The Boy
„Du.“
Eine tiefe Stimme reißt ihn aus dem Schlaf.
„Endlich habe ich dich gefunden.“
Der Junge öffnet die Augen und blinzelt.
Die Sonne blendet ihn.
„Wer bist du?“, fragt er.
Er hebt die Hand, um seine Augen gegen das helle Licht abzuschirmen.
Vor ihm ragt eine hünenhafte Gestalt auf.
„Familie“, sagt der Fremde und lächelt.
Der Junge hat ihn noch nie zuvor gesehen, und doch ist ihm sein Lächeln schmerzlich vertraut.
„Ich habe keine Familie“, erwidert er. „Ich habe noch nicht mal einen Namen.“
„Dein Name ist Loki“, entgegnet der Fremde.
Er streckt dem Jungen seine Hand hin.
„Und du hast mich.“
~*~
„Was starrst du so?“, fragte Clint finster.
Der Junge sah ihn einen Moment lang aus großen Augen an und hob dann abwehrend die Hände.
„Hey, irgendwo muss ich ja hingucken.“
„Dann guck woanders hin, aber nicht in meine Richtung.“
Er wusste, dass es unfair von ihm war, den Jungen so zu behandeln, aber es war ihm egal. Dieses Mal war Loki machtlos, dieses Mal saß Clint am längeren Hebel, und er gedachte, diese Tatsache auch auszunutzen.
Sie saßen in einem kleinen, schmucklosen Raum, zwischen ihnen lediglich ein leerer Tisch. Die Wände waren kahl, abgesehen von einem Fenster, hinter dem sich ein weiterer Raum befand, in den sie jedoch nicht hineinsehen konnten, da das Glas verspiegelt war.
Die Avengers nutzten das Verhörzimmer nur sehr selten, aber da niemand wusste, wo sie den Jungen sonst unterbringen sollten, hatten sie ihn vorerst in diesen Raum gesteckt – zusammen mit Clint, der aufpassen sollte, dass der Bengel keine Dummheiten anstellte, während die anderen sich berieten, wie sie weiter mit ihm verfahren sollten.
„Du magst mich nicht besonders, oder?“, fragte der Junge nach einer Weile.
„Ich frage mich, wie du nur auf den Gedanken gekommen bist“, entgegnete Clint trocken und verschränkte die Arme vor der Brust.
Der Junge stützte das Kinn in die Hand und starrte auf die Tischplatte, bevor er weitersprach.
„Ich bin nicht er, weißt du. Der, vor dem du Angst hast.“
„Ich habe keine Angst vor dir“, stellte der andere klar.
„Warum hasst du mich dann?“, fragt der Junge und hob trotzig seinen Blick, um ihn anzusehen.
Es war eine berechtige Frage.
Abgesehen von seinen altklugen Sprüchen hatte der Junge fast nichts mit der Gottheit gemeinsam, deren Namen er trug.
Er mochte vielleicht zehn oder zwölf Jahre alt sein, so genau konnte Clint das bei Kindern nie sagen. Unter einem Schopf rabenschwarzer Haare musterten ihn ungewöhnlich klare, grüne Augen.
Seine Sachen waren abgetragen: seine schwarze Hose hatte mehrere Löcher und sein dunkelgrüner Kapuzenpullover starrte vor Schmutz. Tony hatte nicht gelogen, als er gesagt hatte, dass er selten ein so verwahrlostes Kind gesehen hatte, wie den Jungen, den Thor in einem der Außenbezirke von New Orleans entdeckt hatte.
„An was kannst du dich noch erinnern?“, fragte Clint, die Frage des Jungen nicht weiter beachtend.
Loki zuckte mit den Schultern. „An ein Leben auf der Straße. Wie lange ich dort gelebt habe... keine Ahnung. Vielleicht Wochen, vielleicht Monate – vielleicht auch nur wenige Tage. Es ist alles ein bisschen... verschwommen. Als hätte ich von einem Tag auf den anderen plötzlich angefangen zu existieren.“
Er rieb sich die Schläfe, als würde sein Kopf allein bei dem Versuch, die Erinnerungen zurückzuholen, schmerzen. Wie auch immer es ihm gelungen war, dem Reich des Todes zu entkommen, die Nachwirkungen machten ihm offenbar noch immer schwer zu schaffen.
„Das erste, woran ich mich bewusst erinnern kann, ist der Moment, in dem Thor mich fand“, fuhr der Junge stockend fort. „Er nahm meine Hand und plötzlich war alles wieder da. Nicht die Erinnerungen an mein altes Selbst – an das Monster, das ich einst war – aber die Erinnerungen an Asgard. Daran, dass ich eine nordische Gottheit bin und einen Bruder habe... dass ich nicht allein auf dieser verdammten Welt bin, wie ich in den letzten Wochen immer geglaubt habe.“
Der Junge lächelte gedankenverloren und verdammt, Clint ertappte sich dabei, wie er langsam Mitleid mit ihm bekam. Das konnte er nicht zulassen. Er knallte seine Handfläche auf den Tisch und Loki zuckte erschrocken zusammen.
„Das ist alles sehr rührend“, sagte Clint. „Aber dein Vorgänger war ein durchtriebener Mistkerl. Selbst wenn stimmt, was du sagst, heißt das noch längst nicht, dass du nicht genauso bist wie er – oder es zumindest eines Tages wirst.“
„Dann gebt mir eine Chance!“, erwiderte der Junge leidenschaftlich und ballte seine Hände zu Fäusten. „Gebt mir die Gelegenheit, euch zu zeigen, dass ich nicht wie er bin, und dass ich meine eigenen Entscheidungen treffe!“
„Dein Bruder hat dir in deinem letzten Leben mehr als genug zweite Chancen gegeben“, entgegnete Clint ruhig. „Und du hast sie alle verhauen. Wer garantiert uns, dass du es dieses Mal besser machen wirst...?“
~*~
„Ich weiß nicht, Thor“, sagte Tony, der in dem Raum auf der anderen Seite der Scheibe stand und Hawkeye und den Jungen beobachtete. „Ich meine, er sieht harmlos aus und alles, aber er ist immer noch Loki. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er sich zu einem Sicherheitsrisiko für uns entwickelt und erneut versucht, die Welt zu erobern.“
„Er ist nur ein Knabe“, erwiderte Thor, dessen Blick nicht von seinem jüngeren Bruder wich. „Ein unschuldiges Kind. Und er ist gewillt, sein Bestes zu geben, um es zu beweisen.“
„Ich habe zwar nie Bekanntschaft mit seinem Vorgänger machen dürfen“, meinte Carol, „aber wenn ihr mich fragt, sieht der Junge harmlos aus.“
„Wenn er tatsächlich harmlos wäre, dann wäre er längst wieder in Asgard“, sagte Bruce. Er warf Thor einen Blick zu. „Wieso wollen ihn die Götter nicht zurückhaben?“
Der andere Mann senkte betrübt den Kopf.
„Sie halten ihm noch immer die Verbrechen vor, die er in seinem alten Leben begangen hat“, entgegnete er. „Sie wollen nicht einsehen, dass er durch seinen Tod und seine Wiedergeburt geläutert wurde, sondern halten dies nur für einen Schachzug meines Bruders, um ihr Mitleid zu erregen.“
„Nun, das ist ihm auf jeden Fall gelungen“, stellte Carol fest. „Ich meine, seht euch diese dürren Arme an! Er hat bestimmt seit Wochen nichts vernünftiges mehr gegessen.“
„Ja.“ Tony gab ein Schnauben von sich. „Entweder das, oder er will, dass wir genau das denken.“
„Steve?“, fragte Natasha. „Was meinst du?“
Alle Augen im Raum richteten sich auf ihren Anführer, der bisher schweigend der Diskussion gelauscht hatte.
„Der Junge wirkt aufrichtig“, sagte er ruhig. „Ich denke, es ist ihm ernst.“
Er blickte zu Thor hinüber. „Du hast gesagt, dass sich seine Zauberkräfte in diesem Stadium noch nicht voll entfaltet haben und er alles, was er zuvor wusste und konnte, erst wieder neu erlernen muss.“
Der Donnergott nickte.
„Das bedeutet, dass er für uns auf absehbare Zeit erst mal kein Sicherheitsrisiko darstellen wird“, fuhr Steve fort und Tony stöhnte leise auf. Er hatte geahnt, dass der andere sich so entscheiden würde.
„So mancher von uns hat eine zweite Chance erhalten, die er eigentlich nicht verdient hätte. Der Junge macht da keine Ausnahme. Außerdem kann er nirgendwo sonst hin.“ Steve sah in die Runde. „Loki wird bei uns bleiben, bis sich die Lage in Asgard wieder beruhigt hat und Thor ihn dorthin zurückbringen kann. Bis dahin werden wir auf ihn achtgeben und ihn mit Anstand und Respekt behandeln, so wie jedes andere Mitglied in diesem Team auch.“
Er sah Tony an. „Irgendwelche Einwände?“
Der andere zuckte nur mit den Schultern. „Die hebe ich mir für den Moment auf, in dem der Bengel sich gegen uns wendet. Dann kann ich immer noch rufen: ‚Ich hab’s dir ja gesagt!‘“
Carol grinste bei diesen Worten, während Thor Steve mit leuchtenden Augen ansah.
„Ich danke dir, Captain“, sagte er. „Ich werde Sorge dafür tragen, dass mein Bruder nicht erneut Unheil anrichten wird.“
Steve nickte ihm zu. „Ich zähle auf dich.“
Er sah sie nacheinander an. „Ich zähle auf euch alle.“
Und damit war die Entscheidung getroffen.
~*~
„Das hat ja nicht sehr lange gedauert“, meinte die Elster, die auf Lokis Schulter saß.
Thor war wenige Minuten zuvor in den Raum geplatzt und hatte ihnen freudestrahlend verkündet, dass der Junge vorerst bei ihnen bleiben würde. Clint hatte vehement widersprochen, aber offenbar war die Entscheidung längst gefallen, und nun führte Captain America den Jungen durch die Flure zu dem Zimmer, in dem er von nun an wohnen würde.
„Was für Narren“, fuhr der Vogel fort. Seine schwarzen Augen funkelten bösartig. „Einem ihrer ärgsten Feinde so bereitwillig Vertrauen zu schenken. Ich verspreche dir – in nur wenigen Wochen werden wir auch die intimsten ihrer Geheimnisse kennen.“
Er flatterte aufgeregt mit den Flügeln und seine kleinen, spitzen Krallen bohrten sich schmerzhaft in die Schulter des Jungen.
Doch Loki verzog keine Miene und schwieg.