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Countdown

von

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Es gab Nächte, in denen umfing ihn die Dunkelheit mit einem traumlosen Schlaf. Manchmal, wenn er Glück hatte, weil sich Annies Arme um ihn schlossen und die Albträume fernhielten. Öfter, wenn er kein Glück hatte, weil er zu ausgezehrt war, zu betrunken oder zu high auf der neusten Droge, die sein neuestes Kapitolaccessoire mit zu seinem neuesten, arrangierten Date gebracht hatte, um überhaupt noch zu träumen.

Diese Nacht gehörte weder in die eine noch in die andere Kategorie.

Gewissermaßen war er trotzdem high – high, wie es nur ein Sieger sein konnte.

High auf Bilder. High auf Geräusche. High auf Erinnerungen.

High auf Blut, das längst keine physische Realität mehr besaß.

Genau zehn Hungerspiele war es her, da hatte er bereits einmal in diesem Bett geschlafen – ohne Albträume, ohne Sorgen, ohne PTSD. Damals hatte er geschlafen wie ein Stein, zumindest bildete er sich das ein. Heute zuckte er jedes Mal zusammen, wenn er glaubte, etwas zu hören. Schritte auf dem Flur. Ein entferntes Hupen, irgendwo am anderen Ende des Kapitols. Das leise Zoomen der Kameras, von denen er nicht mit Bestimmtheit sagen konnte, wo sie installiert worden waren. Vielleicht sogar Mags‘ Atmen im Raum neben dem seinen, obwohl das Schwachsinn war.

Schwachsinn, wie die Bilderflut, die vor seinem inneren Auge ablief.

Die Ernte vor elf Jahren, mit ihrem furchtbar naiven Vierzehnjährigen, der glaubte, die Spiele gewinnen zu können. Der Trainingsscore von 10, der ein paar Zimmer weiter über den Fernseher geflackert war. Ein vierzehnjähriger Junge in einem Streitwagen, der in seinem Kostüm vielleicht so aussah, wie ein zwanzigjähriger Meeresgott, aber nicht wie Finnick Odair. Drei namenlose Farbflecken, die Wachs auf seinen Beinen verteilten. Der Dreizack, möglicherweise das teuerste Geschenk, das je in die Arena geschickt worden war. Ein Ort, der Distrikt 1 hätte sein können – idyllisch mit Weinstöcken, Lavendelfeldern, niedlichen Tieren in den lichten Wäldern und sogar einer Edelsteinmine – wären die Weinreben nicht Schlingpflanzen gewesen, der Lavendel nicht giftig, die Biber nicht bissig und die Mine voller Kohlenstoffmonoxid. Caesar Flickermans strahlend weißes Fernsehlächeln. Lyssa Makrams Fischfinger, die quälend langsam den Zettel aus der Glaskugel zogen. Das golden glänzende Füllhorn, mit allem, was sich ein Career wie er wünschte. Das kleine Mädchen aus 5, das ihm etwas sagte, ohne, dass er ihre Worte verstand. Seine Hand, wie sie sich um den Dreizack schloss, wie eine Verlängerung seines Arms. Die gleichen Hände, die sich im Salzwasser wuschen, obwohl man längst nichts mehr sah. Der Junge aus 11, der versuchte, zum ersten Mal in seinem Leben eine Kletterwand zu erklimmen. Der Junge aus 1, wie er seine Hand nach ihm ausstreckte, während sich die Weinranken um seinen Hals wanden. Irgendwann waren es nur noch Gesichter.
 

Zwischen halb geschlossenen Augenlidern nahm die Tür, die zum Bad führte, im morgendlichen Dämmerlicht, das langsam in seinen Raum kroch, Formen an. Das Mädchen mit den schockroten Haaren, Distrikt 1, überlagerte das Bild. Sie hatte das Füllhorn als zweite erreicht und ihrem Verbündeten den Rücken zugedreht, um nach einem Schwert zu greifen. Ein Fehler, natürlich, doch sie erkannte ihn nicht mehr, weil er ihr längst einen Speer in den Rücken gerammt hatte.
 

Finnick wusste, dass er aufstehen sollte, aber er konnte es nicht über sich bringen. Noch nicht.
 

Ein rundes Gesicht, ein gepflochtenes Zöpfchen hinter jedem Ohr. Das Mädchen aus 12, vielleicht vierzehn und mit einem Trainingsscore von 3, starrte auf die Wunde in ihrem Bauch. Der weiße Stoff der diesjährigen Arenakleidung sog sich rings um das Messer bereits mit Blut voll, während ihre grauen Augen immer größer wurden. Der Junge, der das Messer hielt, blinzelte nicht. Stattdessen drehte er die Klinge.
 

Vor seiner Tür hörte er jetzt definitiv Schritte. Vermutlich waren es die beiden Stylisten, Avox bewegten sich leiser.
 

Sommersprossen, blaue Augen, dazu kurzgeschorene Haare auf und nur Holzwolle in seinem Kopf. Der Junge aus 7, ein wahrer Hühne, machte den Fehler, in der zweiten Nacht ein Feuer zu entzünden. Irgendeinen gab es immer. Vom Füllhorn hatte er nicht nur Streichhölzer, sondern auch eine Axt, die Beine auf Höhe der Oberschenkel abtrennen konnte. Während Helen neben ihm fiel, nutzte der Junge neben ihr den Moment und stach zu. Speere hatte er genug.
 

An der Tür klopfte es. Finnick öffnete den Mund, doch seine Kehle war zu trocken, um einen Ton herauszubringen.
 

Ihre Stylistin hatte Helen die Haarspitzen meergrün gefärbt, passend zum Distrikt. Nun hingen ihr die Strähnen in die schweißnasse Stirn und der grüne Farbton ließ sie noch blasser wirken. Sie sagte etwas, doch er hörte sie nicht. Er verstand sie trotzdem und beugte sich langsam neben sie. Dieses Mal nahm er das Messer, weil sie es war. Ein paar Stunden später kam der Dreizack.
 

Die Tür öffnete sich lautlos und grelles Neonlicht flutete das Zimmer. An der Decke konnte er seltsame Schatten-Haie tanzen sehen, während Candice den Kopf hereinsteckte.

„Finnick, Sugarcube? Bist du wach?“

Nein, war er nicht.
 

Er war bei den Zwillingen aus Distrikt 3. Er hat langes, blondes Haar und schon einen knappen Kinnbart, sie hatte sich die braunen Haare irgendwann in der Arena abgeschnitten. Beide zappelten in seinem Netz, während Hayden und der Junge immer wieder auf sie einstachen. Es war einfach, nachdem sie nur erst einmal verstanden hatten, wie sie die Ranken schneiden konnten, ohne von ihnen erwürgt zu werden.
 

Mühsam rollte er sich auf die Seite und drückte seinen Oberkörper in eine Position, die vielleicht senkrecht wirkte, wenn niemand mit einem Lineal nachmaß. Finnicks erster Blick galt dem Fenster, hinter dem er die Morgensonne nur erahnen konnte, weil die Hochhäuser sie verdeckten, sein zweiter galt seinem Stylisten. Candice war bekannt dafür, Zucker zu tragen – Zucker in Farben. Heute war sein Zucker grün wie Alkohol, die Haare, die Rüschen, der Lidschatten. Das Outfit blendete beinahe noch greller, als die Lampen hinter ihm.
 

Rabenschwarzes Haar, unnatürlich lavendelfarbene Augen und ein Lachen, das ansteckte. Noch acht Tribute, hatte Hayden gesagt, wenn er sich nicht verzählt hatte. Die Beiden aus 2 lebten noch, vermutlich ging der letzte Tote, der Junge aus 10, auf ihr Konto. Ansonsten das Mädchen aus 5, Hayden, der Junge. Es war noch zu früh, um die Allianz aufzubrechen. Es waren noch zwei Careers zu viel, das wussten sie beide. Dennoch gab der Junge Hayden den Stoß, der ihn in den Weinstock stolpern ließ.
 

Candice erwartete nicht, dass er etwas sagte, und dafür war Finnick ihm unendlich dankbar. Sie arbeiteten mittlerweile seit drei Jahren zusammen und in dieser Zeit war der Stylist möglicherweise zu seinem Lieblings-Kapitolbewohner geworden, wenn auch nur, weil er nicht mit ihm schlafen wollte.
 

Er erwischte den Jungen aus 2, bevor er ihn erwischte. Fettige Haare, die seit Tagen keine Wäsche mehr gesehen hatten, und der Schorf einer alten Verletzung verkrustete die Haut über seinem linken Auge. Craster war nicht der typische Distrikt 2-Tribut. Sein Alter war zu erwarten – achtzehn – ansonsten war er schmächtiger als der Durchschnitt und klüger. Es war kein langer Kampf. Ein kurzer Schlagabtausch, ein geschickter Wurf, der fallende Rubin, der die Giftfalle auslöste. Seine Stylisten hatten sein Haar für das Interview rot gefärbt, doch als der Junge Craster den Dreizack durch die Brust rammte, war das einzig Rote sein Blut.
 

Der Morgen auf dem Dach des Trainingscenters war trüb und kalt. Vielleicht hätte er doch mehr anziehen sollen, andererseits war es letztendlich egal. Die Leiter brachte ihn in sein eigenes, warmes Hovercraft, zu seinem Henkersfrühstück und dem Kapitolarzt, der ihm den Tracker in den Unterarm rammte.
 

Das Mädchen aus 2, Jezobel, sucht er drei Tage lang. Am vierten verstand der Junge, dass er sie nicht mehr suchen brauchte. Stattdessen fischte er den letzten anderen Teilnehmer, den kleinen, drahtigen Jungen mit den Sicheln aus 11, und flog mit einem Hovercraft zurück ins Kapitol.
 

„Du solltest etwas essen“, empfahl Candice ihm leise, obwohl dieser selbst auch keinen Bissen runterzubekommen schien.

Finnick nickte düster und setzte sich an den bereitgestellten Tisch. Es war alles da, was er wollte und mehr – was leicht zu bewerkstelligen war, denn sein Magen fühlte sich an wie Blei. Trotzdem griff er lustlos nach einem Apfel. Er hätte auch Fisch haben können, aber den hätte er vermutlich nur auf seine Plattform gekotzt. Zugegeben, es wäre ein denkwürdiges Ende. Vielleicht würde er auch den Apfel auf die Plattform kotzen, doch er wusste, dass er jetzt essen und trinken musste. Er wusste es nur zu gut.
 

Seinen ersten Tribut verlor er an Tag 5.

Während der Parade hatten die Stylisten Taylor zu einem Piraten stilisiert, mit Federhut, echtem Papagei, Augenklappe und allem. Ihn tötete weder ein anderer Tribut, noch die Wunde über der rechten Schulter, die Taylor sich bereits während des Blutbads eingefangen hatte, obwohl zumindest letztere möglicherweise ihren Teil dazu beigetragen hatte. Nein, Grund war schlicht schlicht und ergreifend Hitze und Durst und die Unfähigkeit des Jungen, Wasser in einer Wüste zu finden.
 

Der Apfel schmeckte schal und künstlich. Wie in Pappe gehüllten Schaumstoff, in den man Wasser und Zucker gespritzt hatte.
 

Seinen zweiten Tribut verlor er später. Dunkle Haare, dunkle Haut, ein Arbeitsleben am Strand. Es schützte sie vielleicht besser, doch Yara erkaufte sich die kurze Verlängerung ihres Lebens teuer. Sieben Jahre nach ihren Spielen fand Mags sie, aufgeknüpft an einem der Bäume ihres kleinen Gartens im Dorf der Sieger und im vierten Monat schwanger. Die Medien des Kapitols berichteten nicht darüber, aber von den Siegern wusste es jeder. Snow sorgte dafür.
 

Die Banane, die er danach schälte und aß, schmeckte nicht besser. Zucker. Falsche Aromen. Pappe. Überall Pappe.
 

Louis und Cadence verlor er beide im Blutbad. Er war ein kleiner Fünfzehnjähriger, die Haare Kapitol-blau gefärbt, die Augen immer noch Distrikt-4-grün. Sie war eine große Siebzehnjährige, die Haare immer noch Distrikt-4-braun, ihre Augen nicht mehr blau. Sein Tod war nicht mehr als ein unglücklicher Zufall, verursacht durch den Junge aus 9, der eine Millisekunde zu früh von seinem Podest sprang und die beiden Tribute links und rechts neben sich mitriss. Cadence hatte immerhin noch die Chance auf das Füllhorn. Tatsächlich fand sie das Schwert, das sie suchte – und dann den falschen Gegner. Es war ein schwarzes Jahr, aber wenigstens war es schnell vorüber.
 

Während er an einer Wasserflasche nippte, verdunkelten sich die Fenster des Hovercrafts schließlich. Kurz suchte er nach dem Adrenalinschub, den er erwartete, doch dieser blieb aus. Sein Herz schlug ihm längst bis zum Hals. Ihm blieb nicht mehr als Warten und die Bilder vor seinen Augen.
 

Ein flüchtiges Lächeln, das erahnen ließ, dass zumindest eine der diesjährigen Careers begriffen hatte, dass ihre Chancen eins zu vierundzwanzig waren. Gloria starb an Tag 12 an Blutvergiftung. Bereits seit Tagen ging es ihr schlecht. Die Wunde, die das Mädchen aus 6 ihr zugefügt hatte, siffte, doch die Sponsoren kassierte in diesem Jahr ein anderer – Gloss, den Schönling aus Distrikt 1, der nur beliebt war, weil seine Schwester im Jahr zuvor gewonnen hatte.
 

Der Weg in seinen Launch-Raum, war kurz und kalt. Candice stöckelte mit hohen Absätzen voraus, die Friedenswächter marschierten mit Stahlkappenstiefeln hinter ihm her.
 

Luke strangulierten sie im Schlaf, an Tag 14.
 

Candice schnappte sich den Anzug, den man ihm für die Arena bereitgelegt hatte, bevor Finnick danach greifen konnte. Ein paar Minuten vergingen, während sein Stylist den Stoff einfach nur durch seine Finger gleiten ließ und unzeremoniell daran roch.

„Erinnert mich an einen Tauchanzug“, verkündete er schließlich.

Finnick verzog das Gesicht. Er kannte Tauchanzüge aus seinem Distrikt. Die Muscheltaucher verwendeten welche und die Leute, die sich auf die Reparatur der Fischkutter spezialisiert hatten. Yara hatte einen … gehabt. Gesehen hatte er jedenfalls genügend davon – und das, was Candice da zwischen den langen Fingernägeln hatte, war ziemlich sicher kein Tauchanzug. Wenn ihm eine Wahl blieb, würde er das Ding nicht einmal zum Schwimmen anziehen.

Candice zuckte mit den Achseln.

„Ist nur geraten. Ich glaube jedenfalls nicht, dass der dich vor Kälte schützt.“
 

Sam hatte sich dem Career-Pack nicht angeschlossen, was möglicherweise die klügere Entscheidung gewesen war. Letztendlich hatte ihn das vor dem Muttüberfall auf das Lager gerettet. Leider rettete es ihn nicht vor der Lungenentzündung, die ihn letztendlich umbrachte.
 

Der Anzug juckte, kaum, dass er ihn komplett angezogen hatte, aber möglicherweise waren das nur die Nerven. Er unterdrückte das Bedürfnis, sich zu kratzen und tauschte eine letzte Umarmung mit Candice. Er spürte förmlich, wie sich das Parfum des anderen auf ihn übertrug, doch er roch einfach nicht hin.

„Viel Glück, Sugarcube.“

„Danke.“
 

Meta hingegen war im Career-Pack geblieben und hatte es bereut. Sie war erst vierzehn – so alt, wie er gewesen war und damit viel zu jung – und allein deshalb in den Augen ihrer Verbündeten bereits so gut wie Kanonenfutter. Ihre Lage hatte sich mit dem Muttüberfall verbessert, hatte er doch die Gruppe drastisch dezimiert, aber am Ende waren die Careers, die mit ihr übrig geblieben waren, vielleicht nicht intelligenter, aber stärker. Das Schwert des Jungen aus Distrikt 2 schlitze ihr die Wange und den Mund auf, der nächste Hieb durchbrach ihre Schulter. Den dritten, der ihr Leiden schnell hätte beenden können, gönnte ihr niemand.
 

Die Glaszylinder schlossen sich stumm, dann hob sich die Plattform, auf der er stand, langsam nach oben, in die Dunkelheit unter der Arena.
 

Den Jungen der 70. Spiele hatten sie geköpft, noch am Abend nach dem Blutbad. Die beiden Tribute aus 2 und der Trunkenbold aus 7. Die anderen ließen sie machen, die Beiden aus 1 genauso, wie das Mädchen aus 10, das sie nur wegen ihres Könnens mit dem Bogen aufgenommen hatten. Vegetarierin, das Kapitol machte Witze darüber, bis sie ertrank. Bis sie alle ertranken. Alle, außer Annie.
 

Das erste, das Finnick sah, war Wasser. Viel Wasser und dem Geruch nach zu urteilen salzig. Dann Sonne über ihm und das Füllhorn auf einer Insel, vielleicht vierzig Yards entfernt.
 

Der Junge der 71. Spiele starb im Füllhorn. Da waren sie schon nur noch zu fünft, alles Careers bis auf das Mädchen aus 3. Er hatte sich von der Allianz gelöst, das Mädchen aus 1 ausgeschaltet und sich dann im Füllhorn versteckt. Zwei Tage lang, dann hatten sie ihn. Sein Tod war blutig.
 

Vielleicht hatte er noch eine dreiviertel Minute. Er schenkte den dünnen Landstreifen, die von der Füllhorninsel zum Strand hinter ihm führten, nur einen kurzen Blick. Länger beäugte er den Strand selbst und dann die Bäume dahinter. Finnick kannte Bäume mittlerweile, auch wegen den Siegestouren, aber selbst in Distrikt 7 hatte er nichts dergleichen gesehen. Das war nicht gut.
 

Das Mädchen der 71. Spiele wurde zweite. Sie nahm noch ein Auge und ein Ohr des Jungen aus 1 mit sich, bevor er ihr den Schädel einschlagen konnte. Ausgerechnet mit der Tasche voller giftiger Äpfel, die sie dem Mädchen aus 3 abgenommen hatten. Das Kapitol feierte das Mädchen aus 3 daraufhin tagelang, weil sie quasi posthum für den Tod von drei Favoriten gesorgt hatte.
 

Noch eine halbe Minute. Sein Blick wanderte zu den Tributen. Er konnte Cashmere und Gloss auf seiner einen Seite sehen, keiner von beiden wirkte sonderlich begeistert. Miese Schwimmer, beide.
 

Die Tribute der 72. Spiele erfroren beide. Nicht, dass es kein Feuerholz gab – seit diesem einen, besonders langweiligen Hungerspiel, bei dem der Großteil der Tribute binnen weniger Tagen erfror, gab es in kalten Szenarien immer Holz – es war nur nicht genug. Nicht genug, um Tribute zu wärmen, die die heißen Sommer und milden Winter von Distrikt 4 gewohnt waren. Es ging bei beiden nicht schnell. Sie konnte irgendwann einfach nicht mehr, auf der Suche nach Opfern fiel sie in den Schnee und blieb liegen, die blonden Haare eine Kaskade in all dem Weiß. Er stand ein paar Tage später einfach nicht mehr auf. Das Hovercraft musste ihn im Schnee suchen.
 

Vielleicht zwanzig Sekunden. Katniss und Peeta waren beide ähnlich weit von ihm entfernt. Finnick konnte Mags sehen, Chaff und Seeder. Enobaria und Brutus hingegen waren außerhalb seines Sichtfelds und es gefiel ihm nicht.
 

Das Mädchen der 73. Hungerspiele geriet den Spielemachern in die Quere. Ihr Vater war ein Sieger und ein unbeliebter noch dazu. Er wusste, dass sie ihn und ihren Distrikt nur stolz machen wollte, doch sie hätte zu Hause bleiben sollen. In der Arena war sie ab dem Gong die Zielscheibe. Ein ausgewachsener Bär trennte sie vom Rest der Allianz. Danach fanden immer wieder Tribute den Weg ausgerechnet in ihre Richtung. Der Junge aus 7. Der Junge aus 8. Das Mädchen aus 3. Es brauchte ein Herde Bison-Mutts, um sie endlich umzubringen. Nach der Panik zeigten die Kameras nur kurz den Blick auf ihr Gesicht – oder das, was davon übrig war.
 

Vielleicht fünfzehn Sekunden. Sein Blick heftete sich auf das Füllhorn. Er würde schwimmen müssen. Entweder direkt zu der Insel oder zu dem Landsteg rechts neben ihm. Beides würde Zeit kosten.
 

Der Junge der 73. Hungerspiele war ein Feigling. Es waren seine Eltern, die ihn in die Hunger Spiele gedrängt hatte, zumindest hatte er ihm das nach dem Interview gebeichtet. Für zwei Wochen hoffte er, ihn nach Hause bringen zu können, dann stürzte er sich in die Gitterfalle von Distrikt 3.
 

Vielleicht zehn Sekunden. Schwimmen.
 

Der Junge der 74. Hungerspiele starb während des Blutbads. Er hatte die Waffen, er hatte die Allianz, er hatte den Mut – Peeta hatte das Glück der Verzweifelten und ein Taschenmesser.
 

Vielleicht fünf Sekunden.
 

Das Mädchen der 74. Hungerspiele schlug sich besser, bis sie unter diesem verfluchten Baum campten. Gegen die Regeln. Keine Gefangenen. Keine sinnlose Wartezeit. Keine Nachtruhe, wenn der Feind über einem in einem Baum hockte. Vielleicht hatte sie die Jägerwespen verdient. Was sie nicht verdient hatte, war die Nahaufnahme, nachdem das Gift der Insekten sie vollkommen entstellt hatte.
 

Keine Zeit mehr.
 

Der Junge der 75. Hungerspiele stand auf seinem Podest und zitterte. Vereinzelte Sommersprossen auf den Wangen. Kurze, dunkelblonde Haare. Weit aufgerissene, seegrüne Augen. Der Kopf leergefegt und voller alter Dämonen.
 

Der Gong ertönte.
 

Für einen Moment war Finnick wieder vierzehn.

Dann sprang er und schwamm.



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Kommentare zu diesem Kapitel (6)

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Von:  Marron
2014-02-25T14:49:25+00:00 25.02.2014 15:49
Ooooh, eine FF zu "Hunger Games". Bisher habe ich hier wenige gesehen. Und noch habe ich nicht viele gelesen. Aber die hier ist gut. Du hast dich auf Finnick konzentriert, welcher mir in den Büchern doch zu kurz kam. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass der Finnick, der sich nachher den Rebellen anschliest, so eine Vorgeschichte hatte. Du triffst es gut, den Leser erst einmal mit den Eindrücken allein zu lassen, bis man einen Sinn in die Abschnitte bekommt. Dadurch bekommt man das Gefühl, ein wenig in seinen Kopf zu kriechen. Und man bekommt Lust, das zweite Buch noch einmal zu lesehen. (Ich jedenfalls)

Wie du auf die einzelnen Leute eingehst, die er als Mentor betreut hat, lässt einem kurz einen Schauer über den Rücken fahren - das ist klasse! ^^
Und im ersten Moment fragt man sich, ob er die beiden Hauptpersonen wahrgenommen hat - bis die Stelle mit Peeta kommt.

Mach einfach so weiter, Stil und Idee sind meiner Meinung nach toll.
Von:  Wieldy
2013-12-07T17:02:19+00:00 07.12.2013 18:02
Sehr gut geschrieben. Und es ist Finnick. Ich mag deinen Stil wirklich gerne.
Von:  Finvara
2013-06-11T09:24:54+00:00 11.06.2013 11:24
Nun hab ich ich tatsächlich das Bedürfnis die Tribute von Panem zu lesen.
Ich mag deinen Schreibstil. Am Anfang wirkt es eher wirr, bis eine Struktur deutlich wird. Das hat mir gut gefallen. Ich mag sowas.
Die Art, wie die Toten gestorben sind(Ha, das klingt furchtbar falsch) wirken auf mich eher nüchtern, während die Abschnitte, in denen es um Finnick geht voller Emotionen sind. Ich mag diesen Wechsel. Das macht das ganze spannender.
Diese Art von Countdown gefällt mir verdammt gut, Es ist so... am Ende habe ich einfach Mitleid mit Finnick und hoffe, dass er nicht noch mehr Alpträume erleiden muss. Das er glücklich sein darf. Vermutlich ist das nicht der Fall, aber das wünsche ich ihm.
Antwort von: Arcturus
11.06.2013 20:02
Danke für den Kommentar. :)
Ob dir die Hunger Games gefallen würden, kann ich leider nicht sagen - ich fürchte, mein Stil weicht doch ziemlich von der Reihe ab. Außerdem hat die Serie leider auch ihre Defizite...

Was mit Finnick passiert, erzähle ich dir an dieser Stelle jetzt lieber nicht. Gehen wir einfach davon aus, dass es nach meiner Geschichte nicht weiter geht. Oder so. XD

lg
NIX
Antwort von:  Finvara
12.06.2013 02:22
Bitte :)
Das dein Stil nicht dem des Buches entspricht hab ich mir fast gedacht :) Aber ich hab mich ein wenig mit der Reihe beschäftigt bevor ich deine Ff gespeichert hatte. Unter anderem auch mit Finnick, damit ich weiß, mit wem ich mich beschäftige.
Antwort von:  Finvara
19.12.2013 09:47
Nachdem ich die Bücher gelesen haben, kann ich deinen OS natürlich besser kommentieren. Wird heute Abend passieren :)
Von:  _Delacroix_
2013-06-01T23:35:00+00:00 02.06.2013 01:35
Das ist also das Bunny, das dich bis 4 Uhr früh wachgehalten hat?
Okay, es wundert mich nicht, dass es die Hunger Games sind, ehrlich gesagt hatte ich mir das gedacht. Das es Finnick ist, der mit Hasenohren herumgehoppelt ist, überrascht mich eher. Wobei, es ist Finnick.
Ich mag die Geschichte, auch wenn sie ziemlich deprimierend ist und he, ich habe beim lesen eine alte Bekannte wiedergefunden. XD
Find ich cool.


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