Welle der Hilflosigkeit übermannte sie. Was wollte sie jetzt tun? Was erwartete sie eigentlich? Die Flucht kam so überstürzt und ungeplant, dass sie es schon fast bereute. Sie hatte alles aufgegeben - ihre Sicherheit, Sydney und Broots... Ihr Leben. Doch dann dachte sie an Baby Parker. Nur für ihn hatte sie das doch alles getan. Ihre Augen wurden glasig und eine einsame Träne bahnte sich einen Weg über ihre Wange. Die Spur, die sie hinterließ, fühlte sich wie eine Brandwunde an.

Ein verzerrtes, energisches Hupen holte Parker zurück in die Realität. Erschrocken sah sie sich um. Im Rückspiegel entdeckte sie schließlich einen roten Pickup, in dessen Innerem die unscharfe Kontur einer Person wild und wütend zu gestikulieren schien. Parker blinzelte ein paar mal. Dann registrierte sie, dass sie ja mitten auf der Straße stand - quer. Noch etwas benommen drehte sie den Zündschlüssel herum und wendete den Wagen. Noch immer hupend setzte sich der Pickup in Bewegung und der Fahrer schüttelte fluchend den Kopf, als er an ihr vorbeibrauste.

Miss Parker wischte sie die inzwischen getrocknete Tränenspur aus dem Gesicht und machte sich auf den Heimweg. Als sie das Hotel erreicht hatte, lenkte sie den Wagen in die Tiefgarage und bestieg den Fahrstuhl. Das beklemmende Gefühl, dass sie immer in Fahrstühlen hatte, schien diesmal stärker zu sein. Unruhig fuhr sie sich durchs Haar und beeilte sich, auf ihr Zimmer zu kommen. Baby Parker würde sie später aus dem hauseigenen Kindergarten abholen, wenn sie sich geduscht und umgezogen hatte.

Seufzend und mit zittrigen Händen schloss sie die Tür auf. Erschöpft lehnte sie sich von innen dagegen. Aber die Erschöpfung kam nicht durch das Wetter oder die Fahrt, sie kam von ganz tief innen. Der Drang, auf die ungeklärten Fragen eine Antwort zu erhalten, schien sie zu erdrücken. Miss Parker streifte sich die Schuhe von den Füßen und schmiss sie achtlos in eine Ecke. Ihre nassen Sachen landeten auf dem Weg zum Bad erst auf dem Boden vor ihrem Bett und dann auf den Fließen des beheizten Badezimmers.

Parker drehte die Dusche auf und wartete, bis das Wasser eine wohlig warme Temperatur angenommen hatte. Sie genoss die fließenden, fast schon tröstlichen Berührungen des weichen Wassers auf ihrer Haut und schloss langsam die Augen. Bilder formten sich in ihrem Kopf, die Ereignisse des Tages strichen an ihr vorbei und verdeutlichten ihr immer wieder, dass sie keine Antworten finden würde, wenn sie nicht herausfand was dieser andere Pretender wusste. Parker versuchte, sich zu entspannen. Sie ließ die Tropfen an sich herunterperlen und befreite ihren Kopf von den wirren Bildern. Sie dachte an gar nichts, ließ sich einfach nur von der Wärme und Geborgenheit verwöhnen. Irgendwann schweiften ihre Gedanken doch ab. Parker wusste, wohin sie gleiten würden, doch diesmal ließ sie es zu. Sein Gesicht tauchte vor ihr auf und sie lächelte still. Jarod. Ihre Gedanken wanderten zu jenem Abend, an dem er sie in ihrem Badezimmer überrascht hatte und sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Gerade als sie damals dabei war, sich über ihre Gefühle für ihn etwas klarer zu werden, musste er sie so verwirren. Was bezweckte er damit? Sie wusste es nicht.

Seufzend öffnete Parker ihre Augen und starrte an die weißmelierten Kacheln, mit denen die Wände der Dusche bedeckt waren. Sie stellte das Wasser ab, zog achtlos das flauschige Handtuch von der Stange und wickelte sich darin ein. Mit nassen Füßen tapste sie aus vom Bad zu dem Kleiderschrank. Da fiel ihr ein, dass sie ja noch nicht einmal zum Auspacken gekommen war. Die Hälfte ihrer Sachen befand sich noch im Koffer, als sie heute früh so plötzlich aufgebrochen war. Parker begann, sich abzutrocknen und sammelte nebenbei ihre nasse Kleidung von Boden des Zimmers auf, um sie über die Heizung und die Handtuchstange im Bad zu hängen. Schließlich zog sie sich an und machte sich mit nassen, ungekämmten Haaren auf den Weg in die zweite Etage, wo sich der Kinderhort befand.

Seltsam. Als sie noch für das Center gearbeitet hatte, wäre sie niemals so unter Leute gegangen. Stets musste ihre Make-up perfekt sitzen, mussten ihre Haare ordentlich frisiert sein. Doch es hatte sich so vieles Verändert! Sie selbst hatte sich verändert. Sie wusste nicht, ob es gut war, aber sie fühlte, dass es nicht falsch war.

Schwungvoll öffnete sie die Tür und betrat einen hellen, bunt eingerichteten Raum. Ein bisschen erinnerte er sie an das Wartezimmer einer Kinderarztpraxis. Kopfschüttelnd bahnte sie sich einen Weg durch die lautstark spielenden Kinder und platzierte sich im Türrahmen, der zu dem Raum für die "kleineren" Generationen führte. Eine junge, blonde Frau kam ihr lächelnd entgegen.

"Hallo, Miss Parker", grüßte sie.

Parker nickte nur und sah sich um. In einem niedlichen Wiegenbettchen entdeckte sie ihren kleinen Bruder.

"Sie sind sicherlich hier, um Jarod abzuholen." Die Frau wandte sich in Richtung des Bettchens, um den Kleinen zu holen.

"Was?", meinte Miss Parker verblüfft, bis es ihr wieder einfiel. Als man sie heute früh nach dem Namen ihres Bruders gefragt hatte, den sie für ihren Sohn ausgegeben hatte, kam ihr auf die Schnelle nur ein Name in den Sinn und sie hatte kurzerhand "Jarod" gesagt.

"Ja... Natürlich." Sie setzte ein gequältes Lächeln auf und nahm den kleinen hoch.

"Er war wirklich unglaublich brav." Die Frau ging neben Parker her durch die anderen Kinder und führte sie zur Tür.

"Ich weiß. Er ist ein kleiner... Schatz." Sie nickte der jungen Frau zu und verließ den Kinderhort. Baby Parker wachte kurz auf und sah sie verschlafen an, dann drückte er sich ganz fest an sie und schlief wieder ein. Parker musste lächeln und ihr wurde warm ums Herz. Wie hatte sie auch nur für diesen kurzen Augenblick denken können, die Flucht wäre falsch gewesen?

In ihrem Hotelzimmer angekommen legte sie ihn vorsichtig auf in die Mitte des großen Bettes und deckte ihn sanft zu. Sie stricht ihm mit der Hand über das kleine Köpfchen. Wie gut, dass er nicht wusste, wie ungerecht die Welt noch war. Sie würde für ihn kämpfen, dafür sorgen, dass er ein besseres Leben bekam. Um jeden Preis.

***

Das Wetter zeigte sich heute unglaublich freundlich. Jarod sah in den Himmel und legte eine Hand über die Augen, damit er nicht geblendet wurde. Die meisten Kinder hatten noch Unterricht, doch bereits in wenigen Minuten würde es einen Ansturm ungeheuren Ausmaßes geben - Jarod hatte noch nie verstanden, wieso Kinder immer überallhin rennen mussten. Als würden sie etwas verpassen, wenn sie auch nur Bruchteile von Sekunden später auf dem Spielplatz wären. Er schmunzelte und machte sich auf den Weg zum Essenssaal.

"Hallo Jarod!", rief ihn jemand von hinten. Er drehte sich um, aber eigentlich wusste er bereits, dass es Jessy war.

"Hey, ich dachte du hättest noch zu tun?", begrüßte er sie.

Sie schüttelte den Kopf. "Ging doch etwas schneller. Ich musste noch Papierkram wegen Kat regeln", meinte sie mit gedämpfter Stimme. Als Jarod sie fragend ansah, zuckte sie mit den Schultern. "Das ist jeden Monat einmal fällig."

Nun sah auch sie sich um. Ähnliche Gedanken schienen ihr durch den Kopf zu gehen, wie Jarod gerade eben, denn sie seufzte theatralisch mit einem Blick auf ihre Armbanduhr. "Ach ja, und gleich ist die Ruhe vorbei."

Ohne weitere Worte folgte sie Jarod zum Speisesaal und lehnte sich an die Theke der Essensausgabe. "Hast du eine Ahnung, was wir heute bekommen?", fragte sie ihn.

"Pudding", meinte Jarod und strahlte, als er ihr antwortete. "Und Grießbrei mit Apfelmus."

Jessy verzog ihr Gesicht zu einem Grinsen. "Du meinst Grießbrei und als Nachtisch Pudding."

"Ist doch egal." Er zuckte gleichgültig mit den Schulter und nahm seinen Teller entgegen, wartete auf Jessy und gemeinsam schlenderten sie zu ihrem Stammtisch. Fasziniert beobachtete Jessy, dass Jarod tatsächlich zuerst den Pudding aß.

"Jarod, das Zeug nennt sich nicht umsonst Nachtisch!" Ihr Blick haftete noch immer auf seinem inzwischen geleerten Schälchen.

"Da, wo ich aufgewachsen bin gab es weder Vorspeisen noch Nachtisch. Ich konnte das noch nie auseinanderhalten." Sein Grinsen verriet ihr, dass er das nicht wirklich ernst meinte. Jessy lächelte kopfschüttelnd.

Plötzlich unterbrach sie sich selbst beim Essen und sah erst erschrocken, dann lächelnd über seine Schulter. Jarod drehte sich fragend um und grinste ebenfalls. der Unterricht war vorbei, und wie er geahnt hatte, stürmten die Kinder jetzt entweder zum Spielplatz oder zum Essen.

"es ist doch immer das Gleich, und..." Doch weiter kam Jessy nicht, denn die Tür wurde aufgerissen und Kat stürmte herein. Sie strahlte zu Jarod und Jessy und ihre Mom zwinkerte ihr kurz zu. Dann stellte sich Kat an der Essensausgabe an und unterhielt sich angeregt mit Ann und Sophie, die kurz nach ihr gekommen waren.

"Wie hast du das nur gemacht?", schnappte Jarod einen Gesprächsbrocken auf. Sophie sah Kat fragend an.

"Ich weiß nicht. Eigentlich war es doch ganz einfach. Du musstest nur den Wechselstrom im verzweigten Stromkreis mithilfe einer Leuchtdiode...", begann Kat zu erklären, doch Ann unterbrach sie. "Jaja, verschon uns mit den Einzelheiten. Wir meinen, wie du das nur gemacht hast, wo du doch sonst in Physik überhaupt nicht gut warst!" Kat verkniff sich ein Grinsen. Es hatte schließlich zu Jessys Plan gehört, dass sie in der Schule nur mittlere und durchschnittliche Leistungen erzielen sollte, ganz besonders in Naturwissenschaftlichen Fächern.

"Ich hatte eben Nachhilfe", meinte Kat und die kleine Gruppe machte sich mit ihrem Essen auf den Weg zu einem freien Tisch. Jarod schüttelte amüsiert den Kopf. Jessy schien das Gespräch ebenfalls mitbekommen zu haben und schielte zu ihrer Tochter hinüber.

"Keine Angst", meinte Jarod, der die drei Falten auf ihrer Stirn mitbekommen hatte, die sie immer besaß, wenn sie zweifelnd oder beunruhigt schaute. "Sie weiß, was sie tut."

Jessy nickte langsam. "Lange bleiben wir ja nicht mehr hier. Da kann sie jetzt auch einmal zeigen, was sie drauf hat - aber sie sollte es nicht übertreiben."
 

Als Jarod und Jessy ihr Mittagessen beendet hatten, schlenderten sie gemeinsam in Richtung ihrer Appartements.

"Sag mal", begann Jessy und schaute ihn von der Seite an. "Wie hast du es eigentlich geschafft, aus dem Center zu entkommen?"

Jarod sah sie erstaunt an. Es freute ihn, dass sie begann, sich für das Center zu interessieren. Sie hatte so viele Talente und mit ihr zusammen konnte er bestimmt so Einiges herausfinden. Doch sie musste auch bereit dazu sein.

"Ich hatte herausgefunden, dass sie meine Simulationen missbrauchten. Und als sie dann ein letztes Mal mein Vertrauen missbrauchten..." Jarods Gedanken schweiften zu Damon und Kenny. Noch immer fühlte er sich schuldig und zugleich so hilflos, wenn er an Kennys Ermordung dachte. Er hatte Damon, dem angeblichen Pretender, doch geglaubt. Er schloss kurz die Augen und vertrieb die Erinnerungen. Als er sie wieder geöffnet hatte, erzählte er weiter. "Ich war nicht bereit, auch noch eine einzige Simulation durchzuführen. Meinen Plan hatte ich schon lange vorbereitet. Und dann bin ich ausgebrochen. Als ich draußen war, traf ich einen wildfremden Mann, der mich im Auto mitnahm. Und ab da war ich... frei." Jarod lächelte leicht. Freiheit. Es stimmte nicht. Er war nicht wirklich frei - er würde niemals frei sein. Nicht, solange es das Center gab. Jessy nickte stumm und versuchte, sich vorzustellen, was Jarod im Center alles durchmachen musste.

"Jarod?", brach sie nach einiger Zeit das Schweigen.

"Mmh?"

"Du sagst, du hast deine DSA Überwachungsdiscs mitgenommen..."

Er ahnte worauf sie hinauswollte und erwiderte nichts.

"Kannst du mir zeigen, was genau eine Simulation ist?" Sie sah ihn vorsichtig an. Er schien auf diesem Gebiet so undurchdringlich zu sein, als hätte er eine Mauer aufgebaut. Um zu vergessen, was geschehen war. Und um nicht verletzbar zu sein. Ob er soviel Vertrauen in sie hatte, ihr mehr von sich preiszugeben?

Jarod öffnete die Tür zu seinem Appartement und bedeutete Jessy mit einer Geste, einzutreten. Sie sah ihn mit einem warmen Blick an und er fühlte, dass es richtig war. Er schloss die Tür hinter ihr und nickte in Richtung der Couch, auf der sie vor wenigen Tagen gesessen hatten, als er ihr mitteilte, dass er über sie Bescheid wusste. Er ging in sein Schlafzimmer und holte den silbern glänzenden Koffer, legte ihn vor Jessy auf den Tisch. Ihre Fingerspitzen fuhren sanft, fast schon ehrfürchtig über die kleinen Verschlüsse. Dann sah sie ihn noch einmal fragend an.

"Du kannst dir ansehen, was du möchtest. Nur die letzten drei Discs bitte nicht. Nicht heute." Er schenkte ihr ein freundliches Lächeln. Sie öffnete nickend den Koffer und zog wahllos eine Disc heraus, um sie zu starten. Gespannt konzentrierte sie sich auf das Geschehen vor sich. Jarod ging derweil in die Küchenzeile und goss sich etwas Wasser ein. Er nahm ein zweites Glas, füllte es und stellte es neben dem Koffer vor Jessy auf den Tisch.

"Danke", murmelte sie nur.

Er beobachtete sie, wie ihre Augen sich angespannt auf den Bildschirm richteten. Sie hatte die Simulation mit dem nachgestellten Fall der Apollo 13 erwischt, in der er eine Lösung finden sollte.

"Jarod, du warst damals erst elf! Wie hast du das wissen können?" Sie sah ihn kurz ungläubig an und schob die nächste Disc ein. Sie wählte eine aus dem Jahr 1969, um mehr über seine Kindheit zu erfahren.

"Ich wurde jeden Tag trainiert und unterrichtet. Diese Simulation war vergleichsweise harmlos." Er lehnte sich gegen die Couch, ihr den Rücken zugewandt, und nippte an seinem Glas. Er erkannte anhand der Geräusche, dass sie diesmal ausgerechnet eine Aufzeichnung mit Miss Parker erwischt hatte. Es war ihre erste Begegnung gewesen und er fühlte noch immer, wie sein Herz damals schneller Schlug und er nicht wusste, was er denken sollte. Sie war wunderschön. Er hatte noch nie ein Mädchen gesehen. Noch nie ein echtes.

Wieder drehte sich Jessy zu ihm um. "Wer ist das Mädchen?"

"Miss Parker", meinte Jarod leise.

Jessy nickte. Er hatte ja erwähnt, das sie früher im Center oft zusammen waren. Sie schien ihm wirklich viel bedeutet zu haben. Ob das heute anders war? Jessy wagte sich nicht, ihn danach zu fragen. So weit wollte sie nicht gehen. Noch nicht. Sie grinste.

Jarod ging kurz in sein Schlafzimmer und ließ Jessy mit den Aufzeichnungen alleine. Nach einer Weile kam er wieder, mit einem kleinen schwarzen Gegenstand. Er steuerte zielstrebig auf sein Telefon zu und legte es sich auf den Schoß. Jessy begriff schnell, was er vorhatte. Er konnte seine Telefonate ja schließlich nicht immer von ihrem Telefon aus vornehmen, also musste er eine Abhörsicherung installieren. Während er nach einer bestimmten Anschlussstelle suchte, widmete sie sich wieder dem grauen Bildschirm. Langsam wurde ihr klar, was Simulationen genau beinhalteten, und was man ihm im Center wirklich angetan hatte. Kurzzeitig hielt sie eine kleine Scheibe mit der Aufschrift "letzte Sim" in der Hand. Doch dann bemerkte sie, dass danach nur noch zwei Discs kamen, und sie legte die Scheibe zurück. Nein, sie würde sich diese Sachen nicht ansehen. Nicht, solange Jarod es nicht wollte. Sie wählte eine andere Aufnahme.

"Es tut mir übrigens Leid, Jessy", begann Jarod plötzlich und sie drehte sich zu ihm. "...dass ich neulich so hart war", beendete er seinen Satz. Sie schenkte ihm einen fragenden Blick.

"Du weißt schon, als ich dir und Kat all die Sachen an den Kopf geworfen habe. Ich wollte nicht so kalt sein. Aber ich war so aufgebracht, dass im Center soviel schmutzige Wäsche gewaschen wird und ich immer wieder neuen Dreck finde."

Jessys Mundwinkel hoben sich zu einem warmen Lächeln. "Ist schon okay, Jarod. Ich beginne, zu begreifen was du alles durchgemacht hast. Und wenn ich mir vorstelle, dass das Center inzwischen auch hinter mir her ist..." Sie fröstelte einen kurzen Moment lang. "Ich bin dir sogar dankbar, dass du es herausgefunden hast. Ich bin mit der Zeit zu sicher geworden. Vielleicht hätten sie mich doch eines Tages aufgespürt und würden all diese Dinge dann mit Kat tun." Schon allein bei dem bloßen Gedanken zog sich ihr Magen zusammen. Jessy schüttelte den Kopf. "Es ist gut so, wie es jetzt ist. Und ich werde herausfinden, wer meine Eltern sind. Wenn sie noch leben", fügte sie leise hinzu.

Jarod hatte seine Arbeit beendet und trat zu ihr. Er sah sie erleichtert und zugleich traurig an. Er wusste, wie sehr der Gedanke schmerzte, nicht zu wissen ob die eigenen Eltern noch lebten. Er setzte sich neben sie und sah ihr direkt in die Augen. Normalerweise waren sie dunkel und geheimnisvoll, doch im Moment drückten sie nur all die Angst aus, die Jessy empfand und die sie die letzten Jahre immer unterdrückt hatte. Sie presste die Lippen aufeinander und wandte ihren Blick von Jarod ab. Er kannte ihre Reaktion. Jessy war ihm so verdammt ähnlich.

"Hey, es ist in Ordnung." Er zwang sie mit seinen Worten, ihn wieder anzusehen. Ihre Augen waren glasig und ihre Pupillen geweitet. Ihre Unterlippe zitterte leicht. Jarod registrierte ihre verkrampften Fäuste und es tat ihm weh, sie so zu sehen. Er wusste, was sie fühlte und dachte. Ohne etwas zu sagen zog er sie zu sich und umarmte sie.

Jessy begann zu schluchzen. Die Anspannungen der letzten Tage und die Ängste der letzten Jahre schienen wie ein Schwall über sie hereinzubrechen. Ihre Fingernägel krallten sich hilfesuchend in Jarods Schulter und er fühlte, wie ihre Tränen sein Shirt durchnässten. Doch das war egal.

"Jarod, ich habe so große Angst!" Sie vergrub ihr Gesicht tiefer in seiner Schulter. "Seit ich nichts mehr von Catherine gehört hatte, fühlte ich mich so leer. Und als du mir dann sagtest, dass sie nicht mehr lebt... Oh Gott, und wenn meine Eltern auch nicht mehr am Leben sind - wenn das Center sie umgebracht hat! Jarod, ich fühle mich so einsam." Eine neue Welle des Schluchzens schüttelte sie. Jarod strich ihr mit einer Hand beruhigend über den Rücken.

"Es wird alles gut werden, Jessy. Ich weiß, was du gerade durchmachst. Aber du bist nicht alleine - du hast Kat, und ich bin auch noch da. Ich bin mir sicher, dass wir deine Eltern finden werden." Jarod wiegte sie sanft hin und her, wie ein kleines Kind, dass man nach einem schlimmen Alptraum beruhigen wollte. Langsam wurde das Schluchzen leiser und ihr Atem flacher. Sie löste sich von ihm und sah ihn mit roten, verquollenen Augen an.

Er musste sich bei ihrem Anblick ein Grinsen verkneifen, doch sie schien es zu bemerken. Jessy versuchte zu lächeln.

"Entschuldige. Ich muss furchtbar aussehen." Ihr Augen wanderten durch den Raum, als würde sie etwas suchen. Dann trafen sie wieder auf Jarods Blick. "Danke, Jarod." Sie wischte sich mit dem Handrücken die letzten Tränen aus dem Gesicht und lachte schließlich.

"Warum lachst du?", wollte Jarod wissen.

"Wenn Kat mich so sehen könnte! Für sie war ich stets nur die starke Frau, die immer alle Schutzbarrieren aufrecht erhalten hat. Wenn ich sie nicht hätte..." Ihr Blick verlor sich in der Ferne, und sie schien abzuwägen. "Ich glaube, ich hätte bereits angefangen, nach meiner Familie und meiner Vergangenheit zu suchen." Sie nickte, als wäre sie sich dessen eben erst bewusst geworden.

Jarod war froh, dass sie sich wieder gefangen hatte. Er wusste, wie diese plötzlichen Gefühlswallungen waren. Oft überkamen sie ihn unerwartet und so heftig, dass nur seine gute Ausbildung als Pretender ihn vor unüberlegten Handlungen schützen konnte.

"Ich glaube, wir sollten ein bisschen zu den Kindern gehen, was meinst du?", riss ihn Jessy aus seinen Gedanken und er stimmte ihr grinsend zu. Da war sie wieder, die lebensfrohe, vergnügte Frau mit dem wippenden braunen Pferdeschwanz und den dunklen, geheimnisvollen Augen.

***

"Sydney, ich habe schlechte Neuigkeiten." Ohne anzuklopfen war Broots in das Büro von Jarods Mentor eingetreten. Das war sonst gar nicht seine Art.

"Was ist passiert?", erkundigte sich Sydney.

"Ich habe zufällig ein Gespräch von Lyle und Mr. Parker mit angehört. Er..." der Techniker sah sich schüchtern um, als würde man sie belauschen. "Er sagte, Lyle solle sich sofort mit einem Sweaperteam auf den Weg machen und sie mit dem Baby zurückbringen. Verstehen Sie? Miss Parker hat das Baby mit sich genommen, und Lyle weiß, wo sie sind. Ich konnte nichts weiter damit anfangen, aber Lyle meinte, Hotelleiter wären doch so bestechlich, ebenso wie Tankstellenwärter. Wahrscheinlich war Miss Parker nicht vorsichtig genug." Broots war völlig durcheinander. Immer wieder erinnerte er sich an seine Unterschrift unter den Vertrag für einen Job als gewöhnlichen Sicherheitstechniker. Er hatte schnell begriffen, dass dieser Job alles beinhaltete, nur nicht das technische Umgehen mit Sicherheitsinstallationen und deren Wartung.

"Wissen Sie, wann Lyle abreisen wird?", wollte Sydney wissen. Er kratzte sich mit einer Hand an der Stirn und schien fieberhaft zu überlegen, wie sie Miss Parker helfen könnten.

"Ja. Der Jet startet in einer halben Stunde. Sydney, wir müssen etwas unternehmen!"

"Ich weiß Broots, ich weiß. Aber wir haben keinen Kontakt zu ihr." Er seufzte kurz.

"Und wenn wir irgendwie Jarod darum bitten?" Broots zog seine Stirn kraus.

"Selbst, wenn wir ihn irgendwie kontaktieren könnten", er betonte die Worte wie ein Ding der Unmöglichkeit, "hätte er auch keine Chance, Miss Parker zu warnen." Sydney schüttelte langsam den Kopf.

Broots sah ihn entsetzt an. "Heißt das, wir können nichts tun?"

Diesmal nickte Sydney und verschränkte die Arme vor der Brust. "Nichts, als zu hoffen, dass Miss Parker es alleine schafft."
 

Ende Teil 7



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  straubi
2004-08-07T20:51:44+00:00 07.08.2004 22:51
meine schwester mag pretender! deshalb wird sie die kommis zu diesen schreiben. dauert leider auch bissl!


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