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Ein Gespenst geht um

von

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Ein Gespenst geht um

„Ich habe es dir zehnmal gesagt, und ich sage es dir auch ein elftes Mal: Da ist nichts.“

„Doch“, beharrte Ludwig.

„Lieber Himmel, Westen!“ Ungeduldig breitete Gilbert die Arme aus. „Sehe ich aus wie ein Lügner?“

„Nein.“

„Na also. Und, sehe ich aus wie jemand, mit dem ein Nachtgespenst sich freiwillig anlegen würde?“

„Ja“, antwortete Ludwig ernst. „Du trägst ein Kleid.“

„Das ist ein Nachthemd, Neunmalklug! Ich schlafe nun einmal nicht mit Pickelhaube! Soll ich das vielleicht tun, deiner Meinung nach?“

„Mach dich nicht lächerlich.“

„Wer von uns macht sich hier lächerlich? Ein Gespenst will er gesehen haben, also wirklich...“

Murrend setzte Gilbert sich auf die Kante von Ludwigs Bett und strich die Decke glatt. „Schlaf einfach, Westen. Hier ist nichts Gefährliches.“

„Ich habe etwas gehört.“

„Du musst dich getäuscht haben.“

„Da war ein Schatten am Fenster“, beharrte Ludwig.

Gilbert seufzte leise. „Hier ist nichts, Lutz“, murmelte er und strich ihm über den Kopf. „Hier ist nicht Schlesien.“

Fahrig schob Ludwig seine Hand beiseite. „Ich weiß“, antwortete er in einem Ton, als könne er sich nicht entscheiden, ob er Gilbert zustimmen oder widersprechen wollte.

„Du bist hier in Sicherheit. Du brauchst keine Angst zu haben.“

„Ich habe keine Angst. Aber da war etwas am Fenster.“

Die Überzeugung in seinem Blick entlockte Gilbert ein weiteres frustriertes Seufzen. „Ich wünschte, ich hätte dir nie erlaubt, nach Schlesien zu gehen.“

„Ich war aber da.“

Er war da gewesen, und er hatte das Elend gesehen, die Verzweiflung der Weber und den völlig sinnlosen, von Anfang an zum Scheitern verdammten Aufstand. Leider hatte er auch die Niederschlagung gesehen, die Soldaten und die Leichen. Gilbert hatte gehofft, Ludwig könne die Sache vergessen, wenn er ein bisschen Luftveränderung bekam. Offenbar hatte es nicht geklappt.

„Schlaf, West“, sagte er und klopfte das Kissen auf. „Wir sind in Berlin. Hier passiert dir nichts.“

„Wirklich nicht?“

„Natürlich nicht! Nicht hier.“ Dieses nicht hier hatte einen unguten Beigeschmack. Nicht hier, aber anderswo vielleicht schon?

„Also gut“, sagte Ludwig zu Gilberts grenzenloser Erleichterung, seufzte und ließ sich wieder zurück in das Kissen sinken. „Bleibst du noch da?“

„Klar“, antwortete Gilbert und grinste. „Bis du eingeschlafen bist. Du bist schließlich mein kleiner Bruder.“

Ein blasses Lächeln zog über Ludwigs Gesicht und verschwand sofort wieder. Gilbert versuchte, nicht an Schüsse und zertrümmerte Webmaschinen und abgemagerte Leichen zu denken, sondern sich auf dieses Lächeln zu konzentrieren. Ludwig war und blieb sein kleiner Bruder. Er würde ihn nicht verlieren, weder an Gespenster noch an Rebellen irgendeiner Art.

„Schlaf gut“, murmelte Gilbert, hob den Kopf und war sich für den Bruchteil einer Sekunde sicher, einen Schatten am Fenster vorbei huschen gesehen zu haben. Er riss die Augen auf und sah genauer hin, aber da war nichts bis auf die Nacht, die nur leicht von den Sternen erhellt wurde. Hastig warf er einen Blick auf Ludwig, der die Augen geschlossen und offensichtlich nichts bemerkt hatte. Sein Gesicht sah sehr friedlich aus. Gilbert strich ihm die strohblonden Haare aus der Stirn und versuchte verbissen, seine düstere Vorahnung zu verdrängen. Er wusste noch nicht oder wollte noch nicht einsehen, dass er die Augen nicht mehr lange würde verschließen können.

Es war das Jahr 1848, und in Berlin ging ein Gespenst um.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Sternenschwester
2013-05-13T18:49:44+00:00 13.05.2013 20:49
huh einmal wieder eine FF von dir wo du dich auf ein konkretes historisches Ereignis beziehst. Vor allem eines welches bisher her soweit ich das weiß nie verarbeitet wurde. Daumen hoch mal für diesen Punkt,^^. Nur ein kurzer historischer Kontext wäre noch fein gewesen, aber wenn nicht, dann nicht... (wobei mir der Weberaufstand vor allem aus der Literatur der Zeit ein Begriff ist.)
Im Stil finde ich sogar hast du dich verbessert ( und du hast schon davor wirklich genial geschrieben) und die Wortwahl ist wirklich gut getroffen. Hat mir in diesem Aspekt sehr gut gefallen.
Inhaltlich finde ich es auch sehr gelungen wie du Gilbert beschrieben hast, welcher verzweifelt versucht Ludwig zu beruhigen, wissend das der Gau um das Gespenst bald ansteht.
Also alles in allen bin ich (weidereinmal) von deinen OS mehr als begeistert, ^^.
lg, Sternenschwester



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