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GAME OVER

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Sooo nach einer gefühlten Ewigkeit endlich das dritte Kapitel xD Ich wollte mich etwas beeilen und es pünktlich zum 3000 Post special hochladen. Das vierte Kapitel ist dann auch in arbeit, jedoch muss ich mir da noch etwas überlegen. Entweder wird es sehr kurz oder es mündet gleich in die Story des RPG's Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
SOOOO! Nach einer gefühlten Ewigkeit habe ich es jetzt endlich geschafft. Kapitel "Ricco" ist fertig!!!

Ich habe schon über 100 Seiten und die Vorgeschichte ist immer noch nicht fertig... xD Aber ich habe mir vorgenommen, spätestens in einem oder zwei Kapiteln ENDLICH in die Story vom RPG zu driften, worauf es eigentlich alles hinauslaufen sollte. *sigh* aber ich lass mich manchmal so verleiten, dass ich praktisch 20 Seiten volltippe ohne aufs Wesentliche zu kommen xD Aber... es ist so humorvoll.

Btw es sind mir womöglich wieder einige Fehler reingerutscht, die ich aber durch meine liebe Betaleserin demnächst entfernen werde, sozusagen in einem Update ^^ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
so, da einige Leser gemeint hatten, es sei einfach zu lang mit den 40 seitigen Kapiteln habe ich jetzt einfach beschlossen, das Kapitel in einzelnen Abschnitten hochzuladen, da ein Kapitel ja eher auf eine Person gerichtet ist und mehrere Szenen drin vorkommen owo SO ergibt eine Szene nun praktisch ein "Teilkapitel" ^_^ Komplett anzeigen

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GΔΜΞ ØVΞЯ

Es heißt, dass man in dem Moment seines Todes noch einmal sein ganzes Leben vor seinem geistigem Auge sieht. Wie in Zeitlupe gehen einem alle schönen Erinnerungen durch den Kopf, jede einzelne, sei sie auch noch so kurz gewesen.

Der Tod schmerzt nicht. Das was schmerzt ist lediglich die Erkenntnis, dass alles was man im Leben hatte, alles wofür man gelebt hat, innerhalb von einer Sekunde verschwinden kann.Zerstört, aufgelöst, in sich zerfallend. Von einem Moment zum nächsten.

Eben genau in diesem Moment wird den meisten klar, dass das Spiel vorbei ist. Das Spiel welches sich Leben nennt. Sie waren nichts weiter als wertlose Spielfiguren und sie beginnen zu verstehen, dass jedes Spiel das man startet irgendwann auch einmal sein Ende findet.

Ihnen wird klar, dass dies ihr Game Over ist.

Crystal

Die Straßen waren wie leer gefegt und es lag eine unheimliche Stille über der Stadt. Es war eine regnerische Nacht, weshalb sich niemand auf die Straße wagte, der nicht grade bis auf die Knochen durchweicht werden wollte.

Hier und da huschten einige Ratten in ihre Nester und fraßen entstellte Kadaver von anderen Tieren.So war das Leben hier. Nicht der Stärkste gewinnt, sondern der Geschickteste. Nur mit lügen und betrügen konnte man überhaupt irgendwas erreichen.

Jeder der auch nur einen Hauch Ehrlichkeit zeigte wurde sofort von der Gesellschaft verschlungen und landete auf der Straße, sofern er nicht längst ausgebeutet wurde und nun tot in einem Graben liegt,bloß darauf wartend von den gierigen Ratten gefressen zu werden, welche den widerlichen Kadaver mitten in der Nacht durch die Stadt schleifen, um sich dann in ihren Nestern daran zu laben.

Fressen oder gefressen werden. Das war die Regel der Straße. Niemand kümmert sich um das Wohl anderer und es heißt Jeder gegen Jeden.
 

Doch plötzlich wurde die Ruhe von einem lautem Geräusch durchbrochen, ein Auto, welches mit rasanter Geschwindigkeit über den Asphalt raste und dabei gefährlich schlingerte.

"Mach dir keine Sorgen Crystal, bald ist alles vorbei", Tränen flossen ihre Wangen hinab, während sie versuchte durch die Straßen der Stadt zu lenken. Ihre Sicht war verschwommen und der Regen prasselte unabdingbar auf die Frontscheibe des Wagens,

sodass jegliche Möglichkeit der Orientierung verwehrt war. Es war eine scheiß Karre, doch sie reichte für das, was sie vor hatte.

"Nein Mama bitte!", das schrille Kreischen eines kleinen Mädchens durchbrach den prasselnden Regen.

Sie saß auf der Rückbank, ihre Puppe in der Hand, zitternd und in Tränen aufgelöst. Ihr Name war Crystal Varis.

"Wehr dich nicht, es wird ganz schnell gehen", sagte die Fahrerin und lächelte mit verheulten Augen in den Rückspiegel um das Gesicht des Mädchens zu sehen.

Das Gesicht ihrer Tochter. Ihrer einzigen Tochter, welche sie kurz zuvor aus dem Bett gerissen und in ein Auto gezwungen hat. "Mama bitte...",das kleine Mädchen begann zu schluchzen,"Ich will noch nicht sterben", krampfhaft krallte sie sich an ihrer Puppe fest.

Es war eine selbst genähte alte Puppe, welche eindeutig schon die beste Zeit hinter sich hatte.Doch ihre Mutter ignorierte ihre Worte und fuhr unbeirrt fort.

Direkt auf einen Wald zu. "Gleich sind wir bei Papa", flüsterte sie leise, als sie in eine Nebenstraße abbog,

"keine Angst mein Schatz, gleich ist alles vorbei". Sie fuhren immer tiefer in die Dunkelheit, kein einziger Lichtstrahl schaffte es durch die alles verschlingende Schwärze zu brechen.

Dann wurde sie plötzlich langsamer und hielt an.

Das Mädchen hatte sich mittlerweile in die hinterste Ecke des Wagens verkrochen und hielt weinend ihre Puppe vor sich, als ob diese sie vor ihrer eigenen Mutter beschützen könnte.

Doch sie konnte es nicht.

Langsam drehte sich ihre Mutter zu ihr um, weinend, doch mit einem breiten Grinsen im Gesicht,

"Wir sind da", sie öffnete die Tür, langsam, so als hätte sie alle Zeit der Welt.

Innerhalb von Sekunden war sie komplett mit Wasser durchtränkt, doch sie schien die beißende Kälte nicht zu spüren.

Bald schon würde sie gar nichts mehr spüren.

Sie hatte alles genau geplant, ist alles tausende Male im Kopf durchgegangen,es gab nichts was schief gehen könnte. Ihr Plan war perfekt, einfach bloß perfekt, sie wusste das, denn sie hatte dafür gesorgt, dass alles was dazwischen kommen könnte verschwand.

Sie hatte Blut an ihren Händen, doch es machte ihr nichts aus, nein, gar im Gegenteil, sie war stolz darüber. Vorsichtig nahm sie eine Schaufel aus dem Kofferraum, blank poliert, ohne einen einzigen Kratzer.

Sie mochte es nicht, wenn etwas nicht absolut ihrem Ideal entsprach. Die Schaufel im Anschlag haltend ging sie also zur hinteren Tür und wies ihre Tochter an heraus zu kommen. Ohne jegliche Gegenwehr gehorchte diese, denn sie wusste was passiert wenn sie ihrer Mutter nicht gehorchte. Kleine Tränen kullerten ihre weichen Wangen hinab und ihr schwarzes Haar lag klatschnass in ihrem Gesicht. Ihr Kleid triefte vor Wasser und sie spürte die Kälte der Nacht um sich herum.

"M-mama.. I-i-ich f-friere..", weinte die Kleine leise in ihre Puppe hinein, welche ihre Stimme stark ab dämpfte.

Sie schrie nicht mehr, denn sie wusste das es keine Hoffnung mehr gab. Sie war alt genug um zu verstehen, dass dies nun das Ende war und sie war alt genug um sich ihrem Schicksal zu ergeben.

Sie war schon immer ein nachdenkliches Kind gewesen. Hat niemals herumgezickt und war immer gehorsam.

Sie liebte ihre Eltern über alles,

und sie würde alles tun für sie. Auch in den Tod gehen.

"Komm mit", sagte ihre Mutter rau, während sie Crystal grob an der Hand zog.

Diese schrie leicht auf, verwundert über die Brutalität ihrer Mutter und lies vor Schreck ihre Puppe fallen,

"Warte, Mr. Snow!", sie versuchte sich zu wehren und griff vergeblich nach ihrer Puppe, welche schon vollkommen vom Schlamm verdreckt war.

"Lass das Crystal!", das nächste was sie spürte war ein Schmerz in der Wange, gefolgt von einem lauten Knall.

Ihre Mutter hatte sie geschlagen.

"Komm jetzt", zischte diese durchdringend und zog das nasse Häufchen elend direkt auf ein Loch zu, in welchem bereits eine Kiste stand.

"Ich will nicht sterben Mama, bitte ich habe Angst!!", beim Anblick der Kiste wurde dem kleinen Mädchen auf einem Schlag wieder bewusst warum sie hergebracht wurde.

Sie wollte nicht in diese Kiste, sie wusste, dass es kein Entkommen daraus gab.

Doch ihre Mutter war stärker. "Schau mich an", sagte diese, während sie sich zu ihrer Tochter runter kniete. Fast zärtlich strich sie ihr die nassen Strähnen aus dem Gesicht, "sssh, weine nicht. Gleich wirst du beim lieben Gott sein, er wird alle Qualen von dir nehmen meine Süße". Zitternd stand das Kind vor ihrer Mutter, hinter ihr der offene Schlund ihres Grabes, während der Regen weiterhin sintflutartig auf die Erde fiel.

"Wird er mich da raus holen?", fragte sie mit zittriger Stimme, direkt in die klaren Augen ihrer Mutter blickend.

"Er wird dich immer beschützen", sagte ihre Mutter lächelnd und umarmte ihre Tochter ein letztes Mal,

"Ich liebe dich Crystal."

Mit diesen Worten schubste sie ihre Tochter direkt ins Grab. Den panischen Schrei ignorierend warf sie den Deckel auf die Kiste und verdeckte damit das vor Angst entstellte Gesicht ihres einzigen Kindes, welchem sie nun das Leben stahl.

Mit jeder Schaufel Erde welche sie in das Loch schüttete wurden die Schreie leiser. Niemand würde sie jemals hier draußen finden.

Ihre Tochter, lebendig vergraben, unschuldig und jung. Doch sie musste sterben. Sie hatte die Augen eines Dämons, rot mit einem dicken schwarzen Ring darum.

Kein Mensch hatte solche Augen, darum beneidete ihre eigene Mutter sie. Jetzt würde niemand sie jemals wieder sehen können, denn was sie nicht hatte sollte niemand haben. Sanft klopfte sie die Erde glatt, welche sofort vom Regen aufgeweicht und geebnet wurde,

sodass man letzten Endes nicht einmal mehr erkennen konnte, dass die Erde jemals aufgelockert wurde, geschweige denn, dass darunter etwas vergraben liegt.

Auch die Fußspuren waren vom Regen verwischt worden. Es war der perfekte Mord. Lächelnd, immer noch die Schaufel haltend, stand die Frau nun über dem Grab ihrer Tochter und sah auf ihr Werk hinab. "Perfekt", flüsterte sie leise, während sie etwas aus ihrer Jackentasche hervor holte.

Langsam hob sie den Gegenstand an ihre Schläfe.

"Ich folge dir mein Schatz...", brachte sie leise hervor, während eine einzelne Träne ihre Wange hinabrann.

Das nächste was man hörte war ein Knall, welcher durch den gesamten Wald schallte, doch der Regen unterdrückte das Geräusche und lies bloß ein dumpfes Donnern in die Stadt. Niemand würde jemals wissen was geschehen war, niemand würde sie jemals finden.
 

***
 

Es war dunkel. Alles war einfach bloß dunkel.

Die ganze Welt um sie herum versank im ewigem Schatten. Sie war gefangen, gefangen in einer kleinen Holzkiste irgendwo im Wald.

Sie atmete so flach es ging, denn sie wusste, dass es niemanden gab der noch auf ihre Schreie reagieren könnte. Sie hatte den Knall gehört und hatte eine Ahnung was das bedeutete.

Sie erinnerte sich daran was vor einem Jahr war, da hatte sie nämlich schon mal solch einen Knall gehört.

Damals war sie grade dabei im Flur zu spielen, als sie plötzlich eben jenen Knall aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters hörte. Schnell war sie dorthin gerannt um grade noch sehen zu müssen, wie eine vermummte Gestalt einige Akten aus den Regalen ihres Vaters stahl.

Sie sah dem Mörder direkt in seine leuchtend orangenen Augen, bevor ihr Blick auf die Leiche ihres Vaters fiel, welcher in seinem Geschäftsanzug auf dem ehemalig ordentlichen Schreibtisch lag, die Augen weit geöffnet und glasig und ein Loch mitten auf der Stirn aus dem unglaublich viel Blut rann und innerhalb von Sekunden eine rote Lache auf dem Schreibtisch bildete.

Das nächste woran sie sich erinnerte war der laute Schrei den sie Ausstoß beim Anblick ihres geliebten Vaters, welcher sie mit seinen toten Augen direkt anzustarren schien, direkt in ihre Seele, die eben durch diesen Anblick zerbrach.

Sie hatte das nie verkraften können. Sie wusste nicht, was der Mörder überhaupt von ihrem Vater wollte und was er geklaut hatte, sie hatte oft ihre Mutter gefragt, doch diese Antworte immer nur irgendwas von

"gewissen Geschäften" und sie wäre zu jung um das zu verstehen.

Sie lernte schnell nur mit ihrer Mutter klar zu kommen, welche überraschend stark war und sich nicht unterkriegen lies. Alleine versuchte sie damals das Unternehmen der Familie Varis imstande zu halten, doch die Konkurrenz beutete sie aus wie hungrige Krähen die über ihre Beute herfielen.

So kam es wie es kommen musste und das Unternehmen ging pleite. Eine Woche zuvor erhielt Crystals Mutter den verhängnisvollen Anruf, der eben all dies verursachte. Ihre Mutter verlor den Verstand.

Eines Nachts, als sie grade fest eingeschlafen war wurde sie von ihrer Mutter geweckt und grob ins Auto gezogen. Sie hatte gefragt was denn los sei, woraufhin ihr ihre Mutter erzählte, dass sie beide nun zu "Papa" gehen würden.

Crystal verstand was ihre Mutter damit meinte, sie würde jetzt sterben müssen, sie würde ihrem Vater folgen.

Leise schluchzte sie in ihrer Kiste, vergraben irgendwo im Wald, ohne Hoffnung jemals gefunden zu werden.

Ihr gesamtes Leben spielte sich vor ihrem inneren Auge ab, doch sie war zu jung, als dass es irgendetwas wirklich lebenswertes hätte geben können, woran es sich groß lohnte zu erinnern.

Die bedeutendsten Momente waren die gewesen, in denen sie ihre beiden liebsten Menschen verloren hatte.

Ihre beiden Eltern. Ihre Kleidung war klitschnass und die Luft war unglaublich stickig. Sie musste leise Husten, wobei sie dabei deutlich spüren konnte, dass die Luft bald zu neige ging. Sie wusste nicht wie lange sie in dieser Kiste lag, doch es kam ihr vor wie Stunden, eine Ewigkeit.

Sie hatte schon längst aufgehört zu weinen, denn es gab nichts mehr wofür sie hätte weinen sollen.

Das einzige was sie sich noch wünschte, wäre ihre Puppe Mr. Snow bei sich zu haben, ihren besten Freund, mit dem sie zusammen vor dem Mann stehen wollte, den ihre Mutter "Gott" nannte.

Sie hatte keine Ahnung was ihre Mutter damit meinte, als sie von ihm sprach.

Das einzige was sie wusste war, dass er sie von ihrem Leid erlösen würde, und so wartete sie. Ihr blieb auch nichts anderes übrig. Sie wartete auf ihren Gott und schloss die Augen, die sich mit der Zeit immer schwerer anfühlten.

Sie wollte einfach bloß schlafen. Schlafen und warten.

Warten auf ihren Erlöser. So fiel sie in einen ruhigen endlosen Schlaf, aus dem sie wohl niemals wieder aufwachen würde.
 


 


 


 


 


 


 


 

***

Mirror News, Samstag, 14.10.2006
 

das Varis Massaker
 

[...] am Freitag den 13.10.2006 wurde im Grenzgebiet die Frau vom ehemalig führendem Oberhaupt des Varis Unternehmens tot aufgefunden.

Vermutlich wurde sie ebenso wie ihr Mann Opfer eines mysteriösen Massenmörders welcher sich "der Erleuchter" nennt, über den die Polizei jedoch nichts weiteres äußern will.

Sie sind sich jedoch sicher, dass es sich um Mord handelt, da alle Anzeichen darauf hindeuten, dass eben besagter "Erleuchter" mitten in der Nacht in ihrem Anwesen eingebrochen sein soll, wo er ein wahres Blutbad anrichtete und alle Angestellte brutal exekutierte.

Daraufhin soll er Frau T. Varis in sein Wagen gezwungen haben, woraufhin er sie vermutlich lebendig im Wald vergraben wollte, wovon man ausgeht, da sich zu den Füßen der erschossenen Frau Varis ein offenes Grab befand.

Die Ermittler gehen aber davon aus, dass der Täter wohl von einem Unbekannten gestört wurde, weshalb er kurzerhand seinen Plan änderte und seinem Opfer kaltblütig in den Kopf schoss.

Daraufhin soll er die Tatwaffe in die Hand der Leiche gelegt haben, damit es wohl so aussehen sollte als wäre es Selbstmord gewesen, jedoch konnten keine Rückstände an der Hand des Opfers gefunden werden, weshalb man diese Theorie ausschließt.

Über das nun verwaiste Kind der Familie Varis ist nichts bekannt, es heißt sie hätte noch rechtzeitig fliehen können, da sich ihre Leiche nicht unter den Opfern befand.

Bedauerlicherweise gibt es auch weder eine Spur von ihr, noch von dem verbleib des Täters. Die Polizei rät den Anwohnern sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr nach draußen zu begeben und stets darauf zu achten, dass alle Türen und Fenster fest verschlossen sind [...]
 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 

***
 

Schüchtern saß Crystal auf einem aufwändig verzierten, handgemachten, teuer wirkendem Stuhl.

Den Rücken gerade und die Beine ordentlich angewinkelt, dabei das Kinn auf die Brust gesenkt haltend. Das Ticken einer antiken Uhr hallte durch den Raum. Alles in diesem Raum wirkte teuer, war aber dennoch so angeordnet, dass es nicht so aussah, als würde der Besitzer wahllos mit Geld um sich werfen.

Nein, ganz im Gegenteil, es wirkte alles perfekt geordnet und spiegelte exakt wieder, was es darstellte: Wohlstand. Crystal kam selbst aus gutem Hause, doch dieser Anblick lies selbst sie ehrfürchtig werden.

Schwere Schritte waren zu hören, sie kamen näher, direkt auf das Zimmer zu, in welchem sie saß.

Er kam wieder, dachte sie, während sie ein kurzes Kribbeln im Magen spürte. Kurz vor der Tür stoppten die Schritte und alles wurde still. Ihr kleines Herz begann wild zu schlagen und sie wurde leicht nervös. Ein lautes Klopfen war zu vernehmen, woraufhin sich auch schon die Türklinke nach unten Bog und ein Mann eintrat.

Er war groß und vornehm gekleidet; obwohl er im Haus war trug er einen Zylinder; in seiner behandschuhten Hand hielt er eine einzelne Untertasse, auf welcher eine kleine Tasse Tee stand.

"Tee?", fragte der Mann, während er überraschend elegant zu ihrem Tisch ging. Sie wagte es nicht ihn an zu schauen sondern schüttelte bloß ehrfürchtig den Kopf. Er war der Besitzer dieses Anwesens.
 

Es schien außerordentlich groß zu sein, da in jedem Flur und Gang unzählige Türen zu seien schien.

Es wirkte wie ein riesiges Labyrinth, wobei ihr die Vorstellung daran sichtlich gefiel, da es ein Ort war, wo sie sich verstecken konnte. Wo niemand sie finden könnte, in ihrer eigenen kleinen Welt.

Die Tasse auf den Tisch stellend setzte er sich ihr gegenüber und schlug die Beine übereinander.

Er sah sie direkt an, und Crystal spürte, wie die Röte in ihre kleinen Wängchen schoss. Sie genoss seine Nähe, es war einfach unbeschreiblich was sie empfand. Ihre Mutter hatte ihr all die Jahre immer von einem großen mächtigen Mann erzählt, jedoch konnte sie sich damals nie vorstellen, was ihre Mutter damit meinte. Nun wusste sie es, seit dem ersten Moment wusste sie, dass ihre Mutter ihn meinte.

Er, der sie aus ihrer Kiste befreit hatte. Er, der sie zurück ins Leben geholt hatte, nachdem sie schon längst ihr Leben ausgehaucht hatte. Er, der sie von all ihrem Leid erlöste, es war kein anderer als ihr Gott.

"Wie heißt du?", fragte er sie, während er sie von oben bis unten musterte. Sie trug neue Klamotten, die Uniform eines Hausmädchens. Sie war ihr viel zu groß, doch es gab derzeit nichts anderes, was sie hätte tragen können, und in ihre alten Lumpen wollte sie nicht wieder zurück, da diese vollkommen durchnässt und beschmutzt waren.

Zögernd hob sie ihren Kopf und sah ihm in seine alles durchdringenden gelben Augen.

Sie spürte einen kleinen Stich im Herzen, da ihr vorher nicht bewusst war, dass es jemanden geben könnte, der in der Lage war ihr einzig und allein mit einem Blick in seine Augen die Sprache zu verschlagen.

Sie respektierte diesen Mann, schon von der Sekunde an, wo er die Kiste aufgebrochen und sie aus ihrem Grab geholt hatte. Sie erinnerte sich bloß noch an einzelne Fetzen, es war, als hätte sie von oben auf sich selbst herab gesehen.

Sie wusste noch, dass der Mann sie zu einem ungewöhnlichen Arzt brachte und es anscheinend äußerst schlecht um sie stand. Dann war wieder alles schwarz. Das letzte was sie wusste war noch, dass sie auf der Rückbank eines Autos lag und an einer prunkvollen Villa vorbei gefahren ist, bevor sie auch schon eben in jenen Raum aufgewacht war.

Neben ihrem Bett hatte eben jene Kleidung gelegen die sie nun trug. Sie war errötet bei dem Gedanken, von einem fremden Mann umgezogen worden zu sein, da das einzige was sie anhatte ihre Unterwäsche war.

Anscheinend wurde sie auch gewaschen, denn das erste was ihr in die Nase flog war der Duft von Vanille.

Ihr eigener Geruch. "Crystal...", antwortete sie schüchtern, während sie irgendetwas im Raum suchte, wo sie hätte hingucken können.

"Crystal also?", sagte der Mann, während er sich zurück lehnte und sich ein Zigarette anzündete. Sie nickte bloß. "Weißt du wer ich bin?", meinte er, während er sein Feuerzeug zurück in die Tasche seines schwarzen Sakkos steckte und genüsslich an seiner Zigarette zog. "Nein Sir", antwortete sie, wobei sie vergeblich versuchte seinem Blick auszuweichen.

Er schien immer ernst zu gucken dachte sie sich, da sich seine Miene bei keinem seiner Worte auch nur ein wenig veränderte.

"Sir? Anstand scheinst du wohl zu besitzen", meinte er und sah zum einzigem Fenster im Raum.

Draußen ging grade die Sonne auf und die Aussicht war einfach atemberaubend. Noch rötlich schimmerte der Himmel, während die Sonne langsam hinter den Wolken aufging. Die ganze Landschaft war ein Waldgebiet, umgeben von Bergen, weshalb Crystal davon ausging, das diese Villa vermutlich auch auf einem Berg stand.

Es wirkte wie ein riesiges Schloss, geschützt von der Außenwelt, komplett unabhängig.

Eine komplett andere Welt. "Mein Name ist", er erhob sich von seinem Stuhl und stellte sich vor ein Gemälde, welches eben ihn in jüngeren Jahren darstellte,

"Sir Raven Vales". Zum ersten Mal fiel ihr das Gemälde auf und sie bemerkte sofort, dass er sich in all der Zeit sehr stark verändert hatte.

Was damals noch ein dunkelblonder ordentlich gestutzter Stoppelbart war, war nun ein fast schwarzer kurzer Bart, welcher von einer Seite des Kinnes zur nächsten verlief, mit vereinzelten grauen Härchen, die man aber jedoch kaum erkennen konnte.

Zudem war der Bart so schmal angelegt, dass man trotzdem das meiste von seinem Gesicht sehen konnte.

Auch sein Gesicht hatte sich ziemlich verändert, da die Falten deutlich ausgeprägter waren als zuvor.

Eine war besonders auffällig, da sie äußerst dominant war, sie verlief von seinem Auge runter zur Wange, weshalb sie eher wie eine Narbe wirkte, sie wusste es nicht so genau. Das einzige was wirklich gleich geblieben war, waren seine katzenartigen gelben Augen.

"Vales?", wiederholte sie zögernd. Sie kannte diesen Namen. Jeder kannte ihn. Das Vales Unternehmen war das größte Unternehmen der ganzen Stadt,

selbst außerorts war es führend auf dem Markt.

Es war ein gigantischer Konzern, der nahezu alles aufkaufte, wovon man Geld verdienen konnte.

Alles was es in die Hand nahm wurde zu Gold, jeder noch so kleiner Laden übertrumpfte seine Konkurrenz bei weitem. So wurde das Unternehmen immer mächtiger, da keiner es mir wagte sich ihm entgegen zu stellen. Kein anderes Unternehmen hatte auch nur den Hauch einer Chance, nicht mal das der Familie Varis.

"Du wirst dich sicherlich wundern was wir mit deiner Kleidung gemacht haben, nicht?", fuhr er einfach fort, ohne die Aussage des Mädchens zu beachten,

"mach dir keine Sorgen, eine Haushälterin hat sich darum gekümmert. Sie war es auch, die dich gesäubert hat. Ich bat sie vorhin darum in die Stadt zu gehen und etwas neues für dich zu kaufen".

Leicht überrascht schaute das kleine Mädchen auf und sah Sir Vales direkt an. Neue Kleidung? Extra für sie?

Sie wusste nicht warum er das tat, es war doch wirklich nicht nötig, aber dennoch... freute es sie irgendwie.

Ein leichtes Lächeln war auf ihrem Gesicht zu sehen,

"Die hier...gefallen mir eigentlich ganz gut".

"Tatsächlich?", zum ersten Mal zeigte sich eine Regung in seinem Gesicht. Er hob eine einzelne Braue und sah sie mit einem fragendem Blick an, der Überraschung auszudrücken schien.

Leicht erschrickt zuckte Crystal in sich zusammen und begann sich sogleich für ihre Aussage zu schämen,

"N-natürlich bin ich ihnen sehr dafür dankbar u-und es ist okay wenn-", doch sie kam nicht mehr dazu ihre Aussage zu beenden, da Sir Vales sie mit einer knappen Handbewegung unterbrach,

"Dann werde ich dafür sorgen, dass etwas ähnliches auch in deiner Größe zur Verfügung steht".

Wieder nickte sie einfach bloß, während ihre Augen weiterhin leuchteten, wie die eines unschuldigen Kindes.

Ohne irgendeine Vorwarnung ging Sir Vales plötzlich zur Tür und öffnete diese.

Er hielt kurz inne und drehte sich noch einmal zu dem immer noch krampfhaft gerade am Tisch sitzendem Mädchen um, "Wie alt bist du eigentlich?", fragte er sie, weiterhin im Türrahmen stehend.

"Ich bin... zehn", antwortete die Kleine leise, während sie den Mann beim hinausgehen beobachtete.

Dieser nickte und begann sanft hinter sich die Tür zu schließen, "Vergiss nicht deinen Tee".

Dann hörte man das Klicken der Tür.

Schweigend sah Crystal auf ihre Füße hinab, denn sie wagte nicht auf zu schauen. Sie wagte es nicht sich vom Fleck zu rühren, ohne die Anweisung von ihrem Herren.

Er war es, dem sie von nun an gehorchen würde.

Sie verdankte ihm ihr Leben, weshalb sie ihm eben dieses gab. Unablässig konnte man das Ticken der Uhr hören, welche jedoch an einem solch zeitlosen Ort komplett überflüssig wirkte.

Für Crystal zählte nur der Moment, ihr altes Leben war vorbei. Sie würde neu Anfangen müssen, komplett von vorne. Nur diesmal an seiner Seite.

Sie schwor sich ihm immer zu dienen, ihrem Master, mit allem was sie hatte. Sich ihm komplett zu ergeben.

Doch dafür musste sie von ihrem alten Ich los kommen, erwachsener werden.

Sie hatte nie Zeit um Kind zu sein, sondern es war immer ihre Pflicht der Familie Ehre zu bringen, jetzt war einzig und allein Sir Vales ihre Familie.

Der Mann der sie gerettet hatte, von ihrem Leid erlöst.

Die kleine Crystal Varis war an jenem verhängnisvollem Tag in ihrem Grab gestorben, jedoch wurde in eben diesem Moment etwas anderes geboren,

etwas, das aus ihrem eigenen Grab empor stieg und dessen einzige Aufgabe lautete für immer ihrem Gott zu dienen. Ein grausames Geschöpf welches über Leichen gehen würde.

Ihr Name war... Crow.

Sophie

Kapitel 2
 

Die ersten Sonnenstrahlen fielen durchs Fenster und warfen ein

merkwürdiges Licht in den Raum. Es war 6:00Uhr morgens,

eine Uhrzeit, zu der die meisten Menschen an einem Wochenende

lieber schlafen würden und ihre alltäglichen Pflichten unbeachtet

zur Seite warfen. Doch wie gesagt, die meisten, denn es gab auch

wenige Ausnahmen, die eben dies nicht taten, so wie auch Sophie,

die schon, obwohl ihr Tag grade erst begonnen hatte, damit

beschäftigt war ihrer Arbeit nach zu gehen.

Sie war Haushälterin in dieser Villa, und diente Sir Vales schon seit langem. Vorsichtig fuhr sie mit ihrem Staubwedel über die antiken

Möbel, sie hatte die Aufgabe dies jeden Tag zu tun.

Doch sie war natürlich nicht die einzige Angestellte, nein, es gab

noch viele, viele mehr. Diese Villa war riesig, von innen wirkte sie noch mal viel größer als von außen. Da sie auf einem Berg gebaut

war, war sie relativ schwer zu erreichen, da sie ebenfalls auch recht

abgelegen von der Stadt lag. Selbstverständlich gehörten ihm viele Villen, verstreut auf der ganzen Welt, doch dies war sein Anwesen,

die Villa, welche er sein Zuhause nannte.

Es war zudem das gigantischste von allen, fast unvorstellbar, dass

solch ein Koloss mitten im Nirgendwo hätte aufgebaut werden

können. Doch dem war so, die gigantische Vales Mansion existierte, sie war da. Mitten auf einem Berg, unerreichbar für Menschen, die den Weg nicht kannten. Sanft wischte sie über die

Regale, obwohl dort kein Staub lag. Natürlich lag da keiner, wie

sollte es denn auch? Sie hatte jeden Zentimeter erst Gestern gesäubert, genauso wie den Tag davor und alle anderen danach.

365 Tage im Jahr, selbst an Feiertagen, war sie dabei ihrer Arbeit

nach zu gehen, egal wie sie sich fühlte, egal was passiert war, sie tat

nur ihren Job. Keiner von Sir Vales Angestellten wusste, warum sie es tun mussten, doch es gab auch keinen der sich sonderlich

beschwerte, da sie äußerst gut bezahlt wurden.

Natürlich könnte man sich auch Frei nehmen, aber... die Villa hatte

etwas sehr anziehendes an sich. Man hatte hier nahezu alles was man brauchte, ab und an konnte man in die Stadt gehen um Einkäufe

zu erledigen und nach dem Arbeitsdienst lag einem die Welt

vollkommen offen.

Doch die meisten gingen zurück in ihre Gemächer oder gingen einer

vollkommen anderen Tätigkeit nach. Sophie selbst kannte nicht alle Angestellten, da es wirklich eine Menge waren.

Sie war immer wieder überrascht wenn sie vollkommen neue

Gesichter entdeckte, weshalb sie sich mittlerweile nicht einmal

mehr die Mühe machte sich die meisten Namen zu merken.

Sie war nun 22 Jahre alt und ist direkt nach ihrer Ausbildung in die

Dienste von Sir Vales getreten. Sie hatte diese Entscheidung niemals bereut, da sie alles was sie sich von einem Job wünschte

hier bekam. Sie wurde sehr gut bezahlt, die Verpflegung war einfach nur köstlich und die meisten Mitarbeiter waren, bis auf

wenige Ausnahmen, äußerst sympathisch.

Noch ein letztes Mal wischte sie über eine Kommode,

dann war sie auch schon Fertig. Ihre nächste Schicht würde um 12:00Uhr sein, wo sie die Räume 4A bis 4G in Block 3 vom Staub

befreien und wischen muss. Das Raum System war äußerst kompliziert, weshalb es schon mehrfach vorkam, dass sich

Angestellte in der Villa verliefen und zu spät zu ihrer Schicht

kamen. Es kam sogar einmal vor, dass ein frischer Angestellter Tagelang verschwunden war,

um dann urplötzlich mit zerfetzter Kleidung und halb verhungert in

die Kantine zu stürmen und Sophie dabei fast über den Haufen

rannte. Daraufhin war er kollabiert und auf die hier angelegte Krankenstation geliefert worden.

Mittlerweile geht es ihm besser, doch es dauerte nicht lange bis seine Kündigung auf Sir Vales Schreibtisch lag.
 

In Gedanken versunken schlenderte Sophie durch den Flur und

beobachtete die Vögel auf dem Dach der Villa, als sie plötzlich

einen unangenehmen Aufprall spürte.

„Aaah!", rief die andere Gestalt welche sich sichtlich erschreckt

hatte, schnell reagierte Sophie und versuchte den Arm der anderen

Person zu halten, welche grade dabei war nach hinten zu fallen.

Sie schaffte es.

„Claire?", sie sah in das Gesicht ihrer besten Freundin, nachdem sie sicher war, dass diese ihren Halt wieder gefunden hatte,

lies sie auch schon ihren Arm los und klopfte sich den Rock ab,

„was willst du denn hier?". Claire war genau wie sie als Haushälterin angestellt, doch normalerweise war sie nicht in diesem Teil der

Mansion, weshalb es Sophie schon stark verwunderte sie hier an zu treffen. Mitarbeiter die hier nicht eingeteilt waren hielten sich dem zu folge auch nicht hier auf, da, wie jeder wusste, es zu einem Problem

werden kann wenn man sich verirrt, man nehme als Beispiel den

frischen Angestellten welcher sich grade noch vor dem Hungertot

hatte retten können. Ein breites Grinsen war auf Claires Gesicht zu sehen, es gab wieder irgendeinen Klatsch und Tratsch der sich in der

Villa verbreitete, Claire war da immer eine der Ersten die davon

wussten, und es natürlich auch gleich jedem erzählten, wie ein

Feuer im trockenen Gras.

Erzählst du einmal etwas Falsches, kann es das Ende für dich

bedeuten, dachte sich Sophie, während sie darauf wartete,

dass Claire endlich erzählte was los war.

Da fing sie auch schon an, einmal angefangen hört sie nie wieder auf

zu quasseln, „Hast du schon das Neueste gehört Sophie?",

bevor diese aber jedoch auch nur die Chance hatte irgendwas zu

sagen fiel Claire ihr auch schon ins Wort und erzählte ihr, was sie

dazu brachte ohne umschweife in den Teil der Villa zu rennen, wo

Sophie nun Dienst hatte,

„Es ist angeblich wieder passiert! Maurice, der Gärtner aus Sektor B12, du weißt schon, der mit dem süßem französischem Akzent,

soll sich wieder mit Parker angelegt haben. Brrr... dieser Typ ist mir

unheimlich, erinnerst du dich? Letztens im Hobby Raum... erscheint

der einfach hinter mir und erschreckt mich zu Tode.

Mit dem ist doch irgendwas, dass sag ich dir! Ich bin froh mit dem nicht in einem Dienst zu sein, schlimm genug, dass Maurice sich mit

ihm anlegt. Angeblich soll es wieder während dem Schichtwechsel passiert sein, ich weiß nicht genau was es war, aber es soll irgendwas

mit Parkers Frau zutun haben. Kaum vorstellbar, dass dieser Typ

verheiratet ist, nicht? Nun er passt sowieso nicht wirklich hierher,

er soll ja außerhalb der Villa wohnen.

Fährt jeden Tag hierher und geht dann wieder, was ist nur mit ihm

los? Naja, auf jeden Fall sollen er und Maurice gestern in die Krankenstation eingeliefert worden sein, beide mit Kratzern und

blauen Flecken. Bei Maurice soll sogar ein Knochen hervor geguckt

haben, widerlich, das sag ich dir!

Jenny und ich wollen uns nachher mal da rein schleichen um zu

gucken, wie es Maurice geht und ihm eventuell ein kleines

Aufmunterungsgeschenk machen.

Das ist schon das dritte Mal diesen Monat... ich bezweifle,

dass Sir Vales das so auf die leichte Schulter nimmt".

Bei der Erwähnung von Sir Vales wurde Sophie schlagartig wieder

aufmerksam, sie hatte wirklich sehr großen Respekt vor ihm.

Er war ihr Chef, jedoch begegnete man ihm eher selten in seiner

Villa. Meistens war er in seinem eigenem Privaten Bereich, zu dem kein normaler Angestellter zutritt hatte.

Die dortigen Angestellten waren so etwas wie die Elite,

sie hatten ihren eigenen Platz in der Gesellschaft und zudem ein weit größeres Zimmer als die einfachen Angestellten.

Außerdem genossen sie alle das Vertrauen von Sir Vales, was an sich die größte Herausforderung überhaupt ist. Die meisten privaten Angestellten waren ziemlich arrogante Schweine,

kommandierten die anderen herum und liefen mit erhobener Nase durchs Anwesen.

Es gab nur eine begrenzte Anzahl von den privaten Angestellten,

weshalb man erst die Chance hatte einer zu werden, sobald der

zuvorige Angestellte verstorben ist, oder freiwillig geht.

Da sie aber um ein vielfaches besser bezahlt werden und man sie wie

kleine Götter verehrt und respektiert, gibt es natürlich niemanden,

der freiwillig diesen Posten aufgibt.

Man konnte es sich so Vorstellen wie ein Wettbewerb,

je mehr man sich einschleimt und je mehr man auch außerhalb

seiner Schicht tut, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit als

eventueller Kandidat infrage zu kommen, sobald der vorige Posten

frei wird. Sir Vales selbst entscheidet dann vor allen Leuten, wer als nächstes zu einem seiner persönlichen Angestellten befördert wird. Doch je mehr Personen in diesem Haus wohnen,

desto geringer würde die Chance werden selbst den Platz zu

kriegen, dass wussten sie alle.

Leise lies Sophie ein Seufzen hören, die mittlerweile komplett

vergessen hatte, dass Claire immer noch auf sie einredete,

„...und dann habe ich ihn gefragt was das soll, doch er meinte bloß es wäre nur Spaß gewesen. Dieser Idiot weiß doch genau, dass er damit kein spaß machen soll weil ich doch... hey Sophie?

Hörst du mir überhaupt zu?". Langsam wurde Sophie wieder in die Realität gerissen, wo sie mit verträumten Blick in das Gesicht ihrer

Freundin starrte. „Eh...was? Oh ja ehm... das ist wirklich empörend...", bedauerlicher Weise hatte sie natürlich gar keine

Ahnung was Claire ihr grade erzählt hatte, weshalb sie bloß auf gut

Glück raten konnte, in der Hoffnung ihre Freundin nicht zu

verärgern. „Diese... dumme Ziege!", meinte sie,

während sie dafür betete, dass ihre Antwort passen könnte.

Leicht Fragend sah Claire sie an, und Sophie spürte eine Gänsehaut

in ihr aufsteigen, hatte sie etwa Falsch gelegen?

Leicht nervös biss sie sich auf ihre Unterlippe.

„Dumme Ziege...?", mit einem Mal musste Claire anfangen zu lachen,

„Hahahaha, ja das trifft es genau, die Alte macht wohl auch nicht

mehr lange, hab ich dir ja grade erzählt hm?

Aber hey, wenn Mrs. Norris wirklich sterben sollte, wer meinst du

wird dann in ihre Fußstapfen treten?",

etwas überrascht sah Sophie in Claires Gesicht.

Mrs.Norris? Sie war schon in der Elite, bevor Sophie überhaupt in

Sir Vales dienst trat. Sie war zwar schon alt, jedoch hat sie immer einen fitten Eindruck gemacht. Ihr wurde die Ehre zuteil selbst das Gemach von Sir Vales aufsuchen zu dürfen, denn sie war seine

eigens zugewiesene Haushälterin.

Sie war eine der ältesten Angestellten, auch wenn Sophie sie niemals

wirklich privat kennen gelernt hat, jedoch eilt ihr; ihr Ruf voraus. Seit neuestem heißt es, sie wäre an einer seltenen Krankheit erkrankt,

welche sie voraussichtlich sehr bald töten wird.

Doch Sophie hatte dieses Gerücht schon oft gehört,

untereinander wurde es von den verschiedenen Gruppen schon

mehrmals behauptet, weil sie es lustig finden, dass die Angestellten

dann härter arbeiten als zuvor.

Sophie hatte es bisher jedoch nicht geglaubt, so etwas jetzt aber

schon aus eigenen Kreisen zu hören lies sie recht stutzig werden. „Ich ehm... ich weiß nicht Claire", langsam wurde Sophie diese

Unterhaltung zu lästig. Ihre Augen schweiften über den Flur,

in der Hoffnung etwas zu entdecken womit sie Claires Gebrabbel endlich entfliehen konnte.

Wie der Zufall es so will trat eben genau in diesem Moment eine Gestalt um die Ecke, ein kleines Mädchen,

Sophie war ihr schon mehrmals begegnet hatte jedoch bis auf

einmal nichts mit ihr zutun.

Sie war es nämlich, die von Sir Vales persönlich die Aufgabe bekam

für ein kleines Mädchen angemessene Kleidung zu holen.

Sophie hatte nicht gefragt wieso und weshalb sondern war gleich los

gestürmt um dem Kind etwas zum anziehen zu besorgen.

Letzten Endes war die komplette Aktion jedoch überflüssig,

da das Mädchen lieber die Hausmädchen Uniform trug.

Sir Vales lies ihr extra dafür eins designen und anfertigen.

Aber trotzdem konnte man sagen, dass doch nicht wirklich alles Zeit

Verschwendung war, denn von Sir Vales selbst solch eine Aufgabe

zu erhalten war an sich schon eine große Ehre.

Solange sie getan hat was sie sollte, war es ihr egal was mit der

Kleidung passierte, ob sie nun getragen werden würde oder nicht,

da alles was zählte war, dass Sir Vales zufrieden war.

Das alles war nun schon knapp drei Wochen her.

„Entschuldige mich kurz Claire, ich hab noch etwas Wichtiges zu

erledigen!", ohne auf eine Antwort zu warten griff sie schon nach

ihrem Rock und lief so schnell es ging dem kleinem Mädchen

hinterher welche grade um die Ecke verschwand.

Kaum abgebogen lehnte sie sich auch schon gegen die Wand und lies

ein lautes Seufzen hören. Claire war zwar nett und eine echt gute Freundin, aber wenn sie einmal redete gab es kein Entkommen. Außerdem waren ihr die meisten Themen sowieso egal.

Sophie war nie ein Mensch gewesen, der viel lästerte,

sie selbst wurde als Kind immer mit Gerüchten gepiesackt und sie

wusste, dass das meiste sowieso nicht wahr war.

Schlimm wird es aber, wenn die, die das Gerücht in die Welt gesetzt

haben anfangen es selbst zu glauben.

Viele Erwachsene sind nicht grade besser als Kleinkinder,

dachte sie und erinnerte sich für eine Sekunde wieder an ihre

Kindheit. Sie war viel zu kurz gewesen.
 

Leicht genervt sah sie auf ihre Uhr, sie war in diesem Gebäude

wirklich unbedingt nötig, da man jegliches Zeitgefühl verlor.

Es war schon 9:35Uhr, in weniger als drei Stunden würde sie zu ihrer

nächsten Schicht gehen müssen, doch sie wollte die restliche Zeit

noch irgendwie sinnvoll nutzen weswegen sie verzweifelt über eine

Möglichkeit nachdachte die Langeweile zu umgehen.

Doch ehe sie sich versah, kam die Möglichkeit auch schon zu ihr. Das Mädchen, welchem sie gefolgt war um Claire zu entkommen trat

plötzlich hinter ihr aus dem Schatten.

Sophie zuckte leicht zusammen als mit einem Mal rot-schwarze

Augen in die ihre blickten.

„Verzeihen sie bitte...", sagte das Mädchen leicht nervös,

„könnten sie mir sagen... wo ich hier bin?".

Sie war ungewöhnlich klein, doch ein angenehmer Geruch ging von

ihr aus. Ihre Haare waren zu Zöpfen gebunden, welche links und

rechts abfielen. Ihr Pony war gerade über ihre Augen geschnitten und bildeten einen perfekten Übergang.

Sie würde einmal ein sehr hübsches Mädchen werden,

dass wusste Sophie. „Wir sind in Sektor 2, Block 3, Ebene 4 und

stehen, ob du’s glaubst oder nicht, vor Raum E ",

lieb lächelte sie das Kind an.

„zwei...drei...vier...fünf", wiederholte dieses leise, während es sich

die Tür ansah neben dem sie standen, dann blickte sie wieder zu

Sophie, „schade... da fehlt die Eins. Dann wäre es perfekt".

„Aber das ist es doch?", meinte Sophie zwinkernd,

während sie sich zu der kleinen Schwarzhaarigen hin hockte,

dann hob sie ihre gespreizte Hand hoch, so, dass diese es sehen

konnte. „Wir stehen vor dem fünften Raum im vierten Stock...",

sie klappte ihren Kleinenfinger und den Ringfinger zusammen und

hielt die Restlichen weiterhin oben.

„...wir befinden uns im dritten Hausteil im zweitem Sektor",

jetzt hatte sie nur noch den Zeigefinger oben, welche sie auch schon

auf das kleine Mädchen richtete und sie damit lieb anstupste,

„und ein kleines Mädchen hat sich verlaufen und fragt nach Hilfe". Leicht verwundert über den Stupser schaut das Mädchen die Frau

etwas irritiert an, als sie plötzlich leicht kichern muss.

Es war ein kindliches Kichern, welches man jedoch bei einem solch

deprimiert guckendem Mädchen nicht vermuten würde.

Doch trotzdem wurde es Sophie warm ums Herz,

denn sie liebte Kinder über alles.

Schon immer hat sie sich um die Kleinen gekümmert und schaffte es

jedes Mal sie zu bändigen. Manchmal wünschte sie sich,

dass sie doch lieber in den Kindergarten gegangen wäre,

da es in der Villa eindeutig an Kindern mangelte.

Bis auf das Mädchen hier soll es auch noch ein Anderes geben,

jedoch bekam man dieses nie zu Gesicht weshalb einige sogar

behaupten es würde gar nicht existieren,

sondern wäre der Geist eines Jungens, welcher alleine durch die

Gänge spukt und nach seinem Onkel ruft.

Es heißt, nachts würde er kommen und man höre seine Schreie. Gruselig, dachte sich Sophie als sie darüber nachdachte,

aber sie glaubte nicht an ein Phantomkind, das in der Villa leben

soll, das war doch wirklich Blödsinn.

Bei diesem Kind aber war sie sich sicher, dass es kein Phantom war.

„Wie heißt du?", fragte sie das Mädchen nett und streckte ihr

freundschaftlich die Hand aus.

Leicht zögernd griff diese danach und antwortete schüchtern,

„I-ich heiße Crys-...", schnell sah sie zu Boden.

Einen Moment konnte man ein schmerzendes Leuchten in ihren

Augen aufblitzen sehen, bevor wieder das Kindliche zu ihr

zurückkehrte. „Crow", vollendete sie ihren Satz,

„Ich heiße Crow". Ein strahlendes Lächeln spielte sich auf Crows Gesicht ab und sofort vergaß Sophie das merkwürdige Leuchten

zuvor. „Hallo Crow, ich bin Sophie", stellte sie sich vor,

während sie das Lächeln erwiderte.

Vorsichtig stand sie auf. „Nun Crow, da du dich verlaufen hast,

darf ich fragen wo du denn eigentlich hin willst?",

sie hatte ja sowieso nichts zutun und weil ihre Schicht erst in

einpaar Stunden beginnen würde konnte sie ja noch etwas Zeit mit

der Kleinen verbringen.

Jeder Andere hätte diese Chance genutzt um sich bei Sir Vales

einzuschleimen, doch ihr ging es wirklich nur darum für ein kleines

Mädchen da zu sein und auf sie auf zu passen.

Sie hätte eigentlich erwartet, dass Mrs. Norris den Auftrag bekäme

auf das Mädchen acht zu geben, doch entweder war diese nicht dazu

in der Lage, oder sie wurde gar nicht beauftragt.

Weitere Gedanken wollte sie sich aber nicht mehr machen,

weil sie niemanden fälschlicherweise vorhatte zu beschuldigen. Deshalb lächelte sie einfach lieb weiter und sah in die

außergewöhnlichen Augen von Crow.

„Hmm... weiß ich auch nicht so genau...", murmelte die Kleine

verlegen, als mit einem Mal ein lautes Knurren zu hören war.

Sofort lief sie rot an und sah beschämt zu Boden,

„ach ja... ich habe etwas zu essen gesucht".

Sophie schaffte es grade noch sich ein Kichern zu verkneifen.

Die Kleine war einfach zu süß, liebevoll griff sie nach ihrer Hand.

„Dann lass uns doch einfach in die Kantine gehen, nicht?",

zwinkert forderte sie Crow auf mit ihr mit zu gehen,

was diese nach kurzem überlegen auch tat und so mit Sophie durch

das riesige Anwesen ging.
 

„Wie groß ist diese Villa eigentlich?", fragte Crow plötzlich,

als sie schon die Hälfte des Weges hinter sich hatten.

Und sie waren schon recht lange unterwegs.

„Wenn ich ehrlich bin Crow... ich habe keinen blassen Schimmer.

Es ist ja nicht bloß eine Villa, sondern eher... eine riesige Anlage. Hier wohnen so viele Menschen drin,

aber viele davon kenne ich nicht einmal. Zu einigen Teilen der Villa habe ich nicht mal Zugang, da ich nur spezielle Schlüssel für eben

spezielle Räume kriege. Weißt du... durch die Berge außen herum wirkt die Villa zwar schon groß, aber durch einen optischen Effekt

dennoch überschaubar. Tritt man jedoch ein ist es... wie in einer anderen Welt. Als gäbe es keine Zeit, nur den Moment... als würde die Zeit-... oh entschuldige bitte ich will dich nicht voll schwafeln." Mit großen Augen sah Crow Sophie an und hörte ihr aufmerksam zu. Sie klimperte mit den Augen, als ob sie Sophie auffordern würde

weiter zu erzählen. „...so als würde die Zeit hier vollkommen

wirkungslos sein", vollendete sie ihren Satz und lächelte das

Mädchen erneut an. Crow war wirklich außergewöhnlich.

Sie bogen um eine Ecke und liefen durch einen weiteren langen Flur. „Mir gefällt es ganz gut hier", meinte Crow,

während sie die verschiedenen Türen betrachtete.

Sie konnte sich gar nicht Vorstellen was dahinter alles verborgen sein

mag, „für mich wirkt es aber wie mehr als bloß eine normale

Mansion". Ihre Schritte wurden vom Teppich so abgedämpft,

dass man sie nicht mal hätte hören können, wenn man komplett

ruhig bleibt und die Luft anhält.

Natürlich war kein einziger Krümel oder Staubkorn darauf zu finden,

da auch dieser jeden Tag gesäubert wird.

„Keine normale Mansion?", Sophie zwinkerte ihr zu,

„ehrlich gesagt... teile ich dieses Gefühl.

Aber es ist nicht meine Aufgabe darüber nach zu denken".

„Es gibt nur eine Sache die mich wirklich stört...", fuhr Crow die

Unterhaltung fort, „das man soooo weit gehen muss um etwas zu

essen zu finden", wieder konnte man ein knurren aus

Crows kleinem Bauch hören.

„Hihi, du scheinst ja echt einen Bärenhunger zu haben?

Dann lass uns, uns jetzt aber mal beeilen, sonst verhungerst du mir

hier noch!"

„Wie wäre es, wenn an jeder Ecke so was wie... Snack Automaten

stehen würden? Dann kann sich jeder da bedienen und niemand

muss mehr extra den endlosen Weg zur Kantine laufen!",

kam Crow plötzlich die Idee.

„Hmm das wäre ein Gedanke wert, wenn du willst können wir

Sir Vales ja irgendwann einmal den Vorschlag machen,

aber vorher...", sie gingen eine Treppe hinunter in eine kleine Halle,

wo eine große Doppeltür direkt vor ihnen den Weg blockierte.

Mit einem leichtem Druck auf die Tür öffnete sich diese und offenbarte ihnen, was dahinter lag: eine riesige Kantine in der die

unterschiedlichsten Personen saßen.

Sie alle trugen ihre Arbeitskleidung, doch das Einzige was den Blick

des Mädchens fing, waren die Essensausgaben,

wo überall ein komplett anderes köstliches Gericht aufgetischt

wurde. „...hau mal ordentlich rein Crow! Lass es dir schmecken", zwinkernd sah sie in das Gesicht des kleinen Mädchens,

welches beim Anblick des vielen Essens zu strahlen beginnt.

Sie mochte die Kleine wirklich sehr, und, obwohl sie sich grade erst

kennen gelernt hatten, hatte Sophie sie doch schon irgendwie ins

Herz geschlossen.

Zufrieden folgte sie Crow in die Kantine und sah ihr dabei zu, wie sie sich den Magen voll schlug.
 


 


 


 


 


 


 

***
 

Es war 7:40Uhr, als Sophie plötzlich aus ihrem Traum gerissen

wurde. Mist! Sie hatte verschlafen!

So schnell es ging warf wie sich in ihre Arbeitskleidung und klopfte

ihren Rock zu Recht. Sie war schon viel zu spät dran,

sie konnte nur hoffen, dass niemand ihr fehlen bemerkte.

Das war nicht gut, nein, gar nicht gut.

Leicht panisch nahm sie ihren Staubwedel an sich und trat vor die Tür, schon in der Erwartung, die verachtungsvollen Gesichter ihrer

Kollegen zu sehen, doch... niemand war da.

Sie sah sich um, doch sie konnte niemanden entdecken.

Hatten sie sich versteckt? Warum sollten sie so etwas machen? Vorsichtig lief sie den Flur entlang, das einzige was man hören

konnte war das leise Ticken einer Uhr, welche hinter irgendeiner

von all diesen Türen stand.

Es war vollkommen unmöglich festzustellen aus welchem Raum das

Ticken kam, da alle gleich aussahen.

Je weiter sie ging, desto unwohler begann sie sich zu fühlen.

Wo waren denn alle? Sie bekam eine Gänsehaut,

als sie plötzlich einen kalten Luftzug spürte.

Normalerweise war sie nicht so ängstlich, doch je länger sie alleine

war, desto größer wurde das Gefühl der Panik.

„H-hallo?", rief sie mit piepsiger Stimme, während sie leicht

gekrümmt durch den Flur ging, „Ist da irgendwer? Hallo?...".

Ihr war mittlerweile eiskalt. Sie spürte wie ihre Augen langsam anfingen feucht zu werden. Sollte sie weinen? Wegen so etwas? Schnell wischte sie sich die Tränen aus den Augen.

Nein, sie würde nicht weinen.

Irgendeinen Grund würde es schon geben, das sie hier vollkommen

alleine war und schon in wenigen Stunden würde sie darüber lachen. Hoffte sie zumindest.

Nach kurzem überlegen entschloss sie sich dazu,

nach unten zu gehen, in der Kantine wird schon jemand sein...

eventuell würde sie ja jemanden im Flur begegnen.

Ihr war vollkommen egal wer es war, selbst wenn es Parker sein

sollte, Hauptsache sie wäre nicht länger allein.

Kurz kam ihr das Gerücht von dem kleinen Jungen in den Sinn,

der durch die Villa spukt und ewig jemanden rufen wird,

jedoch versuchte sie sich diesen Gedanken so schnell es ging aus

dem Kopf zu schlagen.

Geister? Pff, so etwas gibt es doch nicht...oder?

Ach Quatsch das sind doch alles bloß Märchen die-

„SOPHIE!!!", eine Stimme hinter ihr lies die schon zuvor nervöse Sophie laut aufschreien.

„Kyaa! Bitte fress’ mich nicht Geist!", schützend hielt sie die Hände vor sich, während sie ängstlich die Augen zusammen kniff.

„Keine Sorge... ich werde dich nicht... fressen",

keuchend kam eine Person auf sie zu gerannt.

Sophie erkannte die Stimme sofort und sah der, die sie eben fast zu

Tode erschreckt hatte direkt ins Gesicht,

„C-claire?", sofort lies sie ihre Hände sinken und zupfte sich ihre

Uniform zu Recht. Bei Sophie angekommen musste sie erstmal nach Luft schnappen, „Hff... da bist du ja endlich... ich hab dich

schon überall gesucht".

„Was ist denn los Claire?", etwas verwundert sah Sophie ihre komplett in schwarz gekleidete Freundin an.

Irgendwas musste passiert sein...doch was?

„Endlich ist es offiziell, ob dus glaubst oder nicht: Mrs.Norris ist

gestern Nacht an ihrer Krankheit verstorben!

Ich konnte es zuerst nicht glauben, doch es wurde von Sir Vales

persönlich bestätigt, weißt du was das heißt?!“,

ein erwartungsvolles Grinsen war auf Claires Gesicht zu sehen,

welches ungewöhnlich hübsch geschminkt war.

Normalerweise schminkte sie sich nur so, wenn sie wieder zu einer

ihrer komischen Partys ging.

„Ehm... wir werden sie beerdigen?", antwortete sie leicht verlegen,

weil sie nicht wusste, was sie sonst hätte sagen sollen.

„Ach Quatsch, was schert mich diese alte Schrulle denn? Die hätte eh

nicht mehr lange gehabt", verführerisch zwinkerte sie Sophie zu,

„Nein, es ist viel besser! Sir Vales selbst wird während der

Beerdigung da sein und direkt danach...",

mit einer einfachen Handbewegung öffnete sie einen Knopf ihrer

Bluse, was dazu führte, dass ihr Ausschnitt noch offener hervortrat

als sonst. Sophie konnte sich schon ahnen was Claire vor hatte, weshalb sie leicht die Augen verdrehte.

„...direkt danach wird er bestimmen, welche Haushälterin die Ehre

hat den Posten von Mrs.Norris zu übernehmen und in die Elite

aufzusteigen. Genau diesen Moment werde ich mir zunutze

machen!", ein entschlossenes leuchten war in Claires Augen zu

sehen. Sophie hingegen war sich nicht sicher, ob sie wirklich hören wollte, wie Claires weiterer Plan aussah,

doch ehe sie irgendetwas hätte erwidern können plapperte Claire

auch schon fröhlich drauf los,

„Mein Charme wird ihn betören hihihi, ich hab mir extra ein neues

Parfüm gekauft und mich so schön wie möglich geschminkt.

Dazu noch dieses super sexy Kleid, findest du nicht auch, dass es mir

wirklich super steht? Also wenn er da keine Augen macht!

Damit kriegt man jeden Kerl rum", ein fieses grinsen lächeln machte

sich auf ihrem Gesicht breit,

„und wenn ich erst zur Elite gehöre... hihihi... dann fließt die Kohle

in strömen wahahahaha!".

Sophie sah Claire nur mit fragendem Blick an.

Claire war zwar nett, doch manchmal hatte sie einfach einen kleinen

Trilli. Diese böse Lache war ihr ziemlich unangenehm,

weshalb sie sich schnell überlegte, wie sie Claire von ihrem

komischem Trip runter holen konnte.

Da kam ihr plötzlich etwas in den Sinn, etwas das sehr wichtig war. Sie schämte sich leicht dafür, nicht früher daran gedacht zu haben,

doch zu ihrer Verteidigung: Claire hatte ihr ja auch nicht grade viel

Zeit zum nachdenken gegeben.

„Wann wird Mrs. Norris den eigentlich beerdigt?", fragte Sophie,

wobei sie extra darauf achtete, dass Claire ihre Frage nicht einfach

wieder überspielen konnte.

„Mrs.Norris? ...ehm das war um 8:30Uhr oder so", mit einem Schlag

weiteten sich Claires Augen und ihr Arm schoss mit einem Mal so

schnell nach vorne, dass Sophie wieder leicht zusammenzucken

musste. Wie spät war es denn grade?

Würde Claire sich nicht immer so verplappern,

würde sie vielleicht auch einmal im Leben pünktlich kommen.

Die Augen der Schwarzhaarigen kniffen sich zusammen,

als sie Sophie ansah, „es ist 8:23Uhr...".

Fassungslos verglich Sophie Claires Uhr mit der ihren.

Es stimmte, in sieben Minuten würden sie bei der Beerdigung von

Mrs. Norris sein müssen, sonst würden sie äußerst negativ bei

Sir Vales auffallen.

Das wollte natürlich keine von Beiden, weswegen sie die Beine in

die Hand nahmen und so schnell es ging zum Friedhof hechteten.
 

Sie waren spät dran, viel später als Sophie es sich gewünscht hätte,

und alles bloß wegen einer gewissen Person, die der Meinung war;

obwohl sie bereit spät dran waren; noch einmal ihre Schuhe

wechseln zu müssen, da sie nicht gemerkt habe,

dass diese einen anderen schwarz Ton hätten,

als der Rest ihrer Kleidung. So kam es wie es kommen musste und sie platzten mehr als 15 Minuten nach beginn direkt in die

Trauerfeier, was nicht grade durch die fluchende Claire unterstützt

wurde, die direkt vor der Tür ihren Schuh verloren hatte um

daraufhin lauthals fiese Bemerkungen über die Mutter des

Schuhverkäufers zu verkünden, was natürlich keinem im Saal

entging.

Mit knallrotem Kopf trat Sophie also ein und suchte sich einen

freien Platz, wo sie sogleich beschämt den Kopf sinken lies.

Sie hatte sich zwar niemals wirklich Hoffnungen auf den Elite Titel

gemacht, doch jetzt konnte sie ihn sich sowieso komplett

abschreiben. Immer noch wütend setzte sich Claire neben sie, „Läuft ja echt beschissen bisher".

Sophie antwortete nichts auf Claires zischen, sondern begann sich im

Saal umzusehen. Es war aufgebaut wie eine Kathedrale,

jedoch hingen nirgends irgendwelche Kreuze oder andere religiösen

Zeichen. Das einzige, was man als Logo entdecken konnte,

war das typische Vales Marken Logo,

welches selbst auf dem Sarg eingeprägt war.

Sophie war zuvor niemals bewusst gewesen,

dass das Vales unternehmen selbst in der Beerdigungsbranche tätig

war, doch eigentlich hätte man es sich denken können.

Was Menschen während ihres Lebens kaufen ist immer nur eine

Statistik, die sich immer ändern kann.

Das einzige was auf der Welt wirklich sicher ist, ist der Tod.

Deshalb hätte sie schon längst davon ausgehen können,

dass Sir Vales selbst damit Geld verdient.

Apropos Sir Vales... suchend schweifte ihr Blick über die ganze

Menschen Masse. Sie versuchte nicht einmal zu schätzen,

wie viele Personen in diesen Raum waren, alle bloß wegen einer

Frau. Einer Elite.

Es war einfach beeindruckend, dass Mrs. Norris solch eine prächtige

und teure Beerdigungsfeier bekam, dafür, dass nahezu niemand sie

wirklich kannte, bzw. die, die sie kannten konnten sie nicht leiden. „Man... so eine Elite Putze wird ja mehr gefeiert als ein Offizier",

scherzte Claire neben ihr, die wohl das Selbe gedacht haben muss. Der Anflug eines Lächelns war auf Sophies Gesicht zu sehen,

ja, dass war typisch Claire.

Kümmert sich nur um ihren eigenen Vorteil und reißt selbst bei einer

Beerdigung Witze.

Sophie vermutete sogar, dass diese Eigenschaft eine von denen ist,

die Claire überhaupt zu ihrer Freundin machte.

Diese lockere ironische Art. Bloß sollte sie manchmal wissen,

wann sie aufhören sollte zu reden, was bedauerlicher Weise äußerst

selten vorkam. Plötzlich bemerkte Sophie etwas in den vorderen Reihen, ein Zylinder! Es konnte sich dabei nur um Sir Vales handeln,

denn eine von den Regeln der Villa besagte,

dass es den Herren nicht erlaubt ist, auf dem gesamten Anwesen

einen Zylinder zu tragen.

Keiner wusste wieso, aber es hatte sowieso keiner vor,

weil diese Dinger die Arbeit nur behindern würden, doch egal ob

man es vorhatte oder nicht: Sir Vales hatte es verboten.

Elegant erhob er sich von seinem Platz und ging auf die Tribüne. Hinter ihm war ein teuer aussehender, wunderschön verzierter Sarg,

in dem vermutlich Mrs.Norris Leiche lag.

Seinen Gehstock im Arm haltend lies er seinen Blick über alle

Anwesenden schweifen. Schlagartig wurde es still und es war,

als würde jeder den Atem anhalten. Seine kalten gelben Augen blitzten auf und er erhob seine Stimme mit einer Art, wie nur er

sprechen konnte.

„Vielen Dank, dass sie alle heute hier anwesend sind um von einer

besonderen Angestellten abschied zu nehmen.

Dorothea K. Norris war nun schon mehr als 20 Jahre meine private

Haushälterin und sie genoss mein innigstes Vertrauen.

20 Jahre, wahrlich eine lange Zeit.

Bedauerlicherweise ist sie Gesternabend von uns gegangen und

hinterlässt damit eine große Lücke in dem System dieser Villa. Diese Lücke gilt es zu füllen, weshalb ich beschlossen habe

unmittelbar nachdem Dorothea vergraben wurde ihre Nachfolgerin

zu bestimmen, danke für ihre Aufmerksamkeit".

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, begab er sich wieder auf seinen

Platz, welcher sich natürlich direkt in der ersten Reihe befand,

zentral und genau abgepasst zum Sarg.

Neben ihm saßen die übrigen Elite Arbeiter,

welche mit kaltem Blick auf den Sarg ihrer ehemaligen Kollegin

starten. Die haben sie wohl auch nicht sonderlich gemocht,

dachte sich Sophie, während sie sich weiter umguckte.

Etwas kam ihr merkwürdig vor, jeder saß an dem für ihn

vorgesehenen Platz, doch eine ganz bestimmte Person fehlte... Crow! Wo war sie denn bloß?

Eigentlich hätte Sophie erwartet, sie direkt neben Sir Vales sitzen zu

sehen, doch dem war nicht so.

Langsam kam in ihr die Vermutung hoch, dass Crow gar nicht

anwesend war. Aber...wo war sie denn dann?

Leicht desinteressiert lauschte sie weiteren Reden von irgendwelchen

Personen, die sie jedoch nicht kannte.

Sie wartete einfach bis das alles hier vorbei war, damit sie ihre kleine

Freundin suchen konnte.

Sie hatte sie schon länger nicht gesehen.

Es war nun schon fast zwei Monate her, seitdem sie sich kennen

gelernt hatten und ab und zu haben sie sogar mal etwas miteinander

unternommen. Doch jetzt war es schon fast eine Woche her, dass sie Crow das letzte Mal gesehen hatte.

Sophie fing an sich leichte Sorgen zu machen, wo konnte sie denn

bloß sein? Als Claire ihr beim umziehen erzählt hatte,

dass so gut wie alle Angestellten anwesend sein werden und die

Arbeit vorerst eingestellt wird, hatte sie sofort den Gedanken im

Sinn, dass sie ja womöglich auch Crow hier treffen könnte!

Jedoch Fehlanzeige.

Von ihr war nicht die geringste Spur zu sehen.

Mittlerweile war auch der letzte Redner fertig,

was dadurch gekennzeichnet wurde, dass ein Orchester anfing eine

traurige Melodie zu spielen.

Sie hatte dieses Lied niemals zuvor gehört und sie bezweifelte,

dass es ein älteres Werk war, da sie schon als Kind sehr von

klassischer Musik fasziniert war.

Doch dieses Stück war ihr vollkommen unbekannt und das machte

ihr eine Gänsehaut. Nachdem es endete, kamen einige Männer in

schwarzen Anzügen, welche jeweils auf einer Seite standen und den

Sarg vorsichtig anhoben, nur um ihn dann durch den Gang,

an den Leuten vorbei zu tragen.

„Wir müssen doch jetzt nicht auch noch dabei sein, wenn sie die alte

Schachtel in der Erde verbuddeln oder?",

Sophie konnte deutlich aus Claires Stimme heraushören,

dass die gesamte Veranstaltung sie eben so gelangweilt hatte,

wie Sophie selbst.

Jedoch lies sich Sophie nichts davon anmerken,

„Naja... einwenig Respekt kann man ihr doch entgegen bringen,

oder nicht? Ich meine... sie war schon da, bevor ich überhaupt

sprechen konnte...“.

„Hmm?", Claire hielt mittlerweile einen kleinen Spiegel in der Hand

und fuhr sich mit rotem Lippenstift über die Lippen,

"Oh sorry Sophie, hast du was gesagt?".

Leicht genervt sah Sophie zu ihrer Freundin.

Das war wiederum ein Moment, wo sie Claire am liebsten sitzen

gelassen hätte und einfach abgehauen wäre.

Jedoch blieb sie weiterhin ruhig sitzen und beobachtete die

Schwarzhaarige dabei, wie sie sich ihr Make-up neu auffrischte. „Nein... nicht so wichtig", mit einem falschem Lächeln auf dem

Gesicht blickte sie zu ihrer Freundin und zeigte ihr damit,

dass sie Fertig war mit sprechen.

„Wann meinst du wäre der perfekte Zeitpunkt um sich an ihn

ranzumachen? Ich meine, er ist verletzt und neben der Spur.

Seine treue Elite Putze ist von uns gegangen und hinterlässt eine,

wie er meinte, große Lücke im System hihi",

wieder konnte Sophie das böse Grinsen auf dem Gesicht ihrer

Freundin erkennen, ihr schien es wirklich komplett egal zu sein,

dass sie immer noch auf einer Beerdigung waren.

Vorsichtig stand Sophie auf, sie folgte der Menschenmaße nach

draußen, welche sich mittlerweile auf den Weg gemacht hatte,

um ihren alltäglichen Pflichten nachzugehen.

Soll Claire doch versuchen sich bei ihrem Chef, Sir Vales,

einzuschleimen. Sophie bezweifelte stark, dass dieser sich darauf

einlassen wird, geschweige denn sich überhaupt darum kümmern,

da er, obwohl es eine Abschiedsrede an seine treue Haushälterin

war, nur von seiner Arbeit und seinem Unternehmen gesprochen

hatte. Sie fragte sich, ob er wenigstens dabei sein würde,

wenn Mrs.Norris auf dem Friedhof vergraben werden wird.

Mit einem Mal kam in ihr die Frage auf, wieso in diesem Anwesen

überhaupt ein Friedhof war...

so etwas war nun schon sehr ungewöhnlich.

Aber eigentlich war alles hier ungewöhnlich und um ehrlich zu sein,

war genau das der wahre Grund weshalb sie überhaupt hier war.

Es wirkte eher wie eine eigene Stadt als eine Villa,

und das nicht bloß wegen der Tatsache, dass es wohl das größte und

umfangreichste Gebäude war, welches sie kannte, nein,

sondern auch wegen den Verhältnissen hier.

Es gab verschiedene Gruppierungen und jeder hatte eine bestimmte

Arbeit zu verrichten. Man konnte tun was man will,

es gab sogar eine Golfanlage und einen Swimmingpool.

Manchmal wirkte es eher wie eine Freizeitanlage statt einem

Arbeitsplatz. Alles wurde von einer riesigen Mauer abgegrenzt,

welche das gesamte Grundstück umrahmte.

Es gab nur einen Eingang welcher von einem gigantischen Tor

nahezu den ganzen Tag verschlossen wurde.

Niemand wollte raus, darum brauchte es auch nicht unnötig offen zu

stehen. Von oben müsste es doch eher wie eine Festung aussehen

statt nach einer Villa, kam es ihr plötzlich in den Sinn,

denn welches Anwesen war schon auf solch einem riesigen

Gelände, geschützt von einer meterhohen Mauer,

die jeden Tag gewartet wurde und ohne, dass irgendjemand diese

überhaupt verlässt?

In der Ferne sah sie schon den Anfang der Mauer,

sie war viel zu lang, als dass ihr Blick sie komplett hätte erfassen

können. Sie breitet sich aus, wie eine fette Schlange,

die mit ihrem Schwanz ihre Beute einkreist um ihr jeden Fluchtweg

zu verwehren und sie gnadenlos zu fressen.

Zum ersten Mal in all der Zeit in der sie hier wohnte,

bekam Sophie ein unbehagliches Gefühl.

Sie fühlte sich nicht wie eine Angestellte, oder ein Teil einer

Gemeinschaft, nein, sie fühlte sich wie eine Gefangene,

die Lebenslang dazu verdammt war, an diesem Ort zu verweilen. Schnell schüttelte sie diesen Gedanken von sich.

Sie arbeitete hier bloß, sie war eine von vielen Haushälterinnen,

die in dieser Villa Angestellt waren.

Ihr Chef war der ruhmreiche und ehrenswerte Sir Raven Vales,

ein Mann von Adel. Sie sollte ihm dankbar sein,

dass sie für ihn arbeiten durfte, seine noblen Zimmer putzen.

Sie war entbehrlich, doch solange sie tat was sie sollte gab es keinen

Grund zu verschwinden.

Seufzend beschloss sie, sich erstmal einwenig auszuruhen,

bevor sie mit ihrer Arbeit weiter machte.

Außerdem würde sie nachher noch nach Crow suchen müssen,

sie hatte sie schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen.

Mit leichten Schritten lief sie durch einen kleinen Park,

sie mochte diesen Ort. Er war so schön grün und natürlich.

Sie überquerte eine kleine hölzerne Brücke und sah ins Wasser hinab. Kleine Fischchen schwammen darin herum.

Es war ein sehr harmonischer und beruhigender Anblick,

der Sophies Sorgen gleich in Luft auflösen lies.

Wie sollte etwas so schönes denn auch böse sein? Sie schämte sich

leicht dafür, dass sie an Sir Vales gezweifelt hatte.

Nach einem kurzen Moment der Ruhe hatte sie wieder genug Energie

getankt um sich auf den Weg zum Hauptgebäude zu machen,

welches von den Meisten als Herzstück der Villa bezeichnet wurde. Oder besser gesagt: Sie bezeichneten das Hauptgebäude als

„die Villa“, Sophie hingegen wusste aber, dass dem nicht so war. Alles war nun schon mehrere Wochen her, als sie etwas sah,

wovon die wenigsten Arbeiter in der Villa überhaupt wussten.

Es war gewesen, als sie Sir Vales eines Tages zufällig auf dem Flur

begegnet war. Es war schon ungewöhnlich, dass er seine Etage

verließ, aber noch ungewöhnlicher war es,

dass man ihm zufällig begegnete.

Sophie hatte damals das Gefühl gehabt, dass Sir Vales genau wusste,

wo er hin musste, da er außergewöhnlich aufgebracht zu sein

schien. Er war direkt auf sie zu gegangen und hatte ihr befohlen mit ihm zu gehen. Es war schon sehr spät gewesen,

weshalb sie sich wunderte, dass es irgendjemanden gab,

der überhaupt noch wach war, doch anscheinend war dem so. Selbstverständlich war sie ihm ohne irgendwelche Widerworte

gefolgt, denn sie wusste, dass es nahezu nichts gab was ihn

überhaupt aus der Fassung bringen konnte.

Diesmal jedoch konnte man ihm seine Angespanntheit deutlich

ablesen, Sophie wusste nicht was es war, doch es war ihr ziemlich

unheimlich. Er führte sie direkt in sein Büro, und somit in einen Teil der Villa, der nur für einen Bruchteil aller Angestellten jemals aufgesucht werden würde.

Ohne auch nur einwenig Zeit zu verlieren hatte er ihr erzählt was los

sei, sie hätte die Aufgabe bei Sonnenaufgang sofort los zu gehen

und Kleidung für ein kleines Kind zu holen.

Sophie verstand nicht warum sie das tun sollte und auch warum

grade sie diese Aufgabe bekam, doch Sir Vales umging geschickt

all ihre Fragen und lies sie bloß wissen, dass es sich dabei um ein

etwa 10 Jahre altes Mädchen handeln würde.

Sophie hatte kurz gedacht, dass es sich eventuell um ein sehr

kurzfristiges Geburtstagsgeschenk für die Tochter eines Freundes

handeln könnte, doch diesen Gedanken verwarf sie schnell wieder,

da es äußerst untypisch für Sir Vales war.

Er war organisiert und hielt sich strikt an seine Termine,

er war nicht der Typ der Geburtstage vergisst.

Außerdem war er auch nicht wirklich der Typ für Freunde… nein,

es würde schon etwas weit schlimmeres sein,

etwas Unvorhergesehenes.

Sie hatte sich im Raum umgeschaut, kurz bevor Sir Vales sie nach

draußen verwies. Er war wirklich sehr schön eingerichtet,

mit einigen Monitoren, zahlreichen Pokalen und schön verzierten

Möbeln, jedoch gab es etwas, was sie mit abstand am meisten in

diesem Raum reizte: An der Wand hing eine riesige Karte,

welche das komplette Gelände der Villa zeigte,

aus der Vogel- und Seitenperspektive.

Neben der Tatsache, dass das Hauptgebäude äußerst merkwürdig

geformt war, rutschte ihr fasst das Herz in die Hose, als sie sah,

wie groß die „Villa“ wirklich war.

Das „Hauptgebäude“ war nahezu winzig, im vergleich zum Rest

der Karte, welche die verschiedensten Bauten und Gebäude zeigte,

die sie zuvor noch nie gesehen hatte. So weit hatte sie sich nie aufs

Gelände gewagt, doch noch erschreckender war die Tatsache,

dass alles, wirklich ALLES miteinander verbunden zu sein schien. Sie konnte es sich nicht genau erklären, dafür reichte die Zeit nicht,

die sie hatte um diese Karte zu studieren, doch es war alles mit

einander Verbunden und zeigte Wege und Räume,

die sie all die Jahre niemals wahrgenommen hatte.

Sie war vor der Karte erstarrt, weil sie nicht glauben konnte was sie

dort sah. Dieses Gesamte Gelände war wirklich bloß eine einzige Villa, welche sich selbst unter der Erde ausgebreitet hatte.

Sie konnte nicht genau erkennen, ob es einfache Abwasserkanäle

waren, oder vielleicht auch was anderes, doch in dem Moment war

ihr alles egal gewesen.

Sie wollte nur noch raus, raus aus diesem Monstrum,

weg von der Villa, einfach bloß raus.

Die kleine Shoppingtour hatte sie zum Glück beruhigt und ohne auch

nur irgendeinen weiteren Gedanken daran zu verschwenden hatte

sie die Kleidung abgeliefert und war ihrer normalen Arbeit

nachgegangen, stets daran versuchend, den schrecklichen Anblick

aus dem Gedächtnis zu löschen.

Doch sie konnte es nicht, egal wo sie hinsah, überall bildete sie sich

ein, dass dahinter irgendwelche geheimnisvollen Räume versteckt

sein würden, welche irgendwas vor den normalen Arbeitern

verbergen sollten. Der Gedanke machte ihr Angst, doch sie wusste, dass sie sich das bloß einbildete. Darum dauerte es nicht lang und schon war sie wieder voller Eifern in ihrem Job.

Erst als sie Crow kennen lernte fing sie wieder an sich daran zu

erinnern, doch je länger sie damit lebte, desto besser konnte sie es

verarbeiten.

Und? Dann sind da halt irgendwelche Räume und Gänge unter uns,

Sir Vales wird schon wissen wozu er die braucht!

Mittlerweile war sie fast wieder im Hauptgebäude angekommen,

wo sie auch gleich wieder zu ihrem Arbeitsplatz gehen würde.

Um 16:00Uhr würde Sir Vales die Nachfolgerin von Mrs. Norris

auswählen und bis dahin musste sie Fertig sein. An ihrem Ziel angekommen atmete sie erstmal tief durch um von all ihren

Gedanken los zu kommen, dies war nicht der richtige Zeitpunkt um

irgendwelche Verschwörungstheorien aufzustellen,

am wenigsten, wenn diese gegen ihren Chef gingen,

der ihr anscheinend einwenig mehr zu zutrauen schien, als ihren

Kolleginnen, weil sie damals die Aufgabe bekommen hatte

Kleidung für Crow zu kaufen.

Außerdem hatte sie schon die Ehre gehabt sein Büro betreten zu

dürfen, wofür Claire ihr schon aus Neid die Augen auskratzen

würde. Sie schien wirklich scharf auf Sir Vales zu sein,

dachte sich Sophie, während sie sanft über die Möbel strich.

Doch jetzt war nicht die Zeit für so was, weder für ihr Privat leben,

noch für irgendwelche anderen Kleinigkeiten, denn das Einzige was

sie jetzt zutun hatte war es, ihre Arbeit zu erledigen.
 

***
 

Claire hatte ihr den Befehl gegeben sich schön an zu ziehen.

Sophie wusste nicht warum sie das tun sollte, doch Claire war

äußerst… überzeugend gewesen. Mit genervtem Blick sah sie in Claires grüne Augen und blies sich dabei eine hellbraune Strähne

aus ihrem Gesicht. Claire hatte sie geschminkt.

Sie war entsetzt gewesen, als sie sich selbst zum ersten Mal im

Spiegel sah, ihr schönes braunes Haar: aufgestyled!

Ihr natürliches liebevolles Gesicht: wie ein Farbtopf!

Sie sah aus wie eine billige Crackhure, doch Claire schien damit

vollkommen zufrieden zu sein. Am schlimmsten war aber die Tatsache, dass sie dazu gezwungen wurde sich in ein viel zu enges

und kurzes Kleid zu quetschen.

Sophie war nicht dick, überhaupt nicht, es wirkte eher so als sei das

Kleid von der Größe her aus der Kinderabteilung gekauft wurden. „Man siehst du scharf aus“, mit einem breiten Grinsen auf dem

Gesicht, zwinkerte Claire ihrer Freundin zu.

Gespielt lächelte diese zurück und musste stark darum kämpfen in

diesem engen Kleid überhaupt Luft zu kriegen. Sophie wusste, dass

sie es sofort loswerden musste, sobald Claire sie für eine Sekunde

unbeobachtet ließ. Irgendeine Ausrede würde sie schon finden…

ein Waschbär oder so was, der durchs Fenster rein gekommen ist und ihr tolles Kleid zerrissen hat. Ja genau, dass würde sie sagen.

Doch Claire machte keinerlei Anzeichen zu gehen,

„Wenn alles klappt, gehöre ich schon heute zur Elite hihihi, ist das

nicht toll Sophie?“, sie selbst hatte sich auch noch mal umgezogen. Anstatt dem schwarzen Kleid von heute morgen trug sie jetzt eine

Art weinfarbenes Abendkleid, welches wirklich perfekt zu ihrem

Gesicht und ihrer Frisur passte. Zudem war der Ausschnitt sehr fiel offener, als er es sonst auch schon ist, was jedoch nicht heißt,

dass es wenig ist!

„Das… ist doch toll“, entgegnete die Brünette, während sie deutlich

spüren konnte wie ihre Luft knapp wurde.

Sie musste aus diesem Kleid raus. Jetzt!

„Hey Claire…“, verzweifelt suchte sie irgendeine Ausrede, womit

sie ihre Freundin ablenken konnte,

„ehm… oh nein! Ich äh… habe mir doch extra für so einen

Anlass… Schuhe gekauft! Ja genau Schuhe… sie ehm… stehen

unter meinem… Bett.

Macht es dir was aus, wenn ich sie kurz holen gehe?“

Mit glasigen Augen sah sie der anderen direkt ins Gesicht.

Sie hoffte wirklich sehr, dass Claire darauf reinfallen würde. „Hmmm meinetwegen“, desinteressiert zuckte diese mit den

Achseln, „ich geh dann auch schon mal los“.

Erleichtert tapste Sophie zur Tür, sie konnte kaum laufen und wollte

einfach bloß weg. „Wir sehen uns dann bei der Auswahl“,

warf Claire ihr noch hinterher, während sie ihr zur Tür folgte,

„viel Glück Süße!“.

Frech gab sie der fliehenden Sophie einen kleinen Klaps auf den

Hintern, welche vor Schreck kurz aufsprang, nur um daraufhin

knallrot vor Scham im Gang zu verschwinden.
 

Es war kurz vor 16:00Uhr, als Sophie die Halle betrat.

Sie hatte sich heimlich noch mal umgezogen und versucht

wenigstens das gröbste aus sich heraus zu holen, damit das

„Monster“, welches Claire erschaffen hatte wenigstens noch eine

Spur Sophie in sich trägt. Irgendwie kam in ihr das Gefühl auf, dass Claire sie keineswegs unbeabsichtigt so entstellt hatte.

Sie war anscheinend wirklich so scharf auf den Posten,

dass sie sogar ihre beste Freundin dafür zum Clown machen würde. Naja, konnte man von ihr ja auch nicht anders erwarten.

Sie sah sich um und bemerkte, dass alle ihre Kolleginnen sich so gut

angezogen hatten wie möglich.

Anscheinend waren sie alle unglaublich heiß darauf, Mrs.Norris Platz einzunehmen. Sophie begann sich einwenig fremd zu schämen, denn

sie konnte nicht verstehen, wieso sich erwachsene Frauen bloß für

eine Arbeitstelle so zum Affen machten.

Sie selbst fand die Möglichkeit ja schon sehr attraktiv,

am meisten weil sie sich dann um Crow kümmern dürfte…

also offiziell, jedoch würde es ihr niemals in den Sinn kommen sich dafür extra so aufzupäppeln.

Nun, um ehrlich zu sein, einwenig mehr Make-up als sonst hatte sie

schon drauf…aber dass bloß um nicht vollkommen in der Masse unterzugehen. Währenddessen rückt der Minutenzeiger immer näher zur 12 heran. Gleich würde es so weit sein, sie würden endlich erfahren, wer von ihnen die Glückliche war, die innerhalb von einem

Tag auf dem nächsten einen gigantischen Karrieresprung machen

würde. Claire war mittlerweile auch angekommen, genauso,

wie so ziemlich alle anderen Haushälterinnen der Villa.

Sie alle saßen, wie auch heute Morgen schon, auf verschiedenen

Sitzbänken und schauten alle gespannt auf die Tribüne.

Es war nicht derselbe Ort wie vorhin, diese Halle hier befand sich

ganz woanders auf dem Villa Gelände. Doch trotzdem sah es vom

Baustil her genau gleich aus. Zum verwechseln ähnlich.

Plötzlich wurde es dunkel im Raum, und alle wurden Still.

Auf der Tribüne ging ein einzelnes Spotlight an und mitten drin

stand, wer sollte es auch schon anderes sein Sir Raven Vales,

welcher sofort alle Blicke im Raum einfing und praktisch alles für

sich einnahm.

Er hatte so eine Besitz ergreifende Aura, dachte sich Sophie,

während sie spürte, wie sich ihre Gänsehaut langsam wieder verzog. Jedes einzelne Augenpaar war voller Spannung und Nervosität auf

ihn gerichtet, sie alle warteten darauf bis er endlich anfing

zu sprechen. „Meine Damen“, seine tiefe heisere Stimme hallte

durch den ganzen Raum, er brauchte kein Mikro um zu sprechen,

denn seine einzigartige Stimme war laut und deutlich zu hören,

selbst für die, die in der hintersten Reihe saßen.

„Ich möchte ohne irgendwelche Zeit zu verlieren gleich zur Sache

kommen, sie alle haben in den letzten Jahren bemerkenswerte

Arbeit geleistet. Die meisten von ihnen waren sehr fleißig und

haben sich stark bemüht, wofür ich ihnen sehr dankbar bin. Natürlich weiß ich auch, dass die wenigsten von ihnen wirklich

irgendetwas für Mrs.Norris übrig hatten, weshalb ich davon

ausgehe, dass viele von ihnen bloß darauf ausgelegt sind ihren

Posten einzunehmen“.

Einige der Anwesenden fingen an zu erröten oder schauten verlegen

zu Boden, doch Sir Vales beachtete die gar nicht,

sondern fuhr einfach mit seiner Rede fort,

„Seien sie unbesorgt, dieses Gefühl ist bloß all zu verständlich,

da es praktisch eine einzigartige Chance für ihre Karriere ist.

Nun, sie alle sind sicherlich schon recht gespannt, welche von ihnen

am meisten mein Vertrauen genießt und damit die Ehre hat in die

Elite aufzusteigen“. Inzwischen waren wirklich alle Anwesenden sehr nervös, selbst Sophie spürte einen kleinen Knoten im Magen, als

sie der Rede von Sir Vales zuhörte. Sie wünschte sich einfach, dass es vorbei war, doch genauso sehr wünschte sie sich,

dass er es einfach für sich behalten würde.

Sie war überraschend aufgeregt, dass hätte sie selbst nicht von sich

erwartet, doch anscheinend machte selbst sie sich leichte

Hoffnungen darauf diesen Posten zu kriegen.

„Ich werde sie nicht länger auf die Folter spannen:

Diejenige von ihnen, welche aus meiner Ansicht nach diese

Arbeitsstelle am meisten verdient hat,

die immer sofort alles erledigte worum man sie bat und zudem noch

andere großartige Leistungen gebracht hat, ist eindeutig niemand

anderes als…“,

der Knoten in Sophies Magen verkrampfte sich und sie spürte,

wie ihr leicht schwindelig wurde.

Man konnte spüren, dass es allen anderen hier genauso ging.

„…meine treue und stets arbeitsbereite Haushälterin Rebecca! Rebecca, bitte kommen sie auf die Bühne“.

Eine Welle der Enttäuschung schoss durch den Raum,

was nicht wenige dazu brachte vollkommen in Tränen auszubrechen. Vom falschen Applaus begleitet kam plötzlich eine junge Frau nach

vorne. Sie unterschied sich in kein Bisschen von den anderen Frauen, sondern sah einfach so aus, wie sie war:

uninteressant und langweilig.

Leicht neidisch musterte Sophie die Haushälterin, welche jeder

anderen in diesem Saal die Hoffnung zerstört hatte.

Doch schnell fasste sie sich und begann ehrlich zu applaudieren,

denn sie wusste, dass es wohl stimmen musste was man über sie

sagt, wenn selbst Sir Vales diesem zustimmt.

Leicht murrend begannen die ersten Arbeiterinnen den Saal zu

verlassen, sie alle waren wirklich sehr enttäuscht.

Besonders schlimm war es bei Claire, die sich wirklich

außerordentlich darüber aufregte und wieder anfing laut zu werden. „Claire hör auf!“, sagte Sophie mit strengem Ton, als sie an Claire

vorbei ging, „wir sind es beide nicht geworden okay?

Kein Grund immer rumzunörgeln, so wird man sicherlich keine

Elite!“. Mit funkelnden Augen schob sich Sophie an ihr vorbei und

ging ins Freie.

Einen von Claires Wutausbrüchen war genau das Letzte was sie jetzt

brauchte. Anscheinend wollte sie diesen Posten doch dringender,

als sie gedacht hatte, denn der Knoten in ihrem Magen war nach wie

vor dabei, sich immer doller zusammenzuziehen.

Doch sie schämte sich nicht dafür neidisch zu sein,

dass lag in der Natur des Menschen, außerdem war genau so was

erst ein richtiger Ansporn um seine Arbeit richtig zu verrichten! Neuen Mutes und voller Entschlossenheit machte sie sich also auf

dem Weg in ihr Zimmer um sich wieder umzuziehen und sich dem

Alltag zu widmen. Insgeheim war sie froh, dass Claire nicht genommen wurde, weil das mit Sicherheit dazu geführt hätte,

dass ihre Freundin nun vollkommen die Kontrolle verlor.

Glücklicherweise war dem nicht so, weshalb schon bald alles wieder

beim Alten sein würde.

Sophie wusste zu diesem Zeitpunkt aber jedoch nicht, wie falsch sie mit diesem Gedanken lag.
 


 


 


 


 


 


 


 


 

***
 

Sanft prasselte ihr das Wasser auf den Nacken, ihre Haare hatte sie

hoch gesteckt, damit diese nicht nass wurden.

Sophie spürte, wie das warme Wasser angenehm ihren Körper

hinab rann, es war einfach unglaublich entspannend.

Genau das, was sie nach all dieser anstrengenden Zeit brauchte:

eine lange heiße Dusche, ganz für sich alleine um den gesamten

Stress abzubauen und sich neu zu fixieren.

Das Tat wirklich gut, jedoch nicht annähernd so sehr wie ein warmes

Bad bei ihren Eltern. Es war schon ewig her, seitdem sie das letzte

Mal dort war, sie kam nicht oft dazu sie zu besuchen.

Liebevoll schäumte sie sich ein und roch sogleich den angenehmen

Duft von Rosen. Heute hatte sie frei, sie wusste nicht genau warum,

doch an sich war es ihr herzlich egal, genauso wie so ziemlich alles

in diesem Moment. Es gab nur sie und der Rest war vollkommen…

überflüssig.

Mit den Gedanken in ihrer eigenen Welt, wusch sie sich den Schaum

vom Körper, bevor sie begann sich ein letztes Mal unter dem

Wasser zu entspannen.

Als sie fertig war, nahm sie sich ein Handtuch, mit welchem sie ihren

Körper abdeckte. Die Haare immer noch ordentlich und trocken nach oben gesteckt, ging sie zur Umkleide und begann sich

umzuziehen. Sir Vales war so nett gewesen und hatte ihr den heutigen Tag frei gegeben, als dank dafür,

dass sie sich um Crow gekümmert hatte.

Rebecca und Crow schienen sich nicht all zu sehr zu verstehen,

denn schon nach wenigen Stunden in ihrer neuen Position soll sie

sich mit einer kleinen „Göre“ verkracht haben.

Das war es zumindest was Claire Sophie erzählt hatte.

Als sie davon hörte musste sie leicht schmunzeln, wie es aussah,

war sie nämlich echt die einzige die Crow an sich heran ließ. Anscheinend seien alle versuche vergebens gewesen,

da Crow viel zu verschlossen war, als dass sie sich jeder Person

öffnen würde. Genau das war es, was Sophie so sehr an diesem außergewöhnlichen Mädchen mochte.

Es waren nicht ihre merkwürdigen Augen und auch nicht ihr Mitleid

erregendes Schicksal, nein es war etwas vollkommen anderes was

Crow für Sophie so einzigartig machte.

Crows gesamtes Erscheinungsbild, auch die Art wie sie spricht.

Sie war wirklich wunderschön, doch es war einfach herzzerreißend,

was ihr angetan wurde. Sophie konnte verstehen, wieso das kleine Mädchen sich nicht jeder Person anvertraute.

Ihre Mutter hatte sie verraten und vergrub das eigene Kind unter der

Erde. Crow hatte es ihr erzählt, es war nun schon einige Tage her,

an einem Tag, an welchem sie ihr wie immer wieder zufällig

begegnete. Manchmal kam es ihr so vor,

als wenn Crow genau wissen würde wo Sophie grade war,

da sie der Kleinen immer genau dann über den weg lief,

wenn diese mal einen Moment Zeit hatte.

Irgendwie war das schon komisch… ihr war das schon früher einmal

aufgefallen. Vielleicht war sie damals Sir Vales doch nicht ganz so zufällig begegnet wie sie dachte, als sie die merkwürdige Aufgabe

bekam einem kleinen Mädchen Kleidung zu besorgen!

Inzwischen war sie vollkommen umgezogen und hatte sich auch wieder die Frisur richtig gemacht.

Sie sah so aus wie immer, jedoch fühlte sie sich sichtlich entspannter

und gelassen. Ihr kam grade durch den Kopf, was sie alles an so einem tollen Tag machen könne, als eine Stimme hinter ihr plötzlich

die angenehme Ruhe zerstörte, „Sophie?“.

Leicht überrascht sah Sophie direkt in die schwarz-roten Augen von Crow. „Hey! Hallo Crow!“, mit strahlendem lächeln ging sie zu der

Kleinen und umarmte sie liebevoll,

„wow was für ein Zufall dich hier zu treffen“.

Genau…sicherlich bloß ein Zufall. Genau wie die vielen, vielen anderen Male…

Immer noch lächelnd sah sie dem Mädchen ins Gesicht,

darauf wartend, dass diese ihr erzählte, was sie dazu veranlasst hatte

sie hier zu suchen.

„Es geht um Rebecca“, meinte die Kleine mit einem kindlichem

leicht genervt klingendem Ton, „ich kann sie nicht leiden.

Sie ist unfreundlich und gemein!“.

Etwas verwundert sah Sophie Crow ins Gesicht,

„Hey, sie ist doch erst vor wenigen Tagen zu deiner Betreuerin

geworden…natürlich gibt es da einpaar Probleme…?“.

„Nein… sie will einfach bloß das Geld. Ich bin ihr vollkommen

egal“, traurig senkte Crow den Blick und Sophie bekam ein

komisches Gefühl im Magen.

Sie wollte Crow nicht anlügen, denn sie wusste genau,

dass es stimmte. Rebecca wollte nun mal einfach das Geld,

alles andere war ihr egal.

Sophie wollte sich gar nicht vorstellen, was die alles so machte wenn

Sir Vales grade mal nicht hinguckte.

Mit Champagner und Kaviar vermutlich vor dem Fernseher sitzen

und ihre komischen Romanzen schauen.

Es war schon von Anfang an ein Rätsel für Sophie gewesen,

wieso grade Rebecca das Vertrauen von Sir Vales genoss.

„Ach Crow… ich wünschte ich könnte dir irgendwie helfen“,

liebevoll tätschelte sie die Schulter des schwarzhaarigen Mädchens. Mit einem Mal riss Crow urplötzlich ihren Kopf nach oben und sah

Sophie dadurch direkt ins Gesicht,

ein komisches lächeln war zu sehen, welches Sophie nicht genau

definieren konnte.

Es sah leicht spottend, aber trotzdem etwas verkrampft aus.

So als wäre es eine traurige aber trotzdem urkomische Situation. Schnell verschwand das Lächeln aus Crows Gesicht und sie blinzelte

leicht verwirrt, so als ob sie grade erst registriert hatte wo sie war. „Crow…?“, leicht besorgt streichelte Sophie ihre Schulter, „hey,

geht’s dir nicht gut?“.

„was wie…? Oh verzeih mir bitte…

mir war eben nur etwas komisch“, verlegen senkte sie den Blick,

doch Sophie legte ein Finger auf ihr Kinn und hob es leicht an,

sodass sie weiterhin ihren Blickkontakt hielten.

„Hey… ist doch alles okay.

Gibt es sonst noch etwas worüber du mit mir reden willst?“,

Sophie hatte das komische Gefühl, dass Crow irgendetwas

bedrückte. Sie konnte es nicht genau sagen, und egal wie sehr Crow versuchte es zu verstecken,

letzten Endes war sie doch auch bloß ein kleines Mädchen,

welches einer erwachsenen Frau gegenüber stand.

„Du sagtest, dass du dir wünschen würdest mir helfen zu können,

oder? Meinst du das ernst Sophie?“, von einer Sekunde zur anderen

war die kindliche meckernde Stimme verschwunden

und einer sehr ernsten gedämpften gewichen.

„Ehm…natürlich… alles was ich für dich tun kann“, irgendwas

stimmte nicht mit Crow, dass bemerkte Sophie sofort.

Sie war sonst nie so… komisch.

Was war denn nur geschehen?

„Das freut mich“, lieb lächelte Crow sie an und warf sich ihr

um den Hals, was Sophie nahezu zu Fall brachte,

doch sie konnte sich grade noch halten,

„würdest du vielleicht meine Betreuerin sein wollen Sophie?“. Strahlend sah Crow sie an und zum ersten Mal fehlten Sophie die

Worte. Natürlich wollte sie!

Aber geht das denn überhaupt?

„Das… wow! Ja, selbstverständlich würde ich gerne!

Aber was sagt Sir Vales denn dazu?“, Sophie konnte nicht fassen,

was Crow ihr grade Anbot. Damit hätte sie fast den Rang einer Elite

erreicht, ohne, dass sie deren Aufgaben erledigen musste.

„Der Master hat mir bereits seine Zustimmung gegeben“, vorfreudig

klimperte sie mit ihren wunderschönen Augen, „er meinte, sofern ich dein Ja habe sollest du bitte in sein Büro kommen“.

Noch mal wurde sie von Crow umarmt, bevor diese auch schon los

lief, in solch einer Geschwindigkeit,

dass Sophie mühe hatte überhaupt mitzuhalten.

Anscheinend wusste Crow mittlerweile genauestens wo sie hin musste und was der schnellste Weg war, denn sie nahm Korridore

und Flure, die Sophie zuvor niemals benutzt hatte,

aus Angst sich zu verirren. Doch irgendwie kamen sie dadurch tatsächlich viel schneller voran, als wenn Sophie sie geführt hätte. Crow musste inzwischen sehr viel über die Villa wissen,

da sie ohne auch nur mit der Wimper zu zucken einfach losgerannt

war und sie ohne irgendwelche Fehler ihr Ziel erreichten.

In weniger als 10 Minuten.

Sophie selbst hätte mindestens 20 gebraucht.

Sie war schwer beeindruckt davon, denn sie erinnerte sich noch

genau daran, wie es gewesen war als sie neu hier ankam:

ohne ihre Karte war es die ersten Monate unmöglich gewesen sich irgendwie zu Recht zu finden. Bedauerlicherweise zeigte diese Karte lediglich einen groben Umriss des eigenen Sektors und die eigens

zugewiesenen Räume die man putzen sollte.

Dazu wurde noch markiert wo das eigene Zimmer im Haus der

Angestellten war und das war’s auch schon.

Mehr Informationen bekam man nicht.

Doch Crow schien sich stattdessen in einem weit größeren Bereich auszukennen als jeder andere hier. Sir Vales und die Eliten natürlich

ausgeschlossen. Mit drei kräftigen Schlägen klopfte sie an der großen, schwarzen Doppeltür. Sie war mit Gold überzogen und Sophie zweifelte nicht daran, dass es echt war.

Alles hier war echt.

Nunja… bei Claire nicht so ganz, aber alles, was die Villa betraf.

„Herein“, es war unverkennbar die tiefe Stimme von Sir Vales. Sophies Herz begann mit einem mal schneller zu schlagen.

Passierte das grade wirklich?

Sie atmete tief durch und trat dann in das Büro, wozu sie in wenigen Monaten nun schon zweimal die Ehre hatte.

„Ah Sophie“, Sir Vales stand mitten im Raum und rauchte

grade eine Zigarette. Als er sie sah konnte man kurz ein schmales Lächeln auf seinen Lippen sehen.

Er lächelte?

Sophie hatte das nie zuvor gesehen, und die Tatsache,

dass das Lächeln an sie gerichtet war, lies ihr Herz gleich noch

einen Sprung aussetzen. Seine Zigarette hatte er bereits ausgedrückt, als er sich schon hinter seinen riesigen dominanten Chefsessel setzte,

welcher mit Sicherheit extra für ihn designed und angefertigt wurde. Er sah wirklich sehr schön aus, was auch auf den Rest der

Einrichtung zu traf, wie sie bei ihrem letzten Besuch schon

feststellen konnte.

„G-guten Tag Sir“, stotterte sie leicht aufgrund ihrer großen

Aufregung. Ihres Wissens nach war es noch nie vorgekommen,

dass Sir Vales eine normale Angestellte für so etwas beauftragte. Nun… wenn es stimmte was Crow sagte würde sie danach ja keine normale Angestellte mehr sein.

„Hat Crow ihnen schon alles erzählt?

Nun… wie sie wissen habe ich sie in meinem bescheidenen Anwesen

aufgenommen, jedoch braucht sie eine Vertrauensperson,

die sich um sie kümmern kann.

Mein Terminplan ist leider sehr voll, weswegen ich eigentlich Rebecca diese Aufgabe übergeben wollte, jedoch scheinen Crow und

sie sich leider nicht sonderlich zu verstehen.“

Die Art wie Sir Vales über Crow sprach war für Sophie vollkommen

neu. Sie hätte sich nie vorstellen können,

dass er etwas…Väterliches an sich haben konnte.

Bisher hatte sie ihn immer als den strengen und ordentlichen Geschäftsmann gesehen, der nie dazu die Zeit gefunden hatte sich

eine Familie aufzubauen. In diesem Moment wurde Sophie plötzlich bewusst, dass sie eigentlich gar nichts über Sir Vales wusste,

weder wo er geboren war, noch ob er überhaupt eine Familie hatte, wirklich gar nichts.

Das einzige was man wusste war, dass er wirklich ein extremer

Perfektionist und ein leidenschaftlicher Golfer ist.

„Ja…ich bin bereits darüber unterrichtet“, Sophie setzte sich ihr schönstes Lächeln auf, jedoch spürte sie, dass sie vor Anspannung

ein wenig ins Schwitzen geriet.

Sir Vales hingegen nickte nur und fuhr ohne Umschweife fort,

„Gut, ich weiß ja nicht ob Crow ihnen bereits von sich erzählt hat, aber sie-“.

„…sie wurde von ihrer Mutter lebendig vergraben und musste

mit ansehen, wie ihr Vater erschossen wurde.

Sie selbst waren es, die ihr Leben gerettet hat, weshalb sie ihnen unendlich dankbar ist“, vollendete Sophie wie aus heiterem Himmel den Satz von Sir Vales.

Erst im Nachhinein wurde ihr klar, wen sie da grade unterbrochen hatte. Sofort schoss ihr die Röte ins Gesicht und sie wünschte sich vor Scham im Erdboden zu versinken.

Was in diesem Falle aber einen Sturz aus dem vierten Stock bedeuten

würde, doch momentan gab es nichts,

was sie sich sehnlicher wünschte.

Sie nuschelte ein kurzes „Verzeihung…“, jedoch wurde sie bereits

von Sir Vales unterbrochen, der sie mit gerunzelter Stirn anschaute. „Nun… schön, dass sie dies auch bereits wissen,

jedoch wollte ich ihnen eigentlich erklären, wie genau Crows Tagesablauf stattfindet.

Doch da sie anscheinend schon mehr als das Nötigste über sie

wissen, brauche ich ihnen ja auch nichts mehr zu verheimlichen“,

wieder zeigte Sir Vales Sophie sein schmales lächeln,

so als ob nie irgendwas gewesen wäre.

Doch Sophie wusste mit Sicherheit, dass er innerlich etwas

vollkommen anderes dachte, als er es äußerlich zeigte.

Jedoch gab es keinen einzigen Beweis, woran man dies hätte feststellen können was also heißen musste,

dass sie entweder ziemlich falsch lag, oder Sir Vales ein

ausgezeichneter Schauspieler war.

Crow hatte es sich inzwischen auf einem Stuhl in der hintersten

Ecke des Raumes bequem gemacht. Sie schien sich nicht so wirklich für das Gespräch zu interessieren, was man ihr auch nicht

übel nehmen konnte.

„E-es wäre mir eine Ehre mich um Crow kümmern zu dürfen“,

immer noch mit hochrotem Kopf tat sie etwas,

was wie eine Verbeugung aussah,

jedoch war es so unkoordiniert und stumpf, dass es eher wirkte wie

Jemand dem grade ein Stein an den Kopf geworfen wurde

und er sichtlich Probleme damit hat sein Gleichgewicht zu halten. „Nun, dass trifft sich gut, denn auf Grund ihres Wissens

können wir sie eh nicht mehr gehen lassen“, erschrickt zuckte

Sophie zusammen und sah ihrem Chef ungläubig ins Gesicht.

Hatte er das grade ernst gemeint?

...Nein…er lächelte noch

… aber was wenn doch?

Schüchtern sah Sophie ihn an und versuchte sich ein nervöses

Lachen zu erzwingen.

„Keine Sorge, dass war natürlich bloß ein Scherz“,

beruhigend hob Sir Vales seine Hände, doch irgendwas in seinen

Augen verriet ihr, dass er es keineswegs bloß als Scherz gemeint

habe.

Was ist, wenn sie einen riesigen Fehler begangen hat?

…ach Blödsinn.

Sie sollte sich lieber geehrt fühlen, dass sie anscheinend schon so gut

mit ihm klar kam, dass sie Witze reißen konnten.

Vermutlich tat er das bei all seinen elitären Angestellten.

Auch wenn nie irgendwas davon berichtet wurde.

„Herzlichen Glückwunsch Sophie, hiermit haben sie offiziell denselben Rang wie jemand von der Elite.

Selbstverständlich steigt auch ihr Gehalt dementsprechend“, langsam

ging er auf sie zu und führte sie zu einer Tür, die ihr zuvor nicht

aufgefallen war.

Sie sah genauso aus wie die Tür durch die sie gekommen war, jedoch

war diese hier etwas kleiner.

„Oh ich tue das nicht des Gehaltes wegen“, Sophie wollte keinesfalls,

dass Sir Vales sie für Geld gierig hielt, weshalb sie wortwörtlich

versuchte dieses Vorurteil von sich zu schütteln,

bevor ihm auch bloß dieser Gedanke aufkommen konnte.

„Nun, selbst wenn doch, sie haben es sich verdient,

da sie zwei junge Kinder in ihre Obhut nehmen müssen,

dass fordert viel Nerven. Ich danke ihnen dafür wirklich sehr“,

er lief mit ihr durch einen Gang, welcher sich deutlich von denen aus den unteren Etagen abhob.

Doch irgendwas war Falsch an seinem Satz gewesen.

Hatte er grade zwei gesagt?

...er war ja wirklich ein Witzbold dieser Vales…

sieht man ihm gar nicht an.

Etwas verwundert fing Sophie wieder an nervös zu lächeln,

„Haha…war das wieder ein Witz von ihnen?

Sie meinten doch sicherlich eines…oder?

Crow?“.

Mittlerweile standen sie direkt vor einer komplett weiß

gestrichenen Tür, welches mit Gold umrahmt war.

Ein ungutes Gefühl machte sich in Sophie breit,

sie wollte nicht wissen, was dahinter auf sie wartet.

Es gibt gewisse Dinge aus denen man lieber seine Nase raushalten

sollte.

„Witz? Ich mache niemals irgendwelche Witze“,

ohne ein weiteres Wort zu sagen, legte er die Hand auf den Knauf und begann ihn umzudrehen.

Sophie war wie erstarrt und ihr Herz raste, ohne,

dass sie wirklich wusste wieso.

Die Tür öffnete sich und vor ihr lag ein riesiges Kinderzimmer,

in welchem unzählbar viele Glühbirnen leuchteten.

Noch ungewöhnlicher aber war, dass die komplette Einrichtung

in weiß war, es gab keine einzige andere Farbe in diesem Raum

und das Licht schien so grell, dass es sie im ersten Moment

komplett blendete.

Als ihre Augen sich etwas an das beißende Licht gewöhnt hatten,

fiel ihr etwas auf, was sie wieder leicht zusammenzucken lies. Mitten im Raum, zwischen hunderten von selbst gezeichneten

Wachsmalbildern saß ein Junge,

komplett in weiß Gekleidet, mit schneeweißen Haaren.

Er starrte sie direkt an und es schien so,

als würde er sie mit seinem Blick durchbohren.

Seine Augen waren schwarz-rot, genau wie die von Crow,

doch im Gegensatz zu ihr wirkte er…bösartig.

Sir Vales war inzwischen eingetreten und stellte sich zwischen sie und dem Jungen,

„Sophie, darf ich vorstellen? Lucifer“.

Lucifer

Mit gesenktem Kopf saß Lucifer in der Kathedrale und hielt dabei eine kleine Musikbox in der Hand. Die Sonnenstrahlen fielen durch das bunte Glas und warfen wunderschöne Lichter auf den schwarzen, sauberen Teppich. Nicht ein Körnchen Dreck war zu finden, eben so, wie es sein sollte. Das Klimpern der Box hallte durch das Gemäuer und wurde nun begleitet von dem leisen unterdrückten Summen des Weißhaarigen. Er hatte diese Musikbox vor langer Zeit einmal von seinem Onkel erhalten, seinem Onkel Raven. Er liebte diesen Mann von ganzem Herzen, auch wenn Lucifer in Wahrheit lediglich sein Patenkind war. Dies war ihm jedoch vollkommen egal. Seine ungewöhnlichen Augen schweiften durch die Kathedrale und blieben an der gigantischen Orgel hängen, das gesamte Gemäuer sah aus wie eine Art Kirche… jedoch handelte es sich dabei nicht annähernd um einen Ort des Glaubens. Lucifer interessierte sich nicht wirklich für Religion, dennoch hatte man ihm vieles darüber beigebracht. Allgemein war er auf einem sehr hohen Niveau für sein Alter, so meinte es zumindest Mrs. Norris. Diese komische Rebecca hingegen… ihre Meinung über ihn wollte er lieber nicht noch mal hören. Zumindest nicht so lautstark wie zuvor. Er war froh, dass er sie endlich los war, doch bedauerlicherweise hatte er nicht wirklich fiel davon. Nein, wieso sollte sein Onkel sich auch einmal selbst um ihn kümmern?! Immer kam jemand dazwischen! Etwas verärgert klappte er die Musikbox zu und stand auf. Seine kleinen Beine trugen ihn Richtung Ausgang, alles war still, so still, dass er schwören könnte seinen eigenes kindliches Herz zu hören, welches, so verstimmt und verletzt wie er war, in einem aufbrausendem Takt in seiner jungen Brust schlug. Er war so kurz davor gewesen seinen Onkel endlich, nach so langer Zeit, komplett für sich alleine zu haben, jedoch machte ihm eine neue Krankheit den Strich durch die Rechnung. Der Name der Krankheit lautete Sophie, ein strahlendes Weib in jungen Jahren, welches noch sein ganzes Leben vor sich hatte und alles, wirklich alles positiv betrachtet. Eine unverbesserliche Optimistin. Immer am strahlen, niemals schlecht gelaunt, niemals am Meckern, egal wie unfreundlich und schamlos Lucifer war. Sie war einfach zum kotzen. Egal wie oft er ihr versucht hatte klar zu machen, dass er keineswegs so was wie eine Freundschaft zu ihr aufbauen würde, es war vergebens. Nicht einmal seinen Onkel konnte er um Hilfe bitten, da dieser so gut wie nie da war. Immer hatte er zu tun, Lucifer kam sich inzwischen so unwichtig vor, wie ein einfacher Hausangestellter im Leben seines Onkels. Dem großartigem Sir Vales, Leiter des Vales Konzerns und durch und durch von Adeliger Natur. Dem Jungen war schon vorher klar gewesen, dass sein Onkel nicht immer für ihn da sein konnte, doch er war es nie. Niemals hatte er irgendwas mit ihm unternommen, nein, immer war es eine Angestellte gewesen, die mit gespieltem Lächeln die Aufgaben erledigte und dabei stets auf Geld, Macht oder seinen Onkel aus war. Der Kies knirschte unter Lucifers Füßen, als er weiterhin Richtung Hauptgebäude lief. Normalerweise ging er nie raus, er verlief sich viel zu oft, doch heute war ein besonderer Tag, heute war nämlich der Tag, an dem Lucifer zum ersten Mal das Gelände der Vales Mansion betrat und Sir Vales somit ein Teil zu seinem Leben wurde. Damals war es nicht so Sonnig gewesen wie heute, Lucifer konnte sich noch genau daran erinnern, obwohl es nun schon einige Jahre zurück lag. Seine Eltern starben vor langer Zeit bei einem Autounfall, wohingegen den meisten Kindern aber einfach nur von dem Unglück erzählt wurde, musste Lucifer es am eigenen Leib ertragen. Er saß ebenfalls an jenem verhängnisvollen Tage in diesem Auto.
 

***
 

Es geschah vor einigen Jahren, an einem regnerischen, vernebelten Tag auf einer abgelegenen, vollkommen leeren Autobahn.

Ein kleiner Wagen fuhr durch die engen Kurven der Straße, wobei der Regen brutal und gnadenlos auf die Windschutzscheibe niederprasselte und dem Fahrer somit nahezu jegliche, durch den starken Nebel ohnehin schon stark eingeschränkte, Sicht raubte.

„M-mir ist kalt“, die zitternde Stimme eines Kindes war vom Rücksitz aus zu hören, welche fast vom brausenden Lärm des rasenden Autos übertönt wurde. „Keine Angst mein Schatz, wir sind bald da“, zärtlich strich die Mutter ihrem Sohn über den hellblonden Kopf, auf seiner klitschnassen Stirn glitzerten die Schweißperlen wie kleine Sterne. Er hatte sehr hohes Fieber, seine Eltern waren verzweifelt, denn die Krankheit war so urplötzlich über ihren Sohn herein gebrochen, wie ein Unwetter das Land verwüsten konnte. Schnell und tödlich. „Es ist nicht mehr weit“, die beruhigende Stimme des Vaters kam von der Fahrerseite des Wagens her und kristallblaue Augen blitzten auf als er in den Rückspiegel sah um seine geliebte Frau und seinen einzigen Sohn zu sehen. Sein Name war Jack Rose, er war ein gefragter Geschäftsmann in der Umgebung, mit sehr hohem ansehen. Er hatte seine Familie bloß auf ein Wochenendtrip woanders hin mitgenommen, abgelegen von all dem Stress, weit entfernt von der Arbeit. Er konnte ja nicht ahnen, dass dies seine letzte Fahrt werden würde. Mit quietschenden Reifen fuhr er um eine scharfe Kurve, wobei der Wagen gefährlich ins schlingern kam, doch Jack wusste was zutun war. Gekonnt gewann er wieder die Macht über den Wagen und fuhr unbeirrt über den nassen Asphalt. „Fahr Vorsichtig“, sagte die Frau mit besorgter Stimme, während sie ihrem Lucifer erneut den Schweiß von der Stirn wischte. Leise hustend griff dieser nach ihrer Hand und klammerte sich an ihr fest. Er hatte Angst. „Mist… wieso muss es grade jetzt so stark Regnen?“, die Scheibenwischer des teuren Wagens konnten gegen die Wassermassen nicht das geringste Ausrichten, „Keine Sorge Marieanne ich-“, doch Jack war nicht mehr dazu in der Lage seinen Satz zu beenden. Ein lauter Knall ertönte und es war als würde etwas Gigantisches gegen die Fahrerseite krachen. Er verstummte sofort, wohingegen die lauten Schreie der Mutter durch die Nacht halten, gemischt mit dem Weinen eines kleinen Jungen, als der Wagen meterweit durch die Luft flog und komplett demoliert gegen einen Baum krachte. Lucifer lag bewusstlos auf der Seite des gekippten Wagens. Der leblose und entstellte Körper seines Vaters hing, blutend, mit unzähligen Schnittwunden, von der Decke hinab, er hatte sich im Gurt verhangen und hing nun dort wie eine schaurige Marionette ohne Gesicht. Es roch nach verbranntem Fleisch und Benzin, der blonde Junge wusste nicht wie lange er dort lag, bevor er diesen widerlichen Geruch vernahm. Etwas schweres lag auf ihm, etwas warmes, ihm war schwindelig und übel. „Mama…“, flüsterte er, mehr konnte er nicht hervorbringen, denn dieses Etwas lag auf seinem Brustkorb und schnürte ihm die Luft ab. Dann sah er etwas, eine Bewegung. „Alles okay…?“, schwer atmend richtete seine Mutter sich auf, so gut sie konnte, um ihrem Sohn ins sein junges, voller Dreck geschwärztes, Gesicht zu sehen. Sie war es die auf ihm drauf lag. Sie hatte ihn mit ihrem Körper beschützt. Blut floss ihr aus dem Mundwinkel und Lucifer konnte sehen, dass etwas nicht mit seiner Mutter stimmte. Ein spitzer, abgeschlagener Teil der Tür steckte in ihrem Rücken und hatte sie durchbohrt, sodass sie nun völlig bewegungsunfähig auf ihrem Sohn lag. Der Schmerz war ihr im Gesicht abzulesen und der kleine Junge fing nun noch doller an zu weinen, sodass sich seine reinen Tränen mit dem Blut und Dreck auf seinem Gesicht vermischten und seine kleinen, warmen Wangen hinab rannen. Ohne seine Mutter wäre er es gewesen, den das Stück Metall durchbohrt hätte, ihr Körper jedoch konnte es erfolgreich davon abhalten. Obwohl sie sichtlich unter den Schmerzen litt und jeder Atemzug eine Qual war, zwang sie sich zu einem Lächeln, einem letztem mütterlichem Lächeln, mit dem sie ihren Sohn ansah, den sie mit ihrem Körper vor dem Tode bewahren konnte. Wenn sie auch würde sterben müssen, war ihr lächeln voller Liebe. „Du musst strahlen… mein Sonnenschein“, mit letzter Kraft brachte sie diese Worte hervor, bevor sich ihr Magen verkrampfte und sie einen Schwall Blut über das Gesicht ihres Kindes erbrach. Dann war sie tot. Selbst im Tode war Marianne Roses Schönheit wie die eines Engels. Ihre wunderschönen braun gelockten Haare, nun zerzaust und angekokelt, ihr wunderbar geformter Körper, nun aufgespießt wie ein Schwein neben der Leiche ihres Mannes, aber dennoch weiterhin mit einem Lächeln im Gesicht. Ihre orangenen Augen hatten sich für immer geschlossen. Zitternd sah der schockierte Junge in das Gesicht seiner Mutter, letzte Tropfen ihres Blutes spritzten in sein Gesicht und färbten sein helles Haar blutrot. Er öffnete sein Mund zu einem lautlosen Schrei, er brachte keinen Ton raus, alles in seinem Kopf begann sich zu drehen und plötzlich… war alles schwarz. Der Lärm um ihn herum, dieser widerliche Geruch, die Schmerzen. Alles war Weg. Er war Ohnmächtig. Das nächste woran er sich erinnern konnte war, dass er grob von zwei großen Händen aus dem Wagen gezogen wurde, welcher in einiger Entfernung trotz des Regens lichterloh brannte und die Dunkelheit in ein grelles Licht tauchte. Er sah einen Ring an der Hand seines Retters, schwarz, mit dem Umriss eines weißen Rabens darauf. Dann verschlang ihn wieder die endlose Dunkelheit. Er wusste nicht wie lange er geschlafen hatte, aber als er das nächste Mal aufwachte war er an einem anderen Ort… einen den er zuvor nie gesehen hatte. Er lag in einem großen Zimmer, es war warm und ein angenehmer Geruch stieg ihm in die Nase. Leise hörte er das Ticken einer Uhr, als er plötzlich Schritte vom Gang vernahm, die sich näherten und der Knauf anfing sich zu drehen…
 

***
 

Leise seufzend blickte Lucifer in den nun wolkenlosen Himmel. Diese Erinnerung schien in ihm, selbst nach all den Jahren, immer noch weiter zu Leben. Er würde es wohl nie vergessen können, die Angst die er spürte, die Hilflosigkeit. Seine Eltern vor den eigenen Augen zu verlieren war etwas, was einem nicht nur das Herz brach, sondern ebenso die Seele. Lucifer hatte keine Familie mehr. Er war in einem Zimmer aufgewacht, gewaschen mit neuer Kleidung. Er erinnerte sich noch genau an den süßlichen Duft, der ihm in die Nase stieg. So angenehm, so unschuldig. An diesem Tag war er auch zum ersten Mal Sir Vales begegnet, zumindest sah er zum ersten Mal dieses unglaublich einprägsame Gesicht. Er war noch etwas jünger gewesen, dennoch wirkte er schon viel älter, von der Arbeit geprägt. Doch was er von diesem bis zum heutigen Tage ausstrahlte ist das, was Lucifer seither nicht von seiner Seite weichen lässt. Es war seine ganze Art, die Art wie er Sprach, wie er lief, seine Gestik, es war einfach bloß sonderbar und einzigartig. Lucifer war sofort hingerissen von diesem Mann, er verdankte ihm sein Leben. Den Ring hatte er sofort wieder erkannt, er war prächtig, schwarz, mit einem Raben verziert, einfach ein pures Kunstwerk. Sie hatten gesprochen, stundenlang einfach nur gesprochen. Am nächsten Tag hatte er Mrs.Norris kennen gelernt, sie brachte ihm über die Jahre alles bei, was er lernen müsste, ebenso die Kunst des Violinenspiels. Schon von Anfang an wollte Lucifer eher im Haus bleiben, einige Angestellte hatten ihn gesehen und waren erschrickt über seinen Anblick. Seine Haare waren seit dem Unfall schneeweiß, Mrs.Norris hatte ihm erzählt, dass es die Panik war, die seine Haare so entstellte. Jegliche Farbe wurde ihm entzogen, für ihn war es wie ein Zeichen dafür, dass er an jenem Tage all das verlor, was ihn am Leben hielt. Seine Eltern, seine Kindheit… sich selbst.

Komplett in seinen Gedanken verloren ging er wieder in die Villa, er hielt ein Handy vor sich her, auf dem eine Karte abgebildet war. Er selbst war darauf als blinkender Pfeil zusehen, damit er nicht die Orientierung verlor. Sophie und Crow hatten vor einigen Wochen diesen Vorschlag gemacht, weil Lucifer bloß sehr selten den oberen Teil des Hauptgebäudes verließ. Er konnte beide nicht leiden, weder Crow noch Sophie. Bei Sophie lag es bloß daran, dass sie sich zwischen ihn und seinen Onkel stellte, aber bei Crow…

Alle Hausmädchen der Welt würde er lieber gleichzeitig haben müssen, als dass es noch ein zweites Kind im Leben seines Onkels gibt. Sie stahl ihm die komplette, zu wenig vorhandene, Aufmerksamkeit, die ihm sein Onkel gab. Oder halt auch nicht. Sie war klein, süß, lieblich und… einfach komplett im Weg. Sie mischte sich in sein Leben ein, etwas, was Lucifer nicht im entferntesten akzeptiert. Er verstand nicht, wieso sein Onkel noch ein zweites Patenkind brauchte, er hatte doch nun schon nie Zeit für Lucifer, wieso denn noch ein zweites?!

„Hey Lucifer!“, eine Stimme hinter ihm warf ihn abrupt aus seinem Gedankengang. Schnell drehte er sich um und hoffte innerlich, dass es nicht die Person war die er vermutete. Doch er hatte Pech. Eine schnaufende, erschöpfte Sophie mit rosigen Wängchen stand nun vor ihm und sah den neutral dreinblickendem Jungen direkt in seine schwarz-roten Augen. „Da bist du ja!“, keuchte sie, während sie sichtlich nach Luft schnappte. Sie musste ihn schon den ganzen Tag gesucht haben, diese komische Sophie, „ich wollte doch heute mit dir Geografie lernen!“. „Keine Lust“, meinte Lucifer und wand sich mit kalter Schulter von ihr ab. Er konnte diese Frau nicht leiden und verstand nicht, wieso sie nicht einfach mal akzeptieren konnte, dass Lucifer und sie niemals Freunde sein werden. Sie war so aufdringlich und nervtötend und das schlimmste… sie hörte niemals auf zu lächeln.

„Oh, das versteh ich natürlich“, meinte sie mit ihrer liebsten Kindermädchenstimme, „darf ich wissen wo du dich den ganzen Tag verkrochen hast?“.

Genervt rollte er mit seinen Augen, „Wenn ich dir mein Versteck verrate dann ist es doch kein Versteck mehr“.

„Also hast du dich versteckt? Vor wem?“.

„Vor dir“.

Sophie kicherte leise bei seiner Antwort,

„Nein wirklich, vor wem?“.

„Vor dir, Sophie“, meinte Lucifer kalt und lief einfach weiter. Man, diese Frau kann einem echt auf den Geist gehen. Unbeirrt begann die Größere ihn einzuholen und lief nun neben ihn her.

„Und hilft dir die Karte ein wenig?“, fing sie dann wieder an.

„Etwas…“, meinte er und bog nach links ab, wo eine Treppe sich vor ihm aufbaute. Ohne vom Display aufzusehen tapste er Schritt für Schritt nach oben. „Brauchst du wirklich noch die Karte? Ich meine… Vorsicht Stufe!“, bevor Lucifer hinfiel hielt sie ihn noch rechtzeitig fest. Undankbar wie er war, schüttelte er sie wortwörtlich ab und lief weiter, nun aber ein wenig auf seine Füße achtend. „Ja, ich brauche sie. Ich habe mich schon oft genug verirrt“, antwortete er patzig. Inzwischen waren sie wieder auf der oberen Etage angekommen, woraufhin Lucifer das Handy wieder in seine Hosentasche steckte, direkt nachdem er eingetreten war.

Ohne Sophie zu beachten ging er in Richtung seines Zimmers, es war nicht schwer zu erkennen welches es war, denn unter dem Türschlitz kam ein greller Schwall blendenden Lichtes hervor. Lucifer hasste die Dunkelheit. Aus eben diesem Grund ist sein Zimmer 24 Stunden lang dauerbeleuchtet, über 150 Glühbirnen werden dafür verwendet, welche in regelmäßigen Abständen gewechselt werden, damit keine einzige Sekunde auch nur irgendein Teil des Zimmers nicht beleuchtet war. Die Dunkelheit war für ihn ein Grauen, jeder Schatten war der absolute Horror, es gab nichts, was er mehr fürchtete. Es erinnerte ihn… an diese Hilflosigkeit die er verspürte. Die Panik.

„Wie lange willst du mir denn noch Folgen?“, er legte die Hand auf die Klinke und sah sich zu Sophie um, die immer noch hinter ihm stand und anscheinend erwartete, dass sie irgendwas für ihn tun könnte. „Sag Bescheid wenn du etwas brauchst, ich komme sofort okay?“, sie zwinkerte und drehte sich um, woraufhin sie in Richtung von Crows Zimmer davon Schritt. Pah! Was fand Crow nur an der? Crow und Sophie waren wie ein Herz und eine Seele, sie unternahmen ständig irgendwelche Dinge, die Lucifer selbst niemals machen würde. Reiten… schwimmen… spazieren. Angeblich sollen die beiden sogar an irgendwelchen dummen Automaten arbeiten damit die Mitarbeiter ein Snack auf dem Weg zu ihren Arbeitsplätzen kaufen könnten. Leicht frustriert betrat er sein Zimmer, woraufhin ein greller Strahl des Lichtes ihn blendend begrüßte. Er schloss die Tür hinter sich, trat einpaar Stifte beiseite und warf sich auf sein weißes Bett, welches voller Kritzeleien und Bilderchen war, die ihn und seinen Onkel darstellten. Sein ganzes Zimmer war voll von diesen Bilden, er hatte sie alle für seinen Onkel gezeichnet doch niemals nahm er auch nur eines davon an. Lucifer dachte, es würde vielleicht daran liegen, dass sein Onkel sie nicht gut genug findet. Deshalb übte er so gut wie jeden Tag, damit er besser werden konnte. Damit sein Onkel stolz sein konnte.

Plötzlich fiel ihm etwas auf. Etwas stimmte nicht. Langsam ließ er seinen Blick durch den Raum wandern bis er es sah. Auf seinem weißen Tisch in der Ecke des Raumes stand ein kleiner Teller. Sophie… dachte er genervt und sprang vom Bett um zu sehen was auf dem Teller lag. Es war ein Zettel und ein Keks in Form einer Sonne, die ihn anlächelte. Mit kaltem Blick nahm er den Zettel und las die sorgfältige weibliche Handschrift. Der Text ließ ihn einen Stich im Herzen spüren, denn dort stand etwas wovon er wünschte es am liebsten übersehen zu haben. „Damit auch du mal strahlst“, wiederholte er leise und zerknüllte das Papier, welches er daraufhin ungeachtet in irgendeine Ecke seines Zimmers warf. Wütend sah er auf die Kekse. Sollte er sie wegwerfen? Hm… nun Sophie hat bisher eigentlich immer recht gut gekocht und… gegessen hatte er auch noch nichts heute. Nach längerem überlegen griff er zögernd nach einem Keks, das Gesicht war mit Schokoglasur aufgemalt. Sogar diese Plätzchen müssen bei ihr lächeln, kam ihm der Gedanke… Hm. Grübchen. Langsam kaute er und schluckte den leckeren Teig hinunter. Der Keks war wirklich lecker, dass musste er Sophie lassen. Ehe er sich versah war auch schon der Rest des Kekses verschwunden und verspürte einen leichten Stich der Enttäuschung. Doch so einfach ließ er sich nicht herumkriegen. Auch diese „Frühstück-ans-Bett-bring“-Sache änderte nichts an der Situation. Er konnte sie einfach nicht leiden! Dennoch musste er zugeben, dass… er schon etwas neidisch war. Crow verstand sich so gut mit ihr, Crow war beliebt. Er hingegen saß nur in seinem Zimmer herum. Heute war der einzige Tag gewesen seit langer Zeit wo er sich mal wieder herausgewagt hatte. Er verstand nicht wieso dieses Mädchen sich traute sich draußen sehen zu lassen… sie war doch genau wie er. Sie hatten die Selben diabolischen Augen, vor denen jeder Mensch zurück schreckte. Doch man begehrte sie… sogar Sir Vales, wie er annahm. Er hasste sie dafür. Von Herzen. Jetzt wollte sie sogar bessere Umstände für die Arbeiter schaffen, obwohl sie noch so jung war. Sie war genau wie Lucifer was die Intelligenz angeht. Sie waren beide viel zu Reif für ihr Alter, wenn sie auch ab und zu in das kindliche Schema zurückfallen. Dennoch… Crow hatte zusammen mit einigen Arbeitern aus der technischen Abteilung ein Programm geschrieben und Entwickelt, welches Lucifer half ohne Probleme durch die Villa zu kommen und sich nie wieder zu verlaufen. Er wäre nie auf diese Idee gekommen, musste er sich beschämt eingestehen. Vielleicht war Crow doch besser… Nein! Sie war es nicht! Sie konnte es nicht sein! Sie stahl ihm sein Leben! Seinen Platz! Das konnte er nicht zulassen. Entschlossen sprang er auf, wobei einige Bilder von seinem Bett aufgewirbelt wurden und nun durch den Raum flogen. Liebevoll nahm er die Musikbox aus der Tasche und stellte sie auf seinen Tisch neben dem Teller, wo er sie öffnete und sich ein weiteres Mal dieses wunderschöne Stück anhörte, welches sein Herz ergriff. „Ich soll also strahlen…“, murmelte er leise mit gesenktem Kopf. Seine Haare hingen ihm wild ins Gesicht. Ein leichtes Lächeln tanzte über seine Lippen. „Dann werde ich strahlen“, flüsterte er und hob nun langsam seinen Blick. Seine Augen waren das erste Mal weit geöffnet und ein gespenstisches Lächeln war auf seinen Lippen zu sehen. Wenn er nicht so sein konnte wie er wollte… dann würde er eine Maske tragen müssen. Ein Schauspiel veranstalten, auch wenn es ihm schwer fiel und er mit seinen weißen Haaren eher unheimlich als nett aussah. Doch er würde es schaffen er wusste es. Er musste.
 

***
 

„Sophie!“, erschöpft lief Lucifer einer großen braunhaarigen Frau nach, die ihn überrascht ansah. „Huch?“, überrascht sah Sophie ihn an, wobei sie Mühe hatte den riesigen Wäschestapel zu halten den sie in ihren Händen trug. „Hier, das habe ich noch, dann musst du nicht noch mal waschen“, meinte der Jugendliche und warf ihr ein Shirt auf den Stapel. „Danke, das ist nett von dir“, meinte sie und machte Anstalten zu gehen. In den letzten Monaten war Lucifer deutlich netter zu Sophie geworden. Inzwischen ging er sogar ab und zu raus, wenn auch nicht oft, was trotzdem zur Folge hatte, dass er nicht bloß noch eine Geistererscheinung für einige Angestellten war sondern tatsächlich eine existierende Person mit einem Namen. Mit dem Handy in der Hand machte Lucifer sich wieder auf dem Weg zu seinem Zimmer. Am vorbeigehen grüßte er einige Angestellte mit einem höflichen nicken. Seinen Onkel hatte er schon sei längerem nicht mehr gesehen, leicht deprimiert stand er nun vor der riesigen schweren Tür die zu seinem Büro führte. Irgendwo dahinter saß er. Die Person die er über alles liebte. Doch er konnte sie nicht erreichen. Traurig legte er seine Hand auf das schwarze Holz und senkte seinen Kopf.

„Hey!“, eine Stimme von der Seite ließ ihn zusammen zucken und sofort zwang er sich wieder sein gespieltes Lächeln auf, er wollte ja schließlich gut dar stehen. Doch dann sah er, dass es sich dabei bloß um Crow handelte. „Oh du bist’s“, sofort sanken seine Mundwinkel nach unten und er sah sie mit eben jenem genervten Blick an, der normalerweise für ihn üblich war. „Dachte ich es mir doch“, meinte Crow und musterte Lucifer von oben bis unten, „ist so viel Grinsen nicht ungewohnt für dich?“. Eine Grimasse schneidend streckte er ihr die Zunge raus und drehte sich arrogant weg, „Ha! Solange ich bekomme was ich will ist mir alles recht“. „Pff… du bist so ein Dummkopf. Du willst allen hier etwas vor machen“, gelangweilt schob sie sich an ihm vorbei und ging die Stufen hinunter. Es war nun schon fast drei ganze Jahre her, seitdem sie beide zusammen leben mussten, doch es war immer noch eindeutig die Anspannung zu sehen die zwischen den beiden herrschte. Sie waren älter geworden. Reifer. Doch zwischen ihnen hatte sich nichts geändert. Sie benahmen sich immer noch wie zwei Kleinkinder die um ein Spielzeug streiten, bloß, dass es sich in diesem Fall um ein Spielzeug handelte, welches sowieso keiner von Beiden wirklich zu Gesicht bekam. Inzwischen spielte er seine Rolle ziemlich gut, jedoch konnte er der schwarzhaarigen niemals etwas vormachen. Sie schien ihn besser zu kennen als ihm lieb war, aber genauso ging es ihm anders herum. Es war wie eine ungewöhnliche Bindung… er hatte immer noch nicht verstanden wieso sie hier war. Von ihm aus könnte sie überall sein aber nicht hier!

„Wo willst du denn hin?“, fragte er, als er ihr nachsah. Er wusste nicht wieso er das fragte aber, es interessierte ihn aus irgendeinem Grund, denn der Schraubenschlüssel in ihrer Hand weckte seine Neugier. Vermutlich war sie wieder dabei irgendwas zu bauen, womit sie dann ach so super dar steht. „Wow, du interessierst dich mal dafür was andere machen“, der Sarkasmus in ihrer Stimme war nicht zu überhören, wobei sie sich dennoch umdrehte um dem weißhaarigen in die Augen zu sehen, „ich habe eine neue Idee, wir planen ja grade das Gelände des Anwesens noch einwenig auszubauen, da sollte ich einfach mal meine Ideen rein werfen“.

Ein unangenehmes Gefühl machte sich in Lucifers Brust breit. „Wir?“

„Ja, das Technikteam und ich. Bisher sind es bloß Entwürfe aber…“, sie strich sich die Haare hinters Ohr und ihr Blick fiel auf ihre Uhr, „dem Master zeige ich die Entwürfe erst wenn alles perfekt durchdacht ist. Du weißt, er ist sehr beschäftigt“

Master.

Dieser Name ließ Lucifer wütend werden, er hasste es wenn Crow ihn so nannte, es war sein Onkel nicht ihr dämlicher Master! Am liebsten würde er sie einfach die Stufen hinunter stoßen und ihr so viel Leid wie möglich antun doch… er konnte nicht.

Darum lächelte er einfach wieder, „Oh, na dann viel Erfolg“,

ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und Schritt durch die Tür, durch die Crow eben noch gekommen war. Seine Hände hatte er angespannt zu Fäusten geballt, er musste sich wirklich stark zurückhalten um sie nicht in Crows hübsches Gesicht zu schlagen. Wie sehr wünschte er sich, dass er es einfach machen könnte. Doch er durfte seine Maske nicht verlieren. Schritt für Schritt ging er durch den verzierten Flur mit dem teurem schwarzem Teppich. Er brauchte erst mal eine Ablenkung. Die Gemälde schienen ihn alle anzustarren, jedoch hatte er sich inzwischen daran gewöhnt. Einige zeigten einfach nur Landschaften, andere hingegen die verschiedensten Arten von Menschen. Er hatte keine Ahnung was die Bedeutungen dahinter waren, doch solange sie Sir Vales gefielen würden sie wohl dort hängen bleiben. Inzwischen hatte auch Lucifer deutliche Fortschritte gemacht was die Malerei anging, es war nun keine einfache Kritzelei mehr sondern ein aufwändigeres Bild, welches jedoch noch nicht im entferntesten mit den anderen Gemälden mithalten konnte. Sanft öffnete Lucifer eine Tür am Ende des Ganges und trat hinein. Mitten im Raum standen zwei Flügel, ein pechschwarzer und ein schneeweißer. An den Wänden, selbstverständlich mit größter Sorgfalt behandelt, standen die verschiedensten Arten von Instrumenten. Er strich über die Resonanzkörper der Saiteninstrumente und kam vor einer Violine zu stehen. Sie war weinrot und hob sich deutlich von den anderen ab. Es war seine Violine, die, die er am liebsten spielte. Er fühlte das glatte Holz an seinen Fingern und zupfte leicht an den vier Saiten. Sie war gestimmt. Natürlich war sie das, er sorgte dafür, dass sie immer gestimmt war. Er kam seit dem letzten Jahr öfters an diesen Ort wenn er mal seine Ruhe brauchte, nur in der Musik konnte er sie finden. Mit geschlossenen Augen stimmte er sich in einen Ton ein und zog den Bogen über die vier Saiten. Wo sich herausgestellt hatte, dass Crow ein Technik Freak ist, hob sich Lucifer als begnadeter Künstler und Musiker ab. Langsam begann er eine Melodie anzustimmen. Sanft strich er über die Saiten und griff dabei verschiedene Töne, sodass ein ruhiges, leises Lied durch den Raum hallte. Es war die selbe Melodie wie einst aus seiner Musikbox. „Dich stolz machen?“, flüsterte er, während er immer die gleichen leisen Töne spielte, „hm… macht dich das stolz?!“, schnell riss er die Violine hoch und begann so schnell zu spielen wie er konnte. Es war so perfekt, so gekonnt, jeder einzelne Strich erfüllte den Raum mit einem neuen, herzzerreißendem Klang. Lucifer hatte aus dem einfachen Stück der Musikbox ein Meisterwerk geschaffen, eine Melodie welche jedem Zuhörer das Herz erweichen könnte. Doch nur sein Onkel sollte es hören. Deshalb spielte er in diesem Raum, damit niemand Anderes ihn dabei stören konnte und er voll und ganz mit seinem Lied alleine war. Wenn er es spielte war es, als wäre sein Onkel bei ihm, denn… obwohl nur wenige Wände sie trennen, war es als wären sie Kilometer weit voneinander entfernt. Wieder spürte er einen Stich im Herzen, wie so oft, wenn er dieses Lied spielte. Dieses Instrument war inzwischen wie ein Teil von ihm, es war nicht einfach bloß eine Violine, sondern etwas worauf Lucifer sich immer verlassen konnte. Wenn es ihm mal schlecht ging wusste er, er konnte sein Lied spielen. Neue Stücke komponieren. Dieser Ort war sein Reich, hier galten seine Regeln. Niemand anderem war es erlaubt hier einzutreten ohne seine Erlaubnis.

Ein einfaches Hausmädchen hatte es einst gewagt; sie sollte wohl zur Elite aufsteigen; sie hatte sein heiligen Ort beschmutzt und eines seiner Instrumente zerstört.

Lucifer hat sich selbstverständlich persönlich um sie gekümmert. Er konnte sich noch genau an all die Tränen erinnern die sie vergoss, als er in ihr Fleisch schnitt. Die Erinnerung an ihr warmes Blut ließ Lucifer voller Entzückung erschaudern. Er hatte sie nicht umgebracht, nein, er hatte ihr lediglich eine… Lektion erteilt. Die Narben trägt sie noch bis heute. Ein einfacher Gärtner wurde beschuldigt sie überfallen zu haben, man könne ja schließlich einem kleinen Jungen nicht solch eine grausige Tat zuschreiben hieß es. Einer solchen brutalen Straftat beschuldigt und bloß gestellt vor seinem Arbeitgeber und seiner Familie, ohne Arbeit und von allen verlassen, fraß es ihn von innen und er sah nur noch einen Ausweg. Er sprang vom hiesigem Kirchturm und setzte somit seinem Leid ein jähes Ende. Die Polizei sah dies als eine Art Geständnis und kümmerte sich deshalb nicht weiter um diesen Fall. Die Haushälterin machte seit jenem Zeitpunkt einen großen Bogen um die gesamte obere Etage, was Lucifer nur begrüßte. Das Leben dieses Mannes war ihm nichts Wert, all diese Leben hier bedeuteten ihm nichts. Es gab nur ihn und Sir Vales, für den er sogar über Leichen gehen würde. Obwohl er ein Kind gewesen war hatte er ohne zu zögern eine unwissende, schwache Frau überfallen und ihr die größten Schmerzen zugefügt. Er genoss es, doch er wusste auch, dass sein Onkel es wohl nicht so toll fände, wenn er erfuhr, dass sein Patenkind begann seine Angestellten zu massakrieren. Der Gärtner war glücklicherweise zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen und konnte deshalb nicht beweisen, dass er nicht der Täter sein konnte. Es war perfekt gewesen, es hatte ihm Spaß gemacht zu sehen wie die Frau darunter litt und fast noch mehr, als er sah, wie der Mann alles verlor was er sich sein ganzes Leben lang aufbaute. Freunde, Familie, Geld, Stolz. Alles weg in dem Moment, wo ein Kind mit Tränen in den Augen, auf ihn zeigt und unter schluchzen hervorbringt, er habe es genau gesehen. Innerlich hatte Lucifer sich nicht mehr halten können vor lachen, eine Made hatte er schon mal beleidigt. Seine Rolle konnte er danach noch besser einnehmen, er fand langsam seinen Platz in der Gesellschaft. Crow war sofort bei allen beliebt gewesen, doch Lucifer musste sich erst langsam einleben. Der Gedanke zwischen all diesen dämlichen Maden zu sitzen widerte ihn zuerst komplett an, nachdem er nicht mal die größte Plage von allen ertragen konnte: Sophie. Doch er schaffte es, er hielt durch. Bis auf das Hausmädchen hatte er auch niemals Hand an einen anderen Angestellten angelegt. Wieso denn auch? Er wollte seine Hände nicht unnötig mit Blut besudeln, auch wenn er ab und an diesen quälenden Reiz empfand. Es kribbelte ihm in den Fingern, wenn eine ahnungslose Frau vor ihm herlief, viel zu sehr in der Arbeit versunken, als dass sie bemerken würde, wie ein, inzwischen deutlich älterer, Junge sich von hinten nähert, mit einem Messer in der Hand, einem süßem lächeln auf den Lippen, immer näher kommend. Seine weißen Haare würden ihm ins Gesicht fallen, doch seine schwarz-roten Augen würden jede einzelne Bewegung genau beobachten. Jeder sich bewegende Muskel, jede einzelne Falte ihres reinen Kleides, welche kurz davor stand durchstochen und mit warmen, rotem Blut durchtränkt zu werden. Doch er würde es nicht tun. Der Gedanke alleine aber war ein kleiner Trost auf sein innigstes Verlangen, denn er hoffte, dass er irgendwann, egal wie lange er auch würde warten müssen, endlich seine Fantasien ausleben konnte. Es würde ein Blutbad werden, und er würde lächeln. Sein Onkel würde stolz sein.

Das Lied war zu Ende. Elegant zog er den Bogen ein letztes Mal über die dünnen Saiten und ging damit zurück zum Ort wo er sie hergenommen hatte. Das weinrot gefärbte Holz war leicht feucht unter seinen verschwitzten Fingern, wie es so oft der Fall war wenn er intensiv und lange spielte. Er verlor sich komplett in der Musik, wenn er einmal begann konnte er nur mit größter Mühe aufhören. Er ging zur Tür und ließ das Zimmer hinter sich, nun war es wieder Zeit für das echte Leben. Er hasste es.
 

***
 

Der weißhaarige Junge ging durch den Flur, das Abendlicht schien durch die Fenster, es war kalt. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, als er bemerkte, wie dunkel es wurde. Das rötliche Licht verschwand langsam am Horizont hinter den Bergen und mit jeder Minute schienen die gigantischen Schatten größer zu werden. Bedrohlicher. Er beeilte sich um so schnell es ging zu seinem Ziel zu kommen, sein Onkel hatte ihn rufen lassen, doch keineswegs in dessen Büro wie Lucifer zuerst dachte, nein ganz woanders hin. Obwohl er schon jahrelang hier lebte, kannte er diesen Ort nicht. Glücklicherweise hatte Crow es ihm auf der Karte angezeigt, doch der Weg war so… kompliziert. Er war ihren Anweisungen genau gefolgt, doch inzwischen war er wohl schon eine gefühlte halbe Stunde unterwegs. Immer wenn er dachte er hätte sich verlaufen, erinnerte er sich an etwas, was Crow ihm genannt hatte. An der Engelsstatue links… den Gang entlang… dritte Tür von rechts… dann gerade aus…, im Kopf ging er alles noch einmal genaustens durch. Ihm war ziemlich unwohl bei dem Gedanken sich zu verirren, es war inzwischen über ein Jahr her, doch dies war nicht nur ein anderer Teil der Villa, es war ein komplett neues Gebäude! Es war nicht mal ganz so alt, der Bau war überraschend kurz gewesen. Er kannte sich hier nicht aus und das machte ihm, auch wenn er inzwischen kein kleines Kind mehr war, ziemliche Angst. In letzter Zeit kam es ihm vor als habe er sich noch mehr von seinem Onkel distanziert. Komische Dinge gingen vor, das hatte er von den Angestellten gehört. Angeblich begann alles vor wenigen Monaten, seit der Fertigstellung dieses Gebäudes. Crow hatte ihm erzählt, dass es den Angestellten verboten war sich für eine gewisse Zeitspanne von wenigen Wochen innerhalb eines Gebäudes aufzuhalten. Es ärgerte ihn, dass Crow mehr wusste als er, vermutlich lag es daran, dass sie so vieles getan hatte in letzter Zeit. Diese Snackautomaten… die Karten… was kommt als nächstes, Kameras?

Paranoid sah er sich um, konnte jedoch nichts finden. Er hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Er fühlte sich wie ein kleines Kind, dass in seiner eigenen Welt gelebt hat und urplötzlich erkennt, dass es erwachsen werden muss. Überfordert von der Welt, voller Furcht vor neuen Dingen. Doch sein Onkel Raven hatte ihn zu sich bestellt. Endlich hat es sich ausgezahlt, endlich konnte er zeigen, dass auch er zu etwas nutze war, statt bloß in seinem über beleuchtetem Zimmer zu hocken, Bilder zu malen und Violine zu spielen. Endlich war er dran, zu zeigen was er kann. Er würde Crow wie ein wertloses Stück Abfall dar stehen lassen!

…doch zuerst würde er seinen Onkel überhaupt finden müssen.

Mit dem Blick auf seine Karte bog er um die Ecke. Crow hätte so etwas wie ein Navigationsgerät einbauen sollen, schoss es ihm durch den Kopf, gleichzeitig verfluchte er sich dafür, dass er wohl niemals dazu in der Lage sein würde auch nur annähernd etwas Ähnliches herstellen zu können. Doch auch er war intelligent, jedoch vergaßen das die Meisten. Crow hier, Crow da. Crow musste verschwinden. Plötzlich schien er dort angekommen zu sein wo er hin musste, sie hatte ihn also nicht bloß an der Nase herumgeführt. Vor ihm war eine riesige schwarze Fahrstuhltür, prächtig verziert mit komplizierten Mustern und Schriftzeichen, die in Bilder mündeten. Es sah schon fasst religiös aus, dachte er, wobei er einen Knopf drückte, der unscheinbar neben dem gigantischem Tor angebaut war und komplett vom Prunk übertrumpft wurde. Hier war es einfach ein simpler, schwarzer Knopf, der einfach nur dazu da war um den Fahrstuhl zu holen. Keine Muster, keine Zeichen, einfach bloß ein langweiliger schwarzer Knopf, dessen Ränder rot leuchteten wenn man ihn drückte. Zumindest ein Soundeffekt hätte Lucifer erwartet, der leicht ungeduldig darauf wartete bis der Aufzug endlich seine Etage erreichte. Wie tief es wohl runter ging?

...ins Dunkle… und Schwarze…

Er zitterte leicht bei der Vorstellung, doch sein Onkel wartete auf ihn. Er war schon spät dran. Er hatte keine Ahnung, was sein Onkel von ihm wollte, alle Ideen die er hatte schienen ihm nach einer Weile dann doch viel zu unrealistisch, als dass sie den Grund hätten darstellen können. Ungeduldig drückte er noch mal auf den Knopf, wo blieb das Ding denn?!

Dann war er endlich da. Mit einem leisem „Bling“ öffneten sich die Tore und ein strahlender, über beleuchteter Innenraum kam zum Vorschein. Vom Licht geblendet hielt der Junge sich kurz die Hände vor die schwarz-roten Augen, jedoch gewöhnte er sich schnell an das Licht, sein Zimmer war nicht viel anders. Schnell trat er ein, er bemerkte den weichen weinroten Teppich unter seinen Füßen, das innere des Aufzuges war ebenfalls golden verziert auf hölzernem Untergrund, jedoch nicht so stark wie das schwarze äußere. Dennoch perfekt symmetrisch, es war alleine schon ein pures Kunstwerk, er wollte gar nicht wissen, wie viel sein Onkel dafür hingeblättert haben muss. Doch Geld spielte bei ihm ja sowieso keine Rolle. Aus dem Erstaunen gerissen drückte er den Knopf der nach unten zeigte. Nun, es gab nur diesen einen Knopf, neben dem anderen der nach oben zeigte. Er wusste selbst nicht, was er erwartet hatte, aber er war trotzdem ein wenig enttäuscht. Kurz kam ihm die ironische Idee von einem gläsernen Aufzug, der in alle Richtungen fahren könnte. Er schmunzelte leicht bei diesem Schwachsinn, am besten noch fliegen.

Er sah sich um, vielleicht gab es ja noch etwas zu entdecken. Leise Fahrstuhlmusik lief im Hintergrund, etwas was ziemlich im Kontrast steht zu diesem Höllentor. Fahrstuhlmusik? Er wusste nicht, dass sein Onkel so etwas mochte… naja ist seine Sache. Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit in der er da fuhr, er begann schon im Rhythmus des Liedes mit zu tippen und ein Songtext dazu zu entwickeln. „Run… run… through this Mansion…“, die Melodie gefiel ihm echt gut. Er hoffte, er könnte sie sich merken bis er wieder in seinem warmen, sicheren, ausreichend beleuchtetem Zimmer saß. Er driftete leicht mit den Gedanken an sein Bett ab, er war schon so lange wach…

„…or you’ll be…“, leise sang er weiter, bevor er registrierte, dass der Aufzug zum stehen gekommen war und die Türen sich öffneten, „Game Over….“, der Mund klappte ihm auf bei dem was sich vor ihm aufbaute. Er hatte vieles erwartet, jedoch nicht so etwas. Er stand in einem Raum, nein eher einer kleinen Halle, voller Bildschirme und Kabel, die , anscheinend noch nicht vollends aufgebaut, im gesamten Raum standen. Überall waren Kisten, weswegen Lucifer größte Mühe hatte nicht über einen der vielen Gegenstände zu stolpern, sei es ein Kabel oder ein Bildschirm oder irgendwas anderes. In der Ecke standen mehrere von Crows Automaten, diese jedoch waren anders Designed, es gab viele verschiedene Varianten. „Time…Out?“, las er leise vor, er musste den Kopf schräg legen um die Aufschrift lesen zu können, die schwer lesbar auf den zur Seite gelegten Automaten geschrieben stand.

„Lucifer“, die tiefe, raue Stimme lies Lucifers Herz einen Schlag aussetzen. Er war hier. Und sie waren alleine. Er sah sich um, um den Ort zu finden, wo sein Onkel sich befand, doch dies war beinahe unmöglich zwischen diesen ganzen Bildschirmen.

„Komm her.“

Er war aufgeregt, sein Onkel war nun schon so nahe, er wartete auf ihn, doch er war einfach zu blöd um ihn zu finden.

Da sah er etwas, eine Bewegung aus dem Augenwinkel. Die einzige Lichtquelle in diesem Raum waren die Bildschirme, weshalb es ihm fast gar nicht auffiel.

Doch da saß er. Sein Onkel. In Fleisch und Blut.

Er saß auf einem riesigen, schwarzen Bürostuhl, sein Zylinder ragte darüber hinaus. Er drehte sich um und musterte sein Patenkind mit gelben, kalten Augen.

Lucifer blieb beinahe der Atem stehen, die Aufregung war einfach zu groß, plötzlich fühlte er sich so unendlich klein, so hilflos. Es war, als würde er unter dem Blick von dem großartigen Sir Raven Vales zerquetscht werden, wie eine kleine bedeutungslose Ameise. „J-ja?“, er stotterte leicht. Es war Monate her, seitdem er ihn das letzte Mal gesehen hatte, es kam ihm vor wie eine Ewigkeit… eine Ewigkeit ohne seinen Gott. Seine gesamte abweisende Art, sein gesamter Hass, er war weg. Egal worum sein Onkel ihn bitten würde, er würde es in blinder gehorsam tun.

„Komm näher“, antwortete Sir Vales mit kaltem Blick, wobei er sich wieder seinen Bildschirmen zuwandte. Lucifer war zu weit entfernt, als dass er hätte erkennen können was genau darauf zu sehen war, weshalb er zögernd ein paar Schritte näher trat.

„Ich weiß, was du mit einigen von meinen Angestellten gemacht hast Lucifer“, seine faltige weiße Hand lag ruhig auf seinem merkwürdig geformten Gehstock und seine teuren Ringe blitzten im Licht des Videobildes. Darunter auch der schwarze Ring mit dem Raben darauf. Ein Kloß machte sich im Hals des Weißhaarigen bemerkbar. Er wusste es… all die Schandtaten, denen Lucifer im Endeffekt nicht widerstehen konnte… all die Sünden die er begangen hatte. Er wusste, dass es ein Fehler war. Er hätte aufhören sollen doch… er hatte sich danach gesehnt. Über zwei Jahre lang konnte er sich dem Drang entreißen doch eines Tages…

Es war kalt gewesen, es hatte stark geschneit, Eiszapfen hingen vom Dach und glitzerten im Licht der Sonne. Der Moment war damals einfach zu günstig, er konnte einfach nicht anders. Anders als beim ersten Mal war es diesmal aber eher spontan gewesen, wie gesagt, die Umstände waren einfach zu perfekt. Ein Gärtner hatte die Aufgabe gehabt, den Schnee vom Dach zu holen und die gefährlichen Eiszapfen zu entfernen. Natürlich nicht vom Hauptgebäude, das war viel zu hoch, nein einfach von einem kleinerem abgelegeneren, wovon Lucifer nicht einmal den Nutzen kannte. Zumindest war das Dach so hoch, dass man eine lange Leiter brauchte um es zu erreichen. Lucifer war an diesem Tag spazieren gegangen, er war grade fertig mit dem Heimunterricht bei Sophie und wusste nichts mit seiner Zeit anzufangen. Der Gärtner war kurz verschwunden und neben der Leiter lag die Säge für die Zapfen… er hatte wie so oft zuvor wieder mit dem Gedanken gespielt, was wäre wenn er es einfach tun würde, einfach mal seine Gedanken verwirklichen. Doch der Unterschied zu sonst war… diesmal hatte er es getan. Er hatte sich durch den Schnee geschlichen, darauf achtend keine Spuren zu hinterlassen und die Säge genommen. Es war nicht einmal besonders schwer gewesen den Fuß der Leiter an zu sägen, die Säge war scharf und dünn. Es hinterließ fast keine Spuren und noch ehe er sich versah hatte er sich auch schon hinter einem Baum versteckt und das Geschehen durch die Zweige beobachtet. Der Gärtner war zurückgekommen mit einer kleinen Tasse Kakao, natürlich, es war kalt gewesen, er wollte sich eine Pause gönnen. Nach einer Weile hatte er sich wieder die Säge genommen und auf den Weg nach oben gemacht. Er hatte nicht einmal nachgeguckt, ob alles sicher war. Lucifer wusste noch, wie er breit grinsend hinter dem kahlen Baum gestanden hatte um zu sehen was passieren würde, wie vorfreudig er damals gewesen war endlich sein Werk genießen zu können. Der Mann fuhr mit seiner Arbeit fort. Eine Minute verstrich, zwei, drei. Die Leiter schien nicht einmal den Anschein zu machen zusammenfallen zu wollen. Er war enttäuscht gewesen, er stand kurz davor sich bockig umzudrehen und zu gehen, als es dann doch plötzlich passierte. Der Mann war grade dabei einen großen Eiszapfen an zu sägen, als eine Windbö plötzlich die Leiter traf und er ins wackeln geriet. Der Klang seines Schreis war wie Musik in Lucifers jungen Ohren gewesen, das knackende Geräusch von brechenden Knochen, als der Mann aufs Eis viel, doch es waren nicht die Brüche, die ihn töteten, nein, viel besser. Der Eiszapfen, er fiel hinunter, genau auf den sich unter Schmerzen krümmenden Mann. Es war eine Aneinanderreihung von Zufällen gewesen doch… das Resultat war unglaublich gewesen. Der weiße Schnee, blutrot, die Glieder des Mannes in unmögliche Winkel gebogen, sein Gesicht zu einem entsetzten Schrei geöffnet. Es war das schönste Weihnachtsgeschenk, das sich Lucifer hatte wünschen können. Auch hier wurde es als einfacher Unfall abgestempelt, niemandem schien es komisch vorzukommen, dass es wieder nur er war, der es gesehen hatte. Der einzige Augenzeuge.

Doch sein Onkel war dahinter gekommen. Genau wie auch bei all den anderen Dingen, wo er seiner Leidenschaft nicht widerstehen konnte. Er hatte sich gehen lassen, nun würde er dafür büßen müssen. „Verzeih mir…“, sagte Lucifer etwas kleinlaut und sah beschämt zu Boden.

„Nein, es gefällt mir“, zum ersten Mal schien in Sir Vales Augen so etwas wie ein Funke Zuneigung zu sehen zu sein, doch ehe Lucifer es richtig registrieren konnte war er auch schon erloschen. Neue Hoffnung machte sich in seinem Herzen breit. Es…gefiel…ihm?!

Unglaubwürdig sah Lucifer seinen Onkel an, er verstand nicht, wieso dieser so etwas sagte. Er hatte getötet, bei jedem Mord haben seine dämonischen Augen mehr gestrahlt, bei jedem Mal wurde sein Verlangen stärker. „Zuerst habe ich es selbst nicht gemerkt“, fuhr Sir Vales fort, es verwunderte Lucifer ein wenig, jedoch fiel ihm dann ein, dass sein Onkel ungefähr ab diesem Zeitpunkt immer weniger, bis letzten Endes gar nicht mehr irgendwo anzutreffen gewesen war, folglich war es eher wunderlich, dass er es überhaupt mitbekommen hatte. „Ich hielt dich für einen Versager“, die Wahrheit traf Lucifer hart, er spürte wie etwas in ihm zerbrach, „du warst ein nichts. Weder konntest du gut mit Finanzen umgehen, noch in irgendeiner Art irgendetwas Nützliches tun. Du warst komplett unbrauchbar.“

Lucifer nickte, es stimmte was sein Onkel da sagte. Er konnte wirklich nichts in dieser Richtung.

„Schau dir an was Crow geschaffen hat. Sie ist ein Genie der Technik, ein Wunderkind. Du hingegen bist beschäftigt mit deinen… Bildern und deiner… Musik“, es war deutlich die Verachtung in Sir Vales Stimme zu hören. Sir Vales selbst war, neben der Tatsache, dass er ein professioneller Golfspieler war, auch ein ausgezeichneter Pianist. Noch besser spielte er auf der Orgel. Lucifer war bisher nur einmal in den Genuss seines Spiels gekommen und im Gegensatz zu Sir Vales war er bloß ein blutiger Amateur. Wieder nickte Lucifer als Zeichen, dass er verstanden hatte.

„Dennoch gab es etwas was mich überraschte“, leichte Hoffnung machte sich im verletzten Herzen des Jungens breit, „die Art wie du getötet hast. Wirklich… interessant. Es ist zwar noch nicht perfekt, jedoch durchaus ein Anfang“

Lucifer war wieder verwirrt. Er mochte es, wenn er andere Leute wahllos umbrachte? Ihnen Schmerzen zufügte und sie Leiden ließ? Oder… vielleicht die Tatsache, dass er sich bisher nicht hat erwischen lassen? „Was…soll ich tun?“, brachte er schüchtern hervor. Er wollte seinem Onkel endlich beweisen, dass er keine Enttäuschung war, dass auch er dazu in der Lage war etwas Einzigartiges zu erreichen!

Ein schwaches Lächeln schien über Sir Vales Lippen zu huschen, zumindest kam es Lucifer für eine Sekunde so vor. Er drehte sich leicht zur Seite und zeigte mit seiner offenen Hand auf die Bildschirme, die Lucifer inzwischen beinahe komplett vergessen hatte. Endlich konnte er erkennen was darauf war. Es waren… Zimmer… ein wenig unscharf. Die Technik schien noch nicht perfekt zu sein, aber sie schien zu bewirken was sie sollte.

„Das da sind… Jugendliche?“, verwirrt sah Lucifer in das entspannte Gesicht seines Onkels. Was hatte das mit Lucifers Sünden zu tun? Es war als könne Sir Vales seine Gedanken lesen, denn er zeigte auf einen bestimmten Bildschirm, wo ein Junge mit Mütze mit einigen anderen sprach.

„Du sollst dich um diesen Jungen kümmern“, sagte Sir Vales kalt und musterte den Bildschirm.

„W-was sind das für Bilder? Was passiert da?“, es war alles so unerwartet. Er sah von einem Bildschirm zum anderen, er konnte die Villa erkennen, jedoch kannte er die meisten Räume nicht. Es musste sich um ein komplett anderes Gebäude handeln, eines, welches Lucifer nicht einmal kannte. Er verstand nicht wieso dort so viele Jugendliche waren und… Leichen.

„Oh mein Gott… was ist das?!“, auch wenn er es selbst liebte anderen wehzutun entsetzte ihn dieses Szenario einfach. Er dachte sein Onkel wäre ein vornehmer Mann des Adels, anständig, ein wahrer Gentleman. Doch was er hier sah zeugte von tiefster Grausamkeit, seine Seele musste schwärzer sein als die tiefste Nacht, doch irgendwie… gefiel es ihm.

Ricco

„Ricco?!“, eine laute verzweifelte Stimme erfüllte die engen Gassen der Stadt, jedoch wurde sie vom lauten Prasseln des Regens übertönt, welcher unabdingbar auf den kalten, nassen Asphalt einschlug und jede arme Seele, die sich draußen aufhalten musste, bis auf die Knochen durchnässte.

Eine im Mantel gehüllte Gestalt lief durch die Straßen, sie hatte ihn sich bloß übereilt übergeworfen, weshalb er umhangartig im Wind wehte und keinen sonderlichen Schutz vor den Wassermassen darbot. Doch es interessierte sie nicht, unbeirrt lief sie weiter, immer diesen Namen rufend, „Ricco bitte!“.

Ein seltsamer Anblick, dachte sich Ricco, der an eine Mauer gelehnt das seltsame Schauspiel von oben beobachtete. Er saß irgendwo in einem verlassenen Gebäude, eine Ruine, und sah von oben hinab auf die verlassenen Straßen.

Dort unten war sie, die Gestalt, welche immer noch verzweifelt seinen Namen in die Nacht hinaus rief, wohl in der Hoffnung er würde in irgendeiner Weise reagieren.

Doch er tat es nicht.

Seine kalten Augen, schlossen sich langsam und er lehnte sich zurück, der Regen beruhigte ihn. Er verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und nahm sich seinen Musikplayer aus der Tasche.

„Soll sie doch machen was sie will“, hörte er sich leise Flüstern, wobei er sich in eine bequeme Lage brachte. Er fror, jedoch ließ er sich nichts anmerken, selbst wenn es in diesem verlassenen Gebäude niemanden gab, dem er irgendwas hätte beweisen müssen… niemanden außer sich selbst.

Sein Name war Ricco Snow.
 


 


 


 


 


 

***
 

Ruhig träumte er vor sich hin. Er träumte von besseren Zeiten, von einem besseren Ort, von einem besseren… Leben.

Egal was es war, alles war besser als das, was er jetzt hatte, dessen war er sich bewusst. Träume sind nichts anderes als versteckte Wünsche, die dir dein Unterbewusstsein zeigt. Darum liebte Ricco es zu träumen. Es war die einzige Möglichkeit für ihn, sich selbst zu finden und zu klaren Gedanken zu kommen, er war ein viel zu nachdenklicher und verschlossener Junge. Manchmal war es gut, doch meistens… wurde ihm das zum Verhängnis.

Langsam öffneten sich seine Augen, das Licht der Mittagssonne blendete ihn und ließ sie lila aufblitzen.

Vom grellen Licht geweckt hielt er sich den Arm schützend vors Gesicht, wobei er sich mit einem leichten Söhnen zur Seite rollte, um der störenden Sonne zu entkommen.

Sein ganzer Körper tat ihm weh und ihm war kalt.

„Haaa…“, nach Luft schnappend hielt er sich die Hand vor den Mund, „ …tschhuuu!!!“, er musste sich durch den Regen wohl erkältet haben, seine Kleidung war immer noch klitschnass und er fühlte sich fast noch schlimmer als er aussah.

Seine Augen waren blutunterlaufen und seine Haut kreidebleich.

Seine Haare hingen ihm wirr im Gesicht herum, auch sie waren vom Wetter nicht verschont geblieben.

Leicht zitternd stand er auf, seine Nase lief und er fragte sich für einen Moment, ob es diesmal wirklich nötig gewesen war.

Aber egal, ob ja oder nein, die Erkältung würde er wohl oder übel aushalten müssen. Das war nichts Schlimmes für ihn.

Die Streitereien jedoch, die er sich Zuhause immer antun musste brachten ein viel schlimmeres Leid mit sich. Es beginnt mit so kleinen Dingen, bis es letzten Endes vollkommen eskaliert.

Gestern war ebenfalls solch ein Tag gewesen, weshalb Ricco sich kurzerhand einfach dazu entschloss von seiner Mutter wegzulaufen. Es war einfach zu viel für ihn gewesen, er konnte den Druck nicht mehr aushalten.

Er hatte nicht einmal mehr Zeit gehabt, sich seine Sachen zu packen, sondern er griff sich einfach kurzerhand die Weste seines Bruders und verschwand in die Nacht.

Ja… Ricco hatte einen Bruder. Oder besser, er hatte einen gehabt.

Er war überall beliebt gewesen, in der Schule… in der Stadt… einfach überall. Man kannte ihn. Man liebte ihn. Auch Ricco tat es, sein Bruder war einfach immer für ihn da gewesen, egal was war. Egal, ob Ricco Probleme in der Schule hatte, oder mit Mädchen, er konnte immer auf ihn zählen, doch dann… verschwand er plötzlich. Es passierte von einer Nacht zur anderen, es musste inzwischen knapp 3 Jahre her sein. Die Erinnerung kam wieder in ihm hoch, wobei er spürte, wie sie sich grausam und kalt, einer eisigen Hand gleich, um sein Herz schloss.

Seine Mutter hatte es nie verarbeiten können, ihr ältester Sohn war fort gegangen. Ohne auch nur eine Nachricht zu hinterlassen, ohne Vorwarnung, nicht einmal Anzeichen hatte er gemacht.

Er war verschwunden und ließ sie und seine zwei kleinen Geschwister einsam zurück, er ließ…Ricco zurück.

Ihr Vater war früh gestorben, weshalb es immer die Aufgabe seines Bruders war sich um alles zu kümmern. Er war mehr als bloß ein Bruder, mehr als ein Vater, mehr als nur ein Freund, er war… der Mensch, der Ricco immer sein wollte. Doch dann war er weg. Er war weg und das Leben eines kleinen 13 jährigen Jungen änderte sich schlagartig.

Die Nachricht traf sie alle wie ein Blitz, seine Mutter hatte sich an die Polizei gewand, doch die Beamten spielten alles runter. Es war als würden sie sich nicht einmal dafür interessieren, als hätten sie besseres zutun als sich um eines von unzähligen verschwundenen Kindern zu kümmern.

Sie hatten versucht Ricco’s Mutter zu beruhigen, sie sagten, dass er einfach ein junger 19 jähriger Teenie wäre, der womöglich einfach nur etwas Spaß im Leben haben will und seine Freiheiten genießen würde. So was solle öfters vorkommen haben sie gesagt und sich einfach abgewandt. Irgendwann würde er schon wieder auftauchen hieß es, in wenigen Tagen. Sie hatten Ricco versprochen, dass sie ihr Bestes geben würden, doch irgendetwas hatte Ricco damals schon gezeigt, dass es nichts mehr als leere Worte gewesen waren um ein weinendes Kind zu trösten. So kam es wie es kommen musste und aus Tagen wurden Wochen…

aus Wochen Monate und aus Monaten letztendlich Jahre. Mit jedem einzelnen Tag, verloren sie immer mehr die Hoffnung, der Fall war inzwischen längst in die Akten gelegt worden. Sein Bruder war für die Polizei inzwischen nichts weiter als ein unbedeutendes Foto an einer Wand. Seine Mutter verlor ihren Job, die Trauer hatte sie krank gemacht. Sie verfiel dem Alkohol, dass war die einzige Möglichkeit für sie, mit diesem Verlust fertig zu werden, sie hatte alles verloren, alles was ihr jemals irgendetwas bedeutet hatte. Ihren Mann, ihren Sohn, ihren Job, ihren Stolz. Egal wie sehr Ricco sich bemühte wie sein Bruder zu sein, er konnte es nicht schaffen. Er wurde weggestoßen… geschlagen. Und irgendwann vereiste sein Lächeln und er zerbrach. Seine Augen verloren den Glanz und er stand schon oft kurz davor… einfach den kürzesten Weg nach unten zu nehmen.

Doch er konnte es nicht tun.

Er konnte nicht auch noch seine Familie verlassen, seine kleine Schwester. Sie war inzwischen fast so alt wie er damals, es würde nicht mehr lange dauern und sie könnte ganze 13 Kerzen auf ihrem Kuchen auspusten… doch leider fehlte ihnen das Geld.

Dies war der Grund gewesen, weshalb sie sich überhaupt erst so gestritten haben, Ricco bat seine Mutter um ein wenig Geld für einen Kuchen. Doch sie hatte wieder getrunken und war vollkommen ausgeflippt. Er wollte sich nicht streiten, doch ehe er sich versah waren sie schon längst in einem lauten Gefecht. Er wollte nicht schreien, doch sie hörte ihm nie zu. Egal wie sehr er es versuchte, sie hörte ihm einfach nicht mehr zu.

Diese Zeiten waren vorbei.

Mit leicht gesenktem Kopf lief Ricco über die Straße, die Hände in den Taschen der ärmellosen schwarzen Weste.

Ein Polizei Auto fuhr langsam an ihm vorbei, es handelte sich wohl um eine simple Streife, jedoch spürte er, wie sich die Blicke der Polizisten in seinen Nacken bohrten.

Begründet, dachte er sich, denn er wusste genau wie er aussah.

Ein klitschnasser, verdreckter Junge mit schwarzer Mütze, einer schwarzen Weste und einer schwarzen Hose lief mit gesenktem Kopf durch die dunklen Gassen einer Großstadt, während seine bleiche Haut sich im Spiegelbild der Pfützen wie ein weißes Blatt Papier spiegelte. Seine lila farblichen und blutunterlaufenen Augen machten das Gesamte nicht besser. Er sah womöglich aus, wie der schlimmste und verdreckteste Drogendealer überhaupt.

„Hey!“, rief einer der Polizisten, als Ricco gerade um die Ecke biegen wollte. Ihm schien das wohl auch aufgefallen zu sein, dachte Ricco, der sich mit genervtem Gesicht umdrehte und dabei seine Zähne zusammenbiss.

Ein dicklicher Polizist stieg aus dem Wagen und nahm seine Sonnenbrille ab, wobei er langsam auf Ricco zuging.

Sein Kollege stieg ebenfalls aus, blieb jedoch am Wagen stehen und musterte Ricco mit scharfem Blick.

„Ja?“, meinte Ricco knapp und sah dem Mann in die Augen, der nur noch weniger Meter von ihm entfernt war. Seine Uniform war leicht beschmutzt und Ricco bemerkte, dass er wohl beabsichtigt versuchte bedrohlicher zu wirken, indem er seine Hüfte hervor schob und somit den Blick auf seine Dienstwaffen darbot.

Er hatte einen Schlagstock.

Keine schöne Waffe, dass wusste Ricco nur all zu gut.

Er hatte schon einige Male kleinere Auseinandersetzungen mit der Polizei gehabt, dass lag aber hauptsächlich daran, dass er sie meist als zu unfähig und dämlich einstufte. Meistens hat er Glück und kann abhauen, einmal jedoch…

Er rieb sich kaum merkbar die Rippen, als würde er den Schmerz immer noch spüren, obwohl die Wunde längst nicht mehr zu sehen war. Ein Polizist hatte ihm einst mehrmals die Rippen gebrochen, nachdem dieser in einem Wutausbruch auf Ricco losgegangen war.

Nun, Ricco war auch wirklich provokant gewesen, aber das rechtfertigt doch noch lange nicht, wie ein Irrer auf einen 15 Jährigen einzuschlagen. Wie es aber üblich ist für die Polizei in dieser Stadt, gab es niemanden der zur Rechenschaft gezogen wurde und somit galt es im Krankenhaus als „Unfall“ durch einen „Sturz von einem Baum“. Natürlich war es seine Mutter, die für die Kosten aufkommen musste, was die Familie nur noch mehr kaputt machte.

Ricco hatte also mehr als genug Gründe die Polizei einfach zu verabscheuen, weshalb er auch nahezu jeden Moment nutzte um ihnen so viel Ärger zu machen wie möglich. Doch nicht im Sinne von Kriminalität, sondern einfache Kleinigkeiten, etwas Anderes würde Ricco niemals tun. Drogen gehören zum Beispiel zu diesen Dingen. Er hatte noch nie in seinem Leben irgendwelche genommen, nicht einmal normale Medizin bekam er, da diese einfach zu teuer war. Er verabscheute so etwas von Herzen, jedoch musste er es sich schon oft genug anhören, dass man ihn für den größten Kiffer der Gegend hielt; all diese Beleidigungen wegen einer dämlichen Unterstellung. Überraschenderweise kümmerte es ihn aber nicht sonderlich, sollten die Menschen doch denken, was sie wollen, solange sie ihn einfach in Ruhe ließen. Doch sie konnten es anscheinend einfach nicht, was ihm schon mehr als genug Nerven raubte. All diese verschwendete Zeit für unwichtige Unterhaltungen.

„Wie alt bist’n du?“, der Polizist riss ihn aus seinen Gedanken, als er den Schwarzhaarigen mit unfreundlichem und patzigen Ton anschnauzte, „He?“.

„Sechzehn“, antwortete Ricco knapp und musterte den Polizisten von oben bis unten, „und Sie?“. Er lächelte Schmal, jedoch zeigten seine Augen keinerlei Emotionen, wodurch man merkte, dass Ricco den Polizisten nicht ernst nahm.

„Was geht dich das an“, kam die unfreundliche Antwort.

Langsam kam er näher, seine Hand hatte er auf seinen Schlagstock gelegt, sein widerlicher Gestank stieg in Ricco’s Nase und er spürte, wie das Adrenalin in ihm aufstieg. Er konnte sehr schnell aggressiv werden, jedoch versuchte er es so gut wie es ging zu vermeiden. Leider klappte es nicht immer.

„Was machst n’ du hier?“, fuhr der Polizist fort, man konnte deutlich die Anwiderung in seiner Stimme hören, er schien Ricco also wirklich für genau das zu halten wie er aussah.

„Zur Arbeit gehen“, sagte dieser, ohne auch nur eine Miene zu verziehen. Er konnte einfach nicht anders, die Gelegenheit war einfach zu gut um sich über diesen fetten möchtegern Gesetzeshüter lustig zu machen, „im Gegensatz zu ihnen“.

„Hahaha, sieh mal einer an“, die laute Lache des Polizisten ließ Ricco kurz zusammen zucken, es klang eher wie das Bellen eines zu fett gefressenen Hundes. Mit einem kurzen Blick zu seinem Kollegen kam er näher an Ricco ran, bis ihre Gesichter beinahe direkt voreinander waren.

„Hier haben wir ja einen ganz schlauen“, Ricco roch den widerlichen Atem des Mannes, welcher wie eine Mischung aus Kaffee, Qualm und Bier stank.

Noch bevor Ricco seinen Mund öffnen konnte, packte der Mann ihn am Kragen und hob ihn plötzlich brutal in die Luft.

Ricco hatte ja schon vieles erlebt, aber, dass ein Polizist gleich SO handgreiflich wurde überraschte ihn dann doch, vor allem, weil es wirklich keinen anständigen Grund dazu gab.

„Lassen Sie mich los“, zischte der Junge, wobei er kläglich versuchte, mit seinen Zehnspitzen halt zu finden, doch er rutschte immer wieder ab. Sein Herz schlug schnell und er fühlte wie sein ganzer Körper bebte. Er wollte diesen Scheißkerl auf dem Boden sehen, blutend.

„Oooh, schau mal wie er zittert“, grinsend wand er sich an seinen Kollegen, welcher mit dümmlichem Lächeln an den Wagen gelehnt das Geschehen beobachtete.

Ihm schien die Show zu gefallen.

„Na, wird wohl nichts mit deinen scheiß Drogen, hm?“, er hob Ricco etwas höher, seine Augen waren wild, er war wütend, er spürte langsam wie er die Kontrolle über sich verlor.

„Welche… Drogen?“, seine Stimme war kaum mehr als ein leises Knurren, er hatte unglaubliche Schmerzen, doch er wollte es sich nicht anmerken lassen. Ricco spürte, wie sich langsam Striemen auf seiner Haut bildeten, man würde sie wohl auch noch in einigen Tagen sehen können.

„Die du hier verticken willst du scheiß Junkie!“, mit einen Ruck warf er Ricco gegen eine Wand.

Sein Hinterkopf knallte brutal gegen die dort aufgeklebten Plakate und wirbelten diese auf, woraufhin sie im hohen Bogen durch die Luft flogen. Mit einem unterdrückten Schmerzensschrei sank er zu Boden, das einzige was er sehen konnte waren Sterne , er schmeckte Blut auf seinen Lippen, er hatte wohl darauf gebissen, was war nur in diesen Typen gefahren?!

Langsam fielen die Blätter zu Boden, Ricco’s Augen waren auf seine behandschuhten Hände gerichtet. Sein Kopf schmerzte und er musste erneut niesen. Er spürte wieder die Kälte um sich herum, seine Haare sträubten sich.

„Dir werde ich schon Manieren einprügeln“, meinte der Polizist, welcher sich bedrohlich vor dem auf dem Boden liegenden Jugendlichen aufbaute, die Linke zur Faust geballt, die Rechte den Schlagstock herumwirbelnd.

Langsam spürte Ricco wie es immer schwärzer um ihn herum wurde, die Erkältung war wohl schlimmer als er erwartet hatte und besonders solch eine Stresssituation machte ihm nun zu schaffen.

Der Tatsache mal ungeachtet, dass er von einem ausgewachsenem Polizisten mit dem Kopf voran gegen eine Wand geworfen wurde.

Vom dreckigen Lachen seines Kollegen begleitet trat der Polizist plötzlich mit aller Kraft in Ricco’s Magen.

Ein zweites Mal.

Drei.

Vier.

Ricco’s Augen rollten nach hinten und es war, als würden sich seine Innereien nach außen drehen.

Dann hörte der Mann plötzlich auf.

„Dreck wie dich braucht diese Stadt hier nicht, merk dir das“.

Riccos Augen waren nur noch halb geöffnet, doch er konnte einfach nicht anders. Schwer Atmend und mit unglaublichen Schmerzen rappelte er sich auf und sah den Polizisten direkt an. Er hatte genau das selbe freche Lächeln auf den Lippen, wie auch zu beginn ihrer „Konversation“, nur war Ricco jetzt nicht mehr wirklich dazu in der Lage irgendwas zu sagen, da er spürte wie sich das Blut in seinem Mund ansammelte und sich mit seiner Spucke vermischte.

„Oh Schau mal, er will wohl noch etwas sagen“, grinsend drehte der Polizist sich zu seinem Kollegen um, welcher ihn belustigt ansah. Es schien nicht das erste Mal zu sein, dass so etwas geschieht, sie dachten wohl, Ricco sei einfach ein Obdachloser, der in die Stadt gekommen war um hier seine dreckigen Geschäfte zu erledigen.

Dabei war Ricco wirklich auf dem Weg zur Arbeit gewesen.

Neben der Schule arbeitete er in einem kleinen Kiosk als Aushilfe, doch… dass würde heute wohl ausfallen müssen.

Langsam fand er wieder genug Kraft um zu sprechen: „Abschaum… wie Sie…“, er musste husten, Blut und Speichel flossen ihm aus den Mundwinkeln und jedes Wort schmerzte ihm, „braucht kein… Mensch“, mit letzter Kraft warf er sich herum und spuckte dem Polizisten eine Mischung aus Blut, Speichel und Dreck auf die sauber geputzten Schuhe.

Das war es ihm wert gewesen, es war die größte Respektlosigkeit, die er diesem Dreckskerl noch entgegenbringen konnte.

Die nächsten Schläge waren für ihn fast gar nicht mehr zu spüren, er lag einfach da und ließ auf sich eintreten.

Er war ohnehin nicht mehr dazu in der Lage sich zu wehren, da er langsam fühlte, wie sein Körper taub wurde.

Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, in die der Polizist voller Beleidigungen und abwertender Fäkalsprache auf ihn einschlug, doch dann irgendwann… war es vorbei.

Der frische Regen prasselte in Ricco’s Gesicht und er lag einfach nur da. Mitten auf dem Bürgersteig, weit und breit war kein Mensch zu sehen. Er lag in seinem eigenem Blut, doch… er Lächelte. Er hatte erreicht was er wollte. Der Regen wusch ihm den Dreck vom Gesicht und spülte das Blut fort. Der Regen konnte alles reinwaschen. Ricco’s Knochen schmerzten und ihm war kalt, doch er war nicht mehr dazu in der Lage aufzustehen. Sein Atem war schwer, dieser Polizist muss es wirklich genossen haben, ihn so grundlos zu verprügeln. Irgendwann würde er es ihm zeigen. Irgendwann. Er war mehr als entschlossen.

Seine Kleidung war inzwischen wieder komplett durchnässt, diesmal würde es wohl mehr als nur eine einfache Erkältung werden. Wäre er doch einfach nur zuhause geblieben, es war doch bloß so eine Kleinigkeit. Es ging um den Geburtstag seiner kleinen Schwester. Was würde nur aus ihr werden, wenn er irgendwann nicht mehr da wäre? Er kann ihr nicht das gleiche antun wie sein Vater, wie… sein Bruder. Er kann sie nicht auch noch verlassen.

Alle Spuren des Drecks waren inzwischen wieder rein gewaschen, es waren beinahe kaum noch Anzeichen von der Brutalität des Polizisten übrig geblieben. Ricco genoss förmlich den prasselnden Regen auf seiner Haut. Auch wenn ihm kalt war, war es dennoch… angenehm.

Nur Schnee war schöner, sein Lächeln wurde breiter, er streckte seine Hand aus und dachte wieder einmal an seinen Bruder, „Wo bist du nur… Snow?“. Dann fiel er in einen tiefen Schlaf.
 

***
 

Ruhige Musik spielte in einem von einer Heizung gewärmten Zimmer. Das erste was Ricco auffiel als er langsam wieder zu Bewusstsein kam war der merkwürdige Geruch von… Zimt.

„Na, riecht gut oder?“, eine sanfte Stimme hinter ihm ließ Ricco zusammenzucken, instinktiv wich er zurück.

„Haha, keine Angst, ich bin’s doch nur“, mit breitem Lächeln kam eine ältere Frau zum Vorschein, sie war relativ klein, dafür aber umso dicker und erinnerte auf dem ersten Blick dadurch stark an einen… Ball. Ricco kniff die Augen zusammen, dieses Gesicht kam ihm bekannt vor.

„Es hat dich wohl härter erwischt als erwartet hm?“, leicht besorgt kam sie näher und endlich wurde Ricco klar, wen er dort vor sich hatte. Mrs. Lake, die Mutter seines besten Freundes.

„Mrs. Lake!“, überrascht sprang Ricco auf, woraufhin er sofort den fremden Pyjama bemerkte, der ihm wohl angezogen wurde.

Man war ihm das peinlich.

Leise kicherte die Frau, wobei sie ihm freundlich einen Teller Kekse hinhielt.

Zögernd nahm Ricco sich einen.

Er hatte keine Ahnung wie er hierher gekommen war und vor allem wieso, sobald er aber jedoch diesen wunderbar zimtigen Geschmack des Kekses auf seiner Zunge spürte war alles Andere vergessen. Er liebte diese Frau einfach für ihre Kochkünste, sie war in der ganzen Stadt dafür bekannt. Sie hatte sogar eine eigene Konditorei, selbst außerhalb der Stadt begehrte man ihre Kreationen. „Rainbow Biscuit“, hieß ihr kleiner Laden.

Ricco war als Kind oft dort gewesen, jetzt jedoch hatte er recht wenig Zeit für seine Freunde. „Ist Zack da?“, fragte er, nachdem er sich einen weiteren Keks gegönnt hatte. Man sah es ihm vielleicht nicht an, aber er liebte nahezu jede Art von Naschzeug, er und Zack hatten früher oft tagelang nur zusammen rumgehangen und neue Rezepte der Mutter probiert.

Eines köstlicher als das Andere.

„Er war es sogar, der dich gefunden hat“, sie schien leicht bedrückt zu sein, ihr fiel es anscheinend schwer über Zack zu reden. Also gab es immer noch… diese Sache.

Zack war schon immer ein Rätsel für sich, er hat sich in all den Jahren sehr stark verändert. „Wie könnt ihr beide nur immer in so viele Schwierigkeiten geraten“, leicht seufzend patschte sie Ricco auf den Kopf, es war ungewohnt für ihn keine Mütze zu tragen. Er mochte es nicht so, wenn man seine Haare anfasste. Er hielt seine Frisur recht simpel, meistens fuhr er sich einfach schnell mit der Hand hindurch und fertig war er. Dann noch die Mütze und Ende. Außerdem braucht er dann nicht immer fünf Stunden im Bad zu hocken um sich irgendeine aufgestylte Frisur zu machen. Am Besten noch irgend so einen Quatsch wo der Scheitel das ganze Auge verdeckt.

Er lächelte Mrs. Lake an, sie war wirklich eine liebevolle und fürsorgliche Frau, besonders in den letzten drei Jahren war sie viel für ihn da gewesen, damit er besser den Verlust von Snow verarbeiten konnte, seinem Bruder.

Nun… seine Freunde hatten ihn Snow genannt. Sogar die Lehrer. Wirklich jeder mochte ihn, seine ganze Ausstrahlung war einzigartig, er war einfach die Sympathie in Person. Ganz anders als Ricco. Er hatte nicht einmal die Chance bekommen so zu werden wie sein Bruder, denn sie wurde ihm genommen, von all diesen Menschen. Er konnte so viele nicht leiden, doch das beruhte auf Gegenseitigkeit. Ricco konnte nie verstehen, wie Snow es schaffte sich bei allen Menschen beliebt zu machen.

Snow war ein Held für ihn, jemand der alles schaffen könnte.

Er selbst hingegen war aber einfach nur Ricco Snow… nicht mehr, nicht weniger. Anders als sein Bruder, war Ricco kalt und eisig. Er hatte nicht diese „Schönheit“ und „Grazie“ die sein Bruder ausstrahlte, nein, er war anders.

Ganz anders.

Er hatte nie wirklich in die Gesellschaft gepasst, immer wurde er ausgeschlossen, jedoch… gab es immer jemanden auf den er zählen konnte. Snow war einfach immer da gewesen, überall.

Zack hatte dasselbe Schicksal zu ertragen wie Ricco, auch mit ihm wollte niemand irgendwas zu tun haben. Jedoch bestand der Unterschied zu ihnen darin, dass er immer dazu gehören wollte, ganz anders als Ricco. Irgendwann haben sie sich einfach auseinander gelebt, die Treffen wurden immer seltener, die Gespräche immer kürzer und irgendwann… kam gar nichts mehr.

Doch es war letzten Endes immer noch Ricco’s „bester“ Freund, denn wo es keine Konkurrenz gibt, ist das Einzige immer das Beste. Zumindest aus Ricco’s Sicht.

„Geht es ihm gut?“, fragte er, als er ihren leicht besorgten Blick bemerkte. Als sie sah, wie er sie musterte setzte sie wieder ihr herzlichstes Lachen auf und hielt ihm erneut die Kekse hin.

„Ach, er hat jetzt so eine neue Freundin… Biscotte glaube ich“, sie selbst nahm sich auch einen und legte deshalb eine kurze Sprechpause ein, „sie ist etwas… merkwürdig, leicht verpeilt, aber sonst ganz nett, sie macht ein Praktikum bei uns in der Konditorei, aber mal ganz unter uns, hihi, ich glaube sie ist eher mit naschen als mit arbeiten beschäftigt“.

Ihr zwinkern sagte mehr als tausend Worte, denn erneut erinnerte Ricco sich daran, wie es war, als Zack und er noch kleiner waren. Sie haben nahezu alles mitgehen lassen, was unbeaufsichtigt in der Konditorei herumlag, zum Ärger von Mrs. Lake natürlich, doch sie konnte nie lange böse sein und belohnte sie letzten Endes sogar immer mit Keksen und Kuchen.

„Ich habe ihn länger nicht mehr gesehen“, meinte Ricco mit einem Lächeln. Doch innerlich war ihm nicht wirklich danach, Zack wollte wie gesagt immer in die Gesellschaft hinein… nun, er hatte es irgendwann geschafft. Wenn auch auf eine andere Art und Weise. Eine, die Ricco nahezu verabscheute.

„Vielen Dank für die Kekse, ich denke, ich sollte-“

„Mutter?“, eine scharfe, direkte Stimme, schnitt Ricco das Wort ab. Beide Köpfe drehten sich zur Tür, wo plötzlich ein großer gut aussehender Junge ins Licht trat. Seine Augen waren ernst, doch er grinste beim Anblick seines alten Freundes.

„Ich lass euch beide mal alleine, ihr habt sicherlich… einiges zu besprechen“, mit einem leicht verkrampften Lachen, stellte sie den Teller auf den Tisch und tippelte an ihrem Sohn vorbei in Richtung Küche.

„Ricco“, mit offenen Armen kam der blonde Junge auf Ricco zu. Seine Arme waren mit Verbänden eingewickelt und ein weißes Tribal prägte sein knallrotes T-Shirt. Es war das Zeichen einer Gang. Aber dies war eine andere Geschichte.

„Zack“, antwortete er und ließ sich von seinem Freund umarmen. Es fühlte sich merkwürdig an. Vor allem, weil sie so lange nicht mehr miteinander gesprochen hatte. Zack war viel zu sehr damit beschäftigt seiner… Arbeit nachzugehen.

„Du hast ganzschön was abbekommen“, meinte dieser und inspizierte das Gesicht von Ricco, „wer war das? ...etwa eine rivalisierende Gang? Fuck. Die sollten sich doch aus unserem Gebiet raus halten“, er sah ihm ernst in die Augen. Ricco kannte diesen Blick, es war typisch für ihn, alles drehte sich nur noch um Macht und Revierkämpfe. Ricco war froh, dass er damals nicht auf dieses schwachsinnige Internat gegangen war, sonst wäre er jetzt vermutlich auch in dieser albernen „Gangszene“ drin.

„Nein, es waren die Cops“, er wischte demonstrativ Zacks Hand weg, als Zeichen, dass es schon okay wäre.

„Die Cops? Wer sind die Cops?! Sind die neu?“, mit gerunzelter Stirn griff er sich an seinen Gürtel um sein Handy zu zücken.

„Hey nein, ich rede von den Polizisten. Meine Fresse, pack’ dein Handy weg, du bist jetzt nicht in deiner Gang Zack“, genervt verdrehte Ricco die Augen. Das war es was sich an Zack so verändert hatte. Es gab nicht mehr IHN, sondern nur noch seine Gruppe. Es war beinahe unmöglich ihn jemals alleine zu erleben. Doch eines musste man ihm lassen… er hatte sich wirklich einen Namen gemacht. Wenn auch eher im negativem Sinne, doch Ricco hoffte, dass Zack irgendwann wieder einmal zu Verstand kommen würde. Damit sie wieder Freunde sein konnten…wie früher. Doch das würde voraussichtlich noch eine Weile dauern.

„Du wurdest von Polizisten verprügelt??“, Zack fing an zu lachen, „zu schade, dass ich das verpasst habe, hahaha, hoffe du hast es ihnen richtig gezeigt“. Egal was Ricco gesagt hätte, Zack hätte es ohnehin nicht richtig verstanden, weshalb er einfach nur nickte.

„Du solltest dich nicht alleine in diesen Bereichen der Stadt aufhalten, du weißt wie das Spiel läuft“.

In Wahrheit hatte er nicht einmal den Hauch einer Ahnung.

„Und naja… auch diese Farben sind nicht sonderlich klug. Aber… wie auch immer. Wie geht es dir? Gibt es etwas Neues? Wie geht es Alice?“, der Schwarzhaarige wunderte sich, dass Zack seine kleine Schwester ansprach. Sie hatten nie sonderlich viel miteinander zutun gehabt. Dies war das erste Mal gewesen, dass er überhaupt nach Ricco’s Familie fragte. Merkwürdig.

„Naja… ein Paar Probleme zuhause, aber ansonsten ist alles okay. Ich denke ich verliere jetzt meinen Job wegen dieser Scheiße mit der Polizei, aber das ist okay, er war sowieso beschissen bezahlt. Alice geht es ziemlich gut… sie wird nächste Woche dreizehn“, während er sprach hatte er sich erneut ein Paar Kekse genommen, sie waren wirklich köstlich. Der Duft von warmen Kuchen strömte ihm in die Nase, Zack’s Mutter war wohl erneut dabei zu backen, wie eigentlich immer.

„Wow… schon dreizehn?“, Zack sah mit einem nachdenklichem Blick an die Decke, „weißt du Ricco… es ist echt schön dich zu sehen. Alles ist so voller Stress und dann noch dieser ganze andere Scheiß… es ist echt eine Abwechslung mal ein Gesicht zu sehen von Jemanden, der dir nicht sofort eine reinhauen will“.

Ricco antwortete nicht, sondern beobachtete Zack einfach schweigend vom Bett aus. Sein blick fuhr herum, auf der Suche nach seiner Kleidung, jedoch konnte er sie in all dem Chaos nicht finden. Es war ihm einwenig unangenehm bloß im Schlafanzug im Bett seines ehemals besten Freundes zu sitzen, während dieser nachdenklich Löcher in die Luft starrte.

Aber auch wenn er woanders hingestarrt hätte, wäre ihm das unangenehm gewesen, Ricco mochte einfach keine Schlafanzüge.

Von ihm aus, könnte Zack hinstarren wo er wollte.

„Ich habe gehört du hast eine neue Freundin, stimmt das?“, sie hatten so lange nicht mehr miteinander gesprochen und schon fiel ihnen nichts mehr Gescheites ein worüber sie sprechen könnten.

Ricco führte Smalltalk.

Mit seinem besten Freund.

Nach etlichen Jahren.

Das nennt man doch mal wahre Freundschaft.

„Ja, Biscotte, ein wenig dümmlich aber eigentlich ganz süß“, antwortete Zack knapp. Erwartungsvoll sah Ricco ihn an, doch nach einer gefühlten Ewigkeit merkten beide, dass es wohl nicht mehr viel zu erzählen gab.

„Nun ehm… danke für’s von der Straße kratzen“, fing Ricco dann zögernd an, wobei er Zack versuchte klar zu machen, dass es wohl langsam für ihn an der Zeit war zu gehen.

„Hey, ich wollte dich eigentlich ausrauben, doch dann habe ich bemerkt, dass mir dieses Gesicht irgendwie bekannt vorkam“, antwortete er mit einem verschmitzen Lächeln. Ricco wusste, dass seine Worte in Wahrheit kein Spaß waren. Zack ist leider echt so ein… Arschloch geworden. Das ist auch einer der Hauptgründe wieso die „Freundschaft“ so zerbröckelt ist. Ricco hatte sich früher geprügelt um sich zu verteidigen, oft mit Zack an seiner Seite, doch irgendwann hat Zack angefangen sich aus Spaß zu schlagen und Schüler fertig zu machen, nachdem diese vor ihm zurückwichen. Das war kein Respekt, den sie ihm brachten, es war Angst. Es stieg ihm zu Kopf und ließ ihn denken, nur mit Gewalt könne man etwas im Leben erreichen. Zack war brutal und hinterhältig, selbst wenn man es ihm nicht ansah, doch… es war nicht Ricco’s Aufgabe sich darum zu kümmern.

Zack sollte sein eigenes Leben haben, sich seine eigene Geschichte schreiben. Snow hätte nie gewollt, dass Ricco so wird, weshalb dieser sich letzten Endes komplett von Zack abgewandt hatte. Doch er war in eben solchen Momenten wirklich froh, ihn zumindest nicht als Feind zu haben, denn letzten Endes war seine Mutter immer noch die begnadete Konditorin, deren Kuchenduft einen nahezu verrückt machte. Niemals könnte er darauf verzichten, besonders der Apfelkuchen hatte es ihm angetan.

Während Ricco so ans Essen dachte, nahm Zack ein Bündel von seinem Tisch und warf es ihm zu, „Hier“.

Ricco fing es auf und merkte sogleich, dass es sich dabei um seine schon vermisste Kleidung handelte.

„Danke“, meinte er und wickelte sie aus. Sie war frisch gewaschen und noch warm er roch das Waschmittel, es duftete einfach wundervoll. Am liebsten hätte er darin geschlafen. Plötzlich musste er wieder Niesen. Er hatte ganz vergessen, wie erkältet er war doch… da war sie plötzlich wieder. Die Erkältung.

„Oh man Ricco“, überrascht sah Zack ihn an, „du steckst hier noch Jemanden an! Wenn meine Mutter sich ansteckt sieht’s schlecht aus für die Konditorei…warte mal…“, er nahm sich einen Schlüssel aus der Hosentasche und ging zu einem Schrank am anderem Ende des Raumes.

Er schloss ihn auf und kramte darin herum, wobei er leise eine Melodie vor sich hin summte.

Manchmal wusste Ricco echt nicht was er von Zack halten sollte, es gab immer wieder Momente, wo er in ihm einfach nur… seinen besten Freund sah. Doch dann… war er wieder das kalte und herzlose Gangmitglied. Nach kurzer Suche wurde Zack anscheinend fündig, was man an seinem kleinen triumphierenden Ausruf bemerkte, den er ausstieß, „Ha!“.

„Was… hast du?“, Ricco schniefte, seine Augen tränten leicht, diese Erkältung war echt die Hölle.

Ohne irgendwas zu sagen warf Zack ihm erneut etwas zu, diesmal war es jedoch kleiner und weit aus leichter, als zuvor die Kleidung. Jedoch konnte er diesmal nicht sofort erkennen was es war. „Was ist…das?“, Ricco sah sich den Gegenstand an, welcher sich in seiner Hand entfaltete.

Es war eine Halbmaske, sie war weiß, mit einem Atemfilter.

„Das ist eine spezial Maske, sie reinigt die Luft von Außen für dich und sorgt gleichzeitig auch dafür, dass von innen nichts raus kommt. Es bringt also einen doppelten Nutzen für sich, wenn du zum Beispiel eine Stauballergie oder so was hast“, Zack hielt einen zweiten Gegenstand in der Hand, jedoch war Ricco nicht dazu in der Lage ihn eindeutig zu identifizieren.

„Ich habe aber keine Stauballergie“, meinte er mit gerunzelter Stirn. Zack hielt die Hand hinter seinem Rücken versteckt, sodass es Ricco nun vollkommen unmöglich war einen Blick auf den seltsamen Gegenstand zu erhaschen. Was war das bloß?

„Dennoch kannst du jemanden anstecken“

„Aber ich gehe nicht unter Menschen“

„Setz die verdammte Maske auf!“, leicht genervt sah Zack ihn an.

„Okay, okay“, mit einem Seufzen tat Ricco, was Zack ihm sagte und… seine Erkältung war kaum noch zu bemerken.

Es war ein nahezu erschreckender Unterschied.

Die Maske deckte sowohl Nase als auch Mund ab, jedoch war es der Filter, der besonders außergewöhnlich hervorstach. Kaum hatte Ricco die Maske aufgesetzt spürte er, wie seine Atemwege frei wurden und jeglicher Drang zum Niesen war verschwunden.

„Beeindruckend nicht wahr?“, Zack schien genau zu wissen, was Ricco dachte, „das sind spezielle Filter, Gerüchten zufolge sind sie sogar so sensibel, dass sie es schaffen nahezu jegliche Schadstoffe aus der Luft zu Filtern. Beinahe so gut wie eine Gasmaske!“.

Beeindruckend war es tatsächlich, dass musste Ricco zugeben. „Wow…ehm… danke“, seine Stimme klang etwas gedämpfter, jedoch war es kein größerer Unterschied als zuvor.

Diese Maske war wirklich bemerkenswert.

„Kein Problem, war ein Geschenk einer Firma… ich glaube das war dieses komische ‚Vales’ Unternehmen… aber wie auch immer, das hier… habe ich auch noch für dich“, nach kurzem Zögern hielt er ihm die Hand entgegen. Verwundert nahm Ricco den Gegenstand an sich und er spürte sogleich, wie sein Herz einen Schlag aussetzte. Fassungslos sah er in Zack’s hellblaue Augen.

Es war ein Taschenmesser, jedoch nicht irgendeines… es war schwarz-silbern verziert, genau wie die Klinge selbst. Ricco ließ sie herausspringen und betrachtete sie von oben bis unten.

Er kannte dieses Messer nur zu gut.

„Wo hast du das her?“, seine Augen wurden kalt und seine Stimmung änderte sich schlagartig in Misstrauen. Es war das Messer seines Bruders. Snow hatte es immer bei sich gehabt, egal wo er hinging, es war seine größte Kostbarkeit gewesen.

„Woah, hey, nicht sauer werden“, erschreckt über Ricco’s plötzlichen Sinneswandel wich er einen Schritt zurück, „ich habe es gefunden, es ist schon eine Weile her, es lag an einem Fluss, einer meiner Leute hat es mir gegeben. Ich habe es sofort erkannt… so etwas vergisst man einfach nicht“.

Skeptisch sah Ricco seinen ehemaligen besten Freund an, wieso zur Hölle sollte urplötzlich das Messer seines Bruders auftauchen; nach all dieser Zeit; und wie kann es sein, dass es zufällig Zack in die Finger fällt? Er glaubte der ganzen Sache nicht so ganz.

„Wirklich Ricco, du weißt, dass ich dir so was niemals vorenthalten hätte“, einwenig nervös betrachtete Zack die scharfe Klinge des Messers. Es war schon mal so gewesen, dass Zack einige Dinge von Snow und Ricco gestohlen hatte, jedoch war er sich diesmal wirklich bewusst, wie viel Ricco dieses Messer bedeutete, „du weißt das!“. Man konnte leichte Anspannung in seiner Stimme heraushören, war es richtig gewesen Ricco das Messer zu geben? Nach kurzem Überlegen, ließ Ricco die Klinge wieder rein schnellen. Es war nicht ein Rostfleck darauf zu sehen gewesen, sie war blitzblank. Ricco nickte Zack zu, was ihm deutete, dass er ihm glaubte. Auch wenn er es nicht wirklich tat.

„Okay, du solltest dich dann mal umziehen, wenn du magst kannst du gerne noch mit uns essen… du warst ewig nicht mehr hier“, zögernd ging Zack Richtung Tür, er wusste, dass er Ricco’s Gefühle mit diesem einen Gegenstand komplett aufgewühlt hatte. Ohne ein weiteres Wort zu sagen schloss er die Tür hinter sich und ließ Ricco alleine im Raum zurück.

Mit einem Seufzen, ließ sich Ricco zurück aufs Bett fallen.

Er zog sich das Oberteil aus, und entblößte seinen Oberkörper.

Er war nicht sonderlich begeistert vom Sport, doch dennoch waren gewisse Ansätze von Muskeln zu erkennen, er tastete an seine Rippe und fühlte eine unsichtbare Narbe. Hier waren sie gebrochen worden. Nun war es nichts weiter als ein Phantom, doch für ihn war sie nach wie vor existent. Seine Hand strich weiter über seinen Bauch, er war hart, doch die Berührung schmerzte. Es würden wohl einige blaue Flecken zurückbleiben. Er stand auf und stellte sich vor den Spiegel, welcher am anderen Ende des Zimmers stand. Er sah besser aus, als er es erwartet hatte. Seine schwarzen Haare fielen ihm ins Gesicht, jedoch wirkten sie nicht mehr so nass und eklig wie vorher, auch sein Gesicht war gewaschen. Seufzend nahm er die Maske ab und warf sie neben sich auf den Boden. Sofort fühlte er wie es schlimmer wurde mit seiner Atmung, doch es kümmerte ihn wenig. Er hob seine bleiche Hand und legte sie auf den Spiegel, wobei sein reflektiertes Antlitz genau das Selbe tat.

Er kam mit dem Gesicht näher heran und sah sich einfach nur tief in seine lilafarbenen Augen.

Die Zeit verstrich, doch es machte ihm nichts aus.

Ricco hätte ewig dort stehen können, es war ein Moment der inneren Ruhe, in der er zum ersten Mal seit langem all seine Gedanken fassen konnte. Das Messer hielt er fest in seiner linken Hand, wobei er die Stirn an den Spiegel presste und sich somit direkt in die Augen sah. Er hörte eine Uhr hinter sich ticken, doch sie wurde vom lauten klopfen seines pochenden Herzens übertönt.

Alles war unbedeutend geworden, es gab nichts Wichtiges mehr auf dieser Welt. Es gab nur ihn und dieses Messer. Es gab nur diesen Moment. Es war das einzige Zeichen von seinem Bruder seit 3 Jahren. War er etwa doch noch am Leben? Krampfhaft umklammerte er den Griff des Messers, beinahe so stark, dass sich seine Fingerknöchel hervorhebten. „Wo bist du nur Snow?“, mit gesenktem, an den Spiegel gedrücktem Kopf, sah er sich das Messer erneut an. Es war ohne Zweifel das von seinem Bruder.

Ein weiteres Mal ließ er die Klinge hervor schnellen und betrachtete sie. Er wusste noch genau, wie er und sein Bruder einmal Zelten gewesen waren und er kläglich daran gescheitert war eine Spitze in einen Stock zu schnitzen. Snow hatte es ihm gezeigt, Snow hatte ihm so vieles gezeigt. Er teilte beinahe all sein Wissen mit seinem kleinen Bruder, doch… eines konnte er ihm nie zeigen, nämlich, wie man sich gut in die Gesellschaft hinein lebte. Zärtlich fuhr er mit seinem Finger über die Klinge, sie war scharf. Es war kein einziger Kratzer darauf zu spüren, doch… irgendwas wirkte komisch. Er ging einen Schritt zurück und sah sich die Rückseite der Klinge noch einmal an. Irgendetwas war dort, jedoch konnte er nicht genau erkennen was genau es war.

Es war nicht mehr als ein einfacher Lichtblitz, jedoch hätte dies nicht sein dürfen. Die schwarze Klinge bestand aus einem extra matten Metall, welches speziell dafür diente, das Licht so wenig wie möglich zu reflektieren, weshalb es eigentlich unmöglich sein sollte, dass sie einen Lichtblitz zurückwarf. Doch sie tat es. Doch nur an einer kleinen Stelle. Suchend sah Ricco sich im Raum um, irgendwo musste doch eine Lampe sein, oder irgendeine andere Lichtquelle! Er fuhr herum und sein blick schweifte durchs Zimmer, irgendetwas stand auf dem Messer, er wusste es genau. War es eine Nachricht? Von seinem Bruder? Hektisch durchsuchte er die Schubladen, ihm war es momentan vollkommen egal, was Zack davon halten würde, es ging um wichtigeres. Plötzlich fand er wonach er gesucht hatte. Er hielt eine kleine Taschenlampe in der Hand, kurz vergewissernd, dass sie funktionierte, schaltete er sie an und steckte sie sich in die Hosentasche. Wenn er die Rollos schließen würde und das Deckenlicht ausschaltete, würde es dunkel genug im Raum sein müssen, dass er sie benutzen konnte. Ohne weitere Gedanken zu verschwenden, verdunkelte er das Zimmer seines besten Freundes, bis er letzten Endes fast in vollkommener Dunkelheit dar stand. Seine Kleidung hatte er inzwischen vollkommen vergessen, sie lag immer noch auf dem Bett. Seichtes Licht leuchtete unter dem Türspalt hervor, jedoch war es so knapp, dass es Ricco nicht bei seinem vorhaben stören würde. Er schaltete die Lampe an und richtete den Strahl des Lichtes auf die Klinge.

Nichts geschah.

Verwundert versuchte er es aus anderen Winkeln, doch es geschah einfach nichts. Hatte er es sich etwa nur eingebildet?

Wurde Ricco etwa schon paranoid? Wie konnte er auch nur daran denken, dass er rein zufällig das Messer seines Bruders findet und darauf dann auch noch eine Nachricht versteckt sein sollte?

So was geschah doch bloß in billigen Fanfictions.

Seufzend wollte er die Klinge gerade wieder rein springen lassen, als er erneut das Blitzen bemerkte, wenn auch nur aus dem Augenwinkel. Er hatte es sich doch nicht eingebildet!

Hastig versuchte er wieder den Strahl in die richtige Position zu bringen, damit er endlich lesen konnte, was auf dem Messer stand.

Die Neugierde ließ ihn nahezu durchdrehen, sein Herz fühlte sich schwerer an und ihm war, als würde er jeden Moment umkippen. Vielleicht lag es aber auch daran, dass er immer noch ohne Maske dar stand, was womöglich ebenfalls einen beachtlichen Anteil an seinem schlechten Zustand hatte.

Doch dann sah er es plötzlich. Etwas wurde von der Klinge reflektiert. Er hatte die Stelle endlich gefunden.

Ein Lächeln flog über seine Lippen, er nahm die Lampe und hielt sie näher an die schwarze Klinge heran. Das Blitzen war nun einem einfachem Leuchten gewichen, da er es geschafft hatte, das Licht im richtigen Winkel auf die Eingravierungen strahlen zu lassen. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wieso Snow eine Nachricht auf seinen kostbarsten Besitz ritzte und ihn somit vollkommen entstellte. Aber noch merkwürdiger war es… dass die Nachricht so versteckt gewesen war. Es war mehr ein Rätsel, als wirklich eine Mitteilung. Hätte Ricco es nicht zufällig so im Licht gehalten, hätte er es wohl nie gemerkt. Zudem hätte es für Unwissende gar keine Bedeutung gehabt, ob die Klinge nun blitzt oder nicht, da sie sich nicht der Besonderheit des Messers bewusst waren.

Es musste also eine tiefere Bedeutung haben als ein einfacher „Gruß“. Langsam versuchte Ricco die Nachricht zu entziffern, er konnte es jedoch nur sehr schwer erkennen. Anscheinend war es mit irgendeinem kleinen spitzen Gegenstand übereilt in das Metall geritzt worden, jedoch so schwach, dass man es mit dem bloßen Finger nicht hätte erfühlen können.

„Sechs…null…zwei“, las er langsam vor, als ob er sich damit vergewissern wollte, dass es wirklich echt war und nicht einfach nur ein Hirngespinst. Doch es stand wirklich dort.

Es waren einfach nur drei Zahlen.

602.

Alles andere war unleserlich oder zerkratzt.

Er wiederholte diese Zahlen in seinem Kopf.

602… 602… 6…0…2

Er konnte sich nicht daran erinnern, dass Snow sie jemals zuvor erwähnt hatte. Enttäuscht ließ er das Messer sinken und schaltete die Lampe aus. War das echt eine Nachricht von Snow? Langsam hegten ihn leichte Zweifel. Sicherlich hatte sich irgendein Obdachloser an dem Messer zu schaffen gemacht und spaßeshalber irgendeine scheiß Nummer darauf geritzt.

Bestimmt hieß der Rest der Nachricht so was wie „Hahaha, du Idiot“. Ein wenig niedergeschlagen schaltete er wieder die Lichter an und fing endlich damit an sich umzuziehen. Nach kurzer Zeit war er fertig, woraufhin er sich die Maske vom Boden nahm und sie sich neben seinen, vollkommen kaputten, Musikplayer in die Tasche steckte. Glücklicherweise hatte er noch einen Zweiten, weshalb ihn der Jetzige nicht all zu große Sorgen bereitete. Er würde das Teil schon irgendwie loswerden.

Das Messer hatte er sich ebenfalls eingesteckt.

Langsam ging er in die Küche, wo ihn erneut der schmackhafte Kuchenduft überwältigte. Leider war seine Nase verstopft, weswegen er bedauerlicherweise nicht mehr dazu in der Lage war, den Duft in vollen Zügen zu genießen. Doch selbst diese Kleinigkeit an Geruch ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass er bis auf die wenigen Kekse den ganzen Tag nichts gegessen hatte.

Vom Trinken wollte er gar nicht erst anfangen. Kein Wunder, dass er bei jeder Bewegung beinahe zusammenbrach und ihm schwarz vor Augen wurde.

„Oh, da bist du ja“, freundlich begrüßte ihn Mrs. Lake, die grade dabei war ein Tablett aus dem Ofen zu heben. Durch ihre kleine, aber rundliche Körperstatur war es einfach ein niedlicher Anblick, wie sie sich da so über den Ofen beugte.

„Sekunde ich helfe ihnen“, bot Ricco ihr an und war schon dabei sich Topfhandschuhe anzuziehen, als Zack erneut wie aus dem Nichts im Türrahmen erschien und ihn mit scharfen Augen beobachtete. „Ach, ich komm hier schon klar“, winkte Zack’s Mutter ab, die die Anwesenheit ihres Sohnes anscheinend nicht bemerkt hatte. Irgendetwas in Zack’s Blick war merkwürdig, doch Ricco vermochte nicht zu sagen was der Grund dafür war. Eventuell gab es erneut Probleme in seiner Gang, eine Sache also, die Ricco selbst nicht im Geringsten kümmerte.

Dennoch konnte Ricco ihn nicht einfach so stehen lassen, nicht nachdem er ihm doch in einer Art und Weise wirklich geholfen hatte. Wer weiß was passiert wäre, wenn Zack nicht gekommen wäre? Vermutlich würde er dann immer noch dort liegen, im Nassen, blutend. Zudem hätte er niemals irgendwas von dem Messer mitbekommen, es gab also genug Gründe Zack trotz all der Probleme die er immer verursacht hatte in irgendeiner Art und Weise… sympathisch zu finden. Immerhin war er so ziemlich die einzige Person, die Ricco aus freien Stücken geholfen hatte.

„Kann ich irgendwas für dich tun Zack?“, fing er also an, auch wenn er sich sogleich unsicher war, ob er überhaupt helfen wollte.

„Könntest du mir einen gefallen tun Ricco? Es ist nicht viel“.

„Kommt drauf an was es ist“, der Schwarzhaarige runzelte die Stirn, er wollte sich nicht wirklich in die Angelegenheiten von Zack einmischen, da sie teilweise wirklich arg an der Legalität kratzten doch… es war das mindeste was er für seinen alten Freund tun konnte.

Als hätte er Ricco’s Antwort bereits vorausgesehen holte er plötzlich ein kleines Päckchen hinter seinem Rücken hervor, es war rund und kaum größer als eine Faust. Das war es also.

Ricco sollte Postbote spielen. Zögernd nahm er das Päckchen an sich und steckte es sich in die Westentasche, „Ich schätze mal, du sagst mir nicht was es ist, von daher überspringe ich diesen Part einfach mal und frage gleich wo es denn hingehen soll“.

Zu seiner Verwunderung musste Zack lachen, „Nein, es ist nicht so wie du denkst. Es ist ein Geschenk an Biscotte. Es wäre nett, wenn du es ihr in der Konditorei vorbeibringen könntest, sobald du nachhause gehst. Du weißt ja wo sie ist, du wirst Biscotte schon erkennen“.

„Oh… klar kann ich machen“, Ricco hätte mit allem gerechnet, aber nicht mit solch einer… zuvorkommenden Sache, „naja, ich erledige es am Besten sofort, ich muss ja auch noch irgendwann einmal nachhause“.

„Oh willst du etwa schon gehen?“, meldete sich plötzlich wieder Mrs. Lake zu Wort, die inzwischen eine neue Ladung Plätzchen in den Ofen schob, „es war schön dich mal wieder zu sehen Ricco. Du kannst gerne öfters vorbei kommen“.

Ricco lächelte und nickte, jedoch zweifelte er stark daran, irgendwie bekam er das Gefühl, dass er Zack für eine ganze Weile nicht mehr wieder sehen wird.

Im vorbeigehen nickte er ihm zu, er kannte den Weg zur Tür noch von selbst. Er öffnete sie und spürte Zack’s Blick im Nacken. War das Paket wirklich nur ein Geschenk an Biscotte? Er war sich nicht sicher. Ricco hatte es nicht so mit Vertrauen, besonders wenn die Menschen einen schon mehrmals hintergangen hatten. In der Türschwelle blieb er dann aber plötzlich stehen.

„Danke… Zack“.

Ohne eine Antwort abzuwarten oder sich auch nur ein letztes Mal umzudrehen fiel die Tür ins Schloss und Ricco ließ seinen alten Freund hinter sich.
 


 


 

***
 

Die Sonne war schon langsam dabei am Horizont zu verschwinden, als ein schwarzhaariger Junge mit halbverdecktem Gesicht durch die rot leuchtenden Straßen ging. Mehrmals schaute er sich um, auch wenn ihm selbst nicht klar war, was er zu befürchten hätte. Der Asphalt war noch feucht, weswegen der raue Stein glitzerte, sobald ein Lichtstrahl hinauf fiel. Es war fast wie ein Kristall, der in der schönsten Farbenpracht erstrahle sobald man ihn beleuchtete. Doch diese Stadt war alles andere als schön. Nunja, es lag nicht an ihr selbst, sondern an den Bewohnern. Schritt für Schritt lief Ricco voran, in seiner Westentasche konnte er das Paket spüren, welches Zack ihm gegeben hatte. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was genau er da mit sich herumtrug, denn das einzige was er fühlte war die Zeitung, die anscheinend um den Gegenstand herum gewickelt worden war. Nach längerem Überlegen kam Ricco jedoch zu dem Schluss, dass es ihn nichts anging was er dort transportierte. Jedoch sollte er vorsichtshalber trotzdem aufpassen, da die Chance, dass es sich dabei um eine nicht ganz so legale Sache handelte stand… erschreckend hoch.

Das Quietschen eines Reifens ließ ihn zusammenzucken.

Hastig warf er seinen Kopf herum, konnte jedoch mit Erleichterung feststellen, dass es sich dabei um einen einfachen Wagen handelte. Keine Spur von der Polizei.

Seufzend wand er sich wieder dem Weg zu, an der Ecke konnte er ein Straßenschild erkennen. Er war bald dort.

Eigentlich war der Weg von Zack’s Haus bis zur Konditorei gar nicht so lang, allerhöchstens 10 Minuten, wenn man trödelte. Ricco jedoch brauchte beinahe das Doppelte, da eher lieber den Weg durch die Gassen benutzte und sich so gut wie es ging versuchte von der Hauptstraße fernzuhalten.

Er fühlte sich wie ein Krimineller, besonders wegen seiner Maske, das einzige was man sehen konnte waren seine blitzenden lila Augen. Die Mütze und die Maske verdeckten den Rest. Seine Haare lagen Strähnchen weise in seinem Gesicht, doch ansonsten war nichts zu erkennen, da alles, was sich unter seinen Augen befand, versteckt war. Nun, er würde sich wohl oder übel daran gewöhnen müssen. In der Ferne konnte er schon die Konditorei erkennen, es waren nur noch wenige Minuten bis zum Ladenschluss, er konnte als damit rechnen, dass nicht sonderlich viele Menschen in der Konditorei sein würden. Besonders an so einem Tag nicht, wo nahezu jeden Moment der Himmel über ihnen zusammenbrechen könnte und einen Schwall Wasser über sie ergießt, dem nicht einmal der fähigste Schirm auf Erden würde standhalten können.

Leise klimperte ein Glöckchen beim öffnen der Tür, und sofort umgab ihn der schwache, aber dennoch liebliche Duft von frischem Gebäck und zuckersüßen Torten. Bedauerlicherweise war es ihm durch die Maske nicht möglich den vollen Duft zu genießen, jedoch ließ selbst diese geringe Menge warme Erinnerungen in seinem Herzen wach werden. Er war ewig nicht mehr hier gewesen, jedoch sah alles genau so aus, wie er es in Erinnerung hatte. Sogar der kleine Behälter für die Bonbons, aus dem er sich als Kind immer welche geklaut hatte stand immer noch an derselben Stelle. Nicht ein Staubkorn war zu sehen.

Beim genauen betrachten, war eigentlich so gut wie gar nichts zu sehen, nicht einmal eine Bedienung. „Biscotte…?“, fragte er langsam, nachdem er sich umsah. Nichts geschah.

Die Kasse lag offen dar, sie war leer.

Ein ungutes Gefühl machte sich in seiner Brust breit, was war, wenn jemand sich kurzerhand eigenständig bedient hatte und das arme, hilflose Mädchen mit ins Hinterzimmer geschliffen hatte?

Leise schob er sich an der Theke vorbei, es gab keinerlei Anzeichen eines Kampfes, alles war einfach… leer.

„Hallo?“, fragte er erneut, diesmal etwas lauter. Das war eindeutig nicht normal. Mrs. Lake hätte niemals jemanden eingestellt, der die Kasse so fahrlässig unbeaufsichtigt stehen lassen würde, es musste also etwas anderes sein. Nur was? Vorsichtig drückte er sich gegen die Wand, sein Atem wurde flacher, er versuchte so gut es ging jegliches Geräusch zu vermeiden, ehe er sich nicht sicher sein konnte, wie er mit dieser Situation umzugehen hatte.

KLIRR!!!

Das laute Scheppern ließ ihn zusammenzucken und er fühlte wie eine Gänsehaut ihn überkam. Seit wann war er so schreckhaft?

Egal was diesen Lärm verursacht hatte, es war kein gutes Zeichen, er musste unbedingt eingreifen. Er vernahm ein leises Wimmern durch die geschlossene Tür und eine ruckartige Bewegung.

Ohne zu zögern sprang Ricco in den Raum, in der Hoffnung nicht zu spät zu kommen und die Taten des Einbrechers zu verhindern.

Zu seiner Verwunderung gab es jedoch keinen Einbrecher.

Das einzige, was er sah, war ein junges Mädchen, welche über eine zerbrochene Tasse gebeugt war und mit erschrockenem Gesicht zur Tür sah, die kurz zuvor von einem großen, maskierten Jungen aufgetreten worden war.

„KYAAAAH!!!“, ihr lauter Schrei, ließ Ricco erneut zusammenfahren, er brauchte eine Weile um zu registrieren was hier ablief. Anscheinend war Biscotte gerade dabei gewesen den Laden zu schließen und hatte bloß vergessen die Eingangstür abzusperren. Dementsprechend war es Ricco, der ohne Erlaubnis eingedrungen war.

„Halt! Warte! Nein! Biscotte ich-“, noch ehe Ricco den Satz beenden konnte, spürte er, wie etwas ihn an seiner Stirn traf. Ein dumpfes Geräusch ertönte und Ricco ging zu Boden.

Es dauerte einen kurzen Moment, bis Ricco wieder zu Besinnung kam. Heute war echt nicht sein Tag.

Mit einem Nudelholz bewaffnet hatte Biscotte sich vor ihm aufgebaut, ihre Hand zitterte, doch sie versuchte wütend zu wirken, was ihr durch ihre leicht angefeuchteten, ängstlichen Augen jedoch nicht so ganz gelang.

„Wer bist du?“, fragte sie mit einem Zischen, ihre Waffe zum Angriff bereithaltend.

„Mein Name ist Ricco Snow“, fing der Schwarzhaarige langsam an, wobei er fühlte wie der Schmerz langsam verschwand, „Ich bin ein Freund von Zack. Er… bat mich dir das hier zu geben“.

Während er sich aufrappelte kramte er in seiner Tasche um schließlich das kleine Päckchen herauszuholen und es Biscotte zu überreichen. Misstrauisch sah Biscotte ihn an, sie schien etwas mit der Situation überfordert zu sein, jedoch griff sie letzten Endes nach Zack’s Geschenk und fing an es zu öffnen.

Wäre Ricco ein echter Einbrecher gewesen, wäre es eine Leichtigkeit gewesen Biscotte zu überwältigen, da die erste Sache, mit der sie ihn beworfen hatte lediglich ihr Schuh war, wie Ricco bei genauerem betrachten der Umgebung feststellte. Zu seinem Glück, denn unmittelbar neben dem Scherbenhaufen lag etwas, was ihm wohl etwas mehr Schmerzen zugefügt hätte. Es handelte sich dabei um… einen Ziegelstein. Ricco hatte nicht den Hauch einer Ahnung, was der hier zu suchen hatte, er war bloß heilfroh darüber, dass dieser nun nicht in seinem Gesicht lag.

Die Schuhlose hatte es anscheinend geschafft das Päckchen zu öffnen, wie sie durch ein kleines erfreutes quieken verriet.

Ricco’s Augen wanderten zu dem brünetten Mädchen mit den langen, lockigen Haaren und erspähten sogleich eine kleine Kette, die es strahlend in ihren kleinen Händen hielt. Es war ein Anhänger darauf, ein kleiner, lächelnder Muffin, welcher mit rosigen Wängchen den Betrachter direkt ansah.

„Aaaaw“, fing sie wieder an, es schien so, als hätte sie Ricco vollkommen vergessen, „er ist ja so süß!“.

Das war es also, worum Zack ihn gebeten hatte. Eine einfache… Kette. Wieso konnte Zack ihr das nicht selbst geben?!

„Ich wollte dich nicht erschrecken, entschuldige bitte“, ergriff er nun langsam das Wort, um Biscotte nicht erneut zu erschrecken.

„Oh!“, leicht errötet sah sie zu ihm, es schien, als wäre sie soeben zurück aus ihrer eigenen kleinen Welt geholt worden.

„Schon okay“, sagte sie leicht schüchtern,

„Tut mir Leid wegen dem Schuh“.

„Ach, mach dir keinen Kopf darum, ich hätte hier nicht einfach so reinplatzen sollen“, erwiderte Ricco mit einem unsichtbaren Lächeln. Biscotte wirkte tatsächlich sympathisch, jedoch auch ziemlich unauffällig, wie eine kleine graue Maus. „Individuell“ scheint keine Eigenschaft zu sein, die man ihr zuschreiben könnte, jedoch war sie dennoch irgendwie ganz nett anzusehen.

„Wie bist du überhaupt hier rein gekommen?“, fragte sie, schwer damit beschäftigt in den Schuh zu schlüpfen, was ihr nicht so recht gelingen wollte.

„Die Tür stand offen“.

„Stand sie nicht!“

„Ehm… doch sie war eindeutig offen“.

„Aber ich habe sie doch zugemacht“

„Wie soll ich sonst herein gekommen sein?“, stirnrunzelnd sah Ricco das empörte Mädchen an. Es hatte den Anschein, als wollte sie noch etwas sagen, jedoch entschloss sie sich eher dazu den Mund zu halten und beschämend wegzusehen.

„Danke für das Päckchen“, nuschelte sie, wobei sie durch die Tür verschwand und Richtung Eingang tapste.

„Gerne“, erwiderte Ricco, der sich noch einmal umsah und ihr folgte, wobei er das Licht ausschaltete und die Tür hinter sich schloss. Die Scherben lagen immer noch auf dem Boden verstreut, jetzt wusste er auch, was Mrs.Lake mit „leicht verpeilt“ gemeint hatte.

„Solltest du nicht erst in 20 Minuten schließen?“.

„Ach was, um diese Uhrzeit kommt doch sowieso kein Kunde mehr“, erwiderte Biscotte mit einem Grinsen und ließ den Schlüssel in ihre Tasche gleiten. Ricco wusste genau, dass Biscotte wahrscheinlich die meisten Sachen einfach selbst gegessen hatte. Eigentlich war es eine ziemlich nette Idee, doch auf Dauer würde es wohl unübersehbare Spuren hinterlassen. Dennoch war es Biscotte nicht anzusehen, sie hatte einen ziemlich schlanken Körper, was Ricco doch etwas überraschte, nachdem er schon von Mrs.Lake gehört hatte, wie viel Biscotte zu naschen scheint. Eines musste man Zack lassen. Er hatte wirklich eine hübsche Freundin. Nunja… zumindest nicht hässlich. Ziemlich normal eigentlich. Sie wirkte einfach etwas langweilig. Zumindest auf Ricco.

Als Ricco aus dem Ladenfenster sah, konnte er gerade noch sehen, wie ein verärgert aussehender Passant an der Konditorei vorbeiging und dabei auf die Öffnungszeiten starrte.

„So viel zum Thema ‚um diese Uhrzeit kommt doch sowieso kein Kunde mehr’ “, murmelte Ricco kaum hörbar durch seine Maske.

„Ich bin übrigens Biscotte“, begann sie sich nun stark verzögert vorzustellen, „Das weißt du ja anscheinend schon, aber trotzdem: Ich bin Zack’s Freundin. Ich habe noch nie irgendetwas von einem Ricco gehört, aber Zacks Freunde sind auch meine Freunde!“

„Genau genommen bin ich sein bester Freund“.

„Dann verstehen wir uns noch umso besser!“, strahlend sah sie ihn an. Die Kette trug sie um den Hals gebunden, sie stand ihr ziemlich gut. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, schob sie sich jedoch an ihm vorbei in Richtung Hintereingang.

Irgendwie fühlte Ricco sich ziemlich überflüssig, er wusste nicht wieso. „Nun… es war ganz nett deine Bekanntschaft zu machen Biscotte, jedoch müsste ich jetzt auch langsam gehen“, er verstand nicht, wieso sie ihn nicht einfach durch den Haupteingang hätte gehen lassen können, jetzt musste er mit ihr den ganzen Weg durch das Lager zum Ausgang. „Wieso trägst du eigentlich diese Maske“, fragte sie, wobei sie in sein Gesicht deutete.

„Eh… lange Geschichte“

„Cosplayst du?“

„Was ist Cosplay?“

„Da verkleidest du dich als dein Lieblings Anime Charakter“

„Wer macht so ein Schwachsinn?“.

Plötzlich blieb Biscotte ruckartig stehen, sodass Ricco beinahe in sie hineingelaufen wäre. Mit zusammengekniffenen Augen sah sie ihn an. „Ich zum Beispiel“, empört drehte sie sich um und stapfte weiter, „aber stimmt schon. Wer würde bitte einen Charakter mit Mütze und so einer doofen Maske cosplayen“.

„Weiß nicht…“, antwortete Ricco, er sollte wohl etwas darauf aufpassen, was er sagt bei diesem Mädchen.

Draußen angekommen schloss Biscotte auch hier die Tür hinter sich ab. Die Rückseite des Gebäudes war alles andere als… delikat, es war schmutzig und die Müllcontainer waren teilweise bis zum Rand gefüllt, mit allen nur denkbaren ehemaligen Köstlichkeiten. All jene Dinge, die niemand mehr kaufen wollte und zu alt waren, oder die nicht mehr in Biscotte’s alles verschlingenden Magen gepasst haben. Es war eine pure Verschwendung, Ricco sollte öfter vorbei kommen.

„War schön dich kennen zu lernen, danke noch mal wegen der Kette“, Biscotte riss Ricco aus seinen Gedanken und er bemerkte, dass sie sich eine Jacke über die Uniform gezogen hatte. Ein Windstoß blies ihr durchs lockige Haar und ließ sie im Wind tanzen, „ich hoffe wir sehen uns mal wieder“. Sie zwinkerte fröhlich und lief in eine Richtung davon, noch bevor Ricco etwas antworten konnte. „Sicher“, rief er ihr hinterher, „bis dann!“, doch sie war schon hinter der Ecke verschwunden.

Zum ersten Mal war Ricco froh, dass er nicht dazu in der Lage war zu riechen, da er mit einem Mal den schwachen Geruch von Müll in seiner Nase spürte. Durch seine Maske hindurch. Dementsprechend müsste der Geruch unerträglich sein da draußen. Es ist immer wieder überraschend zu sehen, wie schnell eine wunderschöne, schmackhafte, wohlriechende Sache zu einem widerlichen, vergammelten, stinkenden Etwas werden kann… es ist alles bloß eine Frage der Zeit. Mit einem letzten Blick in die Richtung in der Biscotte verschwunden war, wand er sich um und lief langsam zu sich nachhause, wo er nun endlich wieder hin konnte. Seine Gedanken waren dabei die ganze Zeit bei den Scherben, welche immer noch verstreut im dunkeln Raum lagen.
 


 


 

***
 

„Ricco! Wo warst du?!“, hörte er eine zittrige Stimme rufen, kaum hatte er die Schwelle betreten. Alice stürmte zu ihm und sah ihn mit weinerlichen Augen an.

„Du Idiot! Ich habe mir Sorgen gemacht! Mama macht sich auch Sorgen!“, er hörte etwas Bedrücktes aus ihrer Stimme heraus.

Seufzend strich er seiner kleinen Schwester durchs Haar, er wusste wie schwer es für sie sein musste das alles auszuhalten, aber manchmal konnte er es selbst einfach nicht. Er war verzweifelt. Irgendetwas musste unbedingt getan werden, sonst würde einer von ihnen die Situation noch zum eskalieren bringen.

Seine Schwester würde bald 13 werden, keinesfalls wollte er ihr diesen Tag irgendwie versauen. Auf seinen Ferienjob konnte er nun pfeifen, sein Chef hatte gesagt, wenn er noch einmal zu spät kommen würde, würde er ihn rausschmeißen. Nun… diesmal war er gar nicht erst erschienen. Er war zu sehr damit beschäftigt gewesen von Polizisten zusammengeschlagen in einer Gasse zu liegen und sich eine überaus starke Erkältung zu holen.

„Schon okay, mir geht es gut“, meinte Ricco und zwinkerte Alice zu, welche ihn misstrauisch betrachtete.

„Was soll diese komische Maske?“

„Ich ehm… ich cosplaye“

„Du cosplayst?“

„Ja“

„Wen sollst du denn bitte darstellen?“.

Es war schwer Alice anzulügen, sie war wirklich gut darin, einen so lange zu nerven bis man ihr von selbst die Wahrheit erzählte. Doch Ricco schwor sich ihr in diesem Fall unter keinen Umständen zu erzählen was wirklich passiert war, da sie nicht auch noch die letzte Hoffnung seiner Schwester zerstören wollte. Sie hing praktisch an dem Gedanken daran, dass die Polizei ihren älteren Bruder Snow irgendwann sicher zurück bringen würde.

Egal wie alt sie sich benahm, sie war im Herzen immer noch ein kleines naives Kind, welches man nicht aus seiner, längst angekratzten, eigenen Welt werfen sollte. Ricco wünscht sich für sie eine bessere Kindheit als er es hatte, da die letzten drei Jahre für ihn praktisch ein tiefes Loch voller Schmerzen und Einsamkeit waren. Doch Alice sollte nicht so enden. Ricco würde alles dafür tun, damit seine Familie wieder eins wird.

„Wo ist Mama?“, lenkte er vom Thema ab, und ging dabei ins Wohnzimmer.

„Sie schläft“, antwortete die kleine Schwarzhaarige, während sie sich gegen den Türrahmen lehnte, „sie hat sich gestern ziemlich erkältet, als sie dir durch den Regen nachgerannt ist. Man du bist ja so eine Drama-Queen!“. Frech streckte sie ihm die Zunge raus.

„Meinst du nicht, dass du die Maske langsam abnehmen könntest?“, fuhr sie fort, als sie sich auf das kleine graue Sofa setzte, welches neben einer einzelnen Topfpflanze an der linken Wand stand. Das Wohnzimmer war nicht sonderlich groß. Das einzige was dort stand war eben genanntes Sofa, ein kleiner Tisch mit Sitzecke, zwei Stühle, ein CD Regal welches gleichzeitig als Tisch für einen mittelgroßen Röhrenfernseher diente und eine Zimmerpflanze namens Freddy.

Letztere wurde im Übrigen von Alice so genannt. Die Gründe sind unbekannt.

„Ich behalte sie denke ich noch eine Weile auf“, erwiderte Ricco, während er zur Küche ging, welche unmittelbar neben dem Wohnzimmer lag. Ein Teller mit Nuggets und Reis stand dort.

Kalt.

„Lass es dir schmecken“, eine Hand legte sich auf seine Schulter und seine Schwester lächelte ihn neckisch an, „Ooooh… aber ob das mit der Maske so gut klappt?“.

„Ich werde es schon hinkriegen“, er nahm sich den Teller und lief an seiner Schwester vorbei um zu seinem Zimmer zu gelangen.

„AH! Ich weiß wieso du die Maske trägst!“

„Ach ja? Wieso denn?“

„Du hast bestimmt Herpes! Gib’s zu“

„Oh… ja…hast mich erwischt“

„HA! Ric-co hat Her-pes! Ric-co hat Her-pes~“, mit seiner freien Hand schloss er die Tür hinter sich, woraufhin der alberne Gesang seiner Schwester verstummte. Er hoffte sie verstand den Sarkasmus. Er mochte diese Unterhaltungen, auch wenn es meist darauf hinaus lief, dass seine Schwester irgendwelche kindischen Dinge tat um ihn zu ärgern, aber das war im großen und ganzen einfach bloß süß, zumal sie das nicht ernst meinte. Es lenkte ihn ab und ließ ihn beinahe vergessen, welche Probleme er sonst so alles hatte. Sein Zimmer war, wie auch der Rest der Wohnung nicht außerordentlich groß, doch sie erfüllte ihren Zweck.

Es war komplett in schwarz und weiß gehalten, gelegentlich konnte man jedoch auch andere Farben entdecken, dabei handelte es sich meist um Orange. Sein Bett bestand aus einer mit einem Laken überzogenen Matratze. Die Bettwäsche war unordentlich darauf geworfen. Die Gardine war vor die Fenster gezogen, sodass das Mondlicht, welches inzwischen die Nacht erhellte, nur schwach in sein Zimmer drang. Er schaltete das Licht an worauf eine einzelne Glühbirne an der Decke anfing zu leuchten. Einst hatte er eine richtige Lampe gehabt, jedoch war sie durch einen kleinen…Unfall kaputt gegangen. Bisher hatte er keine Möglichkeit gehabt sich eine neue zuzulegen, doch das kümmerte ihn nicht besonders. Sein Zimmer war unaufgeräumt, jedoch nicht dreckig. Auf seinem Schreibtisch lagen all seine Zeichensachen verstreut, neben seinem Bett lag eine offene Packung Chips und einige Bonbons und ein aufgeschlagenes Buch. In der Ecke sah er seinen C-Cube, eine Spielkonsole, für die bedauerlicherweise kaum noch Spiele hergestellt wurden, und einen alten Fernseher, der deutlich kleiner war, als der im Wohnzimmer. Doch leider ohne Antenne oder Kabel, weswegen es ihm unmöglich war auch nur einen einzigen Kanal zu sehen. Allerhöchstens Videokassetten oder DVD’s. An den Wänden hingen verschiedene Poster von Metalbands, sein Liebstes war eines von einer Band namens Korpiklaani, auch wenn er keine wirkliche Ahnung von deren Musik hatte. Das Bild sah einfach cool aus. Einer der liebsten Dinge in seinem Zimmer, waren jedoch eindeutig sein orange-schwarzer E-Bass und seine Spielkarten Verzierung an der Wand, welche im Allgemeinen so aussieht wie eine gigantische Tribal-Spielkarte. Sie zeigte das Pik Ass. Seine Lieblingskarte. Allgemein war Ricco ein absoluter Fan von Spielkarten, wie man eventuell auch an seiner, inzwischen an die 20 Set großen, Sammlung erkennen konnte, wovon an die drei jedoch überall im Zimmer verstreut lagen. Ricco liebte es sie durch die Gegend zu werfen, wenn er gerade nichts zu tun hatte. Er war wirklich gut darin. Er konnte ein Ziel von bis zu 20 Meter Entfernung perfekt mit einer Karte treffen. Jedoch war das keine sonderlich effektive Waffe… dennoch ein tolles Hobby. Kartentricks stellten für Ricco einen unglaublich nützlichen Zeitvertreib dar.

Das Einzige was Ricco beinahe noch mehr liebte als Spielkarten war… Essen. Hauptsächlich Süßkram, wie man an dem Bonbonpapier neben seinem Bett und in seinem Mülleimer durchaus erkennen konnte. Aber auch Kuchen hatte es ihm angetan. Hungrig fing er an das kalte Essen in sich rein zustopfen. Seine Schwester scheint es gekocht zu haben, denn der Reis war versalzen und die Nuggets waren verbrannt, jedoch interessierte Ricco sich nicht sonderlich dafür. Hauptsache er konnte endlich seinen Hunger stillen. Die Maske hatte er neben sich auf den Tisch gelegt, er fühlte ein leichtes Unwohlsein, jedoch schien es so, als könnte er durchaus auch einige Zeit ohne diese Maske leben. Das erleichterte seine Sorgen ungemein, da er sonst unglaubliche Probleme gehabt hätte. Unter anderem beim Zähneputzen… Essen und… nunja wofür man halt den Mund alles so braucht. Den Zahnarzt vielleicht.

Er hatte das Essen praktisch inhaliert.

Seine Mütze lag neben seinem Bett, genauso wie seine Weste.

Langsam zog er sich das Hemd aus, wobei er immer noch die Stellen spürte, an denen der Polizist ihn getreten hatte. Der Schmerz war inzwischen erträglich geworden. Er streifte sich seine Hose ab und ließ sich erschöpft, einzig und allein in schwarz-weiß gestreifter Boxershorts aufs Bett fallen. Die Maske hatte er sich vorsichtshalber neben sein Bett gelegt, falls er sie noch mal benötigte. Doch es hatte den Anschein, als wenn er, sofern er sich nicht sonderlich anstrengte, keine all zu große Beschränkung durch die Erkältung einbüßen musste. Er sah zu seiner Digitaluhr und las die Uhrzeit. 0:02Uhr. Langsam begannen sich seine lila Augen immer schwerer anzufühlen… mit einem unguten Gefühl im Magen schlief er dann letzten Endes ein.

.1 Biscotte

Leise hörte man das Rauschen eines alten Radios, welches kläglich versuchte einpaar seiner letzten Töne aus den kaputten Lautsprechern zu spucken. Die Musik sollte wohl zur Entspannung und Geborgenheit beitragen, doch Biscotte war eher mulmig zumute. Etwas aufgeregt sah sie sich um, sie war die einzige hier. Das regelmäßige schnippen einer kleinen Scheren ließ ihr Herz höher schlagen. Bald würde sie dran sein… es würde etwas vollkommen Neues werden. Sie fragte sich immer noch, wie sie sich bloß zu so was hatte überreden lassen können, das war doch gar nicht ihr Stil!

Aber… es stimmte schon. Biscotte war unauffällig und sie war zurückhaltend, doch das war nun mal sie… das war Biscotte.

Nervös spielte sie an ihrem Kettenanhänger herum, den ihr Freund ihr vor einigen Tagen geschenkt hatte. Oder besser gesagt, ein Freund ihres Freundes…ein komischer Kerl war das gewesen.

„So mein Hase, du bist dran“, eine freundlich aussehende, etwas rundliche Frau riss Biscotte aus ihren Gedanken.

Schüchtern nickte sie und folgte ihr in den hinteren Bereich des Geschäfts, wo sie sich auf einen Stuhl setzte und sich vor ihrem eigenen Abbild wieder fand. Ein gigantischer Spiegel bedeckte die gesamte Wand und reflektierte jedes noch so kleine Detail im Raum. Eine ältere Dame saß am anderen Ende und nickte der Jüngeren höflich zu, was diese mit gezwungenem Lächeln erwiderte. „Bist du dir sicher, dass du das möchtest?“, fragte die dickliche Frau, während sie ein Tuch um Biscottes Hals legte und ihre Haare nach hinten warf, sodass ihr Hals frei lag.

Zögernd begann die Brünette zu nicken, sie hatte sich zuvor schon alles rausgesucht… oder besser heraus suchen lassen, da ihre beste Freundin gemeint hatte, jetzt wäre es für sie mal an der Zeit ihr altes Ich „hinter sich zu lassen“. Das Mädchen war sich zwar nicht so ganz sicher, ob sie das wirklich wollte, doch ihre Freundin ließ ihr keine andere Wahl. Marceline war schon etwas für sich.

„Es wird toll werden!“, hatte sie gesagt.

„Zack wird es LIEBEN!“, hatte sie gesagt.

Inzwischen hatte Biscotte schon arge Zweifel, ob es das Richtige war, doch ehe sie ihre Stimme erheben konnte hörte sie auch schon das verhängnisvolle *schnipp* …und eine Locke ging zu Boden. Ein merkwürdiges Gefühl machte sich in ihrer Brust breit, und für einen Moment vergaß sie zu atmen.

Sie war schon immer mit langen Haaren herumgelaufen, man kannte sie so…

Wer Biscotte kannte wusste, dass sie besonders viel Wert auf ihre wunderschönen Locken legte, wie konnte es also sein, dass sie sich mit einem Mal alle abschneiden ließ?

Sie wusste es selbst nicht.

*Schnipp*

Eine zweite ging zu Boden.

Eine Dritte.

Mit jedem Schnitt wurden ihre Haare kürzer, ihre Augen waren weit geöffnet und auf das Geschehen gerichtet.

Sie konnte gar nicht weggucken.

Jetzt gab es kein zurück mehr, sie hatte es begonnen, also musste es auch beendet werden.

Insgeheim war sie froh darüber, dass Marceline sie dazu überredet hatte, weil sie alleine wohl niemals den Mut gehabt hätte irgendwas in dieser Richtung zu tun.

Oder jemals den Mut gehabt hätte überhaupt irgendetwas zu tun.

Marceline war ihre beste Freundin, obwohl sie sich erst seit knapp einem Jahr kannten. Doch in all dieser Zeit ist schon so vieles passiert, wie in Biscottes gesamten Leben nicht. So viel Spaß hatte sie gehabt, alles bloß durch einen Menschen, der in der einsamen grauen Maus etwas Einzigartiges sah, etwas Wunderbares. Erst durch sie hatte Biscotte sich getraut überhaupt Leute anzusprechen, zuvor war sie viel zu schüchtern gewesen.

Nunja, sie war es immer noch, doch wenn Marceline in der Nähe war fühlte sie sich sicher. Auch wenn diese sie mehr als einmal in relativ missliche Lagen gezogen hatte.

Biscotte war an sich der Durchschnitt vom Durchschnitt.

Weder sah sie sonderlich gut aus, noch hatte sie sonderlich gute Noten oder irgendwelche Talente. Das einzige Besondere an ihr war tatsächlich, dass es einfach nichts Besonderes gab.

Bis vor einem Jahr hätte sie sich all das gar nicht vorstellen können, was jetzt ihr Leben ausmachte.

Sie saß jeden Tag einfach zuhause und hatte ihre Mangas gelesen, die einzige Möglichkeit für sie, um den Alltag zu entfliehen, denn Freunde hatte sie keine.

Sie war viel alleine, also machte es ihr nicht all zu viel aus. Sie war daran gewöhnt, denn so war es schon seit sie denken konnte.

Nie war sie die Beliebte gewesen, immer hieß es überall nur „Ja ganz Süß“, so, als ob man über ein Hündchen geredet hätte.

Sie wurde auch nie gemobbt, denn es gab einfach niemanden, der sich die Mühe gemacht hätte jemanden fertig zu machen, den die meisten anderen Schüler ohnehin allerhöchstens vom Namen her kannten.

Sie erinnerte sich noch genau, wie sie am Zeugnistag der 3.Klasse aufgerufen wurde um sich ihr Zeugnis abzuholen. Dies war der erste Tag gewesen, wo sie sich wirklich extra hübsch gemacht hatte um aufzufallen, da es zudem noch ihr 9.Geburtstag war.

Es war ihr erstes Jahr in der neuen Heimat, komplett ohne Freunde und Bekannte, da sie alles beim Umzug zurückließ.

Sie war nervös damals, als die Lehrerin alle Namen nacheinander aufrief. Das ganze Jahr über wurde jedem Schüler zu seinem Geburtstag ein kleiner Muffin, als freundliche Geste und Ansporn zum Lernen und fleißig sein.

Einem nach dem Anderen, jedes einzelne Mal.

Und nun war ihr Tag gewesen, sie hatte schon so lange darauf gewartet, sie hatte die Tage schon praktisch gezählt und wusste immer, das sie bald an der Reihe sein würde.

„Valentine, Vincent“, hatte sie die Lehrerin sagen hören.

Sie erinnerte sich noch genau, wie hoch ihr Herz plötzlich schlug, denn sie war die nächste, die aufgerufen werden würde.

Sie hatte erwartet, dass die Kinder und die Lehrerin anfangen würden zu singen, wenn Biscotte endlich aufgerufen werden würde, doch es kam anders… es tat immer wieder weh daran zu denken. Nachdem die Lehrerin mit Vincent gesprochen hatte, sah sie erneut auf die Liste und las daraufhin den letzten Namen vor.

„Vanil, Biscotte“.

Sofort war das kleine Mädchen aufgesprungen, mit ihren rosigen Wängchen und langen lockigen Haaren und fühlte wie erstmals alle Blicke auf sie gerichtet waren. Doch es blieb still. Niemand sang. Verwundert hatte Biscotte zur Lehrerin geschaut, doch dann geschah etwas viel schlimmeres, was das spätere Leben des jungen Mädchens stark prägte.

„Wer ist Biscotte?“, hörte sie den Jungen sagen, welcher es sich gerade wieder auf seinem Platz bequem gemacht hatte.

Für Biscotte war es wie ein Schlag ins Gesicht gewesen. Das ganze Jahr über hatte sie sich bemüht um irgendwie genügend Mut zu sammeln um Freundschaften aufzubauen, woran sie kläglich gescheitert war. Doch es war nicht nur das… sie hatten nicht nur ihren Geburtstag vergessen sondern… sie wussten nicht einmal wer Biscotte war.

Es hatte sich angefühlt, als stände sie dort eine Ewigkeit, die meisten Blicke hatten sich schon desinteressiert abgewandt.

Sie wussten es nicht.

Sie alle wussten es nicht.

Krampfhaft lächelnd war das Mädchen nach vorne gegangen um sich ihr Zeugnis zu holen und eine kleine Reflektion über ihr Verhalten zu bekommen, bevor sie sich wieder hinsetzte, an ihren Einzelplatz in der dunkelsten hintersten Ecke.

Es hatte ihr wehgetan.

An jenem Tag wurde ihr klar, dass sie einfach nichts Besonderes war. Sie war nicht einmal Besonders genug, um sich ihren Geburtstag zu merken, geschweige denn ihren Namen.

Sie lernte es zu ignorieren, koppelte sich ab.

Sie gab sich einer komplett neuen Welt hin, abgegrenzt von allem anderen, wo sie einfach frei war und die spannendsten Abenteuer und romantischsten Liebesgeschichten direkt vor ihren Augen hatte. Ihre Welt war voller Mangas und Animes. Alles Andere war einfach bedeutungslos. Alles was sie vom Leben wusste kannte sie nur aus diesen Geschichten. Selbst Erfahren hatte sie jedoch nie etwas, denn sie war viel zu scheu geworden um mit irgendjemanden zu sprechen. So strichen die Jahre an ihr vorbei, bis an einem Tag eine Person in ihr Leben treten sollte, welche alles, einfach alles auf den Kopf stellte.

Sie lernte Marceline kennen.

Es war am Zeugnistag der 8.Klasse, ihr 14 Geburtstag.

Selbstverständlich gab es keine Muffins mehr, und selbstverständlich kannten die anderen Schüler inzwischen ihren Namen, doch genau so selbstverständlich war es für sie gewesen, dass sie, nachdem sie ihr Zeugnis erhalten hat, sich einfach wieder auf ihren Platz setzt um letzten Endes einfach wieder in ihr Zimmer zu verschwinden und sich ihren Mangas zu widmen.

Doch auch Selbstverständlichkeiten können ab und an gestört werden, falls eine Sache abrupt aus der Reihe tanzt... so wie Marceline es tut.

In ihrem Manga versunken hatte Biscotte auf der Bank gesessen um die Zeit totzuschlagen, bis endlich der überfüllte Bus kam, mit all den ach so interessanten Schülern, welche sich voller Euphorie gegenseitig davon erzählten, wie wunderbar doch ihr Urlaub werden würde. Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass er so voll wäre, dass sie nicht einmal mehr einen Platz bekommen würde, wodurch sie sich nicht die Mühe machte auch nur darauf zu hoffen. Warum sollte sie denn auch? Alle anderen hatten etwas Wichtiges zu tun, sie hingegen würde nur zuhause rumhängen und gelegentlich einen Ball werfen und dabei zusehen, wie ihre Katze damit spielte. Mehr nicht.

Da geschah es.

Eine Hand hatte auf ihre Schulter getippt und sie zu aller Verwunderung aus ihrem Tagtraum gerissen. Es kam selten vor, dass jemand sie bemerkte und praktisch nie, dass jemand versuchte ihre Aufmerksamkeit für sich zu gewinnen.

„Was liest du denn da?“, hatte eine äußerst angenehme hohe Stimme gefragt und als sie aufsah, blickte sie zum ersten Mal in das Gesicht ihrer jetzigen besten Freundin. Es war Marceline gewesen, die Biscotte damals auf die Schulter getippt hatte.

Kristallblaue Augen, von einer Brille umrahmt, hatten ihr gegenüber gestanden, welche perfekt zu den dunkelblau gefärbten, an der linken Seite zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haaren passten, die sie damals trug. Ein schick geformter sommerlicher Hut fand seinen Platz auf ihrem Kopf und verlieh dem ganzen durch eine eisblaue Schleife noch einen zuckersüßen Touch, welcher sogar Biscotte in Verlegenheit brachte. Ein liebes Lächeln war auf ihren Lippen zu sehen und Biscotte hoffte, dass man ihr ihre Überraschung nicht ablesen konnte. „I-ich lese gerade… Psycho Cupcake“, brachte sie leicht zögernd hervor. Misstrauisch hatte sie sich umgesehen, falls irgendwer sich einen bösen Spaß erlaubt hätte, denn es war einfach zu unglaubwürdig, dass ein überdurchschnittliches Mädchen wie Marceline jemanden wie sie angesprochen hatte.

Doch dem war nicht so.

Sie kamen ins Gespräch, es war das erste Mal, dass jemand sich richtig mit Biscotte unterhielt… und dabei sogar lachte.

Es war einfach wunderschön gewesen.

Marceline war genau so begeistert von Mangas wie Biscotte, weshalb sie sehr viel zu bereden hatten. Da Marceline neu in der Gegend war kannte sie niemanden, sie hatte Biscotte einfach zufällig dort sitzen sehen und den Manga in ihrer Hand bemerkt.

Dies war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, der Einzigen. Marceline fing an Biscotte aufzubauen und zu dem zu machen was sie heute war.

Im Gegensatz zu ihr war Marceline eine Musterschülerin.

Ihr Vater war ein angesehener Chemiker in der Firma Vales, ihre Mutter eine Ärztin. Sie hatten nie Geldsorgen, wahren wirklich vornehm, doch dennoch hatte Marceline immer Probleme damit gehabt Freunde zu finden, genauso wie Biscotte. Sie fingen an, praktisch jeden Tag miteinander etwas zu unternehmen.

Ihre blauhaarige Freundin hatte sie des Öfteren zu einigen kleineren „Dummheiten“ angestiftet, weil sie einfach sehr in Bereichen der Wissenschaften interessiert war, genauso wie ihr Vater. Schon früh war klar, dass sie irgendwann in seine Branche einsteigen würde. Doch sie war immer noch ein Kind, weshalb es einige Male zu dem einen oder Anderem Brand kam, was Biscotte jedoch nicht davon abhielt, weiter Zeit mit ihrer besten Freundin zu verbringen. Das gesamte letzte Jahr, war das womöglich schönste ihres Lebens und sie hoffte, dass noch so viele vor ihr liegen würden, in der sie so viel Zeit mit ihr verbringen konnte wie es ihr möglich war. Erst durch sie, hatte sie Zack überhaupt kennen gelernt. Marceline hatte sich einige Monate später mit ihm angefreundet und gemerkt was für ein netter Kerl er doch war, weshalb sie sich kurzerhand dazu entschlossen hatte die beiden zu verkuppeln. Es war wunderschön. Zack war Biscottes erster Freund und zum ersten Mal fühlte sie sich wirklich glücklich. Er war so nett und freundlich, auch wenn er dazu tendiert in Schwierigkeiten zu geraten mit seiner Gang, doch es war genau dieses Rebellische, das sie in irgendeiner Art und Weise wirklich anziehend fand, auch wenn sie es nicht wirklich erklären konnte. Doch so lange er sie gut behandelte war ihr alles andere egal, denn sie war froh, endlich etwas im Leben zu haben und Leute zu besitzen, denen sie etwas bedeutete. Sie hatte sogar einen Praktikumsplatz in der Konditorei von Zacks Mutter erhalten, wo sie ihr erstes eigenes Geld verdienen konnte. Auch wenn sie etwas tollpatschig war machte es sie dennoch glücklich zu wissen, dass sie für diese beiden Menschen, Zack und Marceline nicht einfach bloß ein „süßes, dümmliches Mädchen“ ist, sondern etwas Wichtiges, Einzigartiges.

Lächelnd blickte sie in den Spiegel, wo sich ihr neues Ich reflektierte und ihr entgegen strahlte.

„Gefällt es dir?“, fragte die dickliche Frau freundlich, während sie mit einem Besen all die Locken und Haare weg kehrte, welche sich wie ein dichter Ring um den Stuhl gelegt hatten, auf dem nun ein vollkommen neues, grinsendes Mädchen saß.

Biscotte nickte und ihre Augen leuchteten, erneut fühlte sie die Freude darüber, dass Marceline sie immer wieder zu allem möglichen Quatsch überredet. Es war einfach unglaublich.

Ihre Haare gingen nun knapp bis über die Schultern und waren an den spitzen leicht voluminös angelockt, was dem ganzen einen sehr attraktiven Schwung gab.

„Es ist… einfach unbeschreiblich“, grinste Biscotte, immer noch erstaunt darüber, dass sie das wirklich getan hat.

„Hahaha, oh es steht dir wirklich gut“, kicherte die Frau, unterdessen sie den Besen an den dafür vorgesehenen Platz stellte.

Die Frau in der hinteren Ecke nickte zustimmend, wobei sie nur kurz von ihrer Zeitschrift aufblickte, die sie sich genommen hatte, während die Lockenwickler in ihren Haaren ihre Arbeit taten.

„Nun, dann kommen wir zum spannenden Teil“, sagte die Dicke und verschwand für einen Moment im Lagerraum, bis sie mit einer kleinen Schale und Alufolie im Arm zurückkehrte, „Entspann dich, danach wirst du aussehen wie ein neuer Mensch“.

Wieder etwas aufgeregt sah Biscotte sie an, und faltete die Hände unter dem Tuch zusammen, damit sie sich leichter beruhigen konnte, wobei sie, immer noch grinsend sagte, „ich kann es kaum erwarten…“


Nachwort zu diesem Kapitel:
uff...endlich fertig. Es ist viel mehr geworden als ich ursprünglich vorhatte :D Das nächste Kapitel folgt dann in kürze ;D Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich hoffe mit dem Format und den Absätzen ist alles okay so, sonst würde ich es nochmal ändern... ich guck mal ^^ Am Ende gibt es einen kleinen gemeinen Cliffhänger, aber lasst euch nicht davon verwirren ;DD Wenn ihr alles verfolgt wird man schon wissen was gemeint ist *muhahaha* Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (12)
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Von:  Mishka-desu
2014-10-26T12:45:56+00:00 26.10.2014 13:45
Toll, dass du die Kapitel jetzt auch noch in einige Teile fasst c: Ich Dümmerchen, mir ist erst jetzt wieder eingefallen, dass du ja weiter geschrieben hast XD Ich finde die Situation total super gewählt, wo sie sich passend an ihre Vergangenheit erinnert ^^ Kann es kaum erwarten, weiter zu lesen! Mach auf jeden Fall weiter so! ♥ :D
Von:  AleisterStar
2014-08-10T12:22:10+00:00 10.08.2014 14:22
Unglaublich....Ich muss schon sagen...unglaublich OAO!!
Man wird richtig in den Bann gezogen.Wenn man erst anfängt kann man gar nicht mehr aufhören! Wie alles beschrieben wurde, Detail für Detail. Also meinen Respekt hast du und nennt neuen Fan hast du auch xD
Mach weiter so OAO bin schon gespannt aufs nächste Kapitel >u<!
Von:  Mishka-desu
2014-08-09T19:57:18+00:00 09.08.2014 21:57
Oh.mein.Gott.... es ist sooo gut geworden .____. ich bin wirklich gespannt auf das nächste Kapitel! Ich bin einfach fasziniert, wie du die Geschichte so gut zum Leben erweckst! ♥♥♥ Mach weiter so!
Von:  Mishka-desu
2014-08-02T06:49:14+00:00 02.08.2014 08:49
Ich liebe deine Ausdrucksweise *o* Wie toll du die einzelnen Handlungen beschreibst, finde ich einfach umwerfend! Ich bin positiv überrascht gewesen, dass du die Kapitel nach der Hauptfigur, die in diesem Kapitel auftaucht, benannt wurden. Schade, dass nicht viele Leute deinen Fanfic lesen :( Aber ich glaube, dass liegt an den Leuten, die hier auf Mexx angemeldet sind: sie interessieren sich eher für Cosplay, Doujins und Zeichnungen. Meiner Meinung nach könnte diese Geschichte eine umwerfende Anzahl an Fans bekommen, wenn man ein wenig Werbung dafür macht ;) Ich liebe deinen Fanfic und freue mich immer wieder ein bisschen weiter zu lesen ;) LG
Antwort von:  Cosmo
02.08.2014 10:55
Danke >ω< ☆★☆★☆★
Ich gebe mir Mühe!

Naja ja doch schon, aber es ist nicht sooo populär; weil die wenigsten leider davon mitkriegen. Deshalb versuche ich ja auch so in gewisser Weise Werbung zu machen!

Und bald, ja bald, habe ich endlich Kapitel Ricco vollendet, danach fließt der Gedankenstrom wieder! (denke ich xD )

Ich freue mich sehr, dass es dir gefällt; natürlich gibt es kleine Mängel aber hey .^.

Ich freue mich schon auf deine Illustrationen *-* ♡
Von:  xNear
2014-07-15T18:11:12+00:00 15.07.2014 20:11
Hört sich bisher ganz gut an, liest sich bis auf ein paar kleine Flüchtigkeitsfehler auch sehr gut! Schöne Arbeit, werde ich in jedem Fall weiter lesen!
Von:  AtriaClara
2014-05-01T18:17:46+00:00 01.05.2014 20:17
Bis hierher echt cool...
Mach so weiter, ich bleibe dran! ;)
LG AtriaClara
Antwort von:  Cosmo
01.05.2014 20:22
Freut mich, dass es dir gefällt :))

Und ja, der Rest ist in arbeit :DD

Hoffe der Rest wird dir ebenalla gefallen ^-^
Von:  Pheri
2014-04-24T15:13:27+00:00 24.04.2014 17:13
Voll gut(wie eig immer xD) *-*
Eigentlich lese ich ja überhaupt keine Fanfics oder so, aber die ist echt tollig *o*
Von: abgemeldet
2014-04-14T11:14:45+00:00 14.04.2014 13:14
;) immer so spannend wie e und je.. Ich Freundin mich auf den 4 Kapitel *^*
Antwort von:  Cosmo
14.04.2014 13:17
Hahaha danke für die Kommis ;)) Schön dass es dir gefällt!

Kapitel 4 wird etwas anders sein aber danke >u< Würde mich freuen wenn du sie weiter empfiehlst~
Von: abgemeldet
2014-04-14T11:13:49+00:00 14.04.2014 13:13
Uwaaa!!!0...o das mag ich.. xd
Von: abgemeldet
2014-04-14T10:46:07+00:00 14.04.2014 12:46
*~* Geeeeeeeiiiil... Kann kaum abwarten den 2 Kapitel zu lesen!!*^* hast du toll gemacht!! Ich fühle ja richtig mit hier xd


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