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Der König der Löwen

Wir sind Eins
von

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In memoriam

Böses Erwachen

Die Nacht war schon weit vorangeschritten, als am Königsfelsen endlich Ruhe einkehrte. Zira hatte diesmal nachgegeben und schlief Seite an Seite mit Chumvi. Der hatte seinen Kopf in ihren Nacken gebettet, um deutlich zu machen, dass sie bei ihm in Sicherheit war. Irgendwann am frühen Morgen spürte er dann, wie sie sein Vorderbein umklammerte und den Kopf fest an seine Brust drückte.

»Ich lasse nicht zu, dass dir etwas passiert«, flüsterte er ihr ins Ohr. Was er allerdings nicht wusste, war, dass sie im Traum bei einem ganz anderen Löwen lag.

Ziras Griff wurde derweil immer fester, bis sie plötzlich aufschreckte, sich losriss und vor ihm zurückwich. Noch halb im Schlaf schlug Chumvi hart mit dem Kinn am Boden auf, bevor er überhaupt realisierte, was gerade passiert war. Zumindest hatte sie nicht geschrien und damit die Kinder geweckt.

Dann sah er wieder zurück zu Zira. Sie lag da wie ein Häufchen Elend und versuchte gar nicht, es zu verbergen. Chumvi zuckte nur kurz mit dem Kopf Richtung Ausgang, verließ wortlos die Höhle und legte sich wieder hinter die erste Biegung.

Doch diesmal musste er nicht lange warten. Sie war ihm zwar nicht gefolgt, kam aber schnell nach, stieg über ihn hinweg und legte sich dann ihm gegenüber nieder. Zira öffnete ein, zwei Mal das Maul, besann sich jedoch immer im letzten Moment, sodass sie in ein ungewolltes Schweigen verfielen.

»So kann es nicht weitergehen«, sagte Chumvi schließlich.

Obwohl er keine Antwort bekam, war er sich fast sicher, dass sie wusste, was er meinte.

»Siri hat gestern zugegeben, dass er hinter dir her ist, auch wenn ich nicht glaube, dass er nur mit dir reden will. Würdest du dich nicht so seltsam verhalten, würde ich ihm gar nichts glauben, aber irgendwas war zwischen euch.«

Zira machte keinerlei Anstalten, auf ihn einzugehen.

»Warum willst du es nicht erzählen?«

»Weil mir keiner wiedergeben kann, was er mir genommen hat.«

Eigentlich hatte Chumvi keine Antwort erwartet. Demnach dauerte es einen Moment, bis er seine Stimme wiederfand: »Und was ist mit dem, was du jetzt hast? Bedeutet dir das nichts? Er hat schon eine von uns getötet – wer weiß, was noch passiert.«

»Soll das heißen, es war meine Schuld?«

»Nein ... vielleicht ... Ich weiß es nicht, woher auch? Wir haben keine Ahnung, was Siri hier überhaupt will. Womöglich hätten wir es verhindern können, wenn wir vorher Bescheid gewusst hätten, aber letztendlich sind wir jetzt immer noch nicht schlauer als vorher.«

»Also doch.«

»Rede mit mir, nur dann kann ich dir helfen.«

Sie antwortete nur mit einem schwachen Kopfschütteln, ohne ihn dabei anzusehen.

Wenn es so nicht funktioniert ... Chumvi wechselte zu einem möglichst teilnahmslosen Tonfall: »Simba wird dich heute wieder darauf ansprechen. Ich weiß nicht, was er anders macht, aber anscheinend hat er mehr Erfolg. Zumindest weiß ich diesmal auch etwas davon.« Er machte sich daran, aufzusehen.

»Warte!«

Angebissen! Er ließ sich nichts davon anmerken und legte sich wieder hin.

»Du wusstest also nichts davon?«

»Nicht bis heute Mittag.«

»Hat es dir keiner erzählt?«

»Alle dachten, ich wüsste es schon von dir.«

»Nein. Es einmal zu erzählen, war genug.«

»Dann denk‘ mal darüber nach, wie es jetzt aussieht. Ich habe Simba schon gestern gesagt, dass es nicht deine Schuld war und er glaubt mir auch ... aber er ist verletzt und er will Antworten. Er wird wieder auf dich zukommen und was wirst du ihm diesmal sagen? Die Wahrheit?«

Sie antwortete ihm nicht, aber er wusste, dass er sie jetzt genau da hatte, wo er sie haben wollte.

»Du musst es nicht tun. Du kannst mir hier und jetzt erzählen, was passiert ist – warum er hinter dir her ist. Dann wird dich jeder andere damit in Ruhe lassen, ich verspreche es.«

Zira schloss die Augen und atmete tief durch, ihre Entscheidung war gefallen. Dann begann sie, zu erzählen, von Anfang bis Ende.
 

Die Wahrheit

Das Gestein bröckelte, als Simba mit aller Kraft versuchte, den Steilhang hinaufzugelangen. Er schaute auf und erblickte knapp außer Reichweite einen Vorsprung. Unter Mobilisation seiner letzten Reserven schlug er die Krallen in den Fels und versuchte, sich hinaufzuziehen, fand mit den Hinterläufen jedoch keinen neuen Halt.

Plötzlich trat ein Löwe an den Abgrund und sah zu ihm herunter. Schon nach einem kurzen Blick in seine Augen konnte Simba sich nicht mehr davon losreißen. Die gelbe Iris war vor dem gleichfarbigen Augapfel nicht zu erkennen, was den Fremden halb wahnsinnig aussehen ließ. Er war Siri noch nie begegnet, aber er war sich sicher, dass er genauso aussehen würde.

Er wollte sich zur Seite weghangeln, aber es war zu spät. Siri schlug die Klauen in seine Vorderpfoten und Simba brüllte vor Schreck. Doch auf einmal kam ihm die Situation merkwürdig vertraut vor, also wandte er den Blick nach rechts und seine Befürchtungen bestätigten sich.

Unweit der Szene stand Kopa auf einem anderen Vorsprung und beobachtete die beiden. Simba wusste, was gleich geschehen würde, aber sein einziger Gedanke war, dass Kopa es nicht sehen sollte. Der Wunsch wurde ihm verwehrt. Siri riss seine Krallen aus der Felswand und ließ ihn abstürzen. Die Schreie von Vater und Sohn vereinten sich.

Der schmerzhafte Aufprall blieb jedoch aus, denn kurz davor erwachte Simba aus seinem Traum.

Es war noch früher Morgen, selbst Kopa lag noch auf seinem Platz gleich neben seinen Eltern und schlief. Simba kuschelte sich noch etwas fester an Nalas Flanke, aber er traute sich nicht, wieder einzuschlafen. Also lag er noch eine Weile wach, bis ihn seine herumschwirrenden Gedanken so sehr plagten, dass er es nicht mehr ertrug.

Ganz vorsichtig stand er auf und sah noch einmal zu Nala hinab, wobei er bewusst darauf achtete, den Blick nicht über Sarabis leeren Schlafplatz schweifen zu lassen. Dann machte er sich auf den Weg nach draußen, obwohl es noch nicht einmal richtig dämmerte. Trotz der frühen Stunde hörte er im Gang Stimmen, auch wenn er kein Wort verstand. Simba schenke dem keine Beachtung, er wollte jetzt nur an die frische Luft.

Draußen starrte er einen Moment lang auf die Steinbrücke, die majestätisch in den Nachthimmel ragte, wandte den Blick dann aber unter Mühen ab und setzte sich anstatt dessen an den rechten Rand der Felsterasse, sodass er nicht annähernd in die Richtung sah, in der der Kadaver seiner Mutter lag. Einige Sterne überleuchteten noch das erste, schwache Tageslicht.

»Warum musste sie gehen?«

Er wartete, wenn auch nicht auf eine Antwort – er wollte, dass etwas geschah. Doch tief im Inneren wusste er, dass es vorbei war. Sarabi hatte sie verlassen und sie kam nicht mehr zurück. Seine Mutter, sein Vater, nicht einmal sein Onkel Scar hatte lange genug gelebt, um eines natürlichen Todes zu sterben. War das der Preis, den sie alle zu zahlen hatten?

Der Klang von Schritten in der Höhle ließ ihn zusammenzucken. Simba schaute zum Eingang, konnte in der Dunkelheit aber nichts erkennen. Er hatte sich gerade damit abgefunden, sich geirrt zu haben, als Chumvi aus dem Schatten trat, wobei er ebenso überrascht schien, Simba hier anzutreffen.

»Simba?«

Der nickte ihm nur kurz zu und schaute dann wieder in die Ferne.

»Störe ich?«

»Für dich habe ich immer Zeit.«

»Nein, das ist es nicht ... Ich bin eigentlich hier, um nachzudenken.« Er sah einen Moment lang auf Simbas Profil, der den Blick wieder in weite Ferne gerichtet hatte – weiter, als das Auge sehen konnte. »Doch, ich wollte mit dir reden.«

Simba ließ sich etwas Zeit, bis er den Kopf zurück zu seinem Freund drehte. »Worüber denkst du nach?« Sein Ton war hilfsbereit, brüderlich.

»Es ist Zira, heute Nacht ... ich meine heute Morgen ... sie ist –«

»Fang vorne an.«

»Sie hatte Alpträume.«

»Heute Nacht wundert mich das nicht. Habt ihr darüber geredet?«

»Ja, über alles: Über Siri, über ihr altes Rudel – sie hat mir alles Wichtige erzählt.«

Simba zog kurz überrascht die Augenbrauen hoch, doch etwas trübte das alles noch: »Wo liegt dann das Problem?«

»Keine Ahnung. Als sie fertig war, hat sie nichts gesagt, sondern ist einfach aufgestanden, zurück in die Höhle gegangen und hat sich zu den Kindern gelegt.« Chumvi wurde immer leiser, bis Simba ihn nicht mehr verstand, wobei er aber noch ein einziges Wort aufschnappte: »... eiskalt ...«

Er überlegte gerade noch, was er sagen sollte, da sah Chumvi wieder auf: »Ich fürchte, es war nicht gut, an diese alten Wunden zu rühren.«

»Es war richtig.« Doch das reichte nicht, um ihn zu überzeugen. »Es tut weh, wer weiß wie sehr, jeder geht anders mit seinem Schmerz um. Gib ihr Zeit – wenn sie dich braucht, wird sie zu dir kommen.«

Chumvi nickte dankbar und die beiden überblickten wieder gemeinsam in die südliche Savanne. Währenddessen wurde der Himmel immer heller, die Sterne verblassten und der östliche Horizont begann, gelb zu schimmern.

Ein kurzer Windstoß bauschte den Löwen kräftig die Mähnen auf, aber es war keine gewöhnliche Brise. Durch einige mitgetragene Grashalme war genau zu sehen, welchen Weg die Luft nahm: am Höhleneingang vorbei, zurück über die Felsterasse bis nach vorne an die Spitze der Steinbrücke. Von dort wehte der Wind hinunter zu den Liegeplätzen, durchstieß die Krone einer der Schirmakazien und trug einige der Blüten hinfort.

»Vater.« Simba schaute lange hinterher, auch wenn sich die winzigen Punkte schnell vor der aufgehenden Sonne verloren. ›Was hat das zu bedeuten?‹

Dann wurde ihm wieder klar, dass er Publikum hatte und er drehte sich zu Chumvi um. »Ich muss es wissen.«

»Aber nicht jeder.«

»Nicht was passiert ist, nur was es für uns bedeutet. Du kannst dich auf mich verlassen.«

Chumvi drehte sich von ihm weg und sah in die Ferne, von wo aus der große Fluss im Süden zu ihnen strömte. »Du weißt, von wo Zira kommt?«

»In etwa.«

»Sie haben direkt am Fluss gelebt, ansonsten ist das Land dort zu trocken. Das Rudel war klein, aber sie waren wie eine Familie ... bis Siri kam. Er hatte damals gerade den Sprung zum Löwen hinter sich und trotzdem hat er es irgendwie geschafft, ihren König zu besiegen und seinen Platz einzunehmen.«

Zwar klang das alles für Simba wirklich unschön, aber etwas schien noch zu fehlen.

»Was ist mit dem alten ...?«

»Nie wiedergesehen.«

»Und Zira war seine –«

»Nein, aber ... Siri hat anschließend alle anderen Löwen aus seiner Blutlinie beseitigt.«

Simba hielt einen Moment lang den Atem an, dann stellte er die Frage, auf die er fürchtete, keine Antwort mehr zu bekommen: »Wer?«

»Sein kleiner Bruder. Er war noch zu jung, um sich irgendwie zu wehren.«

Simba rechnete kurz nach – immerhin wusste er, dass Zira schon zu seinen Kindheitstagen im Geweihten Land gewesen war. Sie und der Arme konnten noch kein Paar gewesen sein, aber vielleicht schon verliebt. Doch er traute sich nicht, nachzufragen, anstatt dessen lenkte er auf ein anderes Thema:

»Warum ist Siri jetzt hinter ihr her?«

»Die Partnerin des alten Königs ist sofort geflohen. Wahrscheinlich hat er die letzten Jahre damit verbracht, sie zu suchen. Ob er sie gefunden oder aufgegeben hat ... ich weiß es nicht, aber es spielt auch keine Rolle für uns.«

Jetzt zeigte Chumvi zum ersten Mal eine Regung, als er ihn fast schon bittend ansah: »Oder?«

»Trotzdem verstehe ich es nicht.« Doch als Simba darüber nachdachte, was einen Löwen zu solchen Taten bewegen könnte, kam ihm sein Onkel in den Sinn. »Aber vielleicht werde ich das auch nie. Ich sehe keinen Grund, der rechtfertigen würde, ihm Zira auszuliefern – sie ist hier sicher.«

»Nkosi aka Nkosi Ich danke euch.«

Simba stutzte, aber er beließ es bei der formellen Anrede und so verfielen die beiden wieder in Schweigen, während der Tag anbrach.
 

Erinnerungen

Schon am frühen Vormittag hatte sich der Großteil des Rudels am Ort des Geschehens versammelt, allein die Kinder waren unter Ziras Aufsicht zu Hause am Königsfelsen geblieben.

Sie hatte sich freiwillig hierfür gemeldet, weil sie befürchtete, in Gegenwart von Sarabis sterblichen Überresten allzu viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Immerhin hatte sich schnell herumgesprochen, hinter wem Siri tatsächlich her war.

Simba sah den Kadaver seiner Mutter heute zum ersten Mal. Am Abend davor hatte er gerade mit Chumvi darüber diskutiert, was den Jägerinnen zugestoßen sein könnte und ob sie nachsehen sollten, da war Tojo mit der Nachricht eingetroffen. Anschließend hatte keiner von ihnen mehr wirklich Appetit gehabt und so hatten sie den Kindern von einer missglückten Jagd erzählt, während die Löwinnen bis auf Tama und Sarafina, die Totenwache hielten, gemeinsam die erlegten Gnus zum Königsfelsen schleppten. Keine der Schwestern beklagte sich, denn so hatten sie etwas zu tun und am Ende waren sie alle erschöpft in den Schlaf gefallen.

Zudem hatte Simba noch in der Nacht Zazu nach Rafiki geschickt, der sie heute Morgen hier schon erwartet hatte. Wer weiß, die früh er aufgestanden war oder ob er überhaupt geschlafen hatte, denn Sarabi sah mittlerweile überhaupt nicht mehr schlimm aus: Etliche Blüten schmückten ihren toten Körper und überdeckten geschickt die Wunden am Hals und das blutgetränkte Gras.

Für einen kurzen Moment hatte Simba tatsächlich den Eindruck, dass seine Mutter einfach nur schlief und die Versammlung und die Blumen nur ein Streich ohne wirkliche Pointe waren. Doch seine Tagträumerei fand ein jähes Ende, als Rafiki neben Sarabis Kadaver trat und begann, zu den Löwen zu sprechen.

Er nannte Sarabis wichtigste Verwandte und erzählte von ihrem Leben: Wie sie ihn schon als Junges besucht hatte, wie sie später Königin des Geweihten Landes wurde, nur um alles zu verlieren und wie all die Freude mit Simba wieder zurückgekehrt war. Nach all dem hatte sie es verdient, ihre letzten Tage so unbeschwert zu verbringen.

Dann war Tama an der Reihe. Sie berichtete von Sarabis Leben als Leitlöwin der Jagdgruppe: Sie begann damit, wie sie selbst als junge erwachsene Löwin fast ohne Jagderfahrung zu den Schwestern gekommen war, erzählte von ihrer ersten Jagd, ihrer ersten Beute und wie sie anfing, von Sarabi zu lernen, um später ihren Platz einzunehmen, was sie nun weitaus früher tat, als ihr lieb war.

So teilte nach und nach jeder seine bedeutendsten Erinnerungen an die Verstorbene mit den Anwesenden, während die Sonne immer höher kletterte und den letzten Rednern allmählich unangenehm heiß aufs Fell brannte.

Den Heimweg bewältigten sie danach schweigend in der prallen Mittagshitze, aber auch ansonsten war keiner von ihnen besonders erpicht auf Gespräche, denn jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Simbas geistige Ausflüge führten ihn zurück zum heutigen Morgen und dem, was er gesehen hatte. Also verlangsamte er seinen Schritt, bis er mit Rafiki, der in der Prozession an zweiter Stelle ging, gleichauf war.

»Du bist nicht unser erster Besucher heute.«

»Ah, der alte Fuchs – ich hätte es wissen müssen. Was hat er denn gesagt?«

»Naja«, Simba legte verlegen den Kopf schief, »genau das ist mein Problem.«

»Verstehe.« Rafiki sah nach vorne zum Königsfelsen, an dem nun allmählich immer mehr Details zu erkennen waren. Er meinte sogar, einen kleinen Löwen an der Spitze der Steinbrücke stehen zu sehen. »Dann erzähl doch mal.«

»Nun, er ist aufgetaucht wie sonst auch immer, dann ist er vom Höhleneingang nach vorne zur Steinbrücke und da ist dann etwas sehr Merkwürdiges passiert. Auf einmal ist er nach unten abgedreht und hat ein paar Blüten von einem Baum geweht, dann ist er verschwunden. Warum dieser Umweg?«

»War denn etwas Besonderes an diesem Baum?«

»Nein, es war der, an dem ich als Kind immer gelegen habe, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass –«

»Bei deiner Mutter, nehme ich an?«

»Ja, natürlich bei meiner Mutter, ich meine ... natürlich! Das war früher mal ihr Liegeplatz.« Mit dem Alter war Sarabi auf die höher gelegenen Plätze ausgewichen, deshalb war Simba dies nicht sofort aufgefallen.

Wenig später stand die gesamte Versammlung im kühlen Schatten, den der Königsfelsen vor der Höhle warf. Rafiki saß, die Füße auf die Oberschenkel gelegt, vor dem Rudel, während die Steinbrücke hinter ihm im gleißenden Sonnenlicht fast schon blendete. Die Erwachsenen hatten einen großen Halbkreis gebildet, aber die Kinder saßen direkt vor ihm. Vitani hatte die Vorderpfoten über sein linkes Bein gelegt und er kraulte sie im Gegenzug sachte im Nacken, während er seine Geschichte vortrug.
 

Mwezis Reise

Zum Anbeginn unseres Wissens war das Land immergrün, denn der Geist Aiheus war allseits und allgegenwärtig. Er begleitete seine Kinder auf Erden und nahm sie bereitwillig in Empfang, wenn ihre Zeit gekommen war. Es war zwar eine schöne Welt, in der unsere Vorfahren damals lebten, aber all das stand in keinem Vergleich zu Aiheus Reich, wo unser aller Reise enden soll.

In eine dieser frühen Generationen wurde ein Löwe namens Mwezi geboren. Er hatte eine unbeschwerte Kindheit und genau im richtigen Alter fand er eine Löwin, der er sein Herz schenken konnte. Schon wenig später formte ihre Liebe den ersten Nachwuchs und seine Gefährtin verabschiedete sich, um die Kinder an einem sicheren Ort zur Welt zu bringen. Mwezi war überglücklich. In seinem Leben hatte es nie ein Problem, nicht das kleinste Bedenken gegeben und schon bald wäre es perfekt.

Es geschah allerdings, dass er, gerade als seine Gefährtin zurückerwartet wurde, einer schweren Krankheit erlag. Er starb schließlich in Ungewissheit, ob sie die Geburt überlebt hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben gab es etwas, das er ändern wollte, aber nun war er machtlos.

Sein Weg führte ihn zu Aiheu und er wurde willkommen geheißen:

»Mwezi. Du hast nie gebetet, aber du hast an mich geglaubt und meinen Namen in Ehren gehalten. Mein Reich steht dir offen.«

Mwezi warf einen Blick ins Paradies und es war perfekt. Es gab weder Sorgen noch Leid, doch das erinnerte ihn wieder schmerzlich an sein eigenes Leben. Nein, er glaubte nicht, dass er hier jemals so glücklich sein könnte wie zuvor.

»Ich muss zurück.«

»Es gibt keinen Weg zurück.«

»Es muss einen geben und wenn es ihn gibt, dann werde ich ihn finden.«

»So soll es sein.« Damit wandte Aiheu den Blick von ihm und es wurde dunkel um Mwezi.

Er erwachte schließlich unter einem Affenbrotbaum, allerdings wusste er nicht, wo er war, nur wo er hin wollte. Vier Tage und fünf Nächte dauerte seine Reise, bis er schließlich seine Heimat wiederfand. Mwezi lief zu seinen Freunden und erzählte ihnen seine Geschichte und von ihnen erfuhr er auch, dass er nun Vater war.

Sein Leben schien nun endlich perfekt zu sein, als er seine Gefährtin zusammen mit seinen Kindern sah. Mwezi trat auf seine Familie zu, doch der Blick in ihren Gesichtern, als sie ihn erkannten, erschrak ihn. Sie hatten damals bei seinem toten Körper gelegen und um ihn getrauert, er war von ihnen gegangen und jetzt stand er wieder vor ihnen. Sie hatten Angst.

Also erzählte er ihnen von allem und als er fertig war, sah er das Glück in den Augen seiner Gefährtin wieder. Sie kam zu ihm, drückte sich fest an seine Seite und er wartete darauf, dass es auch ihn ergreifen würde, doch es geschah nicht.

Und da erkannte er die wahre Bedeutung der Worte Aiheus. Der Weg zurück auf Erden war leicht zu bewältigen, aber es gab keinen Weg zurück ins Leben. Seine irdischen Bindungen und damit all die weltlichen Empfindungen waren in dem Moment erloschen, in dem er gestorben war.

Mwezi musste es nicht erklären. Ein kurzer Blick zu seiner Gefährtin genügte, um zu sehen, dass auch sie wusste, dass er nicht bleiben konnte.

»Ich werde euch wiedersehen.«

Mit diesem Versprechen verließ er sie und kehrte zurück zu dem Baum, unter dem seine Reise begonnen hatte. Es geschah nichts, also legte er sich an den Stamm und versuchte zu schlafen. Als er erwachte, sah er eine Gestalt vor sich und er wusste sofort, wem er gegenüberstand.

»Wie ich sehe, verstehst du mich nun, also frage ich dich diesmal: Bist du bereit, mich zu begleiten?«

»Das bin ich.«

So verließen sie gemeinsam diese Welt, doch ihre Geschichte geht noch weiter. Mwezis Freunde wussten nun vom Paradies und seiner Versuchung und mit der Bestätigung die sie hatten, war die Versuchung groß. Als sich die Nachricht weiter verbreitete, fielen dem immer mehr zum Opfer und schließlich brach ein gewaltiges Chaos aus, als sich zahlreiche Tiere das Leben nahmen.

Nur eines wussten sie dabei nicht – Aiheu musste sie alle abweisen, denn ihre Zeit war noch nicht gekommen. Anschließend kehrten sie auf die Welt zurück, allerdings waren sie, so wie Mwezi, nicht mehr richtig lebendig. Das Grauen, das Aiheu sah, war unvorstellbar, aber er kannte dessen Ursprung, also suchte er einen alten Freund auf.

»Mwezi, siehst du das Leid? Obwohl es nicht deine Absicht war, so bist du doch derjenige, der es über meine Kinder gebracht hat und damit bist du der einzige, der es wieder von ihnen nehmen kann.«

»Sagt mir nur, was ich tun soll.«

»Du weißt es bereits.«

Fest entschlossen kehrte Mwezi zurück auf die Welt und suchte jedes verendende Tier auf, das er spürte. Diejenigen, deren Zeit gekommen war, schickte er auf die Reise. Die anderen ließ er wieder soweit genesen, dass sie überleben würden, doch ihre Verletzungen und Alpträume um den geheimnisvollen Löwen sollten sie davon abbringen, es erneut zu versuchen.

Allerdings merkte er bald, dass er zu langsam war, denn mit jedem Tag verwahrlosten weitere Seelen, die er nicht rechtzeitig erreichte. Er musste zu den Lebenden durchdringen, ohne ihnen zu viel zu verraten und bald schon hatte er einen einfachen Plan.

Für jeden, dem er Eintritt in Aiheus Reich gewährte, ließ er am Nachthimmel einen Stern aufleuchten und denen, die er zurückschickte, erklärte er, was dies bedeutete. Durch das Staunen, das die neuartigen Lichter hervorriefen, verbreitete sich die Kunde schnell genug, um dem Chaos Einhalt zu gebieten. Nach vollbrachter Tat kehrte er zu Aiheu zurück, um sich seinem Urteil zu unterziehen.

»Mwezi, du hast deine Schuld beglichen und meine Kinder vor dem Untergang bewahrt. Mein Reich steht dir offen und ich werde tun, was immer nötig ist, damit du dort glücklich bist.«

Bei seinem ersten Besuch hätte er wohl seine Gefährtin und Kinder nachgeholt, ohne dabei über ihr Schicksal nachzudenken, aber nun wusste er, dass sein Weg anderes vorsah: »Ich möchte zurück auf die Welt und verhindern, dass so etwas noch einmal geschieht.«

»Sobald du dir dies auferlegt hast, gibt es keinen Weg zurück.«

»Ich weiß.«

Seitdem widmet sich Mwezi dieser Aufgabe und um dies festzuhalten, ließ Aiheu ein weiteres Licht am Nachthimmel aufleuchten, das das hellste von allen war und von allen gesehen wurde.
 

Der Beginn von Weisheit

Rafikis glasiger Blick wurde wieder klar und er sah der Reihe nach die versammelten Löwen an.

»Isikhathi sifikile! Möge Mwezi über ihren Weg wachen und Aiheu sie willkommen heißen. Wir werden Sarabi vermissen, aber andere auf der anderen Seite haben sie bereits vermisst.«

Dies war die endgültige Bestätigung, der endgültige Abschied. Die Erkenntnis zauberte augenblicklich nachdenkliche Mienen auf die Gesichter der Erwachsenen, die Kinder allerdings wirkten schockiert. Bisher war das alles noch so unwirklich gewesen, aber Rafiki – er konnte nicht lügen! Mheetu und Nuka schauten zwar noch etwas reservierter drein, doch Kopa und Vitani traf es am schlimmsten, denn sie hatten noch nie mit dem Tod zu tun gehabt.

Ohne weitere Worte löste sich die Versammlung nach und nach auf und es bildeten sich die üblichen Gruppen. Freunde und Familien trösteten sich gegenseitig, während einige zu Rafiki gingen, Tama war die erste.

»Ich wollte das alles nicht.«

»Das macht dich nicht schuldig.«

»Aber was soll ich jetzt tun?«

»Stelle dir diese Frage jeden Tags aufs Neue und irgendwann wirst du die Antwort erkennen.«

Kopa wollte Rafiki unbedingt über die Sterne ausfragen, denn seine Geschichte ließ vermuten, dass er mehr darüber wusste als sein Vater, doch er fand am restlichen Nachmittag keine Gelegenheit mehr dazu. Nicht nur weil der pausenlos bedrängt wurde, sondern auch weil seine Eltern ihn die ganze Zeit bei sich behalten wollten.

Es war zwar ein langer Tag, aber auch der neigte sich schließlich dem Ende zu. Irgendwann lagen die Löwen allesamt in der Höhle und jeder einzelne war froh darüber, endlich schlafen zu können. Nur für Kopa war der Tag noch nicht zu Ende.

»Papa, bitte!«

»Kann das denn nicht bist Morgen warten?«

Nein, das konnte nicht warten, er wollte unbedingt mehr über Rafikis Geschichte hören. Der alte Mandrill war am Abend entgegen dem Angebot der Löwen vom Königsfelsen herabgestiegen, um sich einen Platz für die Nacht zu suchen.

Simba sah seinen Sohn an. Er wusste, dass er nicht alleine gehen würde und eigentlich war das Ganze eine nette Gelegenheit, um etwas für sich zu sein. »In Ordnung, reden wir mit ihm.« Er wollte sich gerade zu Nala umdrehen, um ihr von dem Vorhaben zu erzählen, da spürte er die sanfte Berührung ihrer Zunge auf seiner Lefze. »Sei vorsichtig.«

Rafiki zu finden dauerte nicht lange, er saß in eben dem Baum, der ihm auch schon in der Nacht vor den Taufen Obhut geboten hatte. Kopa beobachtete staunend, wie sich der alte Mandrill elegant aus der Krone schwang und fast lautlos vor ihnen landete, wäre da nicht das Rasseln der Kürbisse an seinem Stab gewesen.

Plötzlich drehte Simba den Kopf zur Seite, blieb ansonsten aber weitestgehend entspannt. »Ich glaube, da war was. Rafiki, passt du auf Kopa auf? Dann kann ich nachsehen gehen.«

Rafiki hatte kaum mit dem Kopf genickt, da war Simba schon ins hohe Savannengras gehechtet und verschwunden. Besonders überrascht wirkte der Affe allerdings nicht, als er daraufhin einen interessierten Blick auf Kopa warf.

»Du bringst Sorgen mit, das sehe ich.« Den Stab als Stütze nutzend setzte er sich nieder, dann legte er ihn quer über seine verschränkten Beine. »Ist es das, was dich zu mir geführt hat?«

Kopa schien es überflüssig, zu antworten, also verzichtete er darauf und stellte direkt die Frage, die ihm schon die ganze Zeit auf der Seele brannte: »Ist Sarabi jetzt da oben?«

Rafiki sah hinauf in die Sterne. »Jeder muss seinen eigenen Weg gehen. Wir wissen nur, wo er endet.«

»Aber das dort oben ist doch Aiheus Reich, oder?«

»Nein, das wäre viel zu einfach.«

»Was ist dann da?«

»Das ist uninteressant – viel wichtiger ist doch, was du dort siehst.«

Kopa wartete gespannt auf eine Erklärung, aber als keine folgte, versuchte er selbst sein Glück: »Ähm, jede Menge Sterne, den Mond ... und ab und zu eine Sternschnuppe.«

»Richtig. Was es mit den Sternen und dem Mond auf sich hat, weißt du.«

Es war offensichtlich, dass Rafiki damit seine Geschichte meinte, aber was hatte der Mond damit zu tun? Doch dann machte auf einmal alles Sinn. »Wenn die Sterne die Toten sind, dann ist Mwezi der Mond.«

»Nein, der Mond wurde nach Mwezi benannt und sein Licht soll uns an ihn erinnern. Genauso ist es auch mit den Sternen.«

»Und die Sternschnuppen? Warum sind sie so selten?«

»Du hast es immer noch nicht verstanden, oder? Sie sind nicht selten.«

Rafiki machte eine bedeutsame Pause und da traf Kopa die Erkenntnis wie ein Schlag: »Ich sehe nur sehr wenige.«

Ein ehrliches Lächeln schmückte das Gesicht des Mandrills, als er kurz nickte, um dann wieder hinauf in den Nachhimmel zu sehen.

Doch Kopa wollte es einfach unbedingt wissen: »Was bedeuten sie denn?«

»Jeden Tag sterben viele Tiere, aber du siehst nur sehr wenig davon. Genauso ist es auch mit den Sternen. –«

»Es gibt mehr, als du siehst. Jetzt verstehe ich. Trotzdem, das ist nicht besonders schön.«

»Allerdings. Und deshalb erinnern sie uns daran, was der Tod für diejenigen bedeutet. Das Leiden dieser Welt hat ein Ende und es bleibt nichts zurück als gute, hell leuchtende Erinnerungen – das, woran wir uns so schwertun, uns daran zu erinnern, solange wir noch leben.«

»Ich glaube, das ist gut so«, meinte Kopa und Rafiki legte die Hand auf seinen Rücken, während die beiden weiter gemeinsam zu den Sternen emporblickten.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Übersetzungen
Aiheu: Angebeteter Gott
Nkosi aka Nkosi: Anrede für den König der Löwen
Isikhathi sifikile!: Die Zeit ist gekommen! Komplett anzeigen

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