Zum Inhalt der Seite

Eine zweite Chance

Still a better Lovestory than Twilight
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Familienzusammenführung

Tiron de Varro hatte tagelang nicht wirklich gut geschlafen, was einer Mischung aus einem schlechten Gewissen und Aufregung geschuldet war. Hatte er Narsil nicht eingeredet, sich scheiden zu lassen? Hätte er Hildegard nicht eher damit geholfen, wenn er versucht hätte ihre Ehe zu retten? War da überhaupt etwas zu retten gewesen? Und er hatte keinen dieser Gedanken zu Ende denken können, ohne dass er am Ende bei einem winzigen Detail des Nachmittags bei Hildegard gestrandet war. Ihre Augen. Ihre Haare. Die Spuren der Tränen auf ihren Wangen. Die Sommersprossen, ihr Lachen. Hildegard von Weyersdorf beherrschte seine Träume wie sie das seit Jahren nicht mehr getan hatte und Tiron ertappte sich förmlich dabei, wie er grundlos in die Gegend starrte und sich ein Lächeln auf seine Züge stahl. Und an diesem Morgen hatte er es nicht mehr ausgehalten, hatte sein Pferd satteln lassen und sich eingeredet, dass es ganz normal war, wenn man unangekündigt zu einem Spontanbesuch bei seinem Bruder aufbrach. Die erste Zeit ritt er scharf, so dass der Wind ihm um die Ohren pfiff und der Umhang hinter ihm herflatterte, um sich selbst daran zu hindern, nachzudenken und umzudrehen, aber auf dem letzten Stück ließ er den Hengst locker auf der Straße traben und entdeckte um sich herum allenthalben die ersten Anzeichen, dass es jetzt

wirklich Frühling wurde.
 

Narsil de Varro hatte selbstverständlich versprochen, auch nach der Zeremonie, die seine Ehe offiziell beendet hat, noch zu bleiben und zu helfen, Amaros Geburtstag vorzubereiten. Außerdem sollte Amaro nicht das Gefühl haben, dass sich sein Vater nach dem Pflichttermin gleich wieder aus dem Staub machte, auch wenn Narsil selbst vorgeschlagen hatte, ab sofort auf der Küchenbank zu schlafen. Und auch wenn Narsil kein überragender Handwerker und Hausmann war, machte er sich doch zumindest nützlich. Ein paar Dachpfannen austauschen oder Balken neu vernageln konnte ja selbst der ewig wanderlustige Barde. Und selbst in Küche und Garten half er zumindest nach Kräften, wenn Hildegard ihm sagte, was zu tun war.

Belustigt, aber erfreut über die plötzliche Hilfsbereitschaft ihres geschiedenen Mannes erledigte Hildegard die Reparaturarbeiten in alter Klerikermanier selbst. 'Eine gute Hausfrau hat immer ein paar solcher Sprüche vorbereitet' sagte sie mit einem Zwinkern und übertrug Narsil lieber ein paar Gartenarbeiten. Amaro zog es mal wieder vor den Vormittag alleine zu verbringen, was seine Eltern ihm nicht verübelten. Die Scheidung ging ihm Nahe und die Veränderungen nahmen ihn sehr mit. Er hatte schweren Herzens geholfen das alte Gästezimmer wieder in Schuss zu bringen, damit sein Vater nach der Scheidung dort einziehen konnte und nicht wie ursprünglich befürchtet auf der Küchenbank schlafen musste, doch danach hatte er sich wieder zurückgezogen um all das zu verarbeiten.

Seine Eltern hofften derweil, dass er sich bis zu seinem Geburtstag in der nächsten Woche soweit gefasst hatte, dass er trotz allem einen schönen Tag würde verbringen können.

Um unangenehme Überraschungsmomente auf Amaros Geburtstagsfeier zu vermeiden, hatte das frisch geschiedene Paar sich dazu entschieden die Geburtstagsgäste wenigstens vorab zu informieren.

Am Nachmittag wollten sie gemeinsam ein paar Briefe aufsetzen, sowohl an die Geburtstagsgäste, als auch an andere ihnen Nahestehende und Freunde.
 

Tiron de Varro hatte unterwegs nicht viel Pausen gemacht, nur eine, um eine Kleinigkeit aus dem Brotbeutel zu essen und dem Pferd Gelegenheit zu geben, am Wegrand ein paar grüne Triebe zu knabbern und etwas zu saufen. Entsprechend schnell hatte er die Strecke bis zu Hildegards und Narsils Haus zurückgelegt und kam mit klappernden Hufen auf den Hof geritten. Hildegard de Varro, gerade auf dem Dach ihres Hauses befindlich, sah Tiron zuerst und rief etwas erstaunt zu ihrem geschiedenen Gatten in den Garten hinunter: „Narsil? Dein Bruder ist gerade auf den Hof geritten.“

„Echt? Moment, ich bin sofort da!“ Narsil war nicht allzu böse darum, das Unkraut Unkraut sein zu lassen, warf die kleine Gartenharke mit Schwung ins nächste Beet und wischte sich mit dem halbwegs erdfreien Handrücken eine Strähne aus dem Gesicht, die dem Zopfband im Laufe des Vormittages entkommen war. Dann war er auch schon auf dem Weg ums Haus herum und auf den Hof, wo Tiron mittlerweile abgestiegen war und sich wunderte, wieso er Hildegards Stimme von oben gehört hatte, die Klerikerin selbst aber auf der anderen Seite des Dachfirstes nicht sehen konnte. Und Narsil nutzte die Gelegenheit auch gleich, seinen Bruder herzlich zu umarmen und sich dabei die Hände an dessen Wams abzuwischen - mit einem breiten Grinsen, versteht sich.
 

„Narsil schön dich zu.... sag mal, hackt's?!“ Wurde dieser verdammte Barde eigentlich nie erwachsen? Überhaupt, das war ein gutes Wams, auch wenn Narsil das sicher anders sehen würde, weil bei diesem gute Sachen bunt und mit aufwendigen Stickereien versehen sein mussten, um sich als gut zu qualifizieren. Aber es war ein weicher Wollstoff und eine ordentliche Farbe und jetzt hatte er zwei interessante Erdstreifen auf den Schultern. „Kannst du dir die Hände nicht vorher abwaschen wie jeder normale Mensch? Da steht eine Regentonne, verdammt“ schimpfte der Lord, auch wenn er seinem Bruder, wenn er so breit Grinste, nicht wirklich böse sein konnte. Es war ja nur ein bisschen Erde.
 

Hildegard erwischte sich derweil bei der Frage, ob es in Ordnung wäre ihren Schwager, ehemaligen Schwager... Tiron in Arbeitskleidung begrüßen zu können. Selbstverständlich hatte sie trotz der Fähigkeit per Klerikerzauber auf einer Treppe aus Luft auf das Dach des Hauses steigen zu können darauf verzichtet es ausgerechnet in ihrem besten Kleid zu tun. Sie musste nicht viel tun außer ein paar Zauber dort oben zu sprechen, hatte aber trotzdem vorsichtshalber zu einer alten Hose mit Tunika gegriffen. Die einzigen Gründe für sie heute noch nach ihrer alten Reiseausrüstung zu greifen, waren solche Arbeiten.

Sie wischte sich nervös und völlig unnötig die Hände an der Hose ab und schritt dann erhobenen Hauptes über das Dach. Wenn sie es nur mit genug Selbstverständlichkeit täte, würde Tiron sicherlich nicht groß über ihren unpassenden Aufzug nachdenken, glaubte sie. So ging sie bis zum gegenüberliegenden Dachfirst und winkte dann aus einem Impuls heraus doch ganz undamenhaft zu den Männern am Boden herunter.

„Hallo Tiron! Was verschafft uns die Ehre? Ach warte, ich komme runter, dann müsst ihr nicht so laut rufen.“
 

„Hildegard!“ nachdem Narsil ihn so alles andere als förmlich begrüßt hatte, störte sich Tiron überhaupt nicht an der Kleidung, die Hildegard trug. Auch wenn er der Meinung war, dass Kleider mit schwingenden Röcken ihr gut zu Gesicht standen, hatte er sie doch gerade in solcher Reisekleidung kennen gelernt und winkte so gut gelaunt aufs Dach hinauf, wenn auch ein bisschen besorgt, wie sie da jetzt herunter kommen wollte. Und die Ablenkung kam seinem Bruder, der heute zum Frühstück offenbar einen Narren gehabt hatte, gerade recht, um brav zur Regentonne zu schleichen und Tiron von da aus nass zu spritzen. Wenn diser schon so Oberlehrerhaft auf das Wasser verwies...
 

Nur wenige Momente später war Hildegard dank göttlicher Magie wieder auf dem Boden angelangt und fragte die Männer „Sagt mal, was tut ihr da?“ Sie schaute zweifelnd und verschränkte die Arme über der Brust. „Narsil, du benimmst dich wie ein Kind heute.“

Tiron reagierte gerade noch schnell genug. Anstatt sich auf seinen Bruder zu stürzen und diesen in die Regentonne zu stecken, verschränkte er die Arme hinter dem Rücken und während seine Augen Narsil deutlich sagten, dass das ein nasses Nachspiel haben würde, nickte er nur sehr zustimmend zu Hildegards Feststellung. Narsil dagegen lachte, wischte sich die mittlerweile sauberen Hände an der Hose trocken und meinte nur achselzuckend "Ich habe ein bisschen was nachzuholen, oder? Ich durfte meinen allerliebsten Bruder immerhin die letzten Jahre nicht ärgern. Und schau, was aus ihm deswegen geworden ist!"

Hildegard de Varro schüttelte nur den Kopf und sagte halblaut, mehr zu sich selbst „Und dieser Mann hat einen fast fünfzehnjährigen Sohn...“ Sie seufzte und ließ die Arme locker. „In Ordnung Jungs, dann schicke ich euch gleich mal einen gleichaltrigen Spielgefährten raus. Ich wollte sowieso gleich anfangen das Mittagessen vorzubereiten. Du isst doch mit, nicht wahr Tiron?“ sie sah ihn fragend an.
 

„Was aus ihm... na warte, Brüderchen.“ Vielleicht sollte er Hildegard doch bitten, Amaro im Haus zu lassen, das würde hier gleich nicht jugendfrei werden. „Ähm, nur, wenn es keine Umstände macht.“ meinte er dann höflich wie eh und je. Immerhin war er unangekündigt erschienen und hatte fast damit gerechnet, den Hof erst nach der Mittagszeit zu erreichen.

„Für dich mitzukochen? Das macht mir keineswegs Umstände“ Hildegard lächelte schwach. „Gibt es denn einen bestimmten Grund für deinen Besuch? Oder wolltest du einfach deine Familie so bald wiedersehen? Ich hoffe nur, es treiben dich keine schlechten Nachrichten her. Ich fürchte mehr möchte ich Amaro zurzeit nicht zumuten, deshalb frage ich. Aber so oder so“, sie tat einen Schritt vor und gab Tiron zwei flüchtige Begrüßungsküsse auf die Wangen „willkommen Tiron. Ich denke du bist bereits von Narsil ins Bild gesetzt worden? “ Sie überschlug abermals die Arme. „Ansonsten wird er es sicher jetzt tun, nicht wahr?“ Sie schaute zu Narsil herüber und nickte ihm zu, bevor sie den Hof verließ und ins Haus ging.

Tiron de Varro hatte kaum Zeit Hildegard zu versichern, dass er nur gekommen war um zu sehen, wie es ihnen geht, dass es keine schlechten Neuigkeiten gäbe und dass Narsil ihn auch schon in Kenntnis gesetzt hatte, bevor Hildegard im Haus verschwand und die beiden Brüder somit ohne Aufsicht ließ. Das ebenfalls unbeaufsichtigte Pferd knabberte währenddessen ungerührt weiter den Blumenkasten leer, während Narsil Tirons Blick, der zwischen der Regentonne und dem Barden hin und her ging, durchaus bemerkt hatte. Wie auf ein geheimes Kommando warf sich der Barde herum und floh, genau in dem Moment, in dem auch Tiron losstürmte. Es ist eben nicht leicht, seinen Zwilling zu überraschen, auch nach 15 Jahren nicht. "Das kannst du nicht machen. Du musst dich benehmen! Du bist Lord", rief Narsil noch lachend, während er um die erste Ecke des Hauses verschwand.
 

Hildegard verschwand etwa zeitgleich in ihrem Schlafzimmer um sich schnell umzuziehen und dann am Zimmer ihres Sohnes anzuklopfen. „Amaro, hörst du mich? Es ist Besuch gekommen, dein Onkel Tiron ist da. Ich werde jetzt das Mittagessen für uns vorbereiten.“ sagte sie und verzog sich in ihrem deutlich eleganterem Leinenkleid mit passender Schürze in die Küche um ein Mittagessen für sie alle vorzubereiten.

Amaro derweil entschied sich ein braver Junge zu sein und seinen Onkel freundlich zu begrüßen, obwohl ihm gar nicht so recht nach Gesellschaft war zurzeit. Außerdem erinnerte die Ankunft seines Onkels ihn nur an das letzte Treffen vor kurzer Zeit, als sie alle noch an Aufbruch und Verbesserung glaubten. Und das nicht im Sinne der Scheidung seiner Eltern. Aber Amaro lastete diese unerwartete Entwicklung nicht seinem Onkel an, er wollte nur einfach nicht daran erinnert werden.

Langsam strich er sich die Jacke glatt, warf sie sich über und verließ sein Zimmer. Auf der Suche nach seinem Onkel steuerte er zuerst die gute Stube an und fragte dann doch seine Mutter in der Küche nach dem Verbleib seines Onkels, den er im Haus nicht finden konnte.
 

„Oh, die beiden sind draußen Amaro! Warte, ich lass dich eben durch die Küchentür raus“ Hildegard unterbrach kurz ihre Arbeit um die Tür für ihren Sohn zu öffnen und ihn vorbeizulassen. Dabei erhaschte sie einen Blick auf die erwachsenen Männer, die wie kleine Jungs um das Haus herumtobten. Sie blieb ungläubig wie angewurzelt in der Tür stehen, bis Amaro sich an ihr vorbeidrängte. „Was ist denn los Mutter? Lass mich mal sehen..“
 

Die Zeiten, in denen Narsil de Varro regelmäßig um sein Leben rennen musste, weil man ihn im falschen Schlafzimmer erwischt hatte, waren vorbei. Selbst zu den Zeiten, in denen er edle Jungfrauen verführt hatte, hatte man ihn selten in flagranti erwischt und mittlerweile war er verheiratet - gewesen - und hatte eher eine hübsche Schankmaid oder eine ansehnliche Witwe beglückt. Und er hatte nicht damit gerechnet, dass Tiron an der Akademie eben auch andere Aufgaben hatte als einen Stuhl warm zu halten. Der Anblick, der sich Amaro bot war also mittlerweile keine Jagd mehr, sondern ein brüderliches Gerangel, bei dem es Tirons erklärtes Ziel war, den zappelnden und sich windenden Narsil zumindest mehr oder weniger weit in die Regentonne zu befördern, während Narsil ganz nach dem Miltonschen Satz "What -if not victory - is still revenge" versuchte, das zu verhindern oder Tiron dabei wenigstens ebenfalls klatschnass zu bekommen. Das alles unter freundlichsten Beschimpfungen, wer ein Windbeutel war und wer einen Besenstiel im Hintern hätte.
 

Plötzlich prustete Hildegard de Varro und hielt sich die Hände vor den Mund, um nicht schallend loszulachen. Das Küchenmesser entglitt ihren Händen und vor Anstrengung liefen ihr Tränen die Wange herunter. Aus irgendeinem Grund schien ihr dieses Schauspiel auf einmal das lustigste zu sein, dass sie jemals zu Gesicht bekommen hatte. Als ihr Sohn sich dann noch fragend nach ihr umdrehte, verlor sie endgültig die Beherrschung und lachte laut los, bis sie nach Luft schnappen musste.

Amaro kam sich vor wie der einzige erwachsene Mensch in diesem ganzen Haus.

Tiron de Varro schaute zur Tür, als Hildegard anfing zu lachen, drückte dann Narsils Kopf einmal mit Nachdruck unter Wasser und ließ dann los, um seinem Neffen gutgelaunt und triefend zu winken. "Hallo Amaro." Was sagte man jetzt? Es ist nicht so, wie es aussieht, wir haben nicht den Verstand verloren? Oder sowas wie tut mir leid, dass deine Eltern sich scheiden lassen? - Außer, dass nicht?! Zum Glück erlaubten ihm zwei Hände voll Wasser von der Seite einfach nur entrüstet zu gucken, bevor Narsil sich den Zopf auswrang und Tiron kameradschaftlich auf die Schulter schlug. "Verdammt will ich sein, wieso bist du so schnell?"
 

Amaro de Varro zog eine Augenbraue hoch, winkte seinem Onkel ein wenig zögerlich zurück und drehte dann auf dem Absatz um und ging zurück ins Haus. Er hatte seine Schuldigkeit getan und seinen Onkel begrüßt, dachte er. Wenn dieser und seine Eltern meinten nun gemeinschaftlichen den Verstand verlieren zu müssen, dann war es weder seine Aufgabe sie daran zu hindern, noch sein Wunsch irgendwie daran teilzuhaben. Sollten sie doch tun was sie wollten. Das taten sie doch eh immer. Ihn fragte doch sonst auch keiner. Also ging er zurück in sein Zimmer, zog die Tür hinter sich zu und setzte sich mit überschlagenen Beinen auf sein Bett und schlug irgendein Buch auf.

'Theorie der religiösen Praktiken verschiedener Völker und ihr Ursprung, Teil 2... oh Mutter' Amaro seufzte und schlug das Buch wieder zu. Nach wissenschaftlicher Lektüre stand ihm nun wirklich nicht der Kopf. Irgendetwas unterhaltsames musste her.
 

Dabei waren die Zwillinge doch gerade sooo unterhaltsam. Und nass. Ziemlich nass. Noch immer dämlich grinsend und leise lachend kamen die beiden auf die Küche zu, aber Tiron bremste seinen Bruder knapp vor der Tür. So konnte man doch nicht ins Haus. "Hildegard, kannst du uns ein Handtuch oder sowas rausgeben, bitte?" - "und zwei trockene Hemden, ja?" Setzte Narsil hinzu. Narsils Hemden würden Tiron schon noch irgendwie passen. Auch wenn es seltsam war, die beiden zum ersten Mal nach all der Zeit direkt nebeneinander zu sehen. Vor 15 Jahren hatte es gereicht, dass Narsil sich die Haare abschnitt, um wochenlang als Tiron durchzugehen, während dieser mit ungeschnittenen Haaren selbst Hildegard eine Weile hatte täuschen können. Das würde heute nicht mehr funktionieren, dafür hatten die beiden de Varro Brüder zu unterschiedliche Leben gelebt. Trotzdem fielen die Gemeinsamkeiten ins Auge, die Farbe der Augen, das Blitzen darin, wenn sie beide lachten, die Linie des Haaransatzes, der Knochenbau im Gesicht... und die Tatsache, dass beide blinzeln mussten, weil ihnen das Wasser in die Augen lief.
 

Noch immer lachend nickte Hildegard den Brüdern zu und machte sich auf den Weg, um zwei von Narsils Hemden und einige trockene Tücher zu holen. Auf dem Rückweg hatte sie sich bereits wieder einigermaßen im Griff, wischte sich noch ein paar Tränen aus den leuchtenden Augen und reichte den Männern die Tücher durch die geöffnete Küchentür an. „Hier Jungs. Und die nassen Sachen werft ihr am besten direkt hier rein.“ und sie schob einen Waschbottich vor, den sie hinter sich her bis zur Küche gezogen hatte. „Ich habe zwei trockene Hemden für euch hier, ihr könnt euch aber auch gern im Bad komplett umziehen, wenn ihr wollt. Nicht, dass sich noch einer von euch vor Amaros Geburtstag erkältet. Es wird zwar Frühling, aber warm ist es noch lange nicht.“
 

Tiron de Varro würde schon allein deshalb das Bad vorziehen, weil er nicht vorhatte, sich ausgerechnet vor Hildegard frei zu machen. Das fühlte sich nicht wirklich richtig an. "Danke dir. Wir sind gleich zurück." Notdürftig trocknete er sich die Haare ab, klemmte sich dann das trockene Hemd und das Handtuch unter den Arm und verschwand, gefolgt von Narsil, im Bad. Kurz bevor die Tür zuging, hörte man ihn noch sticheln. "wie, wolltest du nicht die Muskeln spielen lassen..." und ein paar Atemzüge später "Du lieber Himmel, Tiron! Was hast du denn... dreh dich mal um. Meine Güte."
 

Still lächelnd schaute Hildegard ihnen nach, zutiefst dankbar für diese Aufheiterung, die sie aus ihrer schwermütigen Stimmung herausholte. Dieses heiter-unbedarfte war es gewesen, was sie an ihrem Mann immer geliebt und bewundert hatte. Ebenso an seinem Bruder, der schon als sie ihn kennen lernte ein ausgesprochen ernster Bursche war und dennoch so liebenswert treuherzig...

Doch was sie glaubte aus Richtung des Bades zu hören, ließ sie kurz stutzen. Ihr Mann, Ex-Mann, klangt ungewöhnlich besorgt. Nach all diesen Jahren kannte sie ihn gut genug, um den Tonfall auch aus einigen Metern Entfernung als einen ernsten identifizieren zu können. Langsam ging sie den Männern nach zum Bad und klopfte zurückhaltend an die Tür. „Ist alles in Ordnung bei euch? Soll ich euch noch etwas holen oder reinreichen?“
 

"Nein!" Wenn irgendetwas Hildegard noch deutlicher machen konnte, dass es ernst war als Narsils Tonfall, dann die Tatsache, dass dieses Nein unisono von beiden kam und nach einem kurzen Moment hinter der geschlossenen Tür geschäftiges Gemurmel einsetzte. Was immer los war, die "Jungs" wollten das offenbar unter sich regeln.

Erschrocken zog Hildegard die Hände zurück und rief nach dem ersten Schreckmoment gegen die geschlossene Tür „In Ordnung.... Aber wenn ihr irgendetwas braucht... ich bin in der Küche und mache euer Essen. Ruft einfach nach mir, okay?“ Besorgt und nachdenklich zog sie sich zurück, nur um festzustellen, dass sie den Topf auf dem Herdfeuer hatte stehen lassen, als ihr das Messer aus der Hand gefallen war. Fluchend zog sie ihn herunter und hoffte noch irgendetwas retten zu können. Im schlimmsten Falle müsste sie wohl wieder auf Magie zurückgreifen und ein völlig unappetitliches, aber nahrhaftes Essen auf den Tisch zaubern. Nein, soweit wollte sie es nicht kommen lassen! Sie setzte alles daran ihren drei de Varro Männern im Haus ein möglichst wohlschmeckendes Gericht zu zaubern, völlig egal was sie dafür noch aus den Schränken hervorholen musste. Vielleicht würde ein bisschen Rotweinsoße helfen, und ein paar Gewürze hier und da... den angebrannten Teil würde sie wegtun müssen, aber sicherlich gäbe es dafür auch Ersatz. Die ehemalige Klerikerin legte sich kräftig ins Zeug und nach einer Weile dampfte ein Gericht vor ihren Augen, dessen sie sich nicht zu schämen brauchte. Voller Erwartung holte sie ein paar Teller um das Essen anzurichten.
 

Tiron de Varro streifte sich, nachdem er seinen Bruder endlich halbwegs davon überzeugt hatte, dass die alten Narben weder lebensbedrohlich waren, noch auf eine Dummheit zurückgingen noch zur Erheiterung der Familie herumgezeigt werden mussten, endlich mit einem Seufzen das Hemd über den Kopf. Dass Narsil mittlerweile seinen Humor wiedergefunden hatte und ihm erzählte, mit einem hübschen Wams dazu sähe er sogar aus wie ein Mensch, überhörte er schlichtweg, fuhr sich nochmal durch die Haare und ging dann in die Küche, wo er ungefragt beim Decken des Tisches half. Erst hinter ihm trat Narsil ein, lehnte sich lässig in den Türrahmen und sah, noch immer ein bisschen blass um die Nase, den beiden entspannt beim Arbeiten zu, bevor er nach seinem Sohn rief "Amaro, Essen!"
 

Die unerwartete Hilfe nahm Hildegard dankbar an und zu zweit hatten sie den Tisch zügig gedeckt und das Essen auf dem Tisch. Sie konnte aber nicht umhin Tiron wenigstens kurz zu fragen, ob wirklich alles bei ihnen in Ordnung sei, was dieser mit einem Nicken bejahte. Sie nahm es hin und bat ihren Mann, geschiedenen Mann, der dort so lässig in der Tür lehnte freundlich aber keck doch wenigstens eine Flasche Wein zu holen, wenn er schon den Weg bis zum Zimmer seines Sohnes nicht fände. Amaro hatte indes sein Buch beiseite gelegt und stand auf um dem Ruf seines Vaters zum Essen nachzukommen.

Narsil de Varro verbeugte sich ein bisschen spöttisch "Wie ihr wünscht..." Zwinkerte Hilde aber dabei zu und klopfte auf dem Weg zur Kellertreppe nochmal im Vorbeigehen bei Amaro, um sicherzugehen, dass der Junge ihn auch gehört hatte "Hopp, wir benehmen uns jetzt auch wieder."
 

„Danke für deinen spontanen Besuch Tiron, was auch immer dich dazu verleitet haben mag.“ Sie sah ihn freundlich an, als sie die letzten Teller am Esstisch platziert hatte. „Du bist das Beste, was mir in diesen letzten Tagen passiert ist. Was uns passiert ist. Narsil und ich kommen schon irgendwie klar, auch wenn es... so seltsam ist. Aber Amaro zieht sich seit der Scheidung nur noch mehr zurück und die Stimmung war schon sehr gedrückt. „ Sie seufzte. „Ich hoffe wir haben ihm damit nicht endgültig den Geburtstag ruiniert.“

Er nickte mitfühlend. „Ja, für Amaro ist das sicher nicht leicht. Ich wollte vor allem sehen, wie es euch geht. Und ich muss noch ein bisschen Papierkram mit Narsil regeln.“ Einen Moment stand er ein bisschen unsicher neben dem Tisch, dann schien er sich darauf zu besinnen, dass er auch in Narsils Hemd, dass an den Schultern ein bisschen zu eng saß, immer noch Lord de Varro war und setzte sich hin. „Das sieht lecker aus“ lobte er sogar das etwas zusammengewürfelte Essen.

„Danke Tiron“ Hildegard lächelte etwas unbeholfen. „Wie es uns geht..“ sie schluckte „ Ich wünschte ich könnte offen reden. Aber dies ist weder der richtige Moment, noch der richtige Ort dafür“. Sie senkte den Blick auf den Tisch und ihre Hände, die darauf zu liegen kamen. Sie betrachtete abwesend ihre Hände, ihre Finger, die so unberingt waren. Ihre eigenen Hände wirkten fremd auf sie. So stand sie abwesend am Tisch, bis ihr Sohn sie aus ihren Gedanken hochschreckte als er das Zimmer betrat und sich auf seinem Stammplatz niederließ.

„Vater sagte etwas von Essen?.. Hmm, riecht nicht schlecht Mutter.“ Er griff nach dem Essen um sich selbst zu bedienen, doch seine Mutter klopfte ihm missbilligend auf die Hände. „Finger weg, Amaro! Warte bitte, bis dein Vater mit dem Wein da ist. Und lass deinen Onkel nicht glauben wir hätten dir gar kein Benehmen beigebracht. Lord de Varro ist unser Gast, was sagt dir das Amaro?“

Der Junge murmelte vor sich hin, zog aber die Hände zurück und wartete ab.
 

Narsil de Varro ließ glücklicherweise nicht zu lange auf sich warten, entkorkte die Weinflasche und stellte sie schwungvoll auf den Tisch, bevor er sich elegant auf seinen Platz gleiten ließ. Einen Moment schaute er ob der seltsamen Stille zwischen Tiron und Hildegard zwischen den beiden hin und her, zuckte dann aber die Schultern und schenkte reihum Wein ein. Dann bekam Tiron, als Gast, das erste Stück Braten, was Narsil allerdings mit einem freundlichen "Hier, du bist unser Versuchskaninchen", erklärte.

Was seine ehemals angetraute Ehefrau mit einem gespielten Schmollmund quittierte. „Soviel hältst du also von meinen Kochkünsten, ehemals geliebter Göttergatte? Möchtest du vielleicht das Geburtstagsessen für unseren Sohn vorbereiten?“ Sie zwinkerte ihn mit übertriebenem Augenaufschlag an.

„Nicht schon wieder, bitte“ kommentierte Amaro diese Unterhaltung mit einem lauten Seufzen, aus Angst, dass seine Eltern schon wieder einen Streit vom Zaun brechen würden.

„Keine Sorge Amaro, wir wollten gar nicht streiten“ gab seine Mutter in freundschaftlichem Ton zurück, als hätte sie seine Gedanken geahnt.

„Nichts für ungut, Hildegard, aber ich glaube, ich bin lieber Versuchskaninchen als Staatsbesuch“ Tiron griff beherzt nach dem Besteck, schmunzelte über den kleinen Schlagabtausch zwischen Hildegard und Narsil und meinte nur „Na, es sind weder Maden noch Bohnen mit Speck, es wird also schon schmecken.“ Und Augenblicke später nickte er kauend sein Einverständnis zu dem Braten.
 

„Genau, niemand will streiten und garantiert will auch niemand, dass ich koche an deinem Geburtstag. Aber wenn du brav warst, bringt Lady Makam vielleicht Pflaumenkuchen mit.“ sagte Narsil zu seinem Sohn. Was Hildegard wiederum veranlasste ihr Besteck niederzulegen und Narsil fragend anzusehen. „Die Makams kommen vorbei? Ich hatte nur mit Leopold und Adalgund samt Familien gerechnet. Ohje... Narsil, ich fürchte wir müssen schleunigst ein paar Briefe aussenden. Und ich muss ein wenig großzügiger kalkulieren um alle bewirten zu können... Gibt es vielleicht noch etwas, über dass du mich gern informieren würdest?“
 

Oh hups, hatte er das vergessen zu erwähnen? Oder hatte er jetzt am Ende sogar die Überraschung verdorben? Ein bisschen kleinlaut schaute der Ex-Ehegatte ja schon, aber dann versuchte er es wie immer mit einem gewinnenden Lächeln. „Na, ich dachte, es wird Zeit, dass Amaro auch den Rest der Familie kennen lernt.“ Was sicher nicht die Makams waren, aber vielleicht achtete da ja niemand drauf. „Tulander und Elena kommen auch und ich habe Samuel eingeladen...“ um Amaro für sich zu gewinnen, setzte er an seinen Sohn gerichtet noch hinzu „also mehr Gäste gleich mehr Kuchen und mehr Geschenke.“
 

Hildegard de Varro fasste sich an die Stirn. Wie sie DAS logistisch regeln sollte, war ihr gerade fraglich. Ja, sie freute sich auch über die lieben Freunde die unerwarteterweise dazukommen wollten, sogar über Narsils jüngeren Bruder, zu dem sie keinen wirklichen Kontakt gehabt hatten, vergleichbar zu Narsils Zwillingsbruder Tiron. Aber... Hildegard seufzte leise. Glücklicherweise hatte Narsil sich gerade noch rechtzeitig verplappert, so dass sie wenigstens einige Tage Zeit zur Vorbereitung hätten.
 

Amaro schaute nur fragend zwischen einem Ende des Tisches zum anderen hin- und her und wusste nicht so recht, was nun vorging und von ihm erwartet wurde. Sollte er sich freuen? Wenn ja, wie? Seine Eltern hatten sich vor gerade einmal zwei Tagen scheiden lassen, wie bei allen Göttern sollte er jetzt schon zu einer solchen Riesenfeier stehen?? Tiron de Varro beobachtete aufmerksam Hildegards Reaktion. Es sah Narsil ähnlich, in seinem Überschwang seine Ex-Frau mit solchen Einladungen zu überfahren und er hatte einen Moment befürchtet, Hildegard würde das ein bisschen zu viel, vor allem, wenn auch noch Narsils Seite der Familie dazu kam, die zumindest teilweise die letzten 15 Jahre dieses Haus gemieden hatte, als hätten seine Bewohner Aussatz. Aber Hildegard schien sich ernsthaft zu freuen und er zweifelte nicht daran, dass sie mit ein paar Gästen mehr auch zurecht kommen würde. "Wenn euch das zu viel wird, kann ich die Meute auch zurückpfeifen", bot er trotzdem an, vor allem, nachdem er Amaros Gesicht gesehen hatte.
 

Nun war es an den Erwachsenen Amaro fragend anzustarren, der ein wenig überfordert war und nicht wusste, wie er reagieren sollte. „ Ich... eh... ich weiß nicht so recht. Ich weiß diese Überraschung war gut gemeint Vater und es freut mich wirklich, aber... meint ihr nicht, dass es irgendwie komisch ist so ein großes Fest ausgerechnet dann zu planen, wenn ihr euch gerade habt scheiden lassen?? Ich mein' ja nur...“

Seine Mutter blickte traurig auf den Tisch herab und überlegte, wie man diese empfindliche Situation noch ins Lot würde bringen können. Die Gäste auszuladen kam gar nicht in Frage und sie wusste, dass Amaro sich schon freuen würde, wenn sie einmal hier wären. Ihr Sohn war einfach unter Menschen in seinem Element, das wussten sie beide, Narsil und sie. Deshalb hatte er wohl auch die zusätzlichen Gäste eingeladen. Aber sie wollte ihn auch nicht überfordern.

„Das eine hat mit dem anderen wenig zu tun.“ merkte Tiron an „Tulander und Elena werden sicher früher oder später ohnehin vorbeischauen, schon allein um zu sehen, wie es euch geht. Und ich denke, das gilt auch für Barenor. Aber es ist natürlich dein Geburtstag und deine Entscheidung.“
 

„Mein Schatz, wir wollen nicht, dass du zu kurz kommst, nur wegen unserer Entscheidung uns scheiden zu lassen. Ich weiß, dass diese neue Situation dir unangenehm ist. Glaube mir, uns ist es auch nicht leicht gefallen. Aber wir hielten es für das beste und tun das nach wie vor.“ Dabei sah sie zu ihrem geschiedenen Mann herüber. „Wenn es dir damit besser geht keine Feier zu haben, oder eine kleinere Feier, dann ist das völlig in Ordnung Amaro. Womit immer du dich besser fühlst Liebling. Das ist dein Tag und wir wollen ihn nicht kaputt machen, auch wenn wir in deinen Augen sicherlich schon einiges zerstört haben.“ Und dabei sah sie ihrem Sohn ins Gesicht. „Denk einfach darüber nach.“

Amaro nickte betreten und dachte kurz über die Worte seiner Mutter nach. Was wollte er denn, fragte er sich? Glückliche Eltern und eine fröhliche Familie. Amaro seufzte. Was könnte er denn bekommen, fragte er sich dann. Die Entscheidung seiner Eltern war nicht rückgängig zu machen, aber jetzt immerhin fragten sie nach seiner Meinung. Und über seinen Geburtstag könnte er bestimmen. Wollte er wirklich, dass alles ins Wasser fiel um seiner schlechten Laune Ausdruck zu verleihen? Irgendwie schon... aber seinen letzten unbekannten Onkel kennen zu lernen und seine lang vermissten Tanten wiederzusehen war trotzdem eine Vorstellung die ihn ungemein freute. Nein, eine Feier wäre schon in Ordnung. Aber bitte etwas ohne großes Tamtam. Entspannt und ruhig, das würde er sich wünschen, kein großes Trara diesmal bitte. Das wäre ihm wirklich unangenehm und erschien ihm unangebracht. Und genau so teilte er seine Entscheidung mit, in klaren, ruhigen Worten.

Seine Mutter nickte verständnisvoll. Manchmal klang ihr Sohn so unheimlich erwachsen, dachte sie. Narsil de Varro nickte zustimmend "Ohne großes Tamtam, versprochen. Und vor allem ohne Streit, Amaro", versichert er seinem Sohn und warf ein kurzes, warmes Lächeln zu Hildegard hinüber. Beide Elternteile sahen sich an und waren sich ohne Worte einig. Sie legte wie zur Zustimmung ihre Hand auf seine, um mit dieser Geste zu versichern, dass sie verstanden hätte. Dann nahm sie ihren Teller und brachte ihn wortlos in die Küche.
 

Tiron de Varro schob seinen Teller zurück und nickte Narsil zu. "Hast du dann einen Moment, Narsil. Dann können wir den Papierkram erledigen." Dass das die beste Gelegenheit war, Narsil abzugreifen, ahnte Tiron schon. Sein Bruder würde sicher ohnehin versuchen, sich vor dem Spülen zu drücken. "Wir sind gleich wieder da, Hildegard. Und helfen dann mit dem Abwasch, ja?", rief er noch in die Küche, bevor er aufstand und Narsil den Vortritt ins Arbeitszimmer ließ.

Hildegard ignorierte die Männer, setzte ihren Teller in der Küche ab, atmete einmal tief durch und ließ den Moment vorbeiziehen, in dem sie wehmütig daran dachte wie alt ihr kleiner Junge jetzt schon wurde. Viel zu alt, dachte sie. Beinahe schon erwachsen.

Nur an Amaro hatte wieder keiner gedacht, der plötzlich allein am Tisch sitzen blieb. Aber es machte ihm nichts aus. Er wartete noch einen Moment ab, bevor er seiner Mutter in die Küche folgte und ihr beim Abwasch zur Hand ging, wofür er einen feuchten Kuss von ihr in Empfang nehmen musste.
 

Die beiden Männer brauchten tatsächlich nicht lange, den entsprechenden Text hatte Tiron seinem Bruder schnell zweimal in die Feder diktiert und durch beide Unterschriften und das Siegel der Familie beglaubigt. Schon eine knappe Viertelstunde später kamen die beiden also in brüderlicher Eintracht wieder in die Küche und schienen gar nicht so unglücklich, dass der Abwasch schon erledigt war. Ein kurzer Blickwechsel zwischen den Brüdern, dann legte Narsil seinem Sohn die Hand auf die Schulter. "Ich muss mal kurz mit dir reden."

Amaro sah seinen Vater fragend an „Ja? Was ist denn?“

Hildegard räumte derweil das gespülte Geschirr wieder weg. „Nichts wirklich wichtiges“ die Aussage brachte ihm einen strengen Blick von seinem Bruder ein „Ich wollte dir nur schnell das hier zum lesen geben. Aber nicht mit Spülwasserhänden“ bevor Tiron einen Schlaganfall bekam „und am besten drüben am Tisch.“
 

Tiron de Varro ließ Narsil und Amaro durch in die Stube und reichte Hildegard dann das gespülte Geschirr an, da er ja beim Wegräumen keine große Hilfe wäre, wenn er sich nicht in der Küche auskennt.

Diese bedankte sich artig und sah ihren vormaligen Schwager dann wortlos an. Ihr Gesicht verriet mit keiner Miene was sie gerade dachte, aber dann sah sie kurz in Richtung der Stube und richtete dann eine Frage an Tiron. „Magst du mir sagen um was für einen geheimnisvollen Text es hier geht?“
 

Amaro nahm das Papier entgegen, nachdem er sich die Hände an seiner Hose abgetrocknet hatte und ging der Anweisung folgend zum Tisch um dort zu Lesen. Er überflog den Text, runzelte die Stirn und las noch einmal. Dann sprach er seinen Vater an „Liebster Vater, wärst du so nett mir den Inhalt dieses Schreibens kurz zu erläutern?“

„Ähm...“ in offizielle Schreiben erläutern war Narsil nicht so gut. Eigentlich wollte er so etwas sagen wie: es bedeutet, dass du jetzt Junker bist und die Leute hauen darfst, die was anderes behaupten, aber er war sich nicht so ganz sicher, ob Tiron außer Hörweite war. „Kurz zusammengefasst heißt es, dass du Tirons rechtmäßiger Erbe bist. Das Gut, der Titel, alles.“

„Aha.“ Antwortete Amaro nur sehr kurz angebunden. Dann setzte er ein fragendes „Warum?“ dahinter. Als sein Vater ihm nicht sofort antwortete, zeigte sich eine gewisse Tendenz zu einem eigenartigen Humor bei seinem Sohn.“ Warte Vater, lass mich zusammenfassen. Hier steht du verzichtest auf deinen Titel, was du sowieso seit 15 Jahren tust. Dafür bekomme ich den Titel der dir zugestanden hätte und den du verloren hast, als du Mutter geheiratet hast. Richtig?“
 

„Nur eine kleine Formalität bezüglich der Erbfolge.“ für Tiron wirklich keine große Sache, jedenfalls vernachlässigbar gegenüber dem Umstand, dass er mit Hildegard allein in der Küche war und allein davon klamme Hände bekam. „Also nichts geheimnisvolles. Und ihr... kommt klar?“

Hildegard hob skeptisch die Brauen und sah Tiron forschend an. „Erbfolge? Soso...“ im Grunde sagte ihr das nichts in diesem Moment, absolut gar nichts. „Und ja, wir kommen klar. Müssen wir doch, oder?“ Und dabei klangen die letzten Worte weitaus bitterer als beabsichtigt. Sie seufzte.
 

„Beinahe. Ich bekomme mein Geburtsrecht, das mir vor 15 Jahren abgesprochen wurde zurück unter der Auflage, es nicht zu nutzen. Und deshalb bekommst du den Titel.“ Narsil grinste schief, wie schnell der Junge doch gewisse Dinge auffasste. Aber er wollte nicht, dass der Eindruck entstand, dies hänge mit der Scheidung seiner Eltern zusammen. „Zugestanden hätte der Titel eher Tirons Kindern, aber so... und da wir uns ja auch wieder vertragen haben...“

„Aha. Und Mutter und du..?“ Er ließ die Frage in der Schwebe in der Annahme, dass sein Vater schon verstand worauf er hinauswollte.
 

„Ja, müsst ihr wohl... „ Tiron schaute etwas betreten zur Seite. Wieder flackerte der Gedanke auf, ob er nicht etwas zerstört hatte, was er nie hätte anrühren dürfen, wurde aber gleich ausgelöscht von Hildegards verzweifelten Lügen, als er das letzte Mal hier war. „Hildegard, ich... '... kann das nicht sagen, weil es der völlig falsche Zeitpunkt ist und schon gar nicht mit Amaro und Narsil im Nebenzimmer' also, wenn ich irgendwas für dich tun kann... und wenn du nur ein bisschen Gesellschaft haben möchtest...“

Hildegard atmete tief durch und ging dann einfach wortlos auf Tiron zu und lehnte sich an seine Brust. Weder umarmte sie ihn, noch suchte sie anderweitig seine Nähe. Sie brauchte nur einen kurzen Moment lang die Versicherung, dass jemand für sie da wäre. Jemand, mit dem sie reden könnte, wenn nicht ihr Mann, Ex-Mann, und ihr Sohn gerade im Nebenzimmer wären. Nicht zu dieser Zeit und in diesem Moment, wusste sie. Aber wenn sie wollte, dann könnte sie mit ihm reden. Und das beruhigte sie schon.
 

„Sind gut versorgt.“ versicherte Narsil seinem Sohn „Deine Mutter hat immer noch die Anteile an den Geschäften ihres Bruders und das Haus und ich habe meinen Erbteil - außer Titel und Gut.“ Narsil wunderte sich, wie ruhig und erwachsen er mit Amaro sprach. Sicher mussten solche Dinge geklärt werden, aber bis vor ein paar Tagen hätte er angenommen, dass er sowas mit Hildegard besprechen würde und auf keinen Fall mit seinem Sohn. Wieso sollte sich ein Kind auch dafür interessieren?

„Aha“ Wieder nur ein Aha von seinem Sohn.“Und ihr habt nach wie vor keinen Titel, richtig? Sprich ich werde urplötzlich in den Adel erhoben und meine Eltern nicht, oder wie soll ich das verstehen?“ Amaro zuckte mit den Schultern. „Nun gut, als ob irgendwer sich davon etwas kaufen könnte.“ Narsil de Varro nickte zustimmend. "Eben. Ich brauche ihn nicht, deine Mutter braucht ihn nicht, vielleicht kann er dir ja von Nutzen sein. Und wenn nur", Narsil beugte sich verschwörerisch vor und meinte leise "um die Ladies zu beeindrucken."
 

Tiron de Varro zögerte einen kurzen Moment, aber dann konnte er der Versuchung doch nicht widerstehen, leicht die Arme um Hildegard zu legen. ansonsten aber blieb er ganz ruhig stehen, der Fels in der Brandung, eine stumme Versicherung, dass sie immer auf ihn würde zählen können.
 

Amaro lachte kurz auf. „Verstehe. Ja, das würde mich nicht überraschen. Man kann es nicht sehen, nicht anfassen und nicht essen. Aber den Damen gefällt es bestimmt trotzdem. Aber sag Vater... hat es bei dir nicht auch gut ohne deinen Titel funktioniert in den letzten Jahren?“ und bei der letzten Frage lehnte Amaro sich vertraulich vor zu seinem Vater und schaute ihm ins Gesicht.

Narsil de Varro hörte das Eis förmlich unter sich Knirschen. In den letzten Jahren, also solchen Jahren, in denen er eigentlich Amaros Mutter Treue geschuldet hätte.Aber der Junge war fast 15, hatte sich so verständig gezeigt die letzten Tage über. Trotzdem machte sich Narsil keine Illusionen darüber, dass Amaro die Antwort weh tun würde. Wenn auch vielleicht weniger als eine Lüge, die der Junge als solche erkennen würde. Also zwang er sich, den Blick seines Sohnes zu erwidern, auch wenn sich sein typisches halbes Lächeln auf die Züge stahl. "Ein offenes Geheimnis, hm? Ich wollte deiner Mutter nicht wehtun und falls sie keine Gewissheit hat bis jetzt, ist es vielleicht auch besser, das bleibt unter uns."

„Aha. Gut, das dachte ich mir schon Vater. Ich werde es ihr jedenfalls nicht brühwarm auftischen, das kannst du mir glauben“ und Amaro besah sich konzentriert seine schlanken Finger.

„Das hatte ich auch nicht von dir erwartet. Aber du bist ganz schön aufmerksam.“ Narsil langte herüber und verwuschelte Amaro zärtlich die Haare. Verdammt, er war schon stolz auf seinen Kleinen. Und warf dann einen halben Blick zur Küchentür. Apropos aufmerksam, ob Amaro da auch schon wusste, was Sache war?
 

„Danke Tiron.“ und kurz darauf fügte sie halblaut hinzu „Ich weiß, dass du dein Bestes getan hast, als ich dich um den Gefallen bat mit Narsil zu reden. Aber diese Ehe war offensichtlich nicht mehr zu retten.“ Sie seufzte und löste sich sanft von ihm.

„Ich wünschte wir hätten mehr Gelegenheit zum Reden, aber der Moment ist schlecht.“ und dabei warf sie einen Blick gen gute Stube, wo Narsil und ihr Sohn sich gerade befanden. „Ich denke Amaro hat schon genug zu verarbeiten.“

Tiron de Varro schaute einen Moment getroffen. Er hatte... vermutlich das ziemliche Gegenteil von dem getan, was Hildegard als sein Bestes erwartet hätte, hatte seinem Bruder nicht den Anstand einer treuen Ehe eingeredet, sondern "nur" den eines sauberen Schnittes. "Hildegard, ich..." an dieser Stelle muss er erstmal schlucken und nickt dann doch nur kurz "... würde mich auch freuen, wenn wir mehr Zeit zum Reden hätten. Vielleicht nach Amaros Geburtstag." Mehr durfte er im Moment wohl kaum erhoffen. Auch wenn er zugeben musste, dass in den letzten Tagen mehr als einmal seine Tagträume mit ihm durchgegangen waren.

Kurz darauf öffnete sich die Tür und ein Jüngling mit braunen Locken lehnte lässig in der Tür, wie es zuvor schon sein Vater getan hatte. „Habe ich da etwa meinen Namen gehört?“ er zwinkerte und lächelte seine Mutter an. Dann wandte er sich an seinen Onkel“ Hey, danke Onkel Tiron. Ich denke ein Dankeschön ist hier schon angebracht, schließlich ist das weitaus mehr, als ich erwartet hätte.“ und er verwies auf das Schriftstück in seiner Hand. „Ein bisschen Kontakt ist alles was ich mir gewünscht habe. Aber hey, ein Titel ist sicher auch gut.“ Amaro lachte ein warmes Lachen.

„Ein Titel? Würdest du mir bitte doch noch genauer auseinandersetzen, was das bedeutet?“ Hildegard schaute ein wenig verwirrt in die Runde.
 

Tiron de Varro musste bei dem warmen Lachen, das ihn sehr an Amaros Vater erinnerte, unwillentlich lächeln. "Von Herzen gern geschehen, aber eigentlich nichts, wofür du mir danken musst, Amaro. Es ist ja keine Sonderregelung oder sowas." Tiron zuckte leicht mit den Achseln um zu bestätigen, dass der Titel für Amaro quasi nur ein Nebenprodukt der Versöhnung mit Narsil darstellt. Dann wandte er sich Hildegard zu und diesmal war das Grinsen doch ein bisschen breiter. "Es bedeutet, dass Junker Amaro das Gut und die Ländereien erben wird. Irgendwann."

Hildegard musste Lachen. „Junker Amaro, soso.“ Sie grinste noch immer breit, als sie weitersprach. „Das bedeutet also, dass unser Sohn dein Erbe sein wird, solange du keine eigenen Kinder hast, ja? Nicht, dass der Junkerstitel Amaro nicht wunderbar zu Gesicht stände, aber ich hoffe für dich trotzdem, dass du noch eigene Kinder bekommen wirst. Ihr Männer habt da ja was mehr Zeit als wir Frauen.“ Sie klopfte Tiron freundschaftlich auf die Schulter. „Du wärst sicher ein guter Vater Tiron.“ Und dann schaute sie ihren einzigen Sohn an und strich ihm liebevoll über die Wange. „Es ist schön dich zu haben, Amaro. Auch wenn ich mir gewünscht hätte, dass du nicht unbedingt immer ein Einzelkind hättest bleiben müssen.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen um ihrem Sohn einen Kuss auf die Stirn zu geben und lachte, als dieser sich gegen die Liebkosung wehrte.

„Mutter, bitte!“ „Entschuldige Amaro, ich weiß Mütter tun manchmal peinliche Dinge“ Sie lachte und gab ihrem Sohn einen freundschaftlichen Klaps. „Ich werde jetzt aufhören meinen fast erwachsenen Sohn, den Junker, vor seiner Familie zu blamieren, in Ordnung?“ Die Klerikerin im Ruhestand zwinkerte ihrem Sohn zu.

Tiron de Varro bekam mit dem Moment, in dem Amaro sich gegen die peinliche Zärtlichkeit seiner Mutter wehrte, immerhin die Chance, sich ein bisschen zu fassen, nachdem Hildegards Bemerkung ihm einen Stich versetzt hat, den er körperlich so stark gespürt hatte, dass er zumindest der Meinung war, jeder im Umkreis von 10m hätte mitbekommen müssen, wie sein Herz einen Schlag aussetzte. Vielleicht war der Gedanke immerhin tröstlich, dass Hildegards Sohn sein Erbe würde, auch wenn er nicht Amaros Vater war. Der krampfhafte Versuch, tapfer und freundlich zu sein, wurde zu einem "Ich würde mir das sicherheitshalber vor deinem Geburtstag schriftlich geben lassen, Amaro."
 

„Ach, Tiron! Jetzt setz dem Jungen doch keine Flausen in den Kopf, sonst darf ich als Mutter nachher doch gar nichts mehr! Nichtmal mehr meinen kleinen Sohn ins Bett bringen, ihm heiße Milch bringen, ihn....“ „Also Mutter, bitte! Was erzählst du denn da?“ Entrüstet stemmte Amaro die Hände in die Hüften. Seine Mutter brach nur in Lachen aus „Entschuldige Amaro, die Versuchung war zu groß!“ Sie grinste breit und signalisierte dann ab jetzt wirklich still sein zu wollen.

Tiron de Varro schmunzelte, auch wenn sich in seinen Augen dabei im Moment Schmerz mit einem warmen Leuchten mischte. Hildegard hatte sich so wenig verändert. Sie hatte ja schon vor 15 Jahren alle bemuttert. Und sie war eine hervorragende Mutter, humorvoll, voller Verständnis. Und für ihn war klar: die Chance, dass er Kinder haben würde, war verschwindend gering und die Mutter seiner Kinder wäre Hildegard oder niemand. "Verzeih", bat er sie und verneigte sich tief, vielleicht nicht zuletzt, um ihr nicht in die Augen sehen zu müssen.

Sie tätschelte ihm munter den Arm, während Amaro seinen Onkel ein wenig skeptisch ansah. Trotz der Albernheiten seiner Mutter war ihm der Ausdruck im Gesicht seines Onkels nicht ganz entgangen. Zuordnen konnte Amaro ihn aber nicht, es ergab keinen Sinn für ihn was er sah. Also hakte er es ab und entschied sich schnell zu anderen Themen überzugehen, bevor seiner Mutter doch noch etwas ähnlich witziges einfiel.

„Gut. Und nun? Einen kleinen Toast auf den Erben vielleicht? Oder auf den armen Jungen, der mit einer übermäßig humorvollen Mutter gesegnet ist? Oder beide?“

Tiron de Varro stimmte ihm zu „Ich glaube, die haben beide ein Glas verdient, meinst du nicht auch, Hildegard?“und er ließ beiden den Vortritt in die Stube. Narsil de Varro winkte indes vom Tisch aus schon mit der Weinflasche „Endlich sagt er was gescheites“

„Setzt euch schonmal, ich hole noch Gläser“ antwortete Hildegard und streckte sich zum Geschirrschrank um ein paar Weingläser hervorzuzaubern.

„Ach, Tiron? Wenn du zurückreitest, könntest du eventuell ein paar Briefe für uns mitnehmen? Oder sind unsere alten Freunde um Verlest schon informiert, Narsil? Wenn du sie schon eingeladen hast...“ und sie sah ihren Ex-Mann fragend an.

„Ich wollte nicht alles auf einmal an die große Glocke hängen...“ Narsil machte eine vage Handbewegung, die vermutlich bedeutete, dass er teilweise Andeutungen gemacht hatte und teilweise darauf verzichtet hatte, aber Tiron nickte auch bereits brav und versicherte, dass er die Briefe gerne mitnähme.

„Danke Tiron.“ Hildegard nickte ihm zu. „Dann setzen wir besser gleich mal ein paar Schriftstücke auf, oder Narsil?“ Sie setzte sich zu den Männern an den Tisch, verteilte Gläser und ließ sich einschenken.“Dann lasst uns zusammen anstoßen. Darauf wieder eine Familie zu sein. Wenn auch anders als erwartet.“

Tiron de Varro hob ein bisschen zögerlich sein Glas, stimmte aber dann doch in den Trinkspruch mit ein. Danach blieb er eher zurückgezogen am Tisch, trank langsam und ließ die beiden an ihren Briefen feilen.

Amaro unterdessen ließ seine Eltern tun, was sie tun mussten, lehnte sich entspannt und mit überschlagenen Beinen zurück und ließ den Blick schweifen. Nicht ohne dabei ab und zu unauffällig das Gesicht seines Onkels zu erforschen. Zumindest versuchte er es. Hin- und wieder warf er einen Blick auf die Schriftstücke seiner Eltern oder führte ein wenig Smalltalk.
 

Tiron de Varro wahrte die meiste Zeit eine verschlossene Mine, nur ab und zu, wenn sein Blick längere Zeit auf Hildegard ruhte und diese mit etwas anderem beschäftigt war, legte sich ein ganz sachtes Lächeln auf seine Züge, wenn er etwa beobachtete, wie sie immer wieder eine störrische Strähne zurückstrich, die ihr beim Schreiben nach vorne fiel oder abwesend zwischendurch nach dem Weinglas tastete.

Amaro warf immer mal wieder einen kurzen Blick zu seinen Eltern herüber, die meist ziemlich konzentriert die Köpfe über dem Schreibzeug zusammensteckten und konnte nicht umhin eine Regung im Gesicht seines Onkels zu bemerken, wann immer dieser sich unbeobachtet wähnte. Amaro glaubte, dass dessen verklärtes Lächeln seiner Mutter galt, nur aus welchem Grund war ihm nicht ganz klar. Er hoffte, dass es nichts mit dem zu tun hätte, was seine Mutter ihm über seinen Onkel und eine frühere Beziehung gesagt hatte. Aber ausschließen konnte er es nicht.

Schließlich war die erste Weinflasche geleert und einige Briefe an alte Freunde versandfertig.
 

Tiron de Varro streckte die eine Hand nach den Briefen aus und hielt die andere flach über das Weinglas, um Narsil am Nachschenken zu hindern. "Ich glaube, ich sollte mich dann auch langsam wieder auf den Weg machen. Vielen Dank für das Mittagessen...." Dass Amaro ihn beobachtet hatte, hatte er nicht bemerkt, trotzdem wollte er nicht zu lange bleiben, weil er sich selbst kaum vertraute in Hildegards Gegenwart. Und noch eine Flasche Wein wäre sicher auch keine besonders gute Idee. "Ich komme dann pünktlich zu Amaros Geburtstag. Bis dahin sollte das Geschenk auch fertig sein. Das über das wir gesprochen haben, Hildegard", mit einem Zwinkern, bevor er noch hinzusetzte "Und das andere wird er jetzt auch brauchen... aber das können wir ja danach in Ruhe klären."
 

„So ist das also Tiron!“ gab Hildegard in einem Moment ehrlich entrüsteter Überraschung zurück. Dann musste sie schmunzeln. „Jetzt sag mir nicht, dass du diesen Plan schon längst gefasst hattest, bevor wir darüber gesprochen haben!“ sie kreuzte die Arme und sah Tiron erwartungsvoll an. Amaro hingegen verstand kein Wort und beschloss einfach so zu tun, als sei er nicht da. Schließlich ging es um ein Geschenk für ihn, soviel hatte er der Unterhaltung entnehmen können.

„Was? Nein, natürlich nicht.“ Jetzt war es an Tiron, einigermaßen entrüstet zu schauen, aber er fasste sich sehr schnell wieder und lächelte höflich „Dein Einwand dagegen war ja völlig richtig und berechtigt und ich halte mich daran. Und ich habe dabei noch nicht daran gedacht, dass er ja der logische Erbe ist. Aber als Junker... du musst schon zugeben, ohne wäre das ein bisschen unangemessen. Meinst du nicht?“

Hildegard seufzte. „Nun gut Tiron, sollt ihr Männer doch alle euren Willen haben.“ Sie stand auf um ihren Gast noch bis zur Tür zu geleiten. „Diesmal gebe ich ja gern nach, denn du hast im Endeffekt recht Tiron.“ Dies war auch für Amaro das Signal sich höflich zu erheben.

Narsil de Varro sprang ebenfalls auf, stellte gerade noch rechtzeitig das Weinglas ab, damit Tiron nicht nach der Erde als Begrüßung zum Abschied Wein über das frische Hemd geschüttet bekam und umarmte seinen Bruder herzlich, bevor er ihn ziehen ließ und es Hilde überließ, den Gast zur Tür zu bringen "Lass dich bald mal wieder sehen! Und ich will wissen, was du da für Geheimnisse vor meinem Sohn hast, klar?! Na los, Amaro, verabschiede dich von deinem Onkel und dann müssen wir immer noch diesen Garten zu Ende umgraben!"

„Was, im Ernst? Du willst, dass wir den Garten umgraben Vater??“ Amaro schaute seinen Vater ein wenig erstaunt an. Dieser Arbeitseifer war eher unüblich. Und dann direkt den ganzen Garten umgraben? Jetzt? Das kam ihm ein wenig übertrieben vor.
 

Hildegard de Varro lachte. „Ihr müsst doch nicht direkt den ganzen Garten umgraben Jungs! Aber höre bitte auf deinen Vater und verabschiede dich noch Amaro.“ Ihr Sohn schaute sie pikiert an. „Aber das wollte ich doch tun! Also Onkel Tiron... vielen Dank für alles! Und ich freue mich dich so bald wiedergesehen zu haben. Vor allem, wo du doch in ein paar Tagen wieder hier sein wirst“ Jetzt grinste Amaro ihn an. „Ich freue mich wirklich!“ und er umarmte seinen Onkel zum Abschied, bevor er sein Glas Wein leerte und ankündigte sich eben noch etwas anderes anziehen zu wollen für die Gartenarbeit.

„Na ja, nicht den ganzen... aber mit dem einen Beet habe ich angefangen, bevor Tiron kam und wenn das bis heute Abend fertig sein soll, brauche ich ein bisschen Hilfe...“ gestand Narsil. Ja, genau, Tiron war Schuld, der hatte ihn bei der Arbeit gestört. Eigentlich sollte der graben müssen, aber der musste ja los.
 

Tiron de Varro erwiderte Amaros Umarmung kurz, aber herzlich „Ich freue mich auch. Bis bald, Amaro.“ Er schaute dem Jungen nach, als dieser zum Umziehen verschwand „Und dann kann ich ja auch mein Hemd mitnehmen beim nächsten Mal und dieses hier sauber zurückbringen...“

„Oh, mach dir keine Umstände Tiron. Du bekommst deine eigenen Sachen beim nächsten mal sauber wieder und mein Mann... Ex-Mann wir die Finger von ihnen lassen.“ Sie biss sich kurz auf die Lippen bei diesem Versprecher. Es war alles noch zu ungewohnt für sie. Hildegard nahm ihren Gast am Arm und brachte ihn bis zur Tür. „Dann bis in ein paar Tagen Tiron. Und die Sache mit dem Pferd können wir dann nach Amaros Geburtstag noch in Ruhe besprechen.“ Sie lächelte ihn freundlich an. „Ich denke so schnell wird sich hier auch noch nichts tun, wir werden mit Sicherheit nicht so bald hier weg sein.“

„Was heißt "wieder weg sein"?“, erkundigte er sich überrascht. “Hast du etwa Pläne? Du willst doch nicht wieder auf Wanderschaft, oder?“ Ein bisschen erschrocken schien er bei dem Gedanken schon. „Ich meine... ich hatte gehofft, wir hätten mehr Zeit... zum Reden....“ was nie Tirons Stärke gewesen war, aber die Bitte in seinem Blick war ernst gemeint.

„Tiron..“ beschwichtigend legte sie ihm die Hand auf den Arm. „Keine Sorge, ich hätte zwar gut Lust einmal rauszukommen und den Kopf wieder etwas freizukriegen, aber ich hatte eigentlich nicht vor selbst noch einmal auf Wanderschaft zu gehen. Zumindest war das nicht mein Plan... Ich wollte nur mit meinem Bruder sprechen, ob ich Amaro für eine Weile zu ihm schicken könnte um ihm ein wenig über die Schulter zu sehen und ihn auf einer Reise zu begleiten. Vielleicht liegt das dem Jungen ja? Und möglicherweise werde ich auf Dauer auch wieder zurück nach Weyersdorf ziehen, falls Amaro dieser Beruf zusagen sollte. Hier haben wir zwar unser Zuhause, aber jetzt ist es auch nicht mehr was es einmal war und langfristig werden die Nachbarn wohl auch anfangen zu reden“ Sie zuckte mit den Schultern. „Es ist irgendwie... seltsam, weißt du. Ich sehe dieses Haus und denke nur daran was früher einmal war. Ich sehe wie Narsil und ich für Amaro Schattenspiele im Garten aufgeführt haben.“ Und jetzt huschte doch ein wehmütiges Lächeln über ihr Gesicht. „Oh, es waren wirklich fantastische Aufführungen Tiron! Mit Spezialeffekten die wohl kaum viele Kinder sich rühmen könnten gesehen zu haben bei einem Schattenspiel.“ Sie kicherte. „Da immerhin waren ein Barde und eine Klerikerin ein wunderbares Paar.“ Sie seufzte. „Aber das sind wir jetzt nicht mehr und waren es auch schon lange nicht mehr. Verstehst du was ich meine?“

„Ja, das... kann ich verstehen“ Tiron brauchte einen Moment, um über den kleinen Stich hinweg zu kommen. Ein wunderbares Paar? Ja, aber wirklich schon lange nicht mehr. Und wer weiß, in wie vielen anderen Betten Narsil seit dem kleine Zaubertricks vorgeführt hatte? Aber bevor er so etwas sagte, biss er sich auf die Zunge, das war nicht fair und das hatte Narsil nicht verdient. „Wenn du einen Tapetenwechsel brauchst, bist du bei mir auch jederzeit willkommen“ Schlug er stattdessen spontan vor. „Du und Amaro selbstverständlich, wenn der nicht gerade auf Reisen ist. Wobei das sicher eine gute Idee ist, wenn er bei deinem Bruder ein bisschen was lernen kann - Verwaltungsaufgaben werden ihm dann später leichter fallen.“
 

Sie starrte nachdenklich in die Luft und an Tiron vorbei, während sie ihre Gedanken in die Luft sprach als sei er nur ein zufälliger Zuhörer. „Danke Tiron. Ich glaube ich brauche irgendeine Beschäftigung, jetzt wo der Junge groß ist und ich mir weniger Sorgen um Erhalt und Ernährung der Familie machen muss. Jetzt, wo wir nur nur noch zwei sind... Ich werde nicht in ein Kloster gehen, dafür bin ich nicht geschaffen. Das habe ich schon als junges Mädchen gewusst, als ich in einem lebte. Ich kann aber auch nicht immer einsam zuhause sitzen und warten, dass der Rest meines Lebens an mir vorbeizieht... Nein, ich glaube wir werden noch viel Zeit zum Reden haben. Nur wo das sein wird, das steht noch nicht sicher fest. Vielleicht komme ich wirklich eine Weile mit Amaro vorbei“ und sie richtete ihren Blick wieder auf den Bruder ihres ehemaligen Ehemannes. „Bitte entschuldige diesen plötzlichen Redeschwall“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich fürchte das musste ich einfach irgendwem sagen und da ich die letzten Tage nur mit Amaro und Narsil zusammen war, hat es jetzt dich getroffen. Ich hoffe das war in Ordnung...“ Sie schaute ein wenig schuldbewusst, da sie sich im klaren war, dass sie sich in gewissem Sinne beim Bruder des Mannes beschwerte, wegen dem sie sich gerade in dieser Situation befand.
 

„Natürlich ist es in Ordnung“ mit einem halben Lächeln berührte er kurz ihren Arm, zog die Hand aber schnell wieder zurück „DU kannst so viel reden, wie du willst und wie du musst und ich werde da sein und zuhören. Immer.“

„Danke Tiron. Du bist ein Schatz!“ Sie lächelte ihn dankbar an, nahm sein Gesicht in beide Hände und gab ihm einen Kuss auf jede Wange, bevor sie ihn gehen ließ. „Ein wahrer Ritter wie eh und je Tiron.“ Sie lachte „So verständnisvoll, ruhig und hilfsbereit... ich habe wirklich keine Ahnung, wie du es angestellt hast noch nicht die Richtige zu finden und selbst einige Kinder in die Welt zu setzen. Ganz ehrlich, ich hätte es getan. Aber ich bin wirklich froh Amaro zu haben, auch wenn sicher alles anders gekommen wäre, wenn ich damals nicht schwanger gewesen wäre. Aber so spielt das Leben eben und ich würde ihn nicht missen wollen.“ Sie lächelte und warf einen Blick zurück, nach ihrem Sohn suchend der zu diesem Zeitpunkt doch ganz woanders steckte. „Du würdest sicher das gleiche sagen, wenn du Kinder hättest Tiron.“
 

Lieber nochmal 100 Orks vor den Toren von Weißenturm, bitte, jetzt. Tirons Blick wandelte sich von dem milden Lächeln, als sie sein Gesicht losließ immer mehr zu einer steinernen Maske, je länger Hildegard sprach. Selbst der Schmerz in den Augen schien beinahe zu verlöschen, als wäre nicht einmal dafür mehr genug Energie geblieben. Nur kalte Asche. Dann verneigte er sich halb, eine Bewegung, die steifer wirkte als noch vor Minuten und Tiron älter wirken ließ als er war. "Vielleicht fällt dir ja noch etwas dazu ein, ob ich die Richtige gefunden habe, wenn du in den nächsten Tagen etwas Ruhe hast."

Hildegards Augen weiteten sich vor Entsetzen und sie hielt sich unwillkürlich die Hand vor den Mund und glaubte in diesem Moment im Boden versinken zu müssen. Ihr Herz sank schwer in ihrer Brust nach unten. „Tiron... du meinst doch nicht...?“

Tiron de Varro tat im nächsten Moment schon leid, dass er das so hart und kalt ausgesprochen hatte. Impulsiv griff er nach Hildegards Hand, führte diese kurz an die Lippen und meinte "Verzeih mir. Ich meine.. Ich kann nicht anders. Aber ich muss los, wir reden ein andermal darüber. Nicht so, zwischen Tür und Angel. Bitte."

Zurück blieb eine Frau die zitternd und taub den Weg zurück in ihr eigenes Haus fand, nur um dort auf einem Stuhl zusammen zu sinken, wo ihre Familie sie entgeistert und bleich vorfand.

Narsil de Varro schaute reichlich erstaunt, als er nach der Gartenarbeit, die mit Hilfe von Amaro schnell von der Hand gegangen war, in die Stube zurückkam und Hildegard in dieser Verfassung vorfand. Wollten ihn heute eigentlich alle nur erschrecken? "Meine Güte, Hilde, was ist denn los?", fragte er, als er sich neben sie auf die Bank sinken ließ und nach ihrer Hand griff. Auch wenn sie nicht mehr Mann und Frau waren, war Narsils Umgang doch noch immer vertraulich - wie es auch anders nicht sein könnte nach all den Jahren.
 

Sie starrte in die leere Luft und fragte sich, wie sie nur so dumm sein konnte. Nach allem was Tiron de Varro in der letzten Zeit für sie alle getan hatte, war sie der Annahme verfallen, dass er über ihre Hochzeit hinweg sei. Eine Annahme, die falscher kaum hätte sein können. Und statt freundlicher Worte hatte sie ihm nur Salz in die alten, unverheilten Wunden geschüttet. Als Narsil nach ihrer Hand griff, drehte sie sich zu ihm um und sah ihn mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck an.

„Narsil... war dir bewusst, dass Tiron uns noch immer nicht verziehen hat? Ich... ich dachte wirklich, dass er mittlerweile darüber hinweg sei. Und ich habe offensichtlich Salz in seine Wunden gestreut mit allem was ich im guten Willen sagte. Wie konnte ich nur so dumm und herzlos sein?“

Beruhigend strich er über ihre Hand „Schhht.“ was zur Hölle konnte Tiron denn angestellt haben? Dass er die Sache nicht einfach verziehen hatte, hatte er sicher nicht gesagt, das war zu... brutal. „Das ist sicher nicht einfach für Tiron, aber ich glaube nicht, dass er dir böse ist“ Narsil vielleicht noch, aber Hildegard sicher nicht! War er ihr je böse gewesen? Konnte er das überhaupt? „Was hat er denn gemacht?“

„Er... er sagte.. ach, das kann ich so eigentlich gar nicht sagen Narsil! Aber ich habe völlig gedankenlos auf ihn eingeredet, warum er denn noch nicht die richtige gefunden und Kinder bekommen habe und so etwas. Du weißt, wie ich ihm vorhin auch unter die Nase gerieben habe wie glücklich ich über unser Kind sei... Naja, und dann hat er mich eben daran erinnert noch einmal darüber nachzudenken und mich daran erinnert... du weißt schon, dass es damals auch wirklich ganz anders hätte laufen können. Und wie er es sagte, Narsil! So... hart. Ich fürchte ich habe wirklich einen wunden Punkt getroffen. Denkst du nicht?“ Sie lehnte sich an Narsils Schulter und suchte dort nach Geborgenheit. „Ich bin eine dumme Kuh, Narsil. Es tut mir leid. Ich fürchte ich habe deinen Bruder nur gequält. SO habe ich mir die Familienversöhnung nicht vorgestellt.“ Sie seufzte und drückte seine Hand, die ihre hielt.

„Du hast das ja nicht ahnen können...“ Er strich ihr mit der freien Hand leicht über die Haare „Es ist nicht deine Schuld. Und so schlimm wird es schon nicht sein, oder? Er musste sich ein paar Sachen anhören, die er nicht hören wollte, du musstest dir etwas anhören, was du nicht hören wolltest, so ist das mit Familien, fürchte ich. Er ist eben schrecklich stur.“

Hildegard hielt kurz die Luft an, um zu vermeiden wegen solcher Kleinigkeiten noch Tränen zu vergießen. Narsil hatte recht. Sie hatte es nicht ahnen können und Tiron würde es schon überleben. Und sie erst recht. Sie hoffte nur ihn nicht zu sehr gekränkt zu haben.

„Meinst du Narsil? Ich hoffe, er ist nicht wirklich böse. Ich hätte mich gerne entschuldigt, aber er war dann doch sehr plötzlich weg und ich hatte keine Gelegenheit mehr dazu. „Sie sah Narsil etwas flehend an, in der Hoffnung auf eine positive Bestätigung. Aber seine sanften Worte und seine lieben Zärtlichkeiten taten bereits ihre Wirkung.

„Ich glaube nicht, dass Tiron dir jemals wirklich böse sein könnte.“, meinte Narsil für seine Verhältnisse ungewöhnlich ernst.

„Danke Narsil.“ sie lächelte ihn tapfer an und musste dann kurz lachen. „Es tut mir leid, ich sollte darüber nicht lachen. Aber ich dachte gerade nur, dass du mir wirklich eine große Hilfe bist zurzeit. Und naja, es ist schon eine seltsame Situation, oder? Ich habe das Gefühl so nahe und vertraut waren wir uns schon seit... Jahren nicht mehr.“

Narsil de Varro schaute gespielt ertappt und ließ ein bisschen den Kopf hängen. "Ich funktioniere ohne Verpflichtungen besser, wie's aussieht." Erneut strich er ihr über die Haare und drückte sie dann kurz fester an seine Schulter. "Und du kannst ruhig darüber lachen, lach, lach nur!" Forderte er sie auf, ein Schmunzeln auf den Zügen.

Und tatsächlich fing sie an zu Lachen. Erst nur ein leises Kichern, dann hielt sie sich die Hand vor den Mund um das Kichern zu unterdrücken, was erst recht in einem Ausbruch von Lachen endete. Sie lachte das weg, was sie sonst zum Weinen gebracht hätte. Dann umarmte sie ihren Ex-Mann und kam mit ihrem Kopf in seiner Halsbeuge zu liegen. Auch wenn sie nun kein Paar mehr waren, sein Geruch war ihr immer noch vertraut und beruhigte sie. Seine Nähe war etwas, was sie die letzten Jahre gebraucht hätte, aber nicht bekam. Jetzt wo sie sie bekam, empfand sie darüber aber keine Bitterkeit mehr. Was vorbei war, war vorbei. Immerhin war er jetzt für sie da und dafür war sie ihm wirklich dankbar. Hildegard drückte ihren Ex-Mann an sich und schmunzelte. „Ach Narsil“

„Ach Hildegard“ echote er amüsiert und setzte dann hinzu „Dich und Tiron, euch kann man wirklich keine zwei Minuten alleine lassen... schrecklich. Und dabei wollte ich gerade fragen, ob du mich die nächsten Tage dauernd brauchst - ich wollte ein paar Sachen recherchieren.“
 

Amaro hatte die letzten Gartengeräte im Schuppen draußen auf dem Hof verstaut und kam durch die Eingangstür zurück ins Haus, um sich wieder aus der schmutzigen Arbeitskleidung zu schälen. Dass er seine Eltern mal wieder einträchtig in der Wohnstube vorfand, wunderte ihn ein wenig. Wieso hatten sie sich überhaupt scheiden lassen, wenn sie nun nichts anderes mehr taten als zusammen zu hängen, fragte er sich.

Er räusperte sich, um auf seine Anwesenheit aufmerksam zu machen. „Ich bin dann mal in meinem Zimmer. Mich umziehen, falls ihr mich fragt. Und da werde ich auch eine Weile bleiben. „Er sah sie skeptisch an. „Eine ganze Weile, bevor ihr fragt. Okay?“ Ohne eine Antwort abzuwarten setzte er sich in Bewegung.

„In Ordnung Amaro. Ich rufe dich dann zum Abendessen? Oder möchtest du später noch einen Tee mit uns trinken?“ „Ja, danke. Nein, kein Tee Mutter, vielen Dank“ Und weg war ihr Sohn auch schon wieder. Sie sah ihm nach, bevor sie sich wieder Narsil zuwandte. Er hatte ihr doch soeben eine Frage gestellt, richtig?

„Etwas recherchieren? Was willst du denn recherchieren Narsil? Irgendetwas, bei dem ich dir behilflich sein könnte? Im Grunde brauche ich dich nicht die ganze Zeit hier, ja. Was ich brauche ist wohl ein mittelgroßes Wunder um all die neuen Gäste zu verköstigen, oder eine Depesche zu meiner Schwester um diese um Hilfe zu bitten. Oder hast du zufällig in der letzten Zeit irgendwann Kochen gelernt Liebster?“, setzte sie mit einem süßen Lächeln hinterher, das von einem offenen Grinsen abgelöst wurde. Sie konnte irgendwie nicht mehr ernst bleiben jetzt.

„Nein, damit kann ich nicht dienen. Aber ich kann deiner ausgezeichnet kochenden Schwester, die ja ohnehin seit Jahren den Verdacht hegt, es gäbe hier nur herbeigezaubertes Essen, eine Depesche vorbeibringen. Und ich bin auch nicht lange weg, vielleicht eine Nacht und ein oder zwei halbe Tage dazu.“ Er winkte mit einer Hand halb ab „Ich muss eine Schlacht recherchieren. Den Orkeinfall in Weißenturm.“

„Den Orkeinfall in Weißenturm?“ Hildegard sah den Barden etwas überrascht an. „Ich... bitte nimm es mir nicht übel Narsil, aber warum willst du jetzt ausgerechnet etwas über die Schlacht von Weißenturm recherchieren? Das liegt mehr als fünfzehn Jahre zurück und ich sehe gerade nicht, warum du ausgerechnet diese Schlacht ausgraben willst und das ausgerechnet jetzt. Wobei... waren nicht Tulander und Gahmuret auch dabei? Unsere Freunde werden dir sicher in ein paar Tagen auch noch etwas interessantes dazu erzählen können. Insoweit ist es natürlich nur vernünftig dir vorab schon einmal grundlegende Informationen zu holen... Ich weiß nur noch, dass ich damals diese Prophezeiung gemacht habe und Gahmuret und Tulander als erste aufgebrochen sind. Das war kurz nach meinem 22. Geburtstag und nicht lange vor unserer Hochzeit, wenn ich mich richtig erinnere.“ Schweigend verlor sie sich in alten Erinnerungen.
 

Narsil de Varro überlegte kurz, überschlug die Ereignisse. Tiron war mit Barenor nach Weißenturm gegangen, kurz nachdem seine Freunde aufgebrochen waren. Und wenige Wochen danach hatte er Tiron gesehen. Kaum ein Kratzer. Narsil schüttelte den Kopf. "Das muss beim zweiten Mal passiert sein", meinte er halb zu sich selbst. "Und aus den anderen, die dabei waren, kann ich nur etwas herausquetschen, wenn ich eh schon das meiste weiß. Die haben ja bisher auch nichts davon verlauten lassen....", fast klingt es so, als sei Narsil wütend, dass die Freunde seines Bruders, seine Jugendfreunde, ihm was auch immer verschwiegen hatten.

Hildegard hörte ihrem langjährigen Partner instinktiv eine gewisse Verstimmung an und legte ihm beschwichtigend eine Hand auf den Arm und streichelte mit der anderen seine Wange. „Hey, was ist denn passiert Narsil?“ Besorgt sah sie ihm in die blauen Augen.

„Irgend so ein gottverdammter Ork hat versucht, Schaschlik aus meinem Bruder zu machen und ich erfahre das erst jetzt!“ aufgebracht lässt Narsil die geballte Faust auf die hölzerne Armlehne der Sitzbank krachen, was sofort dazu führt, dass er zischend die Luft zwischen den Zähnen einzog und die schmerzende Hand ausschüttelte. „Meine Güte Narsil!“ unverzüglich griff Hildegard nach seiner Hand um nach etwaigen Verletzungen zu sehen und in klassischer Muttermanier darauf zu pusten. Während sie ihren ehemaligen Mann verarztete, forderte sie sanft aber mit Nachdruck ihr doch bitte nun auch die ganze Geschichte zu erzählen.

Narsil de Varro zog die Hand weg und schaute beleidigt, als wollte er sagen, er sei doch kein kleines Kind mehr. Dann biss er sich kurz auf die Unterlippe "Tiron lyncht mich, wenn ich das so weiterplauder. Und eigentlich sollte ich auch erstmal rausfinden, was genau passiert ist... außer, dass er sich offenbar mit einem Oger oder etwas ähnlich wuchtigem angelegt hat." Narsil zuckte mit den Achseln "Ich bin ja kein Heiler, ich kenne mich nicht aus, aber..." er setzte einen Finger wie einen Pfeil auf seine linke Körperseite, etwa auf Höhe des Endes des Brustbeins und dann den Zeigefinger der anderen Hand korrespondierend knapp über die Niere auf den Rücken. Die gedachte Linie zwischen einer Ein- und einer Austrittswunde. Dann schüttelte er sich "Das hat ausgesehen, als hätte man da die Hand durchgesteckt haben können."
 

Entsprechend erschrocken schaute seine vormalige Frau nach dieser Aussage drein. „Wie bitte? Bist du dir da sicher Narsil?“ Als ausgebildete Heilerin kamen ihr Bilder vor Augen, die ihr die Farbe aus dem Gesicht trieben. Und sie war damals nicht dabei gewesen und hatte kaum etwas von dieser zweiten Angriffswelle mitbekommen. Nur, dass alle ihre Freunde die Orkangriffe überstanden hatten, was sie ihr im Nachhinein ausgerichtet hatten. Wäre sie zu diesem Zeitpunkt nicht bereits in der fortgeschrittenen Schwangerschaft gewesen, sie hätte sich garantiert als Freiwillige gemeldet und als Heilerin gewirkt, aber so... Aber offensichtlich hatten sie damals auch andere fähige Heiler gehabt, ansonsten wäre Narsils Bruder wohl kaum mit einer solchen Wunde und seinem Leben davongekommen.

„Also zumindest müssen die Heiler gute Arbeit geleistet haben“, versuchte sie Narsil gut zuzureden. „Die Narbe mag vielleicht gruselig aussehen, aber er hat es ganz offensichtlich überstanden und ist heute guter Gesundheit. Oder etwa nicht?“

„Doch, doch“ beeilte er sich Hildegard zu versichern „Es geht ihm gut. Ich war nur erschrocken. Und vor allem - wieso hat mir das keiner gesagt? Er ist immerhin mein Bruder. Tulander hätte etwas sagen können, oder Gahmuret - oder Elena!“ mit einem ärgerlichen "meh" stützte Narsil das Kinn in die Hände und starrte einen Moment brütend vor sich hin. Dann wandte er den Blick wieder zu Hildegard. "Hattest du nicht etwas von Tee gesagt?"



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück