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Der König der Löwen

Wir sind Eins
von

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Eine lange Nacht

Nächtliche Besucher

Tojo hatte sich für seine Streife heute den Südwesten des Geweihten Landes ausgesucht und wie üblich war er bereits lange vor den anderen aufgebrochen. Genau genommen hatte er, seitdem er die Höhle heute Morgen verlassen hatte, niemanden vom Rudel gesehen, aber er störte sich keineswegs daran.

Selbst er bezweifelte, dass irgendjemand in den südwestlichen Teil eindringen würde. Allein der Anblick musste auf Fremde schon so abschreckend wirken, dass sie dem Geweihten Land für lange Zeit den Rücken kehren würden. Trotzdem war das für ihn kein Grund, in seiner Aufmerksamkeit nachzulassen. Was sollten die anderen auch nur von ihm halten, wenn sie gerade einen durchs Land streifenden Löwen gebeten hatten, den Königsfelsen während der Jagdzeit zu meiden, und er dann plötzlich gemächlich aus ebenjener Richtung, aus der der Fremde gekommen war, anspazierte?

Dem Rhythmus seiner eigenen Schritte lauschend wanderte er weiter nach Süden, wobei er zunehmend von einem seltsamen Gefühl geplagt wurde. Es war, als hätte sich eine Nebenstimme eingeschaltet, die Tojo zu Anfang noch für ein Echo gehalten hatte. Aber je lauter es wurde, desto klarer wurde ihm, dass es nicht der Widerhall seiner eigenen Schritte sein konnte, denn jene waren schwerer und hektischer. Außerdem kamen sie direkt auf ihn zu!

Aufgeregt suchte er in seiner näheren Umgebung nach einer erhöhten Position. Ihm war bewusst, dass er selbst den ersten Eindruck des Besuchers darstellte und im Übrigen konnte er ihn so besser ausmachen. Dass er dabei auch selbst gesehen werden würde, kümmerte Tojo nicht besonders. Durch seine zahlreichen Streifen hatte sich herausgestellt, dass durchreisende Löwen keine Seltenheit waren und die meisten sah er am Tag darauf wieder.

Schließlich konnte er in der Dunkelheit einen Felsen ausmachen, der ein wenig höher war als er selbst und versuchte schnell, ihn zu erklimmen. Allerdings schabte er dabei die verkohlte Oberfläche ab, was man womöglich noch am Königsfelsen gehört hatte. Als Tojo dann den Kopf in die Richtung drehte, in der er den Besucher vermutete, konnte er ihn weder hören noch sehen.

Er ging kurz seine Alternativen durch und entschied sich für die einfachste Lösung – abwarten, denn der Fremde wusste nun, wo er zu finden war. Wenn es tatsächlich ein Löwe auf der Durchreise war, dann würde er der Ursache des Geräusches auf den Grund gehen und ihn dabei finden. Jedenfalls würde Tojo das an seiner Stelle tun.

Seine Vermutung stellte sich schnell als wahr heraus, als die Nacht rechts von ihm eine Gestalt offenbarte.

»Willkommen im Geweihten Land, Fremder!«

»Geweihtes Land?« Die Betonung klang äußerst merkwürdig. »So nennst du das hier?«

»So nennen es alle hier.« Tojo konnte in der Dunkelheit nicht viel erkennen, aber es war mit Sicherheit ein Löwe. »Wir sind eine große Familie, aber wir haben immer Platz für Besucher, egal wie lange sie bleiben wollen. Ich muss dich allerdings da –«

»Ich bin nicht hergekommen, um zu bleiben.« Der Fremde fuhr prüfend mit den Krallen durch die Asche am Boden, dann trat er näher an Tojos Ausguck heran und entblößte sowohl sein von Narben gezeichnetes Gesicht als auch einen blanken, scharfen Reißzahn. »Ich suche etwas, das mir gehört.«
 

Wege zum Erfolg

Von hinten sahen die Jagdmanöver der Löwinnen ganz anders aus. Mehr als zwei Jahre lang war Sarabi es gewohnt gewesen, an erster Stelle vornewegzuschleichen, doch nun konnte sie das ganze Ausmaß eines Angriffs ihrer Schwestern erfassen. Denn als sie die Nachricht erhalten hatte, dass eine Herde Antilopen zwischen dem Wasserloch und dem Großen Fluss gesehen worden war, da hatte sie es kurzerhand Tama überlassen, die Jägerinnen heute Abend zu leiten.

Die junge Löwin hatte nicht damit gerechnet, einmal unter ihrer Aufsicht ihre Schwestern anzuführen, sondern immer angenommen, dass sie Sarabi ohne Übergang ablösen würde. Aber die erste Aufregung, die aufgekommen war, als die alte Leitlöwin dies kurzerhand nach der Segnung ihres Sohnes bekannt gegeben hatte, war in der offenen Savanne schnell vergessen. Jetzt konzentrierte sie sich voll und ganz auf ihre Aufgabe.

Anders als ihre Vorgängerin hatte Tama nämlich bereits ein festes Ziel, zwei schwächliche Tiere, auf die sie ihre Schwestern bereits aufmerksam gemacht hatte. Wenn sie die Herde gleich in eine Richtung davon treiben würden, sollten sich die Löwinnen auf den Flankenpositionen auf eben diese konzentrieren und alle anderen passieren lassen.

Für diese Aufgabe hatte sie Zira und Sarafina ausgewählt, denn die beiden waren besonders schnell. Ihre Aufgabe war es nicht, die Beute zu erlegen, sondern sie in die Enge zu treiben, was sich aber selbstverständlich nicht gegenseitig ausschloss. Sollte eine der beiden eine Gelegenheit erkennen, so konnten sie sie direkt ergreifen. Tama traute das längst nicht allen von ihren Schwestern zu, Sarafina dagegen hatte bereits viel Erfahrung und Zira hatte sich ihrerseits erst kürzlich eindrucksvoll bewiesen.

Gerade schlichen sie sich in einer sanften Linkskurve an, um den Südostwind optimal zu nutzen, sodass sie Antilopen ihren Geruch nur schwer wahrnehmen konnten. Tama sah einzeln zu den beiden Flankenlöwinnen und drehte beide Male die Ohren nach hinten – es war das Zeichen, dass sie von nun an auf sich allein gestellt waren.

Doch gerade als sich daraufhin die restliche Gruppe in Bewegung setzte, hörte sie in der Ferne Löwengebrüll, das ihr nur allzu bekannt vorkam. Ohne lange nachzudenken, erwiderte sie den Ruf und schreckte dabei die ganze Herde auf, dann sah sie in die besorgten Gesichter ihrer Schwestern.

»Das war Tojo.«

Keine der Anwesenden gab einen Laut von sich und in dieses Schweigen platzte Sarafina. Tama sah währenddessen zurück zu Sarabi, die ebenfalls zu ihnen aufschloss, wandte den Blick dann aber schnell wieder ab. Die alte Leitlöwin stellte sich neben sie und sagte kein Wort.

»Ich bin wohl noch nicht so weit«, meinte Tama kleinlaut. »Das war –«

»Seit wann entscheidest du das denn?«, unterbrach sie Sarabi.

»Aber ... aber wir hatten gerade eine perfekte Gelegenheit und ich habe abgebrochen.«

»Ja.« Sarafina trat vor sie. »Du hast eine Entscheidung getroffen und wir respektieren das.«

»Ein einzelner Jagderfolg ist niemals so wichtig wie das Wohlergehen eines Rudelmitglieds. Ich bin stolz auf dich«, bestätigte sie Sarabi, »und ich denke, ab heute werden alle Schwestern rückhaltlos auf deine Entscheidungen vertrauen.«

»Gut.« Seltsamerweise ließ sich Tama keinerlei Überraschung anmerken, anstatt dessen hob sie den Kopf und blickte durch die Reihen der Jägerinnen. »Dann sollten wir nachsehen, was da gerade passiert ist.«

Noch während sie sprach, konnte sie in jedem einzelnen Gesicht eine Entschlossenheit aufblitzen sehen – die Entschlossenheit, ihr überallhin zu folgen. Also jagte sie los, dicht gefolgt von den anderen Löwinnen.
 

Geheimnisse

Nachdenklich blickte er dem davonziehenden Fremden hinterher. Gleich nachdem Tojos Ruf so prompt erwidert worden war, hatte ebenjener fast schon panisch die Flucht ergriffen. Einen Moment lang hatte er mit dem Gedanken gespielt, ihn aufzuhalten, aber er hatte das Gefühl, dass es das Beste wäre, wenn der unbekannte Löwe dem Geweihten Land den Rücken kehrte.

Obwohl er den merkwürdigen Besucher schon längst nicht mehr sehen konnte, sah Tojo noch immer in die Richtung, in die er verschwunden war, als die Jägerinnen eintrafen.

»Was ist passiert?« Tama trat neben ihn und folgte seinem Blick, konnte aber nichts erkennen, was seinen Ruf eben gerechtfertigt hätte.

»Nur ein verirrter Löwe.« Tojo sprach, als redete er von etwas, das einem anderen widerfahren wäre. »Erst hat er mich bedroht, aber nach deiner Antwort dann schnell das Weite gesucht.«

Diese Begründung war für den Großteil der Jägerinnen offensichtlich unbefriedigend, aber sie wagten es nicht, das zu äußern. Anstatt dessen traten die meisten von ihnen nervös auf der Stelle herum und warteten auf Tamas Reaktion. Die allerdings hatte Tojo genau beobachtet und bemerkt, wie seine Nüstern gebebt hatten. Es bedeutete nicht unbedingt, dass er gelogen hatte, aber mit Sicherheit steckte mehr dahinter – etwas, das er vor der ganzen Versammlung nicht aussprechen wollte.

»Du solltest wissen, dass wir deinetwegen eine fast schon sichere Beute aufgeben mussten. Aber letztendlich sind wir alle froh, dich gesund wiedergefunden zu haben.« Während Tama ihn von der Seite ansprach, zwinkerte sie ihm mit dem von den anderen abgewandten Auge zu. »Denkst du, dieser Löwe wird wiederkommen.«

»Nicht in nächster Zeit, er ist praktisch Hals über Kopf davon gestürzt.«

»Gut, dann müssen wir uns erst mal keine Sorgen mehr machen.« Sie wandte sich zu ihren Schwestern um und erhob die Stimme. »Lasst uns nach Hause gehen.«

Unter vereinzeltem Gemurmel setzten sich die Löwinnen in Bewegung, aber keine von ihnen beschwerte sich. Tama und Tojo reihten sich am Ende des Zuges ein, doch gleich nachdem sie losgelaufen waren, schob er mit der Schulter gegen ihre und zwang sie, nach rechts abzudrehen.

»Siehst du den Felsen da?«

»Ja.«

»Gut, da hat es sich abgespielt. Später erzähle ich dir mehr dazu.«

»Ich weiß.« Tama schritt vor ihm vorbei, um den anderen wieder zu folgen, wobei ihr Schwanz gegen seine Brust klatschte. Tojo konnte die Geste nicht einordnen, er wusste ja nicht mal, ob es Absicht gewesen war, und ging ihr einfach nach.

Die beiden folgten schweigend der Prozession bis zum Königsfelsen und hoch auf die Felsterasse, wo Tama die Löwinnen verabschiedete. Sie beobachtete einen Moment lang, wie ihre Schwestern nach und nach in der Höhle verschwanden, dann drehte sie sich um und ging auf den Felsvorsprung zu, an dessen rechten Rand Tojo saß und in die südliche Nacht hinausblickte.

Sie setzte sich schweigend daneben und ließ ihm Zeit, seine Gedanken zu ordnen. Nach einer Weile begann er zu erzählen:

»Ich habe den Fremden zuerst bemerkt. Die meisten Löwen, die ich nachts treffe, gehen einer Begegnung aus dem Weg, also habe ich versucht, auf den Felsen zu klettern, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Da hat er mich entdeckt.«

»Was hast du dann getan?«

»Nichts. Ich habe darauf gewartet, dass er mich findet, weil ich erst einmal nicht davon ausgegangen bin, dass er Böses vorhat. Selbst jetzt bin ich mir da nicht ganz so sicher. Jedenfalls ist er wenig später tatsächlich aufgetaucht und ich habe ihn gleich freundlich begrüßt.«

»Das war etwas kurzsichtig, findest du nicht?«

»Hey, auch wenn ich etwas jünger bin, ich kann auf mich aufpassen! Aber du hast Recht, auf den Felsen zu klettern war keine gute Idee. Dieser Löwe hat angefangen, mich zu umkreisen und dabei von irgendetwas geredet, das ihm gehört. Anscheinend glaubt er, es hier finden zu können. Dann hat er mich gefragt, ob wir in letzter Zeit jemanden hier aufgenommen hätten.«

»Hast du ihm von Zira erzählt?«

»Bei Aiheu, nein!«

»Was ist dann passiert?«

»Nichts. Ich konnte nicht vom Felsen runter, weil er mich womöglich gleich bei der Landung abgefangen hätte, aber er konnte mich genauso wenig angreifen. Ich habe noch versucht, ihm zu erklären, dass wir so nicht weiterkommen würden, aber er hat mich ignoriert.«

»Und weil du nicht die ganze Nacht dort sitzen wolltest, hast du uns gerufen«, vollendete Tama seinen Bericht. »Verstehe. Trotzdem hättest du damit noch ein klein wenig warten können.«

Tojo wollte zwar etwas erwidern, stockte aber, als sie ihre Pfote auf seine stellte.

»Ich sehe etwas ... Es ist ein Löwe! Tojo, ist das der von vorhin?«

Doch er verneinte, ohne überhaupt in die Richtung zu sehen. »Definitiv nicht. Es sei denn, er hat die Hälfte seines Körpergewichts verloren.«

Tama bedachte ihn mit einem kurzen Blick aus dem Augenwinkel, dann spähte sie wieder hinaus in die Nacht und fuhr auf einmal zusammen.

»Aiheu abamami! Ich hatte sie ganz vergessen.« Sie sah Tojo an und der Schock war ihr noch immer ins Gesicht geschrieben. »Das ist Zira.«

Die beiden beobachteten, wie Zira die unteren Ausläufer des Königsfelsens erreichte, wobei sich ihr Tempo kaum verringerte, während sie im Dunkel der Nacht zwischen einigen Felsbrocken hindurchflitzte. Als sie den Pfad, der stetig ansteigend in einer sanften Kurve zur Felsterasse führte, erreichte, setzten sich die beiden in Bewegung und liefen zur Nordseite des steinernen Plateaus, dorthin, wo der Weg endete.

»Was ist passiert?«, begrüßte sie Tama.

»Das wollte ich dich fragen. Ich habe die Antilopen ein ganzes Stück verfolgt. Dabei muss ich euch irgendwie abgehängt haben.«

»Nein, ich habe den Angriff abgebrochen, hast du es denn nicht gehört?«

»Was?«

»Tojos Ruf ... meinen Ruf, das ist eins der ersten Kommandos, die man als –« Sie bemerkte ihren Fehler und stockte einen Moment mit halb geöffnetem Maul, dann senkte sie Zira gegenüber den Kopf. »Natürlich, du konntest es nicht wissen. Tut mir Leid.«

»Warum hast du überhaupt abgebrochen? Wir hatten doch eine perfekte Gelegenheit.«

Tama blickte wieder auf, als sie ihre eigenen Worte wiedererkannte. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie keine der anderen Jägerinnen auch nur ein einziges Mal in Frage gestellt hatte. Sie waren alle jeder ihrer Entscheidungen kommentarlos gefolgt.

»Tojo hat einen Eindringling entdeckt und nach Hilfe gerufen.«

»Das klingt so unprofessionell«, bemerkte dieser.

»Das war es aber nicht, du hast alles richtig gemacht«, tröstete ihn Tama. »Kannst du uns etwas über diesen Löwen erzählen?«

»Nicht viel. Ich schätze mal, er ist ein paar Monde älter als Zira. Sein Fell und seine Mähne konnte ich kaum erkennen ... wahrscheinlich ist beides eher dunkel. Aber ich kann jetzt noch diese Augen vor mir sehen – gelb!«

Da bei Löwen auch die Augäpfel einen gelben Farbton hatten, mussten sie fast schon nahtlos in die gelbe Iris übergegangen sein, wodurch sich lediglich noch die schwarze Pupille abgehoben hatte. Tama schauderte ein wenig, aber Zira wirkte auf einmal wie versteinert.

»Zira, alles in Ordnung?« Tojo wirkte besorgt, Tama vielmehr irritiert: »Kennst du ihn?«

»Ja«, hauchte sie. Es schien, als würde ihre Stimme nicht mehr hergeben.

»Wer war das? Was wollte er hier?« Tama ging auf sie zu und versuchte, ihr in die zu Boden gerichteten Augen zu sehen, aber Zira wandte sich ab.

»Bitte, lasst mich damit in Ruhe.«

»Zira! Wir müssen wissen, wer das war«, rief sie ihr hinterher.

»Nein!«

Tama wollte ihr folgen, wurde aber von Tojo geschnitten, der daraufhin zu Zira aufschloss und sich auch ihr in den Weg stellte. Allerdings sprach er in einem ganz anderen Ton zu ihr.

»Zira, sag uns doch wenigstens, ob er wiederkommen wird. Bitte.«

Sie senkte den Kopf und schloss die Augen. Man konnte ihr förmlich ansehen, wie viel Schmerz es ihr bereitete, darüber nachzudenken. »Ja.«

»Wann?«

»In ein oder zwei Monden.«

»Danke dir. Ich sage Chumvi Bescheid, dass du auf ihn wartest, dann musst du nicht mehr zu den anderen in die Höhle.« Damit ließ er sie ziehen und kehrte zu Tama zurück, die ihn nur mit halb geöffnetem Maul anstarrte. »Beeindruckt?«

Sie blinzelte, schüttelte den Kopf ein wenig und fand schließlich ihre Stimme wieder. »Etwas. Was sollen wir eigentlich mit ihm machen, wenn er wiederkommt?«

»Hm ... wie wäre es, wenn du mir das Jagen beibringst?«

»Was hast du vor?«

»Du wirst schon sehen.«
 

Nur diese eine Nacht

Zira schleppte sich irgendwie in die kleine Nebenhöhle, die ihr nun schon seit zwei Monden Obhut bot. Hinein durch den großen Eingang, dann gleich links – sie merkte nichts von dem Weg, den sie zurücklegte, weil sie die Erinnerung an dieses Augenpaar nicht mehr losließ. Während sie lief, durchlebte sie das letzte Mal, dass sie hineingesehen hatte. Es war, als ob die Stimme des Löwen in ihrem Kopf widerhallen würde: »Du gehörst mir, Zira, mir ganz allein!«

Er war der Grund, weshalb sie damals alles hinter sich gelassen hatte, was ihr etwas bedeutet hatte – ihr Rudel, ihre Freunde, ihre Familie. Nur wegen ihm hatte all das Leid in ihrem Leben erst seinen Lauf genommen.

Auf einmal stolperte sie, konnte sich aber im letzten Moment noch fangen. Zira hatte ihre Höhle erreicht und war mitten hineingelaufen, ohne es zu realisieren. Dort war sie dann gegen die Erhebung getreten, auf der sie meistens schlief.

Weiterhin tief in Gedanken versunken legte sie sich einfach da zu Boden, wo sie gerade stand. Gerade als sie die Augen schloss, hörte sie aufgeregtes Geschrei, das allmählich lauter und damit schließlich verständlich wurde.

»– noch so lange verfolgt. Mutter ist die beste Jägerin von allen!«

Wenig später kam Vitani aus dem Gang gestürmt, kurz darauf traf auch Chumvi mit Nuka ein und Zira sah ihren Kindern entgegen. Vitani hielt direkt auf sie zu und versuchte, den Absatz hinauf zum Schlafplateau in einem Satz zu nehmen.

Dass sie es dann tatsächlich schaffte, überraschte sie selbst so sehr, dass sie vergaß, auf die Landung zu achten. Der nun erhöhte Boden kam wesentlich schneller auf sie zu, wodurch sie ihre Beine stark anwinkeln musste, ins Straucheln geriet und schließlich ganz die Balance verlor. Von ihrem eigenen Schwung getragen kullerte sie noch ein Stück orientierungslos über harten Fels, bis ihre Fahrt in Ziras Bauchfell endete.

»Mutter!« Vitani richtete sich schnell wieder auf und schob sich unter ihr Vorderbein. Von dort aus sah sie zurück zu den beiden Löwen, die noch immer im Eingang standen.

Nuka konnte den Blickkontakt nicht lange ertragen – seit ihrer Ankunft hier war seine Schwester in aller Munde. Immer, wenn sie auf ihre tollpatschige Art irgendwo ankam, drehte man sich nach ihr um und freute sich über ihre Niedlichkeit, egal wie ungeschickt sie sich gerade angestellt hatte.

Mittlerweile war Vitani bis auf einige Ausrutscher sicher zu Fuß unterwegs und beherrschte auch schon einen grundlegenden Wortschatz, der einfache Kommunikation erlaubte. Ihre Gliedmaßen, die noch vor wenigen Wochen so zerbrechlich gewirkt hatten, dass man sie nicht einmal ansehen wollte, aus Angst, etwas könnte dabei zu Bruch gehen, nahmen nun vorläufige Formen an.

Zira leckte ihrer Tochter liebevoll durch ihr immer noch flauschiges Rückenfell, dann hob sie den Kopf und all die Fürsorge verschwand aus ihrem Gesicht. Der Blick, den sie den beiden zuwarf, ließ es scheinen, als wäre sie höchstens mäßig interessiert, so als hätte sie noch nie in ihrem Leben einen Löwen gesehen.

Aber dies galt nicht Nuka. Er blickte auf und sah, dass Chumvi dasselbe bemerkt hatte, doch auch er schien noch nach dem zu suchen, was gerade Ziras Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Allerdings bekam er nicht die Gelegenheit, es herauszufinden.

»Mutter.« Zira blinzelte und sah nun zu ihrem Sohn, der erhobenen Hauptes auf sie zugelaufen kam. Nuka überwand die Stufe, an der seine Schwester gescheitert war, mühelos und suchte im Gegensatz zu ihr auch nicht die direkte Nähe seiner Mutter. Anstatt dessen legte er sich an der Kopfseite ihres Schlafplatzes nieder, sodass er das erste sein würde, was sie am nächsten Morgen sehen würde.

Chumvi hatte die Szene neugierig verfolgt. Für ihn war Nuka schon immer ein Rätsel gewesen, aber er würde sich die Zeit nehmen, ihn zu verstehen ... bald. Sowie er diesen Entschluss gefasst hatte, setzte er sich in Bewegung, um sich zu den Dreien zu legen, stockte aber, als er Zira bemerkte. Jetzt, wo ihre Kinder nicht mehr darauf achteten, scheute sie sich nicht, ihn direkt anzusehen und etwas Ungewohntes lag in ihrem Blick. Etwas, das er noch nie zuvor bei ihr gesehen hatte.

»Schläft sie schon?« Chumvi deutete auf das Fellknäuel zwischen Ziras Vorderbeinen, das sich in regelmäßigen Abständen hob und senkte. Vitani war noch zu jung, um mit dem Leid dieser Welt konfrontiert zu werden.

Zira spähte kurz nach unten und nickte schwach.

»Hat es etwas mit dem Fremden zu tun? Tojo meinte –«

»Sscht.« Sie sah an ihm vorbei, in Richtung Höhleneingang. »Nur diese Nacht.«

»Was? Ich werde doch nicht –«

Zira formte mit den Lippen das Wort "Bitte!", aber das war es nicht, was Chumvi überzeugte, sondern die Angst, die er nun ganz klar in ihren Augen erkennen konnte. Sie hatte keine Angst vor ihm selbst, denn das hätte sie ihm gegenüber nie so gezeigt, dessen war er sich sicher. Aber warum wollte sie allein sein?

Er schloss die Augen und nickte, ging dann aber trotzdem auf sie zu. Zira war alles andere als entspannt, wich allerdings nicht zurück, sondern sah ihm nur entgegen. Chumvi beugte sich über sie und senkte den Kopf gleich neben ihren.

»Ich lasse meine Familie nicht zurück, niemals. Ich werde nicht weit weg sein.«

»Ich weiß.«

Für einen winzigen Augenblick gab sie nach und berührte ihn mit der Schnauze unter dem Ohr. Chumvi wollte die Geste erwidern, doch der Moment war so schnell wieder vorüber, wie er gekommen war und Ziras Kopf ruhte neben Vitanis zierlichem Körper.

»Lala kahle.« Er kehrte um und verließ schweren Herzens die Höhle.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Übersetzungen
Aiheu: Angebeteter Gott
Aiheu abamami!: Herr, gib mir Kraft!
Lala kahle.: Auf Wiedersehen, Schlaf gut, Ruhe in Frieden Komplett anzeigen

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