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Ich sehe was, was Du nicht siehst

von

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Eins

Ihr Lieben, ich entschuldige mich für das verspätete Hochladen. Aber Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel. Ich werde Euch nicht mit Ausreden langweiligen, sondern Euch nur viel Spaß beim Lesen wünschen: Viel Spaß beim Lesen und ein schönes Wochenende :)!

Lung
 

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Mitten in der Nacht erwachte ich. Im Zimmer war es kalt und irgendwo in der Ferne brummte der Kühlschrank vertraut vor sich hin. Erst wusste ich nicht, was mich geweckt hatte. Doch dann erkannte ich den Umriss, der sich dunkel vorm Fenster abzeichnete.
 

„Oh, come on!“, wimmerte ich voller Frustration, „Ralph! Was ist dein Problem, Mann? Was machst du überhaupt noch hier? Ich dachte, du wärst–,“

Ich verstummte. Erst jetzt fiel mir ein, dass Ralph einen schicken Anzug getragen hatte. Gewiss kein Nachthemd…

„W…Wer bist du?“, fragte ich und setzte mich mühsam auf. Verschlafen rieb ich mir die Augen und tastete an der falschen Stelle nach dem Schalter für meine Nachttischlampe. „Verdammte Axt…,“ knurrte ich, dann flackerte endlich trübes Licht durch mein Schlafzimmer.
 

Ich blinzelte. Am Fenster stand eine verhutzelte alte Frau. Sie hatte schneeweiße Locken, trug ein verwaschenes Nachthemd, darüber einen hellen Pullover und auf der Nase eine runde Brille. Ihr Gesicht machte deutlich, dass sie sich durchsetzen konnte. Einige Sekunden lang starrten wir uns schweigend an.
 

„Gute Nacht…,“ sagte ich matt, als sie keine Anstalten machte, das Wort zu ergreifen, „Ich heiße Tonda. Sehr erfreut. Darf ich fragen, wie du heißt? Und warum du unbedingt nachts kommen musst?“

Sie betrachtete mich ungehalten.

„Hat dir keiner beigebracht, dass man eine alte Dame siezt, junger Mann?“
 

Sie sprach mit hoher, leicht näselnder Stimme. Ich runzelte die Stirn.

„Sagt die Frau, die mitten in der Nacht und unaufgefordert ins Schlafzimmer eines Fremden eindringt und sich dann nicht einmal vorstellt.“

Wir musterten einander verdrießlich. Sie kniff die Lippen zusammen und verschwand, nur um einen Augenblick später direkt neben meinem Bett wieder aufzutauchen. Ich zuckte zurück.
 

„Es geht um meinen Enkel,“ schnarrte sie, als ob damit alle Höflichkeiten überflüssig wären.

Ich verdrehte die Augen. Ich hasste es, wenn sie das taten. Als bestünde meine einzige Lebensaufgabe darin, ihre Probleme zu lösen. Als wäre ich ein Automat, der vierundzwanzig Stunden lang auf Abruf zu stehen hatte.

„Schön,“ antwortete ich bissig, „Und hier geht es um meinen Schlaf. Also könntest du wenigstens so nett sein, mir deinen Namen zu verraten. Oder ich schlafe auf der Stelle weiter.“

Wir funkelten uns an. Dann straffte sie die Gestalt.

„Renate,“ sagte sie, „Renate Geiger.“
 

„Renate,“ wiederholte ich besänftigt, strich mir das wirre Haar aus dem Gesicht und ergab mich in mein Schicksal, „Okay. Es geht also um deinen Enkel. Wie kann ich dir helfen?“

„Ich verlange, dass du ihn warnst, junger Mann!“, blaffte sie, „Ich verlange, dass du ihm sagst, dass er in die Hölle kommen wird.“

Meine Augenbrauen schossen in die Höhe.
 

„Wie bitte? In die Hölle?“

„Er ist im Begriff, sich zu versündigen!“

„Zu versündigen? Was soll das denn heißen? Will er jemanden kalt machen?“

Sie schnappte nach Luft.

„Schlimmer!“, behauptete sie und dann senkte sie die Stimme vor lauter Scham, „Er… Er ist… Er ist hmfil!“
 

Verständnislos verengte ich die Augen und starrte sie an. Sie starrte verheißungsvoll zurück, als erwartete sie, dass ich jede Sekunde vor Abscheu erbleichen würde.

„Wie bitte?“, fragte ich stattdessen, „Würdest du das letzte Wort nochmal wiederholen? Das habe ich akustisch nicht ganz verstanden.“

Homophil!“, keifte sie, „Er sagt, er sei homophil!“
 

Diesmal hatte ich verstanden. Ich hatte auf einen Schlag alles verstanden. Und genug gehört.
 

„Ach so. Ich verstehe,“ entgegnete ich gefährlich liebreizend, „Er ist also schwul und du hast etwas dagegen und erwartest jetzt von mir, dass ich ihm das ausrede. Richtig?“

„So ist es,“ sagte sie glatt, mein Gesicht verwandelte sich in eine Maske.

„Verstehe. Nun. Tut mir leid, liebe Renate, aber das kannst du dir sowas von abschminken. Gute Nacht!“

Ich haute auf den Schalter meiner Nachttischlampe und warf mich zurück in die Kissen. Ärger kribbelte überall auf meiner Haut.
 

Das Licht ging wieder an.
 

„Was fällt dir ein?!“, schrie sie mich an und ich fuhr mit einer solchen Kraft hoch, dass es mich selbst überraschte.

„Was mir einfällt?!“, bellte ich zurück, „Ich bin selber schwul, verstehst du? Ich bin selber homophil! Da werde ich doch nicht zu deinem Enkel gehen und ihm erzählen, dass er in die Hölle kommt, als wäre er ein Massenmörder oder so was! Verdammte Scheiße, er wird es im Leben schon schwer genug haben, da muss ich ihm nicht auch noch Schuldgefühle von seiner toten – toten! – Großmutter einreden!“
 

Mein Atem ging schwer. Voller Zorn sah ich sie an und sie blickte nicht minder zornig zurück. Doch sie erwiderte nichts mehr. Sie verschwand innerhalb eines Wimpernschlags und kam nicht zurück. Allein saß ich im Zimmer und lauschte meinem wütenden Herzen. Ich knurrte in die Stille hinein. Dann schaltete ich das Licht aus und rollte mich unter der Decke zu einer Kugel zusammen.
 

Ich dachte an Ralph und seine Eva. Ich dachte an die homophobe Renate und ihren armen Enkel. Und dann dachte ich daran, dass ich jetzt endlich nachts im Schlafzimmer wieder rumbrüllen konnte. Noch vor zwei Tagen hatte ich mich jedes Mal ins Bad zurück ziehen müssen, um dort heimlich zu flüstern. Damals, als Marius noch bei mir geschlafen hatte. Doch jetzt – dank Ralph – war es damit vorbei. Jetzt konnte ich endlich wieder zu jeder Tages- und Nachtzeit in der ganzen Wohnung brüllen. Ohne Sorge, dass Marius mich hören könnte. Denn gestern hatte er mich gehört. Und jetzt würde er nie wieder bei mir schlafen.
 

Am nächsten Morgen klingelte mein Wecker um halb sieben. Ich schlug ihn, damit er schwieg, und gab eine Menge mitleiderregender Geräusche von mir, die niemand hörte. Tröpfchenweise kehrten die Erinnerungen des letzten Abends, der letzten Nacht zurück. Und die der vorletzten Nacht. Ich verfluchte mein Leben.

Schließlich erhob ich mich trotzdem und stakste steifbeinig ins kalte Bad. Ich wusch mir den Schlaf aus den Augen, zog mich an und goss Kaffee in meiner French Press auf. Dann holte ich Cleo hoch.
 

Als ich die Tür zum Garten erreichte, hörte ich sie schon auf der anderen Seite nach mir rufen. Sie wusste genau, wann ich kam. Kaum hatte ich die Tür aufgeschlossen, huschte sie laut schnurrend ins Treppenhaus. Mit ihr kam ein Schwall kühle Luft hinein.

„Hallo süße Maus,“ murmelte ich liebevoll und kraulte ihr geschecktes Köpfchen, während sie gurrend um meine Beine strich, „Wie geht’s dir? Ich hoffe, deine Nacht war besser als meine.“

Gemeinsam stiegen wir die Treppen zu unserer Wohnung hoch und sie erzählte mir eifrig von ihren nächtlichen Abenteuern. Ich sprach ihre Sprache nicht, aber das machte uns beiden nichts aus. Cleo und ich verstanden uns auch ohne Worte.
 

Wir frühstückten zusammen und nachdem ich Marius‘ Cornflakes leidenschaftlich in den Müll gekloppt hatte, fuhr ich zur Arbeit. Es war halb vier, als ich schließlich verschwitzt und ölbeschmiert wieder nach Hause kam.
 

Ich betrat meine Wohnung und spürte es schon, bevor ich es sah. Cleo lag auf ihrem Lieblingsplatz auf dem Fensterbrett in der Küche. Ihr Schwanz zuckte und sie starrte auf den Platz neben sich, auf dem wohl kein Mensch außer mir etwas sehen konnte.

Ich legte meine Schlüssel auf den Küchentisch.

„Ach,“ sagte ich, „Hallo Renate.“

Sie antwortete nicht. Sie stand mit dem Rücken zu mir und schaute aus dem Fenster.

„Ich hätte nicht gedacht, dass du nochmal vorbei kommst.“

Sie ging immer noch nicht auf mich ein. Ich verdrehte die Augen.
 

„Mein Enkel,“ begann sie schließlich doch, „Das dort draußen ist er.“

Ich seufzte und trat neben sie. Ich streichelte Cleo, um sie zu beruhigen, und folgte Renates starrem Blick. Sie schaute zum Haus schräg gegenüber, das im Sonnenlicht badete. Dort schloss gerade jemand sein Fahrrad ab. Ein junger Mann, fast noch ein Junge. Kariertes Hemd, dichte braune Haare, ein zerbrechliches Schlüsselbein. Ein sehr hübsches Gesicht. Ich kannte ihn.
 

„Den…habe ich schon häufiger auf der Straße gesehen,“ sagte ich möglichst beiläufig, „Und das ist wirklich dein Enkel?“

„Sein Name ist Jasper,“ erklärte Renate, „Ich möchte, dass du zu ihm hinüber gehst und ihm ausrichtest, was ich zu sagen habe.“

Ich schnaubte und beobachtete, wie Jasper im Hauseingang verschwand.

„Ich werde ihm nicht davon abraten, schwul zu sein,“ erwiderte ich brummig, „Wenn er es ist, kann man das eh nicht ändern. Das kann ich dir versichern.“

„Aber in der Bibel steht–,“
 

„Renate, die Bibel ist hunderte von Jahren alt!“, unterbrach ich sie aufgebracht, „Wir haben jetzt aber 2013, verdammte Axt. Und wir leben in Deutschland. Die Dinge haben sich geändert. Wir richten keine Ungläubigen mehr hin. Frauen dürfen wählen. Wieso fällt es dir dann so schwer zu akzeptieren, dass dein Enkel–,“

Renate verschwand im Bruchteil einer Sekunde von meiner Seite. Noch bevor ich mich darüber entrüsten konnte, erklang ihre schrille Stimme hinter mir.
 

„Ich kann das nicht akzeptieren!“
 

Mein Geduldsfaden riss und ich fuhr so heftig zu ihr herum, dass Cleo ebenfalls die Nerven verlor und hektisch von der Fensterbank sprang, um sich im Schlafzimmer zu verkriechen.

„Meine Fresse, hör mir mal gut zu! Das ist nicht deine Entscheidung, verstanden? Du hast es nun mal zu akzeptieren, wie sehr es dir auch missfallen mag. Es ist sein Leben, verdammte Axt. Er ist nun mal so wie er ist und daran kann er gar nichts rütteln. Und wenn du ihn nicht genau so akzeptieren kannst, dann–,“

Ich brach ab, weil ich plötzlich nicht mehr wusste, ob ich über Jasper oder mich sprach. Renate nutzte diese Unterbrechung, um die alles entscheidende Frage zu stellen.
 

„Wirst du mir nun helfen oder nicht?“
 

Ich öffnete den Mund, um ihr endgültig meine Hilfe zu versagen. Aber dann zögerte ich. Einerseits widerstrebte es mir zutiefst, ihrem rücksichtslosen Wunsch nachzukommen. Andererseits würde sie ohne meine Hilfe wohl noch lange keinen Frieden finden. Und außerdem – und ich verachtete mich selbst dafür – war ihr Enkel Jasper wirklich sehr, sehr hübsch. Und voll mein Typ. Es stimmte, ich hatte ihn auf der Straße gesehen. Die volle Wahrheit war aber, dass ich ihm jedes Mal, wenn wir uns auf der Straße begegnet waren, hinterher gesehen hatte. Und nun bekam ich diese Chance. Einen Vorwand, seinen Namen zu benutzen, mit ihm zu reden, ihn kennenzulernen. Woher dieser Gedanke kam, wusste ich jedoch selbst nicht. Wollte ich Renate eins reinwürgen? Oder Marius?
 

„Meinetwegen,“ hörte ich mich sagen, „Ich rede mit ihm. Versprochen. Aber ich werde ihm nicht mit der Hölle oder so drohen. Ich helfe dir lediglich, dich mit ihm auszusprechen. Einverstanden?“

Renates Augen blitzten und sie presste die Lippen aufeinander, als hätte sie nicht übel Lust, mich ohne Abendessen auf mein Zimmer zu schicken. Aber dann nickte sie.

„Einverstanden.“
 

„Okay. Schön. Lass mich noch eben duschen und dann–,“

„Dafür haben wir keine Zeit! Ich will das jetzt sofort erledigen.“

„Meine Fresse! Kann ich wenigstens noch pissen gehen?“

„Deine Ausdrucksweise lässt sehr zu wünschen übrig, junger Mann.“

„Pah!“
 

Zehn Minuten später befand ich mich in Jaspers Treppenhaus.
 

Treppenhäuser waren nicht mein Ding. Marius‘ Treppenhaus war das dreckigste und düsterste der Welt gewesen. Dieses hier roch nach Kohl. Renate war verschwunden, vermutlich war sie schon oben. Langsam stieg ich die Treppen hinauf. Ich war nervös wegen des vor mir liegenden Gesprächs. Außerdem schämte ich mich, weil ich bestimmt nach Schweiß roch und meine Haare strähnig waren. Und ich trug noch immer meine verdreckte, ölige Arbeitskleidung. So einen wie mich würde selbst ich nicht in meine Wohnung lassen. Wieso sollte es also Jasper tun?
 

In der dritten Etage wartete Renate auf mich. Sie deutete wortlos auf die linke Tür und verschwand, bevor ich noch weitere Fragen stellen konnte. Am Klingelschild stand P. Nering/ J. Vosshage. Ich strich mir einige Male durchs Haar und rieb meine fleckigen Finger an der Hose ab. Dann knurrte ich, um die Kraft meiner Stimme zu testen. Ich überflog all die Dinge, die ich gleich sagen musste, all die Erklärungen, die ich geben musste und die so schwer auszudrücken und noch viel schwerer zu verstehen waren.
 

Ich hob die Hand, um zu klingeln, zögerte aber. Ich hatte Schiss. Nach all der Zeit hatte ich mich nie an diese Gespräche gewöhnen können, ich hatte den richtigen Dreh nie rausbekommen. Und jetzt Jasper. Wollte ich dieses Risiko wirklich eingehen? Wäre es nicht besser, ihn für immer bloß flüchtig auf der Straße zu sehen? Ich konnte mich für immer nach ihm umdrehen und bewundern, wie leichtfüßig er sich bewegte und wie sein Haar in der Sonne leuchtete. Meiner Phantasie freien Lauf lassen und eine risikofreie Schwärmerei genießen. Es tat mir in der Seele weh, dass ausgerechnet er mich bald für einen Irren halten sollte. Ich hatte schon Marius auf diese Weise verloren. Er war einfach aus meinem Leben verschwunden, ohne sich noch einmal umzudrehen.
 

Doch Versprechen musste man halten. Wagemutig klingelte ich an der Tür.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Deedochan
2013-08-10T09:10:08+00:00 10.08.2013 11:10
Hey ho Lung!
Danke für das Kapitel ^^ Ich mag Renate jetzt schon *kicher* - ich kann sie mir richtig gut vorstellen. So diese typische alte Frau in der U-Bahn, die sich mit ihrem Mann (oder auch ohne Begleitung) dauernd über "die Jugend von heute" aufregt XD
Dass das Kapitel da endet, ist relativ fies. Ich bin schon sehr, sehr, sehr neugierig :D

bis demnächst!
Deedo
Von:  Kaoru
2013-08-10T07:49:03+00:00 10.08.2013 09:49
Guten Morgen ;)
Das ist doch mal ein Vormittag nach meinem Geschmack - ein Blick auf Mexx und festgestellt, dass du fleißig warst :D

Super - Renate ist ja die Wucht. Uiuiui, ihr armer Enkel. Wie erleichternd, wenn er nicht derart sündige Gedanken hegen würde. Da stellt sich einem doch glatt die Frage, ob es der lieben Renate nicht tatsächlich lieber wäre, ihr armer Enkel würde anderen Männern das Gehirn wegpusten, anstatt ihnen auf den Hintern zu schielen... Homophobie werde ich wohl nie nachvollziehen können*seufz*

Und mit Tonda habe ich immer mehr Mitleid - seine Partnerschaften finden ein jähes Ende, er wird mitten in der Nacht geweckt und kaum dass er von einem stressigen Arbeitstag nach Hause kommt, darf er sich schon wieder um die Probleme anderer Menschen kümmern. Und dann auch noch Jasper. Auf dessen Reaktion bin ich übrigens sehr gespannt ;)

Dir auch ein schönes WE, meine Liebe.

Drück dich~


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